Das denkbare Maß dieser Fingerübungen sind die Möglichkeiten des Alphabets und die sind beträchtlich. Die Fülle dessen, was nachdrängt, überflügelt den Stand des Erreichten und lässt ihn größer erscheinen. Das Alphazet oder das allen Zugriffen entrückte Buch: so ließe sich eine Schreibabsicht umreißen, die von Umriss zu Umriss fortläuft, als liefe sie vor sich selbst davon. Was nicht so falsch ist. Wäre es anders, so ließe sich die Erfassung der Welt nur als Verrücktheit erklären – ein nicht ganz richtiger Ansatz, dem die Wirklichkeit der Lexika und ›Enzyklopädien‹ entgegensteht. Nicht sie allein: alles Geschriebene kann nur als Teil jenes Programms verstanden werden. Warum das so ist? Die Kenntnis der Welt mag beschränkt sein, aber sie lässt sich nicht beschränken, an allen Rändern geht sie über sich selbst hinaus. Schreiben ist Weiterschreiben. Der Mut dessen, der einmal mit dem Schreiben anfing, erscheint unfassbar. Nicht nur der Mut, auch das Erschrecken darüber, dass Schreiben nur im Weiterschreiben den kostbaren Denkstoff Sinn absondert, nach dem alle Welt hungert.
Daraus zu schließen, es sei immer die Gesamtheit der Schreibenden, die schreibt, sobald einer den Griffel rührt oder in die Tasten greift, banalisiert das Thema und schafft Verwirrung. In dieser Hinsicht berührt das Unternehmen ›Wikipedia‹ eine bizarre Grenze. Ein anonymer Schreiber, dessen Text durch seine Nachfolger ausgelöscht wird, während er noch schreibt: was ist das? Ein Soldat im Stellungskrieg, der tötet, um zeitversetzt an gleicher Stelle zu fallen? Ein sinnloses Opfer an Lebenszeit, die besser an Geld, Reputation und Fortkommen verwendet wäre? Aus der Distanz des Lesers jedenfalls ist der einzelne Anteil gleichgültig und vielleicht nicht einmal das. Er trägt einen Makel, denn er ist nicht reell. Erst wenn er, möglichst mehrfach, vollständig überschrieben wurde, bekommt er jene revisionsgesättigte Gültigkeit, die das Medium fordert. Überall, wo ein Verfasser erkennbar, sichtbar, fühlbar bleibt, wurde in der Sache zu wenig getan – oder zu viel. Ein Verfasser, der seine Identität nicht preisgibt, ist immer ein Ärgernis. Schließlich gibt es ihn und er hinterlässt seine Spuren. Diejenigen, die sie auslöschen, hinterlassen andere, schwerer zu identifizierende, anonymere: Abdrücke, die mehr und mehr denen eines Kollektivs ähneln oder einer Meute. Über kurz oder lang sind sie das Ärgernis und ihre Darstellung wird kassiert oder die Menschen wenden sich wortlos von ihr ab.
Aus den Weisheitsbüchern des Homomaris:
Das A drängt, so weit
wir erfahren konnten, allein durch den strikten Ordnungseifer
Thomas von Aquins auf die erste Stelle im Alphabet, denn niemand
vermag sich bis heute auf die Regeln seiner wirklichen Reihenfolge
zu besinnen. Man kann Gestirne der Sprache nicht regeln. Man
bedenke, das Alphabet war einmal auf mehreren mondhaften Schlitten
über den Milchbart eines höheren Gottes hinabgefahren. In süßen
Strömen flossen die Buchstaben zur Namensstiftung von
Sternschnuppen und anderen Hustenanfällen des Himmels nieder in die
frühesten Fangnetze aller wahrhaft großen Stiftungen bis zu den
Zeiten Grabbeaus.
Unsere Fangnetze, eingeölt vom Malfett der Gnome, sind den
Abdrücken des Himmels zugeneigt und bilden die ersten Landkarten
menschlicher Abkunft, blau wie der Himmel, rot wie die Hölle und
gelb wie die asiatischen Wiesen bei Lhasa. Gestern erst lasen wir
zweimal ›Taipeh‹ und ›Karma‹ und empfanden den Widerspruch aller
Schuld auf Erden. Davon später, wenn die Verwirrung genügend Worte
erzeugt hat.
So nahm die frühe Magie das gespreizte A als passende Staffelei zu
Hilfe, auf dass man die ersten Leinwände astrologischer
Darstellungen, vor tellurischen Stürmen gesichert – auch sie
durchpflügen ja schließlich den breiten Himmel –, aufrichten
konnte. Noch lange hat es öffentlich unter Malern Wolken von oben
und unten gegeben, die als himmlische Kissen, in Wahrheit als
Polster der Inspiration, auf dem edlen Gerüst dieses Buchstaben
ihren Platz finden konnten. Joseph Donner von Richter galt das
gespreizte Gestell sogar als Criterium primum der Würde eines jeden
Malers und er verlästerte in seinem Hauptwerk gegen die Muse von
Cortona die späte französische Staffelei, deren Abdrücke er im
Wachs dieses Bildes gefunden haben wollte. Sie galt ihm als
infantiler Besenstiel mit verschiebbarem Unterkiefer. - PM
Das ist Deutschland: vergebliche Parole wie Das ist die Welt. Beide, so angesprochen, sind schon andere. Alles, worüber man gerne sprechen würde, liegt in der Vergangenheit, die von der aktuellen Statistik ›festgehaltene‹ Realität ebenso wie die Gedanken und Eindrücke, aus denen sich Summen formen und zu Ländern, Erdteilen und Größerem addieren, sie sind, bestenfalls, Geschichte, größtenteils bereits Schrott, Abfall, Abhub, beiseitegetragen, beiseitegeschoben, zu Haufen getürmt und unterirdisch verfüllt, in Teilen verbrannt. Verbrannte Erde – eine Horrorvorstellung und eine zutiefst menschliche Realität. »Ich könnte dort nicht mehr leben, wo es mir gerade noch gut ging.« Wie kann das sein? Die Verhältnisse fragen nicht danach, es ist einfach so. Auch ich bin bereits über den hinausgewachsen, der da soeben die Straße entlangging. Eine Strecke weiter, eine kleine nur, unmerklich fast und dennoch: radikal weiter, ohne Zugang zu dem, der ich gerade noch war, außer dem holprigen, löchrigen, rutschigen Pfad der Erinnerung, der kaum die Richtung hält, geschweige denn ein Versprechen.
»Aber so kann ich nicht leben« – wohl wahr, sehr richtig. Keiner kann so leben. Dazu bedarf es der Ideen, vergleichbar den vor öffentlichen Gebäuden aufgezogenen Fahnen, mit deren Hilfe Menschen sich Orientierung schaffen und, jeder für sich und alle gemeinsam, das ausbilden, was ›Welt‹ genannt wird und ebenso überzeugend als Rätsel tituliert werden könnte. Die Welt wird durch Ideen geschaffen, manche sagen ›gestiftet‹, aber das klingt altertümlich und reizt den Lachmuskel. Ideen haben, wie gewisse Wörter, ihre Zeit, sie erfüllen das Denken und verblassen auch wieder, aber sie gehören nicht der Zeit – sie besitzen keinen Zeit- oder Verfallsindex.
Töricht mutet es daher an, Menschen vorzuhalten, sie lebten im Mittelalter, während man sich selbst im Heute zuhause glaubt. Das hört sich an, als gebrauche jemand Hausrecht in der Zeit, um unliebsame Mitbewohner zu entfernen oder zu unterwerfen. Ideen sind genau dann an der Zeit, wenn (und solange) sie in den Köpfen der Leute spuken. Wer das Abendland beschwört, um seine Idee von Europa zu ›konkretisieren‹, dem kann man im Namen anderer Ideen die Hölle heiß machen, aber man kann ihn nicht zur Selbstverbrennung zwingen. Nicht weniger hieße es zu verlangen, er müsse, aus Gründen eines imaginierten Heute, seine Begriffe ›bereinigen‹. Ein solches Verlangen ist sinnlos, es ist sogar widersinnig, weil Ideen, so kämpferisch sie auch gegeneinander gestellt sind, different-gemeinsam genannt werden können. Man kann sie nicht ablehnen, ohne sie zu reproduzieren, es sei denn, jemand lehnte aus purer Ignoranz ab, was er nicht kennt.
Wer annimmt, ›Abendland‹ sei ein Kampfbegriff, der bekämpft werden sollte, weil er in der heutigen oder in dieser Welt nichts zu suchen habe, der gerät in eine seltsame Schleife, aus der er ohne Kopfschmerzen nicht entrinnen kann. Kampfbegriffe oder ›Parolen‹ sind Verdinglichungen von Ideen, dem lebendigen Denken entzogen und für reale Kampfsituationen zurechtgezimmert, weil es nur wenigen Menschen gegeben ist, gleichzeitig zu denken und zu kämpfen oder gar denkend zu kämpfen. Kein Kämpfer für Demokratie und Menschenrechte, der im Gefecht steht, treibt Institutionenkunde oder leiert (eine eher redundante Form des Denkens) die Charta der Vereinten Nationen herunter. Er kennt die Parole und das genügt – manchmal auch nicht, falls er am falschen Ort mit den falschen Freunden unter falschen Prämissen kämpft.
Das Abendland existiert als Idee und es existiert in den Köpfen derer, die es denken. So einfach ist das. Wie und zu welchem Zweck es in diesen Köpfen existiert, was daraus folgt (oder wird) und was nicht, das ist niemals ganz entschieden, es ist Auslegware wie bei allen Ideen. Im übrigen hängen irgendwo alle Ideen zusammen – andernfalls lebten wir nicht in einer Welt, sondern im Feuer radikaler Vernichtungsmaschinen, die einander nichts zu sagen und nichts zu geben hätten. Ideen, die ihre Bezeichnung verdienen, bekämpft man nicht. Man streitet um ihre Auslegung. Die schlichten sind nicht immer die schlechtesten.
»Lust auf...?« »Aber nur ein kleines, für das man den Klee nicht
verlassen muss.« »Das soll etwas Kleines sein? Ist das nicht groß?
Etwas ganz Großes, für das man sich recken und strecken und
schlagen muss?« »Sie reden irre.« »Und wenn schon. Ist das kein
Abenteuer? Da haben Sie Ihren Klee, er geht nicht mehr heraus. Und
ginge er einmal heraus, wer wüsste schon, welcher Anwandlung er
dabei folgte. Nein, warten Sie. Ich habe Klee gesehen, der seine
Farbe wechselte, so fiebrig war ihm zumute. ›Kein Klee, niemals
mehr Klee‹, hörte ich ihn murmeln. Er wirkte so blass, so nervös,
als wollte er sagen: ›Man kann nichts machen.‹ Seither beschränke
ich mich darauf, den Reinigungskräften die Fünfziger zuzuschieben.
Solange sie keine Siebziger wollen, bin ich zufrieden. Nützt es
nichts, so schadet es nichts. Auch so kommt man voran.«
Das Paradies der Schrecken schließt seine Pforten, es weicht zurück, den Entronnenen dämmert ein neuer Tag – nicht so strahlend, wie die Hoffnung ihn zeigte, nicht so schwarz, wie die Angst ihn auf den Grund projiziert. In solch schlichten Bildern malt sich, was Leben und Weg heißt, als Flucht in eine Zukunft, deren imaginäre Anteile mit der vergangenen Welt verschmelzen, aus deren Abgang sie stammen. Das ist bestürzend, das ist normal, das ist enorm, da es die Normen aufs Äußerste spannt und ihr Zerbrechen kalkuliert. Erst die zerbrochene Norm setzt die Norm frei, der es zu folgen gilt, obwohl das unmöglich ist und jeder Tag den Beweis dafür liefert. Der Entronnene ist nicht entronnen, er spürt den eisernen Griff, dem er sich entwinden will, er trägt ihn als Halsband, als Ohrring, als Tätowierung, er ist stolz darauf, ihn zu tragen und belauert die Haut, die sich arrangiert, statt in Aufruhr zu geraten. Er bedauert und verachtet sie, weil sie stillhält, er verachtet sich, weil er verachtet, und bedauert sich, weil er bedauert.
Bitte gehen Sie nicht zum Teufel. Ich frage Sie, was wollen Sie dort? Bleiben Sie hier, wo es Ihnen gut geht. Man hat Sie abgeschrieben? Sie sind doch keine Maschine, lassen Sie sich so etwas nicht einreden. Nie, unter keinen Umständen. Sie selbst haben abgeschrieben? Ach so, das wäre dann etwas anderes. Was haben Sie denn...? So eine kleine Abschreibung wird mit Ehrverlust nicht unter... wie?... nicht unter fünf Jahren... Sie haben gar nicht abgeschrieben? Jetzt wirds kompliziert. Sie haben abschreiben lassen? Aber wie denn, wo denn? Sie wissen nicht? Sie können sich nicht erinnern? Es tut Ihnen leid? Entschuldigen Sie, das verstehe ich nicht. Also von vorn. Nein, nicht von vorn? Unter keinen Umständen von vorn? Ich muss schon sagen, Sie haben Nerven. Wenn Sie jetzt damit durch sind, wie Sie sagen, dann frage ich mich, warum Sie die Sache nicht ruhen lassen. Einfach ruhen, verstehen Sie? Wie, Sie unternehmen ja nichts? Sind Sie von Sinnen? Machen Sie was. Einer wie Sie wird nie ganz abgeschrieben. Woher ich das weiß? Sie meinen, ich hätte auch...? Was soll die Andeutung? Was bilden Sie sich eigentlich ein? Glauben Sie, weil ich mich für Sie einsetze, lasse ich mich mit Ihnen in einem Atemzug...? Nein, das tut mir jetzt leid, ich glaube, wir müssen unser Gespräch jetzt beenden. Ich hätte Ihnen gern geholfen, aber nicht um jeden Preis. Sie wissen, ich war immer Ihr Freund, diesen Affront begreife ich nicht. Sie enttäuschen mich, mein Guter, Sie enttäuschen mich. Das wird Sie teuer zu stehen kommen. Bitte, halten Sie davon, was Sie wollen, aber halten Sie mich nicht auf. Wir sind hier nicht im Exil. Das Leben geht weiter, wissen Sie, und Sie, pardon, sind der Schnee von gestern.
Es ist nicht wahr, dass, wer auf dem Kopf geht, den Himmel als
Abgrund unter sich hat. Allein die Anstrengung, auf dem Kopf zu
gehen, verhindert den freien Blick in die Abgründe. Den Rest
erledigt die leichte Umstellung, die im Wissen darum liegt, auf dem
Kopf zu gehen: Der Himmel bleibt oben, man selbst ist tiefer
gerutscht, man ist abgerutscht – that’s all. Vielleicht nicht ganz,
denn wer den Himmel aus den Augen verliert, dem wird die Welt
fadenscheinig oder ›halbdurchsichtig‹, um ein neutraleres Wort in
einer Sache zu wählen, die keine Neutralität verstattet. Die
halbdurchsichtige, in einem Nebel von Befindlichkeiten schwimmende
Welt trägt den Himmel in sich, aber als Bedrängnis. Man will
hinaus, wohl wissend, dass dort draußen nichts ist. Man will das da
hinter sich bringen, ohne es zu verlassen. Der Schmerz ist die
schützende Hülle der Weltlosigkeit, die, zu sich selbst befreit,
verfliegt – ein Seelchen ohne Zentrum, ohne Zusammenhalt, ohne
Kontur, ohne... ja was denn? Ohne ›Fühligkeit‹, den Wetterlagen
entronnen, in denen dergleichen sich herstellt.
Irgendwie tut es gut zu wissen, dass pünktlich zur Fünfhundertjahrfeier der Reformation der Ablasshandel in voller Blüte steht und die katholische Kirche, die ›alleinseligmachende‹, damals wie heute die richtige Seite vertritt: von der Klima- bis zur Refugee-Rettung bleibt es nicht zuletzt den als Europäern verkleideten Deutschen auf Grund ihrer ›besonderen Verantwortung‹ auferlegt, durch erhöhten Mitteleinsatz dem allgegenwärtigen Bösen, dem ›Herrn der Welt‹, dem Junker Valand ein Schnippchen zu schlagen. Wo doch, streng alt-theologisch gedacht, diese Welt nicht zu retten ist – tut nichts, der Ketzer wird verbrannt, vorausgesetzt, man bekommt ihn rechtzeitig zwischen die Finger, was damals wie heute nicht immer so einfach geht. Dafür forscht heute auch die Wissenschaft, wie man weiß, auf der richtigen Seite, ein neuer Fall Galilei soll ihr nicht wieder passieren: undenkbar, unter einem Giordano Bruno 2.0 könnte aus Versehen ein Feuerchen prasseln, das die Welt erhellt, denn heute – weiß sie Bescheid. Wie sehr Wissenschaft Bescheid weiß, erfährt man, wenn man ihre Vertreter einträchtig neben den neuen Tetzels am Kartentisch sitzen sieht, versunken in ihre Modelle und doch hellwach, denn ohne Karriere kein Wissen, worum es geht, und darum geht’s doch, nicht wahr?
Neben dem gewöhnlichen Ableben oder Verscheiden tritt das aktiv betriebene Ableben weniger klar in Erscheinung. Nicht ohne Grund, denn es meint nicht, dass einer sein Leben so oder anders herunterlebt – vom berüchtigten Abreißen ganz zu schweigen –, sondern jenes Schattenhandeln des Lebensgefährten, das auf ein Leben nach dem Tode des Partners ausgerichtet ist, ihn zwar nicht aktiv herbeiführt, aber in einer Art Vorab-Gestorbensein bereits kassiert und konsumiert. Wie das zugehen soll? Die Frage an sich klingt heuchlerisch oder naiv, sie setzt einen Menschen mit sehr geringer Lebenserfahrung voraus oder eine entsprechende Praxis, die notgedrungen vieles verschleiert, auch vor sich selbst – was nicht so sehr erstaunt, da es für viele ökonomische Praktiken gilt. Vielleicht verschleiern Praktiken generell mehr, als sie zeigen, vielleicht sind sie mehr oder weniger auf das Ableben eines Anderen ausgerichtet, jedenfalls hat der Lebenswille der meisten Menschen etwas Todbringendes. Am deutlichsten zeigt sich das in der Politik. Hier ist der wahre Tummelplatz der Ableber: Abzulebende und Ablebende sind identisch, sie fügen einander zu, was sie erwarten. Doch bleibt ein Hoffnungsschimmer für jeden, solange politische und biologische Existenz auseinander klaffen. Im Privaten ist das anders. Wo immer abgelebt wird, ist Politik im Spiel, große Politik wohlgemerkt, die sich in kleiner Münze ausgibt, also nicht in Haupt‑ und Staatsaktionen, sondern in Ansprüchen, deren Begründung jenseits der kleinen Person liegt, die sie in ihren Praktiken formuliert. Wer eine schöne Rente erwartet, der sieht manches gelassener. Seine Steuerungskapazität – wunderbares Wort! – ist anders gefordert als die eines Menschen, der den anderen lebend braucht. Es existieren Renten im Gehirn, die von keiner Kasse ausgezahlt werden können, Bezüge an Status, Bewegungsfreiheit und ‑lust, ja Prestige, gegen die kein lebender Organismus ankommt, selbst der scheinbar gesunde.
Wann immer dich der Schlund verschlang und, nach gehöriger Zeit, wieder freigab, gingst du als weniger aus ihm hervor: du merkst es nicht gleich, weil du dich erst einmal wichtiger nimmst, aber mit der Zeit ist hier kein Zweifel möglich. Du wirst weniger, du nimmst ab, du achtest den Rest, aber nicht zu sehr, du siehst die Schlangenhaut und ahnst, dass du sie abstreifen wirst. Nein, du ahnst, dass du selbst die Schlangenhaut bist, die abgestreift werden wird. Das beunruhigt, aber es lullt auch ein. Kaum einer bemüht gleich das Universum, wenn er die Instanz ermitteln will, die ihn loswerden möchte, den meisten genügt schon der Nachbar oder die nahe Verwandtschaft. Glücklich die Naturgläubigen, die darauf bauen, dass die Erde sich häutet, sie hoffen darauf, dass sie einen guten Dünger geben und sterben gern, wenn es den Artenschwund aufhält. Andere tun sich da naturgemäß schwerer. Merkwürdiger Ausdruck: sich schwer tun. Das ist, als gäbe man heimlich etwas hinein. Dabei nimmt man sich nur weniger als andere heraus. Das Ende ist leer.
Offenbar kann Gesellschaft nicht auf Dauer existieren, ohne
sich auf irgendeine Art des Abschaums – z. B. im Sexuellen – geeinigt zu
haben. Die Bilder wechseln, ebenso die Methoden des Aussonderns
und der Übertreibung, ebenso die Formen des Durcheinanderschüttelns
und ‑rüttelns, ebenso die Praktiken der Benennung und des
Aussparens, der aussparenden Benennung und der benennenden
Aussparung. Was bleibt, ist der ewige Pranger, das Erzeugen der
Meute, die Gier nach Bezichtigung, die Stunde der Leute, die sich
›genau erinnern‹, das zwielichtige ›Geradestehen‹ von Menschen, die
zufällig gerade da stehen, wo sie stehen, schließlich die Arbeit
für Polizei und Justiz, die dem allem nachgehen und es wieder in
die nicht ganz unvertraute Proportion zurückbringen müssen. Die
liberale Gesellschaft ist liberal gegen ihre Kaprizen, solange sie
stürmt, geht man ihr besser aus dem Weg. Die Wogen gehen hoch, wenn
ein Zeitgeist einen gewesenen hetzt oder am besten gleich
aufknüpft. Der nächste steht ihm schon in den Hacken und lernt
seine Lektion: er wird sie nützen, wenn die Zeit gekommen ist.
»Eine Armlänge Abstand!« – wer das verstanden hat, hat viel verstanden, deshalb sträubt sich das Gros der Menschen so, es anzunehmen. »Bleib mir vom Leibe!« – so schreien sie und wollen dabei nur das eine: berührt werden, wo und wodurch auch immer. Ohne Abstand kein Anstand, ohne Anstand kein Stand, ohne Stand kein Darüberstehen, ohne Darüberstehen kein Aussicht, vor allem auf Besserung. Sich im Bett wälzen und den Arzt beschimpfen, der Besseres zu tun hat – was ist das für eine Art? Nicht jeder, der sich fernhält, ist säumig. Zwar ist die Armlänge kein Maß, aber sie enthält eine Idee: Kommt sie heraus, dann schnellt die Faust nach vorn und vollendet das zaghaft Angedachte. Im Faustrecht verkehren wir alle auf eine Armlänge Abstand, das ist nicht verkehrt, bloß verkehrte Welt, die Abwesenheit der Ordnung als Ordnung, in der das Recht dessen gilt, der auf Abstand zu halten weiß, und sich Respekt verschafft, wer weiß, wie man die Faust auf den Tisch legt, ohne dass ein anderer sie abhackt.
Die größten Siege, schreibt Rilke, werden im Fallen errungen. Geht es einmal bergab, gerät jeder Maulwurfs- zum Feldherrnhügel und derjenige, der ihn zuerst besteigt, dünkt sich Herr der Zukunft. Leider gleicht jeder Maulwurfshügel dem anderen, er ist schneller zertreten als bestiegen, jedenfalls sinkt ein, wer zu steigen glaubt, und darin liegt die egalisierende Kraft solcher Siege. Am Ende ist aus dem Sieger einer wie ich und du geworden, ein Ritter ohne Fortune, ein Husar ohne Pferd, eine Schaluppe ohne Segel, ein Hansdampf, dem man die Gasse stibitzt hat und der jetzt im Wohnzimmer röhrt, bis ihn einer am Ohr packt und an die frische Luft befördert, zur Abkühlung, wie es heißt. Absturzsieger benützen das Blaue vom Himmel als Packpapier, die Blessuren schlagen aber durch und der Himmel, der Himmel … wo ist er hin?
Eine Regierung fällt auseinander und die Regentin sucht sich eine andere: wo bleibt da die Demokratie? Besser gesagt: wo steckt sie? In der Klemme, gewiss, vorausgesetzt, das herrschende Volk hat zwar die Regierung abgewählt, aber die Regentin gemeint – es hat aber, der Parteienlogik zufolge, nichts zu meinen, sein einziger Ausdruck ist die Wahl und die ist unendlich interpretierbar. Interpretierbar durch wen? Die bezahlten Interpreten der Macht leben von der Macht, also folgen sie ihren Bocksprüngen willig. Wer das Wahlvolk behandelt, als sei es Luft oder, besser noch, eine übelriechende Substanz, der attestiert ihm, gelinde gesagt, Ohnmacht, gepaart mit Dummheit. Der geläuterte Antidemokrat mokiert sich über den Ausdruck ›Volksherrschaft‹, er würde ihn gern für ›diskreditiert‹ erklären und schwafelt von der ›Gemeinschaft der Demokraten‹, als handle es sich um einen Klub von Verschwörern, dem nur ein Ziel heilig sein darf: Machterhalt um jeden Preis. Gewiss, es gibt sie, die Gemeinschaft der Demokraten – in Diktaturen, unter feudalen Regimen, überall dort, wo das Volk nicht ›die Macht hat‹, wie immer man diesen Ausdruck verstehen mag. Sie will, dass Demokratie sei, nicht, dass sie ihr gehöre. Der geläuterte Antidemokrat schwärmt von Führung und meint das Gleis, aus dem er ohne Gesichtsverlust nicht mehr herauskommt. Er hat verlernt, was es heißt abzutreten: er begreift’s nicht. Der Demos mag verführbar sein, aber dumm ist er nicht … vornehmlich, weil sich Intelligenz nicht addieren lässt. Parteien müssen verführen, aber auf intelligente Weise, so dass die Bürgerintelligenz mit an Bord ist und die Mannschaft weiß, was zu tun sei. Bleibt die Frage, woran es fehlt.
Dass eine Gruppe unterdrückt ist, wenngleich nicht ganz, erkennt der versierte Leser daran, dass ihre Angehörigen einander einen höheren Wert beimessen als dem Personal, das sie umgibt. Stefan George, der im Gedicht die Keuschheit eines römischen Strichjungen gegen die ›Feilheit‹ der zeitgenössischen Frauen ausspielt, wäre da nur ein Beispiel unter vielen. Er wird kaum damit gerechnet haben, dass ein junger Revolutionär darin Verachtung der Zeitgenossen zu erblicken glaubte. Was George schrieb, sollte als Abwehrzauber gegen die gefühlte Verachtung der Mitwelt wirken, während bereits eine Generation heranwuchs, der, jedenfalls in den klügeren Köpfen, diese Verachtung verächtlich vorkam. Die Dümmeren allerdings… In dieser Geschichte sind die Gerechten Freiwild, das den Mördern den Weg zeigt. Zwei Lebensalter später hat nur der ›höhere Wert‹ sich erhalten und nährt das Ressentiment, bei dem sich jede Seite für ›etwas Besseres‹ hält und Kompensationen fordert.
Der Deutsche greift zum Vornamen wie andere Leute zur Waffe. Er richtet ihn auf die Brust des Nachbarn und bellt kurz und knapp: »Adolf«. Da fällt der andere um. Wem das nicht gefällt, der soll auswandern. Manche tun es, manche lassen es bleiben, denn es ist teuer und verheißt Scherereien, denen nur der Starke gewachsen ist. Unter denen, die bleiben, genießt Adolfine einen seltenen Ruf. Zückt der andere den Namen, zückt sie ihr Geschlecht: So stehen sie einander gegenüber, zu allem entschlossen, von allen guten und bösen Geistern verlassen – ein Bild, gedacht für die Ewigkeit, doch zu schlecht in der Ausführung, um auf Dauer genossen zu werden.
Der Neid der Bs auf die As (Asse?) ist unerträglich, doch nicht aus der Welt zu schaffen. Wer sich im A eingerichtet hat, blickt mit einer gewissen Gelassenheit auf das, was sich hinter ihm tummelt. Im B existiert keine Gelassenheit, sie ist dort nicht möglich, weil das B außer der Eigenschaft, nach dem A zu kommen, nichts Positives enthält. Auf dem Land liegen die Dinge einfach, indem man sich in sie vertieft, werden sie kompliziert. Vor den Bedörfern liegen die Adörfer, sie liegen dort seit geraumer Zeit – seit Urzeiten, sagen die Adörfler, seit letzter Nacht, sagen die Bedörfler und wollen, dass sie verschwinden, am besten auf der Stelle. Vergebliche Mühe! B kommt dahinter, ist dahinter, bleibt dahinter. Das nennt man allgemein Schicksal, manche nennen es Karma, das sind Bedörfler, die sich heimlich beadorfen, als handle es sich um ein Deodorant. Dächten Bedörfler souverän, sie könnten in den Adörflern die wahren Ignoranten erkennen. Sie ignorieren z.B. den Fortschritt, weil er mit Sicherheit über sie hinausginge. Doch wissen erstere, in Unkenntnis der befreienden Kraft des C, nicht, wie es weitergehen könnte, und bleiben deshalb auf die A-Formation fixiert, eine, genau besehen, bescheidene Hüttenkette zwischen ihnen und dem Meer des Immergleichen, dem sie beide mit knapper Not entronnen sind. Die Adörfler haben gute Gründe, den Fortschritt zu ignorieren, die Bedörfler nur schlechte. In den Bedörfern herrscht die nackte Erregung, dauernd findet sich jemand, der mit langem Finger auf einen Adorfiker im Gelände zeigt, auch wenn die Entfernungen riesig sind und das Tun des anderen unergründlich bleibt: Bedörfler haben scharfe Augen und kurze Schaltwege. Das zahlt sich aus und das zählt.
Winkelschriften sollte man lesen, solange es Winkel gibt, also
immer. In einem entfernten Winkel der philosophischen Welt, fernab
von den gelehrten Strömen, auf denen die denkerische Fracht des
Jahrhunderts in riesigen Kähnen abwärts dem Meer der allgemeinen
Verwertbarkeit zugeführt wird, ruht dieses Werk, das seinerzeit zu
den aufregendsten zählte und seither Gelegenheit fand, auch die
Gelassenheit kennenzulernen und in sich einzulassen. Ein
dekapitiertes Corpus, wenn man so will, denn seine Hauptsache war
der Zeitgeist selbst, und der Verräter, der mit ihm auf und davon
ging, wusste wohl, welche Folgen seine Tat zeitigen würde. Ein paar
Blumen, jahreszeitlich erneuert, schmücken das Grab des Entsorgten,
und einige unsterbliche Seiten, keiner weiß sie zu deuten, wie es
der Meister gewollt, zieren die Stätte zur Linken wie zur Rechten.
Hier herrschen Popeia und selige Eintracht, nur lebendig soll nicht
mehr werden, was da vergraben wurde. Man hat dem Meister
Melancholie attestiert, als sei das ein Tadel. Was sicher stimmt,
aber nur dann, wenn man hinzunimmt, dass er sich unmittelbar gegen
den Tadelnden wendet und ihn richtet. Man nimmt dem Verblichenen
übel, dass er die Verzweiflung kennen gelernt und herausgelassen
hat; das Herauslassen des Eiters, an dem sich die anderen langsam
selbst vergiftet haben und nun zugrunde gehen, könnte immerhin als
die unkonventionelle Schönheit durchgehen, der dieser Ästhet anhing
und von der er einen seltsam unvollständigen Begriff besaß – zum
Schaden seines Werks, das just an der Stelle zur Unform anschwoll
und kein Ende fand. Zum Ruhme des Autors hingegen sei es gesagt: er
kam mit der Kunst nicht zu Rande und zu keinem Ende – das scheidet
ihn dauerhaft von den auf Kritik abonnierten Banausen, die ihn
beerbten.
Wörter, die Ängstlichkeit ausdrücken, könnte man ›Ängstlichkeitswörter‹ nennen. Das würde auch bereits die erste Ängstlichkeit nehmen, die darin besteht nicht zu wissen, ob man angesprochen ist oder nicht. Ängstlichkeitswörter kennen diese Ängstlichkeit nicht, sie fehlt ihnen also, und darin liegt schon ein erstes Paradox. Wie können sie es wagen…, etwas auszudrücken, das ihnen explizit fehlt? Grammatiker kümmert das nicht, für sie sind Wörter nichts als beliebige Zeichen, X für U undsoweiter, dabei weiß jeder Gebildete, dass sie Gemütswerte bergen und die Welt ins Gemüt holen. Nehmen wir das Wort ›Beben‹ – beben Sie nicht? Das Wort ›Beben‹ funktioniert in etwa so wie das Wort ›Freibier‹ – Sie hören davon und schon ist es konsumiert, manche sagen ›inkorporiert‹, aber es bebt nicht der Körper – außer bei den Sensibelchen –, vielmehr die Seele, das Organ für Erschütterungen, die nicht nach außen dringen sollen, außer in Not- oder Begehrensfällen. ›Beben‹ ist ein Ängstlichkeitswort erster Güte. Das Nachrichtenwesen bringt es mit sich, dass Angst vor Beben auch in Weltgegenden grassiert, denen Erschütterungsforscher nicht die kleinste Chance einräumen. Die Menschen wollen aber erschüttert werden, um jeden Preis, solange es sie nichts kostet – mit diesem Paradox müssen sie leben. Die meisten Ängstlichkeitswörter sind allerdings konjunkturabhängig, manche sind längst bekannt, bevor sie einen Ängstlichkeitsindex tragen, irgendwann jagen sie keinem Kind mehr Angst ein, nicht die geringste. ›Klima‹ zum Beispiel, oder ›Asteroid‹: Spüren Sie, wie Angst in Ihnen hochkriecht? Wir leben auf einem gefährlichen Planeten, das ist allgemein bekannt, alle paar tausend Jahre passiert, menschlich gesehen, etwas Furchtbares, dagegen muss man sich unter Einsatz aller verfügbaren Mittel wappnen. An der Zeitkante leben – das nimmt dem, was Menschen einander antun, den Schrecken, man zieht nur die Braue hoch und verlangt Rechte für Opfer, obwohl gerade Rechte dem Opferwesen kritisch gegenüberstehen, es sei denn, es betrifft sie selbst. Darin treffen sie den Nerv der Gesellschaft, die ›Opfer‹ sagt und ›Einkünfte‹ meint, auch wenn es sich oft nur um symbolische Beträge handelt. Kann, wer totgefahren wurde, Opfer sein? Natürlich nicht. Opfer sind immer die Hinterbliebenen, denn sie wollen entschädigt werden, zumindest bildet sich die Allgemeinheit das ein. Deshalb verhält sie sich ängstlich gegenüber Hinterbliebenen, da sie die eigene Tendenz zur Maßlosigkeit kennt und nicht überfordert sein möchte. Vielleicht liegt darin der Kern aller Ängstlichkeit: sich zu kennen und zu wissen, man ist nicht allein. Ängstlichkeitswörter sind Streu- und Schiebewörter: sie decken das Feld der Angst und lassen nur die minderen Ängste durch, nicht um die Hauptangst zu bändigen, sondern um sie zu bedienen: die Angst davor, der Bequemlichkeit verlustig zu gehen.
All diese Leute, sagt G., sind durch eine Phase des Verhaftetseins
hindurchgegangen, die es ihnen nicht erlaubt hat, ihr Wort zu
sagen. Sie waren gebannt durch ein Ich-weiß-nicht-was, das sich
ihnen in immer neuer Form darbot, aber als Tendenz konsumiert
wurde, als unaufhaltsamer Zug in der Zeit, ein Zug, nicht der Zeit
selbst, sondern, wie soll ich es ausdrücken, eines Denkens, einer
Sprech- und Machweise, hinter die man nicht zurückfallen durfte.
Und das, obwohl man gegen jede einzelne Form, ja praktisch gegen
jedes Detail sofort Vorbehalte hätte geltend machen können. Man tat
es ja auch, und diese Vorbehalte wurden aufgenommen, sie wurden ein
Bestandteil der Maschinerie, die alle vorwärtsstieß und ihnen das
Gefühl gab, trotz allem aufgehoben und dabei zu sein. Nun, da sie
gereift sind, ist die Verbindung gebrochen und sie gestehen sich
ein, dass sie ein Leben lang gefoppt wurden und, was mehr bedeutet,
sich selber foppten. Sie waren nie gemeint und sie haben ihre
Aufgabe versäumt. Manchmal überfällt sie das Gefühl, auf einer
Bühne zu stehen. Sie wissen nicht, welches Stück gerade gegeben
wird und lungern im Grunde nur herum, weil sie schon bisher keine
Rolle spielten und deshalb auch keinen geregelten Abgang bekommen.
Sie breiten die Arme aus und fallen jungen Schauspielern ins Wort,
die ihr Bestes geben und es schon gewöhnt sind, sich im Gedränge zu
behaupten. Keiner will Ärger, das ist das Ärgste und kränkt am
meisten.
Mit der Abschaffung des Greisenalters als fester sozialer Größe –
keine wirkliche Abschaffung, sondern eine der üblichen
Überblendungen – diffundiert auch die Figur des unwürdigen Greises,
man könnte sagen, sie taucht unter in der Masse all derer, die sich
ohne Sinn und Verstand die seltsamsten Blößen geben, als hätten sie
es vorsätzlich darauf angelegt, mit Hilfe kleiner und großer
Intrigen aus allen Verhältnissen herausgeschossen zu werden, in
denen sie sich eingenistet haben, weil man sich ihrer anders nicht
zu entledigen wüsste. Aber das ist nur die eine Seite der Sache.
Der Wahn, mitten im Leben zu stehen, entsteht ja nicht zwingend in
diesen Personen selbst, er fliegt ihnen aus der Gesellschaft zu, er
ist auferlegt und sie tragen ihn um den Hals wie ein
Elefantengeschirr, das blankpoliert ihr Elend verhöhnt. Für die
etwas Jüngeren, die nicht so genau hinsehen wollen, mag darin eine
Beruhigung stecken: Es geht doch, weiter geht’s, aber sicher,
Jahrzehnt um Jahrzehnt. Nur die Konkurrenz mit den Alten wünschen
sie zu gewinnen, darauf bestehen sie und fühlen sich ungewöhnlich
vital. Der banale Widerspruch, der darin liegt, ist den wenigsten
merklich: eine sonderbare Taubheit flüstert den meisten zu, was
geht und was ›wirklich‹ nicht geht. Die Alten sind, alles in allem,
folgsam, wenn sie ein Ärgernis geben. Das macht den Umgang mit
ihnen nicht leichter.
Wirf jemanden, der auch nur entfernt die Wonnen
der Prominenz erfahren hat, aus dem Betrieb, der ihn trägt und
nährt, und du bannst ihn auf ewig an den Affenfelsen seiner
rausgeworfenen Majestät. Kein Unberufener darf sich ihm nähern,
ohne das leise Fauchen zu vernehmen, das signalisiert: ›Abstand!
Hier hockt ein Berufener.‹ Er wurde wie zu seinem Glück so zu
seinem Unglück berufen und nun ist er ein Unberührbarer. Von daher:
Haltet Abstand, Leute! Wenn’s hoch kommt, verfügt er über
eine Entourage, die ihn anhimmelt und ihm täglich versichert, er sei
der Olympischen einer, sein Tag werde kommen und die höchsten Ämter
stünden ihm offen, während die Feinde im Staube sich vor ihm
ringelten etc. Er nimmt es huldvoll zur Kenntnis und schreitet
lächelnd darüber hinweg. Wohin er schreitet? Keiner weiß es.
Manchmal kreuzt sein Weg den eines neuerlich Abgehalfterten. Ihre
Hoheiten heben die Braue, wer will, kann den Gruß erkennen, der
hinter halb geschlossenen Lidern glimmt. Aber keiner verringert das
Tempo und so schreiten sie aneinander vorbei ins turbulente Nichts.
Dort wartet das Interview mit einem der üblichen Medien, sie
bereiten sich sorgfältig vor und haben zu allem, was aktuell
passiert, eine passable Bemerkung bereit, die, da nicht abgerufen,
wieder im Orkus des Nichtstuns verschwindet, der sie hervortrieb.
Aber gewiss, übers Stadium des Beleidigtseins sind sie längst
hinaus. Die beleidigte Majestät hängt im Privatmuseum mit dem
Eingang gleich neben der Garderobe, im restlichen Haus bewegt man
sich ungeniert. Vieles wüsste man über vergangene Zeiten zu sagen,
nichts fiele leichter, als den Bruch zu kitten, nachdem die Scherben der
Vase wieder zueinander gefunden haben, sie ist eben doch eine Vase
und gehört, wie es sich gehört, in die Vitrine.
Linke Aktivistenprosa erkennt man daran, dass sie mit Kanonen auf Spatzen schießt, rechte daran, dass sie Kanonen mit Spatzen bevölkert. In der Praxis hat sich dieses Verhältnis oft ins Gegenteil verkehrt, aber im Luftraum des freien Wortes gilt die Verteilung unbenommen. Apropos Aktivisten: Sobald sie die Macht übernehmen, das heißt richtig aktiv werden, stellen sie als erstes die freie Rede des Gegners ab. Wahre Aktivistenprosa, heißt das, lernt der Mensch erst in Form von Verordnungen und Verboten kennen. Ganz so einfach liegen die Dinge allerdings doch nicht. Wer regiert, weiß in der Regel Bescheid. Aktivismus jedoch beruht, was immer er dir einreden möchte, auf partieller, sorgfältig gepflegter, in den oberen Etagen oft messerscharf kalkulierter Verblendung. Haben Aktivisten den Staat erbeutet, liegt hier die Aufgabe gewisser Medien und NGOs (Nichtregierungsorganisationen), die unauffällig vom Staat alimentiert werden. Auch sie sondern Prosa ab…: unbeschreiblich … unsäglich … unerträglich … unaufhörlich. Mancher sensible Zeitgenosse sehnt sich da nach den Tagen der guten alten Propaganda zurück. Schau an – er wird bedient: unter den Verfolgten wächst die Neigung, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Propaganda erzeugt Gegenpropaganda, Lügensalm Lügensalm: Butz widder Butz.
Soviel Unheil, das man schon kannte, und nun das: Alltagstrauma! Musste das sein? (Die Frage ist insofern kompromittierend, als sie Glaubensprobleme aufwirft und den nicht wegzuschaffenden Prozentsatz Ungläubiger ausweist, die jeder öffentlichen Erregung per se misstrauen.) Wörter gibt es, die haben gesellschaftlichen Biss – jeder kennt sie, jeder benützt sie (oder verspürt den Drang, sie zu benützen), jeder beutet sie auf seine individuell-vertrackte Weise aus, als handle es sich um eine Goldmine mit öffentlichem Zugang, an der jeder sich nach Lust und Laune bedienen darf. Das ist schön, das hebt den Stand der Allgemeinbildung. Noch was? Aber sicher: Es hebt, wie alle Allgemeinbegriffe antiken Ursprungs, das Gerede. Natürlich musste es sein. Dem Maßlosen muss, aus Absorptionsgründen, ein Maß gegeben, es muss klassifizier- und beschreib- und vor allem therapierbar gemacht werden. Auch dieser Erfahrungssprengsatz wurde einmal Erfahrung. Damit gehört er der Menschheit und sie darf sehen, wie sie damit zurechtkommt. Irgendwann will jeder daran teilhaben wie am Familienschatz, das Schreckliche selbst bildet einen Bodensatz an Gewöhnlichkeit.
Der gewöhnliche Mensch darf alles schrecklich finden. Schrecklich gewöhnlich, wie er nun einmal ist, findet er immer Abnehmer für seine Visionen. Und sollte die Phantasie einmal nicht zureichen, so findet er leicht einen Therapeuten. Ein Deutungsmuster, ganz recht, ein bewährtes dazu – kein Grund, das zu verschweigen. Am Quell deiner Leiden sitzt ein Frosch, geh hin und erlöse ihn.
Nein, nicht vom Zetern soll hier die Rede sein, sondern von Alpha-Nöten … den unnötigen, aber beileibe nicht unbedeutenden. Im Schatten von Alpha steht Zeta, die schmale Nichte, deren dürftiges Lächeln meldet: Alles ist aus. Das mächtige Alpha, dem nichts gebietet außer dem Drang zu gebieten, muss sich das bieten lassen, teils aus Familiensinn, teils aus Ratlosigkeit, denn dort, wo nichts mehr geht, ist auch sein Pulver verschossen. So weit reicht die Buchstabenlogik, ab jetzt wird es ernst. Alpha’s Zet, ein Pub in einem der schäbigsten Winkel der Hauptstadt – das Wort ›Pub‹ ist, wie der Geschmack, den die Einrichtung atmet, geborgt, auch dem Gros der Kundschaft, die zahllos die Pforte durchströmt, scheint das rückgabefreie Borgen keine ganz fremde Tätigkeit zu sein –, Alpha’s Zet also, dem der sogenannte Deppen-Apostroph, Liebling aller Gastwirte, real oder imaginiert, so kunstvoll den tiefrot glimmenden Schriftzug scheitelt, Alpha’s Zet zum dritten: ihm steht, bildlich gesprochen, das Wasser bis zum Hals. Längst sollte es geschlossen sein. Manche behaupten: am besten von Anfang an. Verantwortungsbewusste Mitbürger finden dort das Ärgernis, das sie sonst anderswo suchen müssten. Ein wenig Haschisch, das eine oder andere Amphetamin-Säckchen, ein gewisses Maß an politisch motivierter Randale, mehr bedarf’s nicht, um dem gesellschaftlich Unmusikalischen den Umschlagplatz anzuzeigen: »Der muss weg.« Kommt dann noch ein auf dem Klo gefundener Drogentoter dazu, pro Monat, wie Eingeweihte unter der Hand verraten, aber das ist nicht leicht verifizierbar, so ginge im Grunde alles seinen gerichtlichen Gang, setzten nicht gerade an solcher Stelle Gegenkräfte an, die sich niemals verraten und deren stilles Wirken dahin führt, dass Alpha’s Zet bleibt, wie und wo es ist – ein Hauptstadtwunder. – Alpha’s Zet ist ein Politikum, ein Neutrum der Politik mit unbestimmtem Artikel, was sich dort abspielt, wird von vielen beobachtet, die selbst gern im Dunkeln bleiben, jedoch weitergeben, was sie gesehen haben. An wen? Nun ja, an wen schon. Alpha’s Zet: eine Bombe im Herzen der Stadt, die entschärft werden muss, eine von vielen bekannten und unbekannten, die Fachleute sind am Werk, aber das kostet Zeit, es kostet auch Nerven. Manche betrachten es daher, mitsamt seinen Gästen, den dubiosen wie den dubitierenden, als Kunstwerk, nur an die Wand hängen wollte es sich keiner. Wozu gibt es Museen? Die Gegenwart gehört ins Museum – heraus mit dem, was seine Zeit bereits hatte und so vergeudete! Das Gezeter möchte man hören.
Man darf
das Etzeterarische der Grundbegriffe nicht willkürlich übertreiben,
doch man darf es auch nicht verkleinern. Sie werden nachgeliefert,
daran besteht kein Zweifel. Niemand beginnt mit ihnen, wo käme er
denn da hin? Grundbegriffe führen nirgendwohin, wer auf dumme
Gedanken kommt, kann ihnen nachgehen, aber nur vage, auf
unbestimmte Zeit, man fängt sich leicht den Spott der Leute dabei.
Eher gehen sie einem nach, in ihrer eigenen Ordnung und in ihrem
eigenen Rhythmus. Doch keiner sollte darauf vertrauen, dass sie
schon nachkommen, man kann sich da arg täuschen und manchem bläst
es die Ausrüstung weg, ohne dass auf Ersatz zu hoffen wäre. Viele
halten es mit der Ansicht, Grundbegriffe seien einfache Begriffe,
aus denen sich die anderen dann zusammensetzen. Das ist keine
Täuschung, das ist eine Dummheit. Grundbegriffe sind, wie ihre
Bezeichnung, zusammengesetzte Begriffe, jeder von ihnen enthält das
volle Alphazet, aber in der Nussschale. Man blickt auf sie wie auf
die Steine auf dem Grunde des Wassers, die Gedanken fließen darüber
weg und sie liegen ruhig auf ihrem Platz, aber das scheint nur so.
Auch sie wandern, wie der Dichter schreibt, mit unterschiedlicher
Geschwindigkeit und in unterschiedliche Richtung, und nicht nur am
Grunde der Moldau, das ist ganz normal. Man erkennt sie zwischen
den anderen, im Verbund. Allein, auf dem Trockenen, geben sie
nichts her. Sinnsucher, die barfuß auf ihnen zu laufen versuchen,
empfinden sie leicht als spitz und versuchen, rasch wieder Land zu
gewinnen. Was nicht so leicht ist! Aber was ist schon leicht. Ein
Leichtsinn vielleicht, er ist schon weg.
Es gibt kein Alphazet, außer man schreibt es. Der Alphazetismus
besteht darin, einen Gedanken, den man lange gedacht hat, zu
ergreifen, sobald er sich flügge zeigt, als eine Geste der
Erschließung all dessen, was Menschen mangels überzeugenderer
Konzepte niemals aufhören werden, als wirklich zu bezeichnen. Ins
Gehege des Alphabets findet die Wirklichkeit kaum anders hinein als
eine Daphne in den Lorbeer – rasch, aus einer gewissen
Atemlosigkeit heraus, im Sich-Umwenden, im Entgleiten der Bewegung,
die eben noch alles beherrschte und jetzt den Körper in Wellen
verlässt, die den Betrachter wie Windgekräusel anmuten. Das
Alphazet will betrachtet werden. Bereits darin liegt ein
Alphazetismus, ein Unwille, sich zu bedienen und bedienen zu
lassen, ein Verweilen, das darüber hinausgeht und still steht,
jedenfalls der Tendenz nach. Denn der wirkliche Stillstand ist auch
der Stillstand des Wirklichen, seine Auflösung in etwas, das sich
dem Leben entzieht, eine
fürchterliche Windstille, in der ein Blumentopf auf die Straße
fällt, bloß damit etwas passiert. Etwas passiert immer, im Alphazet
liefert es einer anderen Gangart, einer anderen Passierweise das
Geländer, an dem sie das bisschen Halt findet, dessen sie bedarf.
Abgaben intellektueller Art an die Kirchengemeinde zur rechten Wegweisung, sogenannte Zuarbeiten zu einer umfassenden Sicht der vergangenen Dinge, darunter derjenigen, die nie vergehen, weil sie sich im Schmerz der Generationen erneuern. Die Sekte (denn um eine solche handelt es sich) ›zur rechten Wegweisung‹, auch die Sekte der Darüberstehenden genannt, scheidet reinlich zwischen ›den Deutschen‹ und sich selbst, während sie ihre Kompetenz just daraus bezieht, sich das Recht, als Deutsche zu sprechen, von niemandem nehmen zu lassen, schon gar nicht von den aggressiven Verteidigern, Verheimlichern und Vertuschern des wahren Deutschtums, welches das falsche ist, weil es des moralischen Impetus ermangelt, der es berechtigen würde, ›im deutschen Namen‹ zu argumentieren. Verstehe das, wer will. Andererseits: so schwer ist das alles nicht zu verstehen, wenn man erst weiß, dass dieselbe Sekte auch einen Hintereingang besitzt, über dem steht: »Zur unbefleckten Empfängnis«. Wer sich zu ihr bekennt, der hat sein ›Deutschsein‹ per Wiedergeburt ohne Makel empfangen, so dass er ohne weitere Skrupel sich über seine eigene und seine Vorgängergeneration erheben kann, um mit ihnen abzurechnen, wann immer er ihrer ansichtig wird – was oft geschieht, da die Generationsansprache sein eigentliches Metier bildet. Das Erstaunliche ist, dass er in seine Gegner wie in einen Spiegel hineinblickt, ohne sich selbst jemals in ihnen zu erkennen. Darin wiederum ähnelt er – entfernt, entfernt! – jenen Weltbrandstiftern, deren grauenhaftes Erbe er und seine Mitstreiter in gleicher Weise, wenngleich andersherum, ebenso gern und gut verwalten wie die Relativierer der anderen Seite, die finden, einmal müsse Schluss sein mit den Selbstanklagen und -bezichtigungen: auch er will Schluss machen, so wie praktisch alle Schluss machen wollen mit irgendetwas, warum nicht mit irgendwem, um die reine Welt zu erschaffen, in der alle Rainer heißen, am besten Candidus oder Candida hinterher oder gleich Pura, obwohl sich hier das angelsächsische Wörtchen ›poor‹ ernüchternd einmischt, so dass sie in letzter Sekunde Abstand nehmen und in ihre Studierstuben zurückkehren, als habe die Berührung mit der gemeinen Wirklichkeit sie soeben verletzt. »Leck m…« soll einer von ihnen gesagt haben, nicht wirklich, sondern per Götz-Verweis, wie es sich im Deutschen, wo es zu den kulturellen Wurzeln geht, gehört.
Wer sich informieren will, geht nicht ins Kino. Man kann diesen Satz auch umdrehen: wer ins Kino geht, will sich nicht informieren. Aber wer spricht vom Kino. Die visuelle Zunft hält die Leute im Griff, weil Sehen und Wissen, Wissen und Handeln so entsetzlich auseinander klaffen. Doch kein Griff hält ewig. Die Menschen merken bei alledem, was sie angeht, es fließt, wie alles Bemerkte, in ihre Wahrnehmung ein und gibt ihr langsam, mäandernd eine andere Richtung. Die allzu smarten Regenten des Medienzeitalters, vollgesogen mit Bildern der von ihnen gefütterten Fernsehanstalten, haben gute Chancen, als die letzten Analphabeten in die Geschichte der menschlichen Saurier einzugehen.
Das Analphazet wäre das Alphazet noch einmal, aber rückwärts, doch da diese Vorstellung unbefriedigend bleibt, entspricht jedem Artikel des Alphazet ein zweiter, unter einem anderen Stichwort, als Gegenstück, das die Information enthält, die dem Leser gerade abgeht. Das wurde so eingerichtet, weil Information von Haus aus paradox ist und nur Leute anspricht, die schon informiert sind. So ruft ein Gedanke Aha!, wenn ein weit entfernter gemeint ist. Der entfernte muss also gefunden werden, aber keine Suche bringt ihn dem Suchenden näher.
Das ängstliche Angekettetsein der Philosophen erweist sich, aus der
Nähe besehen, als leerer Schein. Er ist zweifellos ihr größter
Trick. Sie werfen ihn in die Luft und fangen ihn mit dem bloßen
Munde auf. Entfesselungskünstler, die sie sind, reizen sie mit ihm
das Problem. Je enger er am Körper geführt wird, desto gewisser
winkt der Beifall des sachkundigen Publikums. Keiner macht sich
Gedanken darüber, dass so ein leerer Schein lebt – anders als das
rote Tuch der Toreros. Man behandelt ihn, als sei er so gut wie
tot, also schlecht. Dabei hat er Geschwister, allen voran den
vollen Schein, den die Winzer lieben und die Eigenbrötler des
Denkens vorsichtig umgehen, als neide er ihnen ihr Asseldasein. Man
sollte wissen, dass beide, der leere Schein und der volle,
miteinander in einer weitgehend unenträtselten Verbindung stehen,
die niemals abreißt und vermutlich auch im Tod nicht erlischt. Das
Hervorgehen der Theorie aus der Selbstverhedderung des
philosophischen Gedankens ist das Leben des leeren Scheins. Solange
sein Auftritt währt, vergnügt sich der volle Schein im Schatten der
Versorgungsfahrzeuge, wo die Probleme auf Abruf lagern. Manchmal
tritt er in die Sonne, ruft lässig ein Taxi herbei und entschwindet
gen Westen. Das ist die Stunde der wirklichen Angst. Matter werden
die Griffe der Denker und hektischer, das Publikum fragt sich, ob
der Problemdruck, der auf den entferntesten Sitzen spürbar ist, sie
alle in einer gewaltigen Explosion hinwegfegen wird. Die
Veranstalter gehen im Geist die Sicherheitsvorkehrungen durch und
überschlagen die Einnahmen. Entweder sind sie tot oder sie werden
es binnen kurzem sein.
Angst gehört, auch wenn das nicht immer deutlich wird, zur Klasse
der undeutlichen Besitzgegenstände (indiscretae). Angst hat
einer, sofern sie ihn hat. Die Sprache ist in diesem Fall
merkwürdig, man ›hat‹ Angst, aber man ›hat‹ nicht Liebe, sondern
man liebt. ›Liebe haben‹ bedeutet die Fähigkeit, lieben zu können,
die analoge Aussage verbietet sich praktisch von selbst. Ängstlich
sein bedeutet nicht, Angst haben zu können, sondern sie an der
falschen Stelle zu haben, vorne links zum Beispiel, wo sie nicht
hingehört, wo, im Gegenteil, des Lebens Pulse schlagen oder
schlagen sollten. Auch hier führt die Liebes-Analogie in die Irre,
denn lieblich sein bedeutet gerade nicht, an der falschen Stelle zu
lieben, sondern zur Liebe zu verführen – nicht aktiv, durch
ergriffene Mittel, sondern von innen heraus, durchs bloße Dasein,
nichts weiter. Wer hingegen zur Angst verführt, ist ein
Angstmacher, das besagt alles. »Du solltest mir besser keine Angst
machen«, sagt das Märchen-Kind zum Märchen-Drachen. Darin liegt
eine Drohung, die dem Drachen, in dem ein Angsthase schlummert,
unmittelbar eingeht. Dabei kann, was Angst einflößt, völlig
unbeteiligt dahinplätschern. Unbeteiligt am Einzelnen zum Beispiel
geht das Universum seinen Gang. Das scheint bloß so, aber es ist
die Wahrheit, und sie ruft Angst hervor. »Stirb nicht, liebes
Universum«, murmelt das sterbliche, das allzu sterbliche
Menschenwesen, »stirb nicht, jedenfalls nicht jetzt, wo alles so
schön ist!« Und es richtet sich auf zu seiner vollen Größe und
schwingt die Fäuste gegen die bösen Mitwesen, die das schöne,
schaurige, allzu sterbliche Universum durch ihre bloße Überzahl und
ihr ekelhaftes Glücksbegehren in echte Bedrängnis bringen.
Wenigstens aufpassen sollten sie, dass ihm nichts passiert, dafür
lohnt sich’s zu kämpfen. Die Welt so klein und das Verlangen so
groß – wie passt das zusammen? Niemals und nirgends. Dieses
Missverhältnis, nun, findet in der Angst seinen Ausdruck. Zur Kunst
erhoben, hängt sie in den Museen, füllt die Bibliotheken, rauscht
in Form elektronischer Klänge durch die Weiten der Milchstraße. Wer
weise ist, bekämpft die Angst nicht, sondern verwandelt sie in
Überschuss. So muss er keine Angst haben, dass sie zurückkommt, im
Gegenteil, er darf sich ihrer erfreuen, sobald es ihn anwandelt.
Wer die Pulks aus älteren Mitbürgerinnen sieht, wie sie mit ihren
Klapphockern durch die Museen ziehen, eine erklärungswütige
Plaudertasche vorneweg, der weiß Bescheid. Sie wollen die Angst
sehen, aber nicht deutlich, scharf, klar, sondern blinzelnd,
plaudernd, nebenher und unterwegs. Seit die Bildung die Bilder
vergessen hat, gehören sie ihnen. Vielleicht gehörten sie ihnen
immer und die Kenner, die sich dazwischen drängten, waren nichts
als verkappte Hüter einer tyrannischen Ordnung, die den Auftrag
bekommen hatten, sie abzudrängen. Heute, da die Museen, abseits der
großen Ausstellungen, auf ihre anthropologische Funktion beschränkt
sind, haben sie freie Bahn. Man versteht unmittelbar, dass sie hier
zu Hause sind, man merkt es an Stimme und Gang.
»Angenommen also...« – Was ist das überhaupt, eine Annahme? Doch
wohl die Entgegennahme eines adressierten Gegenstandes, einer
›Sendung‹. Aber nicht irgendeine Entgegennahme, bewahre, vielmehr
eine, die rechtmäßig erfolgt oder unrechtmäßig, also eine, die
durch Recht und Gesetz geregelt ist... Das sind ein wenig viel
Annahmen für so eine kleine Annahme, die leicht durch die Maschen
schlüpft und mit unterläuft, wie man sagt. Angenommen also, es
fände sich ein Briefträger und er hätte recht mit der Annahme, den
rechtmäßigen Abnehmer seiner Sendung vor sich zu haben, und die
Annahme erfolgte nach Recht und Gesetz: angenommen, es handle sich,
alles in allem, um eine formal korrekte Annahme, so könnte man sich
ja bequem über die Inhalte beugen und darüber die Kautelen des
Empfangens vergessen. Aha! Man muss also vergessen, um zu
begreifen, worum es in der Sendung geht. Aber angenommen, man kann
nicht vergessen...? Wer kann denn glauben, er begreife im Ernst den
Sinn der Sendung, wenn er bereits vergisst, woher sie kommt? Wenn
er es auch nur einen Augenblick lang vergisst? Aber warum ist es
denn nicht gleichgültig, woher die Sendung kommt? Wenn sie zum
Beispiel eins meiner Kinder in meiner Abwesenheit erbricht, wäre
sie dann nicht mehr dieselbe? Man bedenke auch den Fall, die
Annahme erfolge unrechtmäßig, dafür in einem höheren Sinne
rechtmäßig: alsbald steht Sinngemäßheit gegen Buchstabentreue,
Begreifen gegen Begriff, der wahre Empfänger gegen den supponierten
– da tauchen also neue Annahmen auf, man kann nicht einmal sagen,
am Rande des Blickfelds, sondern buchstäblich dahinter, dahinter...
Das muss man sich einmal vorstellen. »Was sagen Sie? Eine Annahme
wäre eine Supposition? Eine Unterstellung? Moment mal. Wer
unterstellt hier wem was? Ich Ihnen? Wie kommen Sie dazu, so
etwas... Schauen Sie doch unter sich. Da ist doch gar kein Platz.
Und überhaupt: ich kenne Sie nicht. Ein Untergestell, das könnten
Sie brauchen, ich sehe jetzt Ihr Problem. Aber ist es meines? Sagen
Sie mir das eine: ist es meines? Ich nehme an, was ich will, damit
entferne ich mich von Ihnen beträchtlich. Lassen Sie mich ausreden.
Ich nehme an, was man mir eingibt. Oder auch nicht. Nicht jede
Eingabe zählt, wenn Sie verstehen... Manche sind dringlich, die
lege ich beiseite, für später. Es hat keine Eile.«
»Streck deine Füße, die Langsamkeit fliegt uns voran«: ein
Jubelwort aus der Litanei der Anöde, der Zuflucht aller, die, mit
Helmen und Lanzen bewaffnet, im Kampf mit den Windmühlen erlagen
und nun ein sicheres Plätzchen wittern. Da sitzen sie, rundum
gepolstert wie Armlehnen und hören einander zu, während sie ihre
Wunden versorgen. Die alte Versorgungsmentalität beherrscht sie
noch immer. Und warum alt? Wunden müssen versorgt werden, zu allen
Zeiten, immer. Von
daher, wie mein Vertreter sagt... Die Wunden bluten ja, sie
tropfen den schönen Kirschboden voll, auf dem jedes Sandkorn
knirscht, als sei es ein großer. Ein Großer? Ein großer was? Ein
Brocken, sage ich Ihnen. Diese da waren Kämpfernaturen, sie haben
Anstoß genommen, wie es ihrer Natur entsprach, ihrem Naturell,
sozusagen. Sie hatten wohl etwas zu sagen und sagten es laut und
vernehmlich, mehrfach, in einem fort. Nun ist es fort und kommt
nicht zurück. Sehen Sie den Horizont? Der lange schwarze Strich, da
steht es, äugt herüber und bewegt sich nicht mehr. Vielleicht äugt
es auch nicht, sondern blickt unverwandt in die Zukunft.
Die Krise, ungleichzeitig wie stets, überkommt den, der sich in
Sicherheit weiß, der sich in sie gerettet hat – mit einem Sprung,
einer letzten verzweifelten Anstrengung, einem leichten Heben des
linken Zehs, unmerklich für die Umgebung, mit was auch immer. Sie
überfällt ihn hinterrücks; je größer die Anstrengung des
Entrinnens, desto vehementer der Aufprall. Angekommen und nicht
angekommen zugleich, weiß er weder, wie ihm geschieht, noch, was
von ihm verlangt wird. Vor allem letzteres beunruhigt ihn sehr. Er
möchte sich gern erkenntlich zeigen für die neu erworbene
Sekurität, leider enthält sie die größte Täuschung. ›Aber ich bin
doch dankbar‹, ruft, nein, intoniert er in allen Tonlagen,
vergebens. Es hört ihn auch keiner, denn äußerlich bleibt er stumm.
Die öffentliche Anschärfung aller Sachverhalte dient, unter
anderem, der kulturellen Entleerung: der Feind bestimmt, wo es
langgeht. Kultur ist Reichtum in der Entfaltung. Erbärmlich –
oder fanatisch – ist, wer in allem nichts weiter zu sehen vermag
als Freund oder Feind. Es mangelt ihm an Kultur. Wenn ich Kultur
höre … entsichere ich meinen Browning – genauer ausgedrückt hat es noch keiner als jener Präsident der Reichsschrifttumskammer von Hitlers Gnaden. Postmoderne Kulturverächter beschmieren
Gemälde und fühlen sich, gleichgültig, was sie treiben, im Recht.
Diese Gleichgültigkeit ist ihr Erbe (oder das, was sie sich davon
nehmen). Auch die Kulturhüter treibt es dorthin, wo ›Kultur‹
bloß noch ein Wort ist, das Hass und Niedertracht befördert. Die
Inhalte hingegen haben sich längst auf und davon gemacht und lachen
sich einen Ast. Wenn also … gesetzt … eine Regierung jagte das
Volk von einer Feindbesessenheit in die nächste und sähe darin die
hohe Kunst des Regierens, so wüsste man mit Sicherheit eines: Sie
ist ein Feind der Kultur.
Die Hasenfüßigkeit macht vor den Toren der Wissenschaft nicht Halt,
sie schlüpft vielmehr mit der ihr eigenen Behendigkeit unmittelbar
hinein. Ihre ersten Opfer sind die Helden des Alltags, die davon
träumen, einmal im Leben
einen Trend zu inaugurieren. Man muss die herrschenden Trends stark
empfinden, um diesen Wunsch zu hegen, das heißt, man muss den
beherrschenden Anspruch, der von den Inaugurationstexten ausgeht,
in einem Maß respektieren, das mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit verhindert, dass der tief gehegte Wunsch
in Erfüllung geht.
Es sind tüchtige Arbeiter, gut konditioniert, sie wollen die
Verhältnisse ändern, zumindest in ihrer Disziplin, sie wollen dazu beitragen, dass sich
etwas bewegt. Sie haben ein starkes Ego, ihre Auftritte sind
durchdacht, sie verlangen, dass man ihnen zuhört, aber im
Entscheidenden zeigen sie sich taub und richtungslos. Es ist nicht
die Zeit für das, was zu sagen bliebe – den Rest, den sie sich nur
über das entschiedene Urteil aneignen könnten, das sie sich
versagen. Die Urteilsabstinenz ist über sie verhängt und manche
tragen ihr Los mit Grazie. Was für Leute wie sie ›ganz normal‹ ist,
drückt Standorte, an denen ein solches Verhalten endemisch wird, in
die Zweitklassigkeit oder in die Bedeutungslosigkeit. Das Spiel
machen andere. Da hilft kein Förderwille.
Ein Land, das für sich in Anspruch nimmt, als Schlachtfeld der Ideologien den Gang der Welt zu beeinflussen, braucht Leute mit starken Nerven. Hier wurde der große europäische Religionskrieg ausgetragen, der die Hälfte der Bevölkerung das Leben kostete, hier fand das Armageddon der drei Welt-Ideologien statt, auf das fromme Amerikaner noch immer warten, hier importiert man die letzte kriegerische Religion des Erdballs, damit den Kommentatoren nicht langweilig werde, hier ist man davon überzeugt, genügend Moral zu besitzen, um anderen davon abgeben zu können, vor allem, wenn sie an den Brennpunkten des Welthandels sitzen und ihre Rüstung auf dem neuesten Stand halten. Man ist, mit einem Wort, sich für nichts zu unbedeutend und kann sich nicht vorstellen, eines Tages wirklich angegriffen zu werden, das wäre, dem zwanzigsten zum Trotz, tiefstes neunzehntes Jahrhundert und gilt mittlerweile als überholt. Dieses Land glaubte lange Zeit, seine Geschichte noch vor sich zu haben, inzwischen ist es davon überzeugt, sie hinter sich zu haben und möchte dieses Modell exportieren. Als Exportweltmeister prüft es seine Bestände, sobald sich etwas findet, das man verwerten könnte, beginnen die Sondierungen. Ich erinnere mich an eine Diskussion zwischen ein paar Literaten, die den Konflikt zwischen Palästinensern und Israel unter sich beilegten, als handle es sich um zwei rabiate Fanclubs, die ihren Vereinsbetreuern entglitten sind und ›zurückgeholt‹ werden müssen. Eine seltsame Tätigkeit, dieses Zurückholen – mit dem Ausdruck versierten Bedauerns geht sie über Leichen und Ansprüche zur Tagesordnung über: hier liegen ihre Stärken, hier weiß jeder, was zu tun bleibt und wieviel Zeit zur Verfügung steht, damit keiner den Anschlussflug verpasst.
Es ist, unter Menschen, nicht schlecht, ein gewisses Ansehen zu
genießen, was nicht heißen muss: ein gutes. Das Ansehen
unterscheidet Völker wie Menschen, es schert sich wenig um
Staatsgrenzen und Bevölkerungsmix. Zum Beispiel haben die Deutschen
stark unter ihrem Ansehensverlust gelitten und sind erleichtert,
etwas davon wieder ihr eigen zu nennen. Sie bauen, mit einem
Augenzwinkern wird es gesagt, ›fine cars‹. Leider schmeckt das
Lob verdächtig nach jenem Aber die Autobahnen, mit dem der geistig-moralische Wiederaufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg
begann. Und ein gewisser Zusammenhang ist schwer zu leugnen. Eine
Industrie, von der die Hälfte der Bewohner eines Landes abhängig
ist, muss etwas Ungemeines besitzen. Sie birgt den Tempel und
vielleicht auch die Bundeslade, um die das geheime Leben aller
zirkuliert. Aus dem Ansehensverlust der Kultur haben forschere
Zeitgenossen geschlossen, dass sie nichts wert sei – ein
klassischer Fehlschluss, der mühsam die Einsicht verdecken half,
dass die anderen sich ein paar Jahre lang von denen da nicht über
die heikelsten und bedeutsamsten Elemente des Menschseins belehren
lassen wollten. Die Kultur hatte das da nicht verhindert, wozu
sollte sie gut sein? Vielleicht war das da sogar aus ihr
herausgekrochen, so dass man mit Fug sagen konnte, sie habe sich in
ihm entpuppt? Ein Hauch von Krieg gegen das eigene Herkommen liegt
über den Jahrzehnten nach ’45, ein zeit- und objektversetzter
Widerstand gegen wehrlose Klassiker, von toten Lebenden gegen
lebendige Tote geführt, als gelte es, eine bereits von den
Vorgängern demolierte Sache gemeinsam mit den Alltagszeugnissen der
Schande zu verscharren. So sind die Deutschen in dem, was sie ihren
Lernprozess nennen, erneut die Barbaren Europas geworden – fleißige
Lieschen ohne Alltagskultur, mit viel Kunst
und Events, ohne eine
nennenswerte Literatur, ohne eine nennenswerte Philosophie, ohne
nennenswerte Humanwissenschaften, sogar ohne ein Bewusstsein, etwas
verloren zu haben. Auch hier glauben sie sich, nach einer langen,
frenetischen, blutigen und sterilen Stunde Null, endlich
angekommen, endlich des Makels ledig, etwas Besonderes zu sein. Ein
Irrtum? Nein, kein Irrtum, ein Grobianismus.
Das ist der von einem nicht mehr personifizierbaren Gott-Teufel
künstlich geschaffene Gegenbruder Christi zum Schutze all derer,
die Jesus den Nazaräer verstoßen haben. Jene und ER gelten als
antispirituelle Zerstörer der klassischen Feste im Kirchenjahr und
überhaupt im weiteren Sinne als Verwirrer der Kathedralen der
Seelen. Man findet IHN und seine Anhänger mit schwarzen, übergroß
nachgeahmten Priesterkappen, Pantoffeln und Stolen auf Glasfenstern
und Wandgemälden, vornehmlich der Tempi sancti, innerhalb
mediterraner Orte, etwa auf jenem Bild vom Umbau Jerusalems zur
Schädelstätte durch Al Chumä den Lästerer. Von hier aus fuhr
dieser, als Begleiter des Antichristen, sehr häufig, wie von
französischen Kreuzrittern bei ihren Prozessen bezeugt, nach Westen
in gewisse Seelen phantastischer Prägung. Voller Wut behauptete
Ernst Hello, dieser niedere Knecht sei jeden Tag »voller Schmutz an
den Stiefeln« in die Köpfe der französischen Dichter gefahren.
Lautréamont war sich jedoch der köstlichen Gestalt des Inspiration
durchaus bewusst und erwähnt Al Chumä in Briefen als den
humoristischen Überbringer aller Aufträge des Antichristen, deren
Purifikation ihn allerdings immer viel Zeit gekostet habe. »Meine
Gesänge Maldorors wären fünfmal länger geworden, hätte Al Chumä
nicht soviel geschwätzt. Manchmal sprach er sogar von den
unterschiedlichen Marktpreisen für Brennholz auf den verschiedenen
Plätzen von Paris oder selbst von Grenoble.« Man kennt zahlreiche
Rezepte einer fleischlichen Wiedererweckung des Antichrist nach
1789 bei Gegenaufklärern und Satanisten in Frankreich durch
Pottasche und tierischen Leim, Weihwasser und Quecksilber. In
Barcelona zeigte man bis in die Neuzeit seine Mumie, vom Speer
eines Glaubensritters der ›vier Gelübde der Cavalleria andante‹
durchbohrt. Er wurde dort Don Spirito Diavolo contra Jesum genannt
und auf Verlangen nach Beiwohnung einer frommen Messe gezeigt. Er
war mehrere Meter lang und weiß wie Kreide, überhaupt vielleicht
eine Gipsfigur aus den Händen eines frommen oder besessenen
Künstlers. Er lag in einem Gefäß aus Kupfer und wurde gerollt wie
eine Tonne, wenn er sich offenbaren sollte.
Dehio fand ihn aber schon 1903 nicht mehr an der bekannten Stelle
und vermutete seine Abschaffung durch den frommen Erzbischof
Trivolo Maria sul davantorre del Christobal di Alicante. In einem
tieferen Sinne ist der Antichrist eine Hoheitsgestalt der älteren
Wissenschaften, die sich bewusst oder unbewusst auf ihn berufen.
Dreimal sei das Haupt, umflossen von den Primzahlen, zur Wurzel
Jesse gelangt und so zur Mutter aller Zahlen geworden. Dies lehrte
man noch für gebildete Berggänger unter den Goldsuchern der
Solothurner Bergakademie zu den Zeiten Lavaters. Von dieser
magischen Dreierreihe gingen hypnotische Kräfte aus, die Kranke
heilten und Schlaflose müde machten. Eine neuere Forschung durch die
freie religiöse Phantasie gibt es leider bis heute nicht. -
PM
Wo immer einer hinkommt, wollen die Menschen wissen, wie es
weitergeht. »Die Menschheit hat ein Recht auf klare Antworten.« So
las man es gestern, so liest man es heute. Die Menschheit, das sind
die Leute, denen das Fernsehen das kleine Einmaleins beibringt,
bevor es sie mit ein paar Kindergeschichten zu Bett bringt, dazu
jene Unverdrossenen, die sich aus dem öffentlichen Medium
nichts machen und stattdessen zu Vorträgen laufen, bloß um hinterher
mit dem Autor zu diskutieren oder sich ein Autogramm abzuholen.
Jeder, der sie kennt, weiß, dass sie nichts weniger befriedigt als
klare Antworten. Sie lieben es, ihre Vordenker in die Klemme zu
bringen. Die Menschheit weiß in einem Ausmaß Bescheid, das denen,
die ihr etwas bieten möchten, mehr Stoff zum Nachdenken böte, als
sie verkraften könnten. Nein, die Menschen wollen keine klaren
Antworten. Sie wollen auch nicht belogen oder betrogen werden,
jedenfalls nur nach dem Maß dessen, was sie sich selbst zumuten.
Sie wollen … alles Mögliche, und immerhin wäre es möglich, dass
sie beim Zuhören auf ihre Kosten kommen. Manche wollen sich etwas
dabei denken, wenn andere reden, im Hinterstübchen, dort, wohin sie
niemanden blicken lassen. Sie sind, wie man hört, in der
Minderzahl, aber diese Annahme ist vielleicht ebenso töricht wie
der Appell an die Menschheit. Was sie zu denken gedenken, ist
unabsehbar, und selbst wenn es ein Immergleiches wäre, hätte
niemand ein Recht, es ihnen zu verwehren. Dieser Niemand, das ist
die unsichtbare Figur im Spiel, sie kreuzt die Bahnen der Akteure
und mancher trägt eine lahme Ferse davon.
Sagen wir, so ein Aphorismus ist eine feine Sache – fragt sich, für
wen, fragt sich wozu? Ein coltello ist ebenfalls eine feine
Sache, warum nur misstraut man dem, der ihn in der Tasche mit sich
herumträgt? Und dann: Warum ein stumpfer? Warum einer, der so klein
ist, dass er nicht einmal dazu dienen kann, ein Brot sorgfältig in
zwei Hälften zu zerlegen? Geschweige denn, ihn dem Gegner zur
rechten Zeit ins Herz zu bohren? So ein coltello ist, recht betrachtet, zu gar
nichts nütze.
Betrachten wir die Sache von einer anderen Seite. Für viele
Mitmenschen ist es eine Notwendigkeit, der sie sich nicht entziehen
können, gefährlich zu erscheinen. Nur: in einer Gesellschaft wie
unserer erscheint man nicht lange gefährlich, ohne auf die eine
oder andere Weise aus dem Verkehr gezogen zu werden. Die Nachbarin
hat es genau bemerkt und die Polizei – gehen Sie mir mit der
Polizei! Das ist ein unnützer und gefährlicher Aufwand, anderen
gefährlich erscheinen zu wollen. Er bleibt auch vergebens, da die
Leute einen gefährlichen Menschen ungefähr so ernst nehmen wie
einen ausgebrochenen Zirkuslöwen oder einen Braunbär auf Urlaub.
Ein Anruf genügt und mit der Gefährlichkeit ist es aus.
Die Apokalypse ist, auf ihre alten Tage, Schauspielerin geworden. Ihre Spezialität: der Totentanz vor weit geöffneten Kamera-Augen, zu dem ein Klangbrei aus Politiker-Statements, Kenner-Kommentaren und, über, neben und unter allem, journalistischem Dauerabgang die Gehirne des Publikums flutet. ›Nicht mehr beherrschbar‹, ›außer Kontrolle‹, ›nicht mehr aufzuhalten‹, ›Ereignisse überschlagen sich‹ ....... abschalten, abschalten, wummert des Volkes Seele, sie meint die Kraft, die in ihren Adern kreist und hier und da auszutreten beginnt. Völlig verseucht, wie sie sich vorkommt, will sie den erlösenden Schnitt jetzt. »Geht doch«, sagt die Apokalypse und packt ihre Klamotten in den Wander-Rucksack, bevor sie verduftet, »man muss das Unglück der Menschen packen und etwas daraus machen, etwas Großes, Mächtiges, in die Zukunft Weisendes. Welche Zukunft soll man Leuten schon weisen, die alles glauben, weil sie die Zukunft hinter sich wähnen? Diese tiefsitzende Überzeugung, dass es ›im Grunde‹ vorbei ist, während doch alles vor dem Einzelnen liegt, ist eine Goldgrube, sage ich Ihnen. Die Lust am Untergang wächst im Quadrat der Entfernung vom Geschehen. So gesehen, befinde ich mich auf der sicheren Seite. Im Grunde wollen die Leute nicht, dass sich etwas ändert, sie wollen es nur sofort. Das Unglück der anderen ist eine Kompression: alles, was gewöhnlich Jahre auseinander liegt, schiebt sich in ein paar Sekunden, Stunden oder Tage zusammen. Manchmal wirkt es wie eine Kompresse, der Effekt greift schon, ehe alle Toten gefunden, geschweige denn begraben sind. Man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Wir sind alle Opfer, wissen Sie, wir haben ein Recht darauf, uns von Worten erschlagen zu lassen.«
Habe Mut, dich deines langen Arms zu bedienen! Kein Klassiker hat diese Maxime formuliert, kein Philosoph sie begründet, und doch ist sie der Klassiker unter den Handlungsmaximen, die Urmaxime schlechthin, ohne die hinieden nichts blüht und gedeiht, geschweige denn ausschlägt, zu unser aller Besten zum Beispiel oder zu anderen, verzwickteren Zwecken. Dabei ist, woher dieser spezifische Mut kommen soll, genauso unerfindlich wie das Vertrauen in einen langen Arm, wovon manche Langarmige unter den eher Kurzgewachsenen ein Lied singen könnten, deren Hände so schnell in fremden Taschen stecken, dass es kaum lohnt sie herauszufischen. Dem Hochgewachsenen dient der lange Arm dazu, die Dinge zu sich emporzuheben. Das kräftigt die Rückenmuskulatur, vor allem, wenn es regelmäßig ausgeführt wird, wovon selten die Rede sein kann und nie auf Dauer – am Ende zerstört es das Rückgrat und bereitet all jene Scherereien, vor denen die Ratgeber Ost seit altersher warnen. Die Ratgeber Ost, wo sind sie geblieben? Ein paar Kassandren im Lande, sollte das alles sein? Dafür das welthistorische Experiment? Dabei wusste keiner wie sie, wozu so ein langer Arm fähig sein kann und welche Organe ihm zuarbeiten.
Der Armleuchter hat einen bescheidenen Ruf und einen noch schlechteren Stand. Nicht umstoßen lautet seine Devise, damit meint er: Bitte verstoßt mich nicht, ich hab’s auch ohnedies schwer. Und das ist wahr. Wie wahr, das versteht seinesgleichen immer dann am besten, wenn ihm wider Erwarten ein Licht aufgeht: »Hab ich’s nicht gesagt? Hab ich’s nicht gesagt?« Natürlich hat er’s gesagt, alle Welt hat es gesagt, warum nicht er? Er jedoch trägt schwer daran, es gesagt zu haben, und beschwert sich übers geziemende Maß hinaus. Er sollte philosophische Bücher schreiben, das hülfe ihm über die Zeit. Doch er kann nicht schreiben und traktiert die Tastatur der Gedanken wie das Nachbarskind das unlängst angeschaffte Klavier. Lebenslang üben hält jung. Unter Wissbedürftigen: Wer lernte nicht gern dazu?
Seit Adler arm ist, beschränkt er sich beim Kaufen aufs Nötigste.
»Sieh her, was ich brauche«, sagt er, »das ist nicht der Rede
wert.« »Welcher Rede?« fragt G. interessiert, es freut ihn, wenn
einer Ausflüchte gebraucht, sie liegen dann nicht so am Boden herum
und er kann sicherer auftreten. »Dummkopf«, sagt Adler, denn er
kann Sophisten nicht leiden und kehrt gern den Wisser heraus.
»Armer Adler«, seufzt G., nachdem er in Würde geschwiegen hat, »er sitzt in
der Falle und merkt nichts davon. Er glaubt noch, er könne fliegen,
wann immer er wolle, und es liege am Auftritt. Lassen wir ihm
seinem Glauben. Es ist besser, er stößt sich den Schnabel, als dass
er uns abstürzt.« »Adler stürzen nicht ab, mein Lieber«, ruft Adler
hinter ihm her, »sie bewachen den Mond.« »Wie er sie«, murmelt G.
und rudert zurück in die Armutsfalle.
Was Sie hier sehen, ist ein neues Jahrhundert, was sage ich, ein neues Jahrtausend, keine Schiefertafel, stattdessen ein riesiger leerer, von keiner Kondensspur durchzogener Raum über unseren Köpfen, unbetretbar, er jedoch hat Besitz von uns genommen und lässt keinen mehr los. Unbeschrieben, nein unbeschreibbar, ist es das? Ist es das, was lockt? Andere mögen das nicht so krass empfinden, sie stehen in Kontinuitäten, die in unseren Breiten niemand so recht übersieht, sie halten vielleicht nicht soviel von Wenden oder sie wenden gerade das Schicksal der Welt, sind also praktisch beschäftigt, aber Europa, das seinen Aufstieg und Abgang in die Nussschale eines nun vergangenen Jahrtausends packen kann und gerade anfängt, erdgeschichtlich zu denken und, was mehr zu denken gibt, zu empfinden, weiß um den Moment und ist bereit, sich ihm anzutragen. Der eitle Drang, seinen Schriftzug in die leere Fläche zu setzen, möglichst als erster, sieht sich durch die Fülle an Aussicht sonderbar gebremst. Eine leere Aussicht am Ende? Eine Aussicht aufs Ende, eine Aussicht, die rasch zum Ende kommt? Niemand glaubt im Ernst, dass die Menschheit das angebrochene Jahrtausend überlebt. Das ist ein seltsam starker Glaube, der als Unglaube maskiert zwischen den Leuten herumgeht. Das neue Jahrtausend wird das Verschwinden der Gattung bringen und wir sind die, die es ihr beibringen müssen. Das Ende des Menschen ist also wirklich angebrochen, nachdem es lange bedacht und auf den verschiedenen Schlachtfeldern der Zivilisation eindringlich geübt worden ist. Es schmerzt auch nicht mehr, dieses Stadium haben wir hinter uns. Ehrlich gesagt, es wird von vielen ersehnt. Sie wollen der stummen, aus allen Rohren feuernden Natur zurückgeben, was sie so unerbittlich zu fordern scheint: die Ruhe nach der Schlacht, das reine An-sich-sein ohne jedes Für-sich, so winzig es sich auch, kosmisch gesehen, ausnehmen mag. Das sind Puristen, wie immer von der Mehrheit belächelt, die ihren Verstand, wie sie sagt, noch beisammen hat. Er wird schon auseinander fallen, auch dafür ist gesorgt. Unter uns: er fällt täglich mehr auseinander, aber das ist nur ein Bild. Mehrheiten ändern sich, das ist der Lauf der Welt, dafür sorgt schon die Biologie, wo sie ausbleibt, meldet die Medizin sich zur Stelle. Der Glaube an die Menschheit ist eine seltsame Machination, die nur auf Zeit glücken konnte und durch den Glauben ans physische Ende künstlich gestreckt wird. Niemand glaubt an ein Ende, das bereits im Gang ist. Die Bereitschaft zu glauben richtet sich auf künftige, wichtige Dinge. Wie sieht sie aus, diese Welt ohne Menschen? Sie liegt in uns, sie liegt unter, neben und über uns, sie muss nur hervorgeholt werden. Ein starker Forscherimpuls ist hier am Werk. Der fromme Wunsch, die Menschheit möge sich, bilanztechnisch gesehen, so verhalten, als gäbe es sie nicht, markiert bloß den Anfang, er haftet überall an der Oberfläche, vergleichbar dem Wunsch des Todeskandidaten, er möge noch eine Zeitlang unbemerkt fortexistieren, um zu sehen, wie es ohne ihn weitergeht. Nichts fühlt sich leichter an als so eine Fortexistenz, in der Lug und Trug ihren lange angemeldeten Anspruch auf Wirklichkeit glücklich einlösen dürfen. Ein poetisches Pärchen, mancher wünscht ihm, neben einem energetisch gesunden Gefühlsleben, die endliche Einsicht, dass ein Jegliches gut sei, bloß als sich erneuernde Aufgabe. Allein ein paar Astrophysiker, die extra dafür bezahlt werden, hoffen auf den Zwillingsplaneten im All, auf dem alles gleich und anders ist und auf dem deshalb alles neu beginnen kann. Auch sie erwarten also das Ende, sie sind verblendet genug, es nur als Anfang begreifen zu können. Vielleicht auch nicht, denn alles ist Auftrag, auch hier. Die genossene Art ist die beste.
Sich einen Ast lachen: soviel wie sich krumm lachen, einen
ungewöhnlichen Heiterkeitsausbruch hinlegen, auf Kosten anderer
triumphieren, aber im Verborgenen (oder auch nicht), einen vom
anderen übersehenen Vorteil einstreichen, unverhofft auf seine
Kosten kommen, dem (den) Mitmenschen das Nachsehen geben. Dass bei
solcher Gelegenheit etwas zum Vorschein kommt, gleichsam aus einem
herauswächst, scheint zunächst einmal nichts Außergewöhnliches an
sich zu haben, es versteht sich fast von selbst. So ein kleiner
Auswuchs – wo darf es sein? Unterm Ärmel? Aus dem Kopf? Aus der...?
Nana. Und doch... vielleicht. Die... hören Sie, ich kann mich vor
Lachen nicht halten, worauf wollen Sie hinaus? Wo wollen Sie hin?
So ein Aphorismus ist rascher entführt als die Vorstellung, die er
enthält. Allein gelassen, kauert sie einsam am Wegrand. Lachen Sie
ruhig, das ist die Wahrheit, nicht die ganze, aber ein Gutteil. Die
Vorstellung ist die Falle, die der Astlacher seinen Mitmenschen
stellt. Die Vorstellung, dass sie da draußen sitzt, erheitert ihn
in der Seele. Er hat sie gut sichtbar versteckt, man könnte sie
einen Fetisch nennen, einen Wegweiser vielleicht oder eine Grabrede
für niemanden. ›Lust, niemandes Grab zu sein‹ unter soviel
Plünderern.
Leicht schockiert, wie die Menschen sind, bleibt ihre Realitätsverankerung schütter. Tritt ein stärkerer Eindruck in seine Rechte, dann kommt es zu einem Attentismus, der alles für möglich hält, gleichgültig, ob das Netz der Kategorien es hergibt, in dem sich Menschen normalerweise bewegen. Physikalische Gesetze? Technische Daten? Psychologische Kenntnis? Das weit geöffnete Auge, das jede Bewegung registriert, kennt keine Gesetze, keine Daten, keine gesicherten Begriffe: es ist offen für alles, was kommen mag, gleichgültig, ob es überhaupt kommen kann. Ein Überlebens-Mechanismus, kein Zweifel, aber auch ein Einfallstor für Panikmacher und Scharlatane. Immer vorneweg der Sensations-Journalismus, der gerade die sensibelsten, offensten, beweglichsten Menschen im Handumdrehen in einen Haufen Narren verwandelt, die mit jedem Unsinn stürmen, in bar und auf Pump, ehe so etwas wie Scham einkehrt und sich das nüchterne Alltagsbewusstsein wieder zu Wort meldet.
Du siehst ein Kunstwerk und bist entzückt. Du liest die Theorie,
die vom Künstler ausgeheckt wurde, um seine Richtung begreiflich zu
machen, und bist gelangweilt, befremdet, irritiert. Du fragt dich:
Wie konnte dieser schwache, offenkundig leicht zu verwirrende Geist
so ein Werk hervorbringen? Und du liest weiter. Du findest die
Theorie mit anderen im Bunde, die den gleichen Geist atmen:
Ansichten einer Clique, einer Schule, einer Bewegung. So geschieht,
was geschieht: auch die dazugehörige Praxis kann nicht länger
überzeugen. Du siehst das Gewollte, das sinnlos Erzwungene, du
siehst, wo du hinsiehst: falsche Theorie. Wohin ist das Sehen
entschwunden? Welche Sicht der Dinge hat es unaufhaltsam verzehrt?
Geht das Gedachte dem Gesehenen so weit vor? Ah, da kommt es
zurück. Beginnen wir also von vorn. Nein, du bist nicht länger
entzückt, aber du lässt gelten. Du lässt gelten, weil du nicht mehr
gefordert bist. Eine naive Sicht der Dinge lullt dich ein. So geht
es den Künsten, so geht es der Kunst. Man muss ihr die Aufbrüche
nachsehen, wie sonst käme sie zustande? Am Ende gilt, was du
siehst. Es gilt nicht wirklich, nur ein wenig vermindert, du muss
dich darein versehen, sonst siehst du nichts.
»Pass auf«, riet der Aufpasser, »dass du nicht abgepasst wirst
und eine verpasst bekommst!« »Das will ich nicht verpassen«,
murmelte der Boxer im Schlaf und und legte sich den Pass unters
Genick. »Passt schon!«, rief der Schaffner dem Fahrgast nach, der
den Zug verpasst hatte und seine Beine in die Hand nahm. Na wenn
schon. Wer aufpasst, dem passieren Dinge, die anderen nicht einmal
auffallen würden, geschweige denn zustoßen. Dabei ist nur das
Zugestoßene echt, alles andere Plunder. Deshalb glaubt, wer das
Zustoßen in die eigene Hand nimmt, er sei den anderen stets eine
Armlänge voraus. Was, wenn er recht hätte? Nein, er hat unrecht. Die
Welt ist voller Aufpasser. Wer aufpasst, dem kann praktisch nichts
passieren, es sei denn, er geht seinesgleichen ins Garn. Da passen
sie aufeinander auf, dass es eine Freude ist, andere meinen, es sei
nicht zum Hinschauen. Und schon ist es passiert. In einem Staat, der
die Zahl seiner Aufpasser unauffällig vermehrt, wird alles auffällig. Das
Unscheinbare zeigt seinen Wundercharakter und benimmt sich scheinbar
daneben. Warum? Weil nur daneben noch Platz ist. Der Hauptplatz, der
eigentliche, ist der Platz, den die Aufpasser brauchen, weil sie
sonst leer nach Hause gingen und wegen Unbrauchbarkeit ins Visier
gerieten. Lehrsatz: Wenn alle aufpassen, passiert nichts. Wenn aber die
eine Hälfte der Menschen auf die andere aufpasst, dann füllt das
auf diese Weise erzeugte Wissen das Universum: alles Menschliche ist darin
enthalten und alles Weitere bleibt ihnen fremd. Ihnen? Gewiss: den Aufpassern
und denen, die sie, so oder so, kontrollieren.
Warum die aufregenden Schriftsteller die langweiligen sind.
Auffällig ist: was in seiner Zeit ankommt, vergeht mit ihr. Später,
unter der Lupe kulturhistorischer Untersuchungen, mutiert es zum
Exempel von Trivialkultur. Alles, was den Zeitsinn stimuliert,
wirkt aufregend, es steigert das Bewusstsein der Gegenwart, die
Empfindung, gerade jetzt durch offene Türen zu gehen. Da in der
Regel niemand Zeit hat, um auf sein Pfingsten zu warten, lässt er
es sich vermitteln. Die Agenturen, die dieses Geschäft betreiben,
wissen, was an der Zeit ist, sie können sich auch täuschen, aber
das lässt sich rasch reparieren, ein Hauch genügt und sie stehen
auf dem Plan. Ein kleiner Ableger dieser Agenturen sitzt in den
aufregenden Schriftstellern, sie vibrieren gleichsam mit ihrem
Schreiben mit und verlangen von sich das Äußerste: Aktion. ›Die
Aktion‹ hieß das von Pfemfert vor dem Ersten Weltkrieg
herausgegebene, übrigens bis 1932 existierende Organ, in dem die
Aufgeregten sich sammelten, um Aufregung zu verbreiten. ›Irgendwie
links‹ geriert sich das bestehende Aufgeregtsein bis heute.
Manchmal kommt kurzfristig richtige Aufregung auf, wenn ein
Aufgeregter über die Stränge schlägt und alles zurücknehmen muss
oder rasch von der Bühne gezerrt wird, zurück ins Dunkel, wo das
Zwielichtige siedelt. Am aufregendsten ist natürlich der kühle Typ,
um den herum das Publikum in Wallung gerät. Überhaupt gilt: die
aufregendsten Menschen schreiben die aufregendsten Bücher. Ist das
nicht aufregend? Mitnichten. Jedenfalls darf sich die Aufregung
legen, wenn das Leben sich legt, teils zum Schlaf, teils zum
Entschlafen. Eine verblichene Aufregung gilt zwei geschälte, mit
denen sich ein paar Saurier bewerfen, zwischen denen man ein Netz
gespannt hat.
Solange die Toten fehlen, herrscht Aufruhr, denn sie sitzen unsichtbar mit an den Tischen. Wo immer aufgetragen wird, verlangen sie ihr Recht, dabei zu sein. Erst wenn sie nach allen Regeln des Menschseins gestorben sind, ändert sich das. Wer gewaltsam aus dem Leben gerissen wurde, lebt es in seinen Nächsten zu Ende. Wer zusammen mit seinen Nächsten aus dem Leben gerissen wurde, der lebt es in den Fernsten zu einem Ende, das keiner kennt.
Du sollst nicht aufsagen! stand in großen Lettern über den Schulstunden der Kindheit, in denen es doch um nichts anderes ging als ums Aufsagen des Gelernten. Gern hätte ich meinem Banknachbarn eingesagt, der, unfähig zu größeren Merkleistungen, unter dem lauernden Blick des Lehrers bloß darauf wartete, stockend und gierig ein paar seitwärts geflüsterte Brocken lauthals zu wiederholen. Doch lieber hätte ich aufgesagt, nicht aus Eitelkeit oder Ruhmsucht, nur weil nun einmal aufgesagt werden musste, damit, was zu sagen war, hell und klar im Raum stehen würde. Der Pauker allerdings – ich muss ihn so nennen – war anders unterwegs: eingedenk des vor ihm kauernden Wunsches, der nicht nur Wunsch war, sondern Befehl, ein Hilferuf der gemarterten Wörter, machte er sich ein finsteres Vergnügen daraus, das zu seinen Füßen spielende Miniaturdrama zu ignorieren und, offen die Stümperei der Mitschüler verhöhnend, die Übung ergebnislos abzubrechen. Heute ist meine Stimme ausgebleicht, kaum zu verstehen, wie man mir andeutet, wann immer sie Erwünschtes aufsagen soll, weicht sie aus, auch bedarf sie der fordernden Instanzen nicht mehr und sie scheut keinen Umweg, um das bitter Gelernte zu bestreiten: Kausalität.
Du brauchst mir doch nicht deine Meinung aufwursteln – Ausruf einer in die Defensive geratenen Mutter, die weiß, was eigenem und fremdem Nachwuchs frommt. »Ich kann doch positiv Vorbild sein, auch wenn ich selbst nicht daran glaube?« Wer das nicht einzusehen vermag, unterschlägt die positive Funktion der Sitte oder interessiert sich nur für die Sittenpolizei. So verderbt sind die Sitten nicht, dass jeder Versuch, sie zu emendieren, zwangsläufig an den Verhältnissen scheitern müsste. Und wenn schon! Den Versuch ist es wert und das Leben wird dadurch wertvoll. Wem? Dem Leugner natürlich, der den Gesinnungsspagat tadelt und sich am Anblick des Fleisch und Rede gewordenen Widerspruchs berauscht. Nur aufwursteln, das will er nicht, brav und ordentlich will er zur Sache gehen.
Da ich ein Knabe war, ach...! Damals gab es diese Spielzeugautos
mit einem Loch in der Seite, aus dem ein kräftiger Stift
herauslugte: man steckte einen Schlüssel hinein und zog damit eine
verborgene Feder auf, die Antriebsräder musste man währenddessen
festhalten, am besten mit dem Finger, ein Tipp für später, den
keiner verstand. Leider reichte die Spannung nur für kurze Sprints
– genug, immerhin, um die bange Frage aufzuwerfen, ob einer auch
rechtzeitig losstürzte, um das rasende Vehikel aufzufangen, sobald
es über die Tischkante hinausschoss. Stärker beeindruckten die
Aufziehmäuse aus grau lackiertem Blech, die mutig in Buchseiten
hineinfuhren, aber an einer nicht genau vorhersehbaren Stelle
umkippten und sich um sich selbst zu drehen begannen,
weitergetrieben durch einen geheimnisvollen Kraftschluss zwischen
dem dünnen, biegsamen Gummischwanz und der nur scheinbar glatten
Papierfläche, die hinreichend Haftung für das Spektakel bot. Später
habe ich Menschen hochgemut zwischen die Seiten eines Buches
geraten und zum Ergötzen und endlich zum Erschrecken ihrer Umgebung
nicht mehr herausfinden sehen. Ob sie allerdings um sich selbst
kreisten oder um einen geheimnisvollen Punkt des Entsetzens, der
nicht weiter benannt werden konnte, blieb in den meisten Fällen
unerfindlich. Immerhin hatte das Buch etwas bewirkt: die Geburt
eines Wesens, das einem Perpetuum mobile erstaunlich ähnlich sah
und am Ende doch nur liegen blieb. Ein schlimmes Los, ein schönes?
Einen, der das wüsste, könnte man auch nach anderen Dingen fragen,
zum Beispiel, woher es kommt, dass die Klingel stumm bleibt,
solange man auf sie hört oder warum es keinen Zweck hat, auf die
Straße zu laufen, wenn man Besuch erwartet – lauter Dinge, die
einen flüchtig zwischen zwei Abwesenheiten beschäftigen.
Die Zeit zwischen zwei Wimpernschlägen vergeht, wie man weiß, im
Nu. Das ist leicht gesagt, im Bedenken stockt nicht allein die
Zeit, sondern auch der Gedanke. Im Nu ist einer bei sich, denn er
ist außer sich. Mehr zu sagen hieße, den Wimpernschlag
herausfordern, der den Gedanken unterbricht wie ein Glockenschlag.
Zwischen zwei Glockenschlägen findet der Gedanke keine Ruhe, ihm
fehlt das Widerlager, auf dem er sich strecken und in seiner
natürlichen Proportion zeigen kann. Stattdessen zeigt er seine
Panikfigur. Es soll Menschen geben, denen die Wucht des
Glockenschlags die Besinnung raubt. Der Augenblick besitzt seinen
unnachsichtigen Widersacher im Erz, das zur Besinnung ruft.
Das Augenverdrehen ist eine Kulturtechnik, vergleichbar dem
Wettermachen oder dem Wettrüsten. Irgendwann zeigt sich ein
Ergebnis, aber keiner begreift, wie es dazu kam und wie die
wirklichen Bahnen zwischen Ursache und Wirkung verlaufen. Der
klassische Augenverdreher weiß nicht, was er will. Er nimmt auch
nicht wirklich übel, er dreht sich vielmehr heraus – aus einem
Gespräch, einer Wendung, einem Gedanken, einer Stimmung oder einem
Gefühl –, und zwar so, dass derjenige, der zufällig einen Blick auf
ihn wirft, Bescheid weiß. Im Grunde geht es ihm um nichts weiter
als diesen Zufall. Er will, dass der Blick, der auf ihn fällt,
etwas zu sehen bekommt. Er weiß sich nicht anders zu helfen als
dadurch, dass er den Blick, den er auf sich ziehen möchte, mit
einem Schabernack im voraus belohnt. Also sucht er in einem Spiel,
das zu spielen er keine Sekunde lang vorhat, den Verbündeten.
Eigentlich möchte er unsichtbar sein und aus dieser sicheren
Position heraus auftrumpfen. Besser, er möchte aufgetrumpft haben,
um es desto sicherer leugnen zu können. Noch besser: Er möchte sich
hier und heute aus seinem künftigen Grabe davonstehlen, um den
anderen das Nachsehen zu geben. Oder: Er möchte sich lieber
begraben lassen, als sich all das ungerührt anzuhören, was seine
Mitmenschen in ihrem täglichen Wahn von sich geben. Er hat eine
gute Haut, warum sollte er eine sein?
Der Ausfall der Männer, bemerkt Adler, geht hierzulande ins dritte Glied. Ich sah die Geschlagenen zurückkehren, sofern sie zurückkehrten, woher und wohin auch immer. Sie hatten dem Staat alles gegeben, aber er war mit ihnen noch nicht fertig und verlangte den Wiederaufbau. Übrigens taten sie es aus freien Stücken, die Ruinen schmerzten in ihren Augen und erinnerten sie an etwas, das sie nicht wirklich verstanden hatten. Sie wussten, wie alles richtig war, so wie ihre Söhne, nur nichts voneinander. Unter sich blieben sie, was das Mordhandwerk aus ihnen gemacht hatte, alte Kameraden, die sich das eine oder andere zuschustern konnten, wenn sie es selbst nicht brauchten. Reden wir nicht von den Söhnen! Eitle Sieger in einem Krieg, der zu Ende war, als sie noch in die Windeln schissen. Gerade sie entdeckten, immerhin, das Gedächtnis. Die wahren Gedächtnismeister aber scheinen die zu sein, die jetzt das Heft in die Hand nehmen. Um sie zu verstehen, muss man vergessen können. Wer kann vergessen? Bitte sagen Sie mir: wer kann vergessen? Die Leute tun so, als hätten sie alles vergessen, es sind Heuchler, die nicht zurückstehen können.
Ist die Jagd auf Indigene einmal eröffnet, ist das Land schon verloren, denn die Auszeichnung wirkt wie ein Aussatz und jeder, der seine Sinne beisammen hat, flieht die Berührung. Deshalb ist Hohn die Grundnorm einer Kultur, die sich, der Gewalt der Waffen oder einem inneren Zwang gehorchend, zurücknimmt: gestern noch Träger eines reichen Erbes, herkommenssatt und institutionensicher, ist der sogenannte Indigene das biologische Überbleibsel einer Vergangenheit, die mehr oder weniger rasch vergeht, die in den meisten Zeitgenossen bereits vergangen ist, denn Bewusstsein ist großenteils Antizipation. Ein Land, leidend unter einer Vergangenheit, die nicht vergehen will, mag darin Erlösung finden, Erlösung von dem Übel der Welt, wie es in sakralen Texten heißt, die keiner liest und fast jeder lebt, gerade weil er sie nicht liest und deshalb auch nicht verständnislos das Haupt schütteln kann, denn Leben und Verstehen schließen einander bekanntlich aus. Als ›indigen‹ gezeichnet zu sein und auf das Überleben der Institutionen hoffen – das ermöglicht jenen Abgang ›in Würde‹, der so nicht genannt werden darf, denn das wäre falsches Bewusstsein und erzürnte die Mitwelt.
Wer außerhalb der Zäune läuft, der gewinnt kein
Rennen, auch wenn er schneller läuft als die anderen. Der Grund: Es
gilt nicht. Warum läuft er überhaupt, wenn es doch nichts zu holen
gibt? Die Antwort ist einfach. Die Lust an der Bewegung hält ihn am
Laufen. Warum nicht innerhalb der Umzäunung, also dort, wo es gilt?
Vielleicht deshalb, weil er Zäune nicht mag. Vielleicht läuft er in
einem anderen Rennen, dessen Regeln, auch wenn das Gros seiner
Mitmenschen sie nicht kennt, ebenso streng oder strenger sind als die
der professionellen Läufer. Nicht jeder, der die übliche
Professionalität für sich ablehnt, ist deshalb ›unprofessionell‹.
Der eine findet sich vor einem größeren Richter wieder, den anderen
verschlingt die eigene Nichtigkeit. Die Figur des Richters ist
unserem Denken so eigen, dass es sich verantworten muss –
auch dort, wo es jede Verantwortung ablehnt. Man könnte diesen
Gedanken anschärfen, indem man sagte: Erst wer jede Verantwortung
von sich weist, steht in der Verantwortung, aus der einen niemand
befreit.
Man muss seine Gedanken aussetzen, wie man Fische aussetzt – nicht
der obligaten Kritik, diesem Gesäusel unter dem Einfluss widriger
Analgetica, sondern dem Element, in dem sie ihre natürliche
Regsamkeit unter Beweis stellen, in dem sie sich paaren und
irgendwann absterben, so wie man ihrer ab ovo eingedenk bleiben sollte, falls
sich einige Prachtexemplare darunter finden. Ich persönlich – sagt
G. – gehöre ja einer Generation an, der die Lust am Gedanken abgeht
– man könnte auch sagen: fremd ist, aber das zu behaupten
überschreitet dann doch jede Kompetenz. Nein, sie geht ihr ab.
Darum handelt es sich: eine tragische Geschichte. Man sollte von
solch einem Abgang viel mehr Aufhebens machen. Nicht, dass er von
der Öffentlichkeit unbemerkt bliebe, aber das ist es ja – dieses
schier unendliche Gesäusel und Geflüster, dieses Hand-vor-den-Mund
und Darf-man-das, dieser Anschlusswille vor jeder Fähigkeit, dieses
zäh und stur Tertiäre, in jeglichem Sinn des Wortes, wo kommt das
her? Wo strebt es hin? »Auf den Friedhof, mein Freund, auf den
Friedhof. Gondwana stirbt«, krächzt dunkel die Stimme Waputas. Aber
– wäre das nicht zu leicht gedacht? Dieser Generation (vielleicht
ist es auch nur eine Halbgeneration, und darin liegt bereits die
ganze Tücke) eignet eine Behäbigkeit des Urteils, der allein mit
Gedankenschwere begegnet werden kann. So wankt der Gedanke langsam,
auf hohem Kamele reitend, herbei und gleitet herunter, als berge er
eine Kostbarkeit, dabei ist er nur unförmig. »Nietzsche sagt –«: so
beginnen viele ihrer Sätze, zu viele, an die sie sich in der Wüste
gewöhnten. Auch andere bedeuten ihr manches, haben sie erst einmal
volle Zitatreife erreicht. Im Land der getrockneten Feigen schmeckt
das Leben süß.
Gesellschaftskundler wissen Bescheid: Das Aussterben, sei es von Familien, sei es von Nationen, ist eine Passion wie ... wie ... die Geschlechterliebe, der sie in mancherlei Hinsicht ähnelt. Aber im Ganzen erscheint es doch mehr wie ein leidenschaftlich betriebenes Hobby, das in viele Lebensstile eingreift, beginnend mit dem der Alten, die der Statistik zuliebe noch ein wenig durchgeschleppt werden und sich dabei so jugendlich fühlen, dass der Renteneintritt mit 75, sobald er erst einmal ansteht, kein Akzeptanzproblem darstellen wird. Eher wird es Probleme bereiten, die passenden Alten-Arbeitsplätze herbeizuschaffen bzw die bestehenden altengerecht umzubauen. Auch am anderen Ende der Skala, bei den ganz Kleinen, wächst derweil der Hang zur Bewirtschaftung. Wer wen wie aufzieht, ist nie ganz Sache der Eltern gewesen, doch nachdem das Dickicht der Omas und Opas, der Tanten, Großtanten und Ururneffen sich auf Kita-Maß reduziert hat, steht dem kommenden Einheits-Typus des Uppslers, gleich welcher Herkunft, nichts mehr im Wege außer der unterschiedlichen Ausstattung mit den Gütern dieser Welt. Mit dem Mangel an Kindern wächst auch die Kinderarmut. Das ist ein Paradox, scheinbar schwer aufzulösen, aber hat man es erst einmal begriffen, fällt die Auflösung leicht. Der Staat, hoch verschuldet und kinderlos, möchte die schwindende Elternschar gern gründlicher schröpfen, aber sein Griff geht, wie so oft, daneben und zerbricht das Modell.
Das Bewusstsein für Kontinuitäten schärfen – so etwas sagt sich
leicht und trifft schließlich die, die sich als erste dafür
erwärmten. Vielleicht zu recht, schließlich haben sie den Stein ins
Rollen gebracht, wohl wissend, dass immer etwas nachkommt, wo
keiner etwas erwarten konnte. Was kann schon kommen? Das ist die
Frage all derer, die sich aufmachen, die sich bereits aufgemacht
haben, weil sie es zu Hause nicht mehr aushalten konnten, weil sie
es nicht länger als ihr Zuhause betrachten, schließlich, weil sie
nicht länger nach einem Zuhause trachten, aus welchen Gründen auch
immer. Unter der Oberfläche wächst das Verbindende nach, es wächst
unaufhörlich, eine subkutane Realität, die der äußeren an Dichte
und Zusammenhang in keinem Punkte weicht. Warum das so ist? Keine
Ahnung. Oder doch? Betrachten wir den Vorzeichenwechsel: das
Negierte schielt über den Negator hinweg und ruft sein »Hier bin
ich«. Damit lässt sich vieles erklären, wenngleich nicht alles. Ein
anderer Grund: wer will, findet immer umfassendere Kausalitäten,
die sich per Willensentscheid nicht aushebeln lassen. Die
Konstellation frisst ihre Kinder. Auch sollte nicht übersehen
werden, wieviel Energie sich in Auszügen und Aufbrüchen verbraucht.
Woher sie stammt, wohin sie geht, ist das eine, ihre schiere Bilanz
das andere. Manch einer dünkt sich am Anfang und ist schon am Ende:
soviel hat es ihn gekostet, einen neuen Anfang zu machen. Und was
heißt schon neu? Mancher, der sich unvergleichlich vorkommt, müsste
sich verschämt in die Ecke drücken, wüsste er um die verborgenen
Motive in den Anfängen derer, die er verachtet. Der Manichäismus
zwischen den Generationen, dieses verzweifelte Ringen ums
Sagen-können und Sagen-haben, endet auf dem Richtplatz der Gefühle,
mit dem Eingeständnis der eigenen Niederlage dort, wo er begann.
Solange der Hochmut regiert, solange regiert auch die Not, der er
entstammt, die Not all derer, denen alle Wege versperrt erscheinen,
außer dem der Schande. Die Schande ist ein feiner Begleiter, sie
durchdringt die Metamorphosen, die sie initiiert, sie ist
urheberisch beteiligt an allen Urheber-Streitereien, sie ist causa
sui und causa causarum, Ursache einer Ursachenkette, die über die
Erde wegläuft, scheinbar glatt, aber ›dumpf in der Erde / wandert
es mit‹. So kommt es zur Figur des Verlorenen Sohns, dem
unerwarteten Wiederauftauchen dessen, der sich selbst enterbte,
inmitten des Erbes, das ihn aufnimmt, als sei er niemals fort
gewesen, obwohl... ihm dieses Fremde anhaftet, das nicht weggeht,
etwas Befremdliches, spürbar genug, damit man ihm Platz macht. Und
das wollte er ja: Platz.
Die verwirrende Neigung der heutigen Deutschen, jedes Wort, das ihnen nicht oder nur wenig geläufig ist, ›englisch‹ auszusprechen, führt hin und wieder zu Komplikationen, vor allem, wenn das Missverständnis Ausdrücke der eigenen Sprache betrifft. Solche Sinnknäuel, in denen mehrere Sprachen an einer partizipieren, sind Sprachwissenschaftlern eine Lust, doch nicht nur ihnen. »Vom Vergnügen an faden Witzen«: so ein Titel träfe manchen nicht-beamteten Sprach-Transmitter mitten ins Herz. Da den Deutschen gleichzeitig immer größere Teile des heimischen Wortschatzes abhanden kommen, ist der Zeitpunkt absehbar, zu dem sie ihr Idiom aussprachemäßig ganz und gar umgekrempelt haben werden. Sie werden dann immerfort Wörterbücher wälzen müssen, um nichts zu finden. »Aber da steht doch nichts«, könnte ein gutmütiger Mensch einwerfen, doch da es ihm vermutlich an Aussprache mangelt, dürfen sie ihn nicht verstehen.
Der B.-Effekt ist eine Art stiller Post, bei der einer vorn eine Ansicht äußert, um von hinten niedergebrüllt zu werden. Benannt wurde er nach dem Historiker B., dem es gelang, bloß mit dem Ratschlag an seine Regierung, sich nicht leichtfertig an einem Krieg zu beteiligen, der ihr eines Tages über den Kopf wachsen könnte, als Kriegstreiber und Radikaler im öffentlichen Dienst am Pranger zu landen. Dergleichen geschieht, wenngleich nicht alle Tage, und selten ohne rechtliche Gegenwehr. Daher bedurfte es eines geeigneten Unter- und letztlich auch Überbaus, der, als Rechtsgrundsatz gefasst, wie folgt lauten müsste: Nemo contra B nisi C, auf deutsch: Niemand gewinnt gegen B., außer die Chemie stimmt, z.B. zwischen Richter und Kläger, denn etwas muss doch stimmen, wenn sonst nichts stimmt. Ehrabschneidung wird eher selten dadurch geheilt, dass ein Gericht sie durchgehen lässt, voraussehbarerweise vervielfacht sie sich. Es soll Richter zwischen Himmel und Erde geben, die erkennen in ihrem Beruf nur das kleine Ich, das ihnen unentwegt zuflüstert: Verrücke, was dich verrückt macht. Was gibt es Verrückteres als Gesetze? Sie weichen nicht, sie wanken nicht, und sie verändern sich doch. Zwischen zwei Rechtsgütern klafft heute vielleicht eine Wunde – morgen ist sie verheilt. Wer das im Kopf aushalten will, muss einen zweiten in Reserve halten, und sei es als Spucknapf. Man braucht kein Jurist zu sein, um die Anspielung zu verstehen. Man muss nur offenen Auges die Anschläge an deutschen Universitäten betrachten. Ein AStA (Allgemeiner Studenten-Ausschuss) zum Beispiel ist in seinen Ansichten nicht halb so allgemein wie die katholische Kirche katholisch, nur das Wort ›Ausschuss‹ müsste sorgfältig erwogen werden, da sonst der Schuss leicht nach hinten losgeht. Dein AStA erklärt dir die Welt – basta. Damit ist schon geklärt: der Professor, der sich aufs Meinungsparkett wagt, ist immer der Bastard, gemeinfrei, er kann nur darauf hoffen, dass ein Schmutzfinger hin und wieder den Abdruck beseitigt, den sein Vorgänger hinterließ. Politiker kennen das, dem Professor geht es gegen die Ehre, aber so ist die Welt. – Wer das Verdrehen nicht schätzt, der kann dem B.-Effekt aus naheliegenden Gründen nicht viel abgewinnen, es sei denn, er gehört zu jenen seltenen Zeitgenossen, die ihr Glück darin finden, das Verdrehte zurückzudrehen, so dass es anschließend, als sei nichts geschehen, so daliegt wie am ersten Tag, als die Welt noch frisch war und nach Babyöl roch.
Dichter, sagt mein Freund TK – er sagt es nicht wirklich, aber ich
sehe es ihm an –, wird man nicht durch Dichten, sondern durch diese
Fähigkeit, die Zeit in Worte zu fassen. Ich weiß, die Philosophen
haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf
an, sie so, wie sie ist, zu werfen. Manche tragen das Fell des
Bären über der Schulter und man erkennt sie am Hasenfuß.
– »Besser am Hinkfuß. Das wäre doch ein Zeichen.« – »Man muss
etwas drauf geben, von nichts kommt nichts.« – »O doch. Eine ganze
Menge.« – »Das mag sein, aber unter Brüdern, da muss geteilt
werden.«
Der Ausdruck ›bahnbrechende Forschungen‹ ist ein Re-Import aus der Gesellschaft in die Wissenschaft. Er wird dort kaum benützt, aber gern vernommen. Schon der verbindliche Plural zeigt an: Exaktheit ist dabei nicht gefragt. Für die Informationsorgane der Gesellschaft gilt die in ihrer Mitte betriebene Forschung als Zauberkasten, aus dem von Zeit zu Zeit erstaunlich schlichte Erkenntnisse purzeln. Hätten Sie’s gedacht? Es darf gekichert werden (hinter vorgehaltener Hand, versteht sich), aber nicht öffentlich gelacht. Mag sein, die Erkenntnisse sind, von einem menschlichen Standpunkt gesehen, banal, aber wenn man zuletzt damit auf dem Mond landet, dann hat sich die Reise gelohnt. Mit der Opakheit ihrer Methoden verschafft Wissenschaft sich Respekt. Zu Recht, denn in den sogenannten Ergebnissen fürs staunende Publikum, bei laufender Kamera, verkauft sie ... ihre Seele? Ihre Kultur? Ihre Wissenschaft, also sich selbst? Die Methode steht zwischen der Wissenschaft und der Gesellschaft: ein Damoklesschwert, bereit, auf jeden niederzusausen, der die Ergebnisse der einen an die andere Seite verkauft. Wissenschaft produziert Antworten auf Fragen, die außerhalb ihrer Areale niemals gestellt werden, Gesellschaft kauft ihr ab, was sie so nie behauptet, geschweige denn bewiesen hat.
Im Yagir soll ein Bahnhof unter die Erde verlegt werden und die Bevölkerung steht Kopf: nicht, um besser sehen zu können, was unten geschieht, sondern um zu verhindern, dass es geschieht. Eine ratlose Politik drischt auf die Köpfe ein, Blut fließt und einer vertraut sein lose baumelndes Auge dem Fernsehen an, wo er es sicherer wähnt. Die Politik gewinnt das Spiel und verliert die Wahl. So kann es kommen, so ist das Leben. Derweil dämmert der Bahnhof im Zwischenreich der gemischten Empfindungen: der alte ist der alte nicht mehr und der neue will nicht hervorkommen. Ist das ein Bild? Wenn ja, wofür? Vielleicht ein Test – im Yagir wird viel getestet und dann verworfen, aber nicht wirklich, manchmal nimmt die Wirklichkeit Züge von Verworfenem an, dass einem angst und bange werden kann. So erfährt man, an Stelle des Bahnhofs könnte schon bald eine shuttle station für den Verkehr in den erdnahen Raum entstehen. Die Bewohner des Yagir hören das gern und befinden, dann habe der Kopfstand sich doch gelohnt. Befragt, wie sie das meinen, schütteln sie den Kopf und liebkosen die Bäume, die bald gefällt werden müssen.
Die Entdeckung des Struwwelpeter für die Malerei lassen
wir Ihnen gern durchgehen, das ist hübsch, das hat Verve, das macht
Laune und besitzt sogar Farbe, mit einem Schuss
Gouvernanten-Familiarität à la Hogarth, vorsichtig modernisiert,
und die Mädchen in ihren Söckchen und all die Engelchen mit einem
aufgemalten Geschlecht, das zu ist wie der Bankschalter am Sonntag
und einer mit einer klitzekleinen Karte in der Hand darf sich
Hoffnungen machen, unberechtigte hoffentlich, das ist alles hübsch
und sogar recht schön und sehr schön gemalt, das muss einer sagen.
Aber was Sie hier angestellt haben, ist eine Wucht, da mag sich
einer heraussehen, wenn er mag, was er will. Das hat eine Klasse,
die zur ewigen Malerei gehört, und warum? Ich will es Ihnen sagen.
Es ist eine stille Raserei in diesem Bild, die sich dem Malakt
verdankt, einem langen, vollständig ausgeführten, nirgends
überdehnten oder gar überschrittenen Akt, in dem ein Pinsel
Gelegenheit erhielt, alles auszudrücken, was in ihm lag und
vielleicht noch liegt, vielleicht noch liegt. Ein äußerlich
bescheidenes Bild mit einem ruhigen, unaufregenden, gewissermaßen banalen Motiv, das hier
nicht verraten werden soll, denn irgendwo muss das Sehen beginnen,
jenseits der nachvollzogenen Urteile und dem Suchen nach dem, was
alle Welt kennt.
Für einen Architekten muss es seltsam sein, zu Füßen eines Gebirges aus Beton und Glas entlang zu schlendern, das keiner sieht, weil es erst in seinem Kopf existiert, und auch dort nicht richtig: jetzt, auf diesem Spaziergang, fiele es ihm schwer, die Berechnungen zu reproduzieren, geschweige denn alle Detaillösungen, und dass an diesem sonnigen Wochenende keine der Schwierigkeiten, die sich beim Bau einstellen werden, den Finger hebt, versteht sich von selbst. In so einer Situation ist ein Schriftsteller alle Tage. Der Bau, den er sich ausgedacht hat, wächst, aber es wächst nur die Masse an Geschriebenem, der Bau bleibt immer gleich abgedunkelt. Er existiert im Kopf, er existiert in unterschiedlichen Spannungszuständen, er existiert in Spannungsbögen, die notwendig immer wieder aufsetzen müssen. Im entspannten Zustand ist der Bau zwar da, aber nicht vorhanden, es fehlt jeder Zugang zu ihm, er ist hier und heute nicht zu realisieren. Das schreibt sich so leicht, aber es grenzt an Selbstvernichtung.
Wenn ein Gebäude zu wanken beginnt, das man lange bewohnt, an dem man selbst mitgebaut, an das man zumindest, gefragt oder ungefragt, mit Hand angelegt hat, wenn seine Fugen sich lösen und Teile des Fundamentes ins Unbekannte entgleiten, wenn in dem, was immer noch da ist, vage die Umrisse dessen erscheinen, was künftig an gleicher Stelle Haltbarkeit und Dauer ausstrahlen wird, dann ist es Pflicht des Historikers, diesen Moment festzuhalten, wissend, dass auch die eigene Existenz soeben zu bröckeln beginnt und er Gefahr läuft, von Trümmern erschlagen zu werden. Pflicht? Lust? Sagen wir, er weiß sich nicht anders zu helfen und behilft sich mit dem, was er gelernt hat.
Irgendwann verläuft sich jedes Argument und die natürliche
Bizarrerie des Bedenkens tritt hervor. Es handelt sich, ganz recht,
um einen Akt der Wegelagerei. Zumindest könnte man es so sehen.
Aber wer will das schon. Man kann eine Sache zudenken, bis sie
verschwunden ist, und wenn man sie dann befreit, ist etwas anderes
aus ihr geworden, etwas, von dem man Stein und Bein schwören würde,
man habe niemals daran gedacht. All diese Schwüre sind nichts wert.
Auch im Aufdenken ist das Bedenken groß, es bedarf kaum eines
Schlüssels und das Bedachte geht auf, groß wie ein Sarg, und
entlässt ein Blütenmeer. Schwerer geht das Entdenken, das Abziehen
der Gedanken, und selten ohne Getöse, an dessen Ende ein Wimmern zu
vernehmen ist, das dem eines Neugeborenen gleicht oder zu gleichen
versucht. Man weiß nicht und man wird niemals wissen, was in
solchen Momenten wirklich geschieht. Das Entdachte, seiner
natürlichen Würde
zurückgegeben, erhebt sich augenblicklich und geht. Im
Fortdenken bleibt das Denken sich selbst
überlassen, es ist ganz bei sich, ganz forte. Nur mit dem Ankommen hapert es;
so wie die großen Seeschiffe weit draußen vor den Häfen ankern, hat
das starke Denken seine Anlegepunkte, wo die meisten nichts sehen.
Bedient werden möchte jeder, nur die Bedienungen kommen nicht nach und die Selbstbedienung leidet an dem nicht auszurottenden Selbstwiderspruch, dass, wer sich bedienen muss, in der Regel bereits bedient ist, wenn das Diner beginnt. Das liegt daran, dass der Selbstbediener mit vollen Backen zum Mahl kommt, während Distinktion keinen Hunger kennt, nur den feinen. Fazit: nur wer sich bedienen lässt, kann dem Drang einzusacken, wo es ums Zupacken geht, einigermaßen erfolgreich Paroli bieten. Man sieht das z.B. in der Politik, wo die Tantiemen vor der Wahl eine andere Brisanz besitzen als nach der Abwahl. Ein anderer Anschauungs-Bereich wäre die Drittmittelwissenschaft, in der das Einsacken vor der Erkenntnis steht und diese substituiert – eine ausgewiesene Erkenntnis, was soll das sein außer einer, die schon jeder kennt und die alle Schalter offizieller Billigung bereits durchlaufen hat? Solche Durchlauf-Erkenntnisse sind teuer, weil ihre Zahl begrenzt ist. Man braucht einen guten Leumund, um in die erlauchten Zirkel vorzudringen, in denen man Eigentumsrechte an ihnen hält und untereinander zum Tagessatz tauscht. Was Politik, was Wissenschaft! Wer die Straße kennt, weiß in der Regel auch zu beurteilen, wer von seinen Mitmenschen die Regeln gefressen hat, statt sich an sie zu halten. Bereitwillig lässt er ihn – vorbei. Oder auch nicht.
Man stelle sich vor: eine Spezies von Männern, die so beseelt sind vom Gedanken der Gleichheit aller Gesellschaftsglieder, dass sie darüber das eigene Leben versäumen. Jene winzige Ungleichheit, die sie ins Spiel brächten, wenn sie sich ausspielten, empört ihren Sinn und lässt sie in unendliches Grübeln verfallen. Schrecklich ist immer das Los der anderen, das eigene ist und bleibt auf die eine oder andere Weise, in der einen oder anderen Bedeutung, verhängt. Sich selbst als jemanden konstruieren, der anderen schrecklich wird, sollte er sich einmal entschließen, den schützenden Kordon der Familie, die ihn hält und hätschelt und verdirbt, zu verlassen, was ist das? Wozu taugt ein solches Konstrukt? Wozu es nicht taugt, ist offensichtlich, aber in einer Gesellschaft, in der Familien untergehen, um als Familienbande wieder zu erstehen, erlaubt es auch ein Leben, und schließlich: Gesellschaft ist alles. Was die Freundin verhindert, nützt der Mutter, was die Mutter verhindert, nützt dem Arbeitgeber oder seiner Partei, was die Arbeit verhindert, nützt dem System von Trägern, das auf Zufluss angewiesen ist und seine Klientel zusammenhält. Schließlich dient alles der Wissenschaft, die ihre Freude an dem hat, was sie beforschen kann. Hier kommt ihr ideales Objekt. Auch wenn sie nichts zu finden begehrt: etwas Nützliches findet sich immer.
Was soll ich sagen? Dass ich euretwegen gelitten habe, wie ein Tier
meinethalben, und dass ich es nicht einmal sagen darf, weil es euch
nur befremden würde? Das ist ein schönes Wort: befremden, ein Wort voller Heimtücke,
voller Fußangeln, voller Blaff und Bluff, ein Radauwort auf leisen
Sohlen, ein Fortgänger im Ankommen, ein Unbelangbarer. Befremdet?
Das kann ich mir vorstellen. Ein Hauch fällt auf die Rede und
löscht ein Gesicht aus. So etwas geschieht, es geschieht andauernd,
es trotzt aller Aufklärung und allem Bedenken, es ist das
Unbedachte im Bedachten, aus dem einfachen Grund, weil es die
Grundform des Bedenkens darstellt. Im Befremden ersteht die
Welt, wie sie ist, mit ihren Schärfen und Kanten, ihrem Sortieren
und Sortiertsein und Umsortieren, ihrer Kälte und dem, was man
unvorsichtigerweise ihre ›Unbewohnbarkeit‹ nennt. Das Befremden
absorbiert jede Theorie, jeden Ansatz, so wie es jedes Gesicht zum
Verschwinden bringt. Es absorbiert sich selbst und das Spiel geht
weiter. Manche bleiben befremdet, sie gehen ein oder werden
entrückt. Das Befremden annulliert jeden Fortschritt, es stellt die
intimsten Beziehungen auf NN und ermöglicht den Neuanfang. Es
bewirkt, dass das Entsetzliche nur auf Augenblicke sichtbar wird. »Das klingt doch
positiv.« Sagte ich’s nicht? Nun, was soll...?
»Wer das Denken beherrscht, beherrscht die Menschen. Wer die Sprache beherrscht, beherrscht das Denken. Wer die Begriffe beherrscht, beherrscht die Sprache.« Bei so viel Herrschaft wird der Zeitgenosse nervös – nicht zu Unrecht, nicht zu Unrecht. Sehen wir zu. Wer das Denken der anderen beherrscht, der muss nicht zwingend das eigene ... beherrschen. Das Gegenteil wäre eher der Fall. Und erst die Sprache! Mein Gott, die Sprache! Jeder denkt, er beherrscht sie, sobald er nur ein paar Ausdrücke kennt und anwendet, wie es ihm in den Sinn kommt. In den Sinn! Darin liegt schon der Ärger. Die Sprache spielt mit den Menschen Katz und Maus und die Sprachregler sind die größten Hasenfüße. Zu Recht! Das Publikum staunt, wenn sie im Gelände ihre Haken schlagen, darüber vergisst es den Weg, den sie eben noch nahmen. Zickzack! Jawohl, Zickzack! Im Zickzack vergisst es sich schneller, woher einer kommt und wohin die Reise geht. Wer das Vergessen beherrscht, der, ja der... – Schade dass, wo es sich rasch vergisst, das Vergessene flotter wieder aufersteht als geglaubt. Das gilt in vielerlei Hinsicht. So jagen die jungen Hasen dahin und halten sich für die Jäger, während die alten Hasen dem Treiben zusehen, als ginge es sie nichts an. Oder kaum. Unterdessen beherrschen sie die Szene, ein Wink von ihnen und die Jagd gewinnt ein anderes Aussehen. Schleuser sollte man sie nennen, warum nicht? Sie lassen fallen – ein Wort hier, ein Wort da, erwogene Wörter und vergiftete dazu, Wörter wie Juckpulver, sie brennen sich ein und gehen nicht weg. Ihre Spur geht nicht weg, auch wenn sie selbst längst entsorgt, pardon: versorgt sind. Das Einschleusen von Begriffen sollte unter Strafe gestellt werden. Nur so wäre Denken, was es niemals war: ein duftendes Paradies, ein wogendes Meer törichter Jetztgedanken, im husch! entsprungen und im herrje! dahin.
Die Behändigkeit ist ein besonderes Gut, ein Selbstläufer unter den
Gütern (und den Begüterten), entfernt der Beidhändigkeit verwandt,
aber doch nicht so sehr, dass sich daraus Schlüsse ergäben.
Überhaupt hält sie es weniger mit der Ergebung als mit deren
Mitläufer, der Ungeschert- oder Ungescheutheit, die an der Scheu
wie am Gescheitsein gleichermaßen partizipiert. Wie das?
Gescheitsein ist, wie es scheint, ein hohes Gut, das wird den
Kindern von früh auf eingebläut und sie wissen es auswendig. Was
sie keinen Deut gescheiter macht, aber in die Lage versetzt, nicht
so dumm zu sein, wie es nötig wäre, um zu dem zu stehen, was der
Verstand einem eingibt. Ungescheut das Rechte sagen, das wäre was
Rechtes, das könnte manchem so passen, der sich besser bedeckt
hält. Ein unerquickliches Wortfeld, fürwahr. Behände ist einer über
das hinaus, was ihn flugs einholt und hurtig verspeist, zur
Nachtzeit, sobald der Uhu schreit.
Das Gegenstück zur Enthauptungsmaschine ist die Behauptungsmaschine. Die Behauptung geht dahin, dass jede Enthauptung eine Behauptung nach sich zieht, eine Behauptung nach Maß, und dieses Maß gibt eben die vorausgegangene Enthauptung. Ich erkläre das so: kein Haupt existiert ohne ›Träger‹, soll heißen: die etwas trägere Masse, als deren Haupt es figuriert. Die Enthauptung lässt diese Masse nicht verschwinden, im Gegenteil: sie wird, während sie in sich zusammensinkt, kraft irgendeiner sozialen Formel, größer, unförmiger vielleicht, aber auf jeden Fall größer, massiger, fordernder, selbstbehauptender. Gerade darauf läuft es hinaus: die enthauptete Masse hat ein Selbstbehauptungsproblem, das muss sie lösen. Wo Köpfe rollen, läuft die Behauptungsmaschine auf Hochtouren. Das Gros der Behauptungen verschwindet im Nirgendwo, deshalb ist Nachschub immer gefragt. Unter uns, er ist schneller zur Hand als die Nachfrage. Der Behauptungsstau ist die Grundform der Freiheit, die aus der Enthauptung entspringt. Wie ihm entkommen? Das wäre die Frage. Zu vieles drängt hier zusammen, schon ein Nebensatz gilt als Parade und zieht Enthauptungen nach sich, die jede Fassungskraft überschreiten. Behauptung, Enthauptung – irgendwo sind beide ununterscheidbar und das Haupt, als Spielball, springt zwischen allem, was Hand und Fuß hat, hin und her: diese Kurve möchten wir haben, auf dem Schirm, wo sonst.
Als es darum ging, die menschliche Sprache vor dem Vergessen zu
bewahren, kam der Beifall von der falschen Seite und behauptete, er sei der
rechte. »Etwas ist faul im Staate Dänemark!« rief der
Schauspieler von der Bühne – und tausend Nicht-Dänen trappelten
mit den Füßen. Mancher von ihnen wäre gern nach Hause gegangen,
aber die Faulheit bannte ihn auf seinen Platz. »Was fällt Euch
bei?« flüsterte mein Nachbar zur Linken, es schien ihm ernst zu
sein. Erstaunt blickte ich auf seine schwieligen Hände, die so gar
nicht zu seinem Aristokratengesicht passen wollten. Rechts von mir
gähnte die bürgerliche Leere. So rückte ich ein bisschen von ihm ab, doch nicht
weit genug, um ihn nicht zischen zu hören: »Geht nur nach
rechts. Da heulen schon die Wölfe.« Es heulten aber nur die
Sirenen. Warum? Ich weiß es nicht. Resigniert entnahm ich meiner
Hose ein Taschentuch und reichte es ihnen hin. »Reicht es? Reicht’s
noch?« Stumm drückten sie mir die Hand und wischten sich die Tränen
aus dem Gesicht. Ein Krankenwagen fuhr vorbei und sammelte die
Verletzten auf, aus dem letzten Bürgerkrieg, wie die Umstehenden
versicherten. Es war aber keiner da, der sie fragte, so versicherten
sie es der Straße, der Ampel, den Tauben und der Kanalisation, die
sich bedeckt hielt. War es der letzte? War es wirklich der letzte?
Mit letzter Gewissheit weiß man dergleichen nie, die Ver- und
Vorletzten stechen die Letzten aus, da gibt es kein Zuhause.
Mörderduo aus dem faschistischen Untergrund. Zwischen ihnen: Angelita, die Schöne als Biest in der Rolle der Schweigerin. Duldete sie’s (aus Liebe?) – oder stiftete sie’s an? War sie, ganz banal, Handlangerin eines Verbrechens, das seinen Gang auch ohne ihr Beisein genommen hätte? Die verhandelten Gesinnungen mögen der Steinzeit entstammen, aber: eine Emanzipierte ist schon vonnöten. Nur die aktive, selbstbewusste und ideologisch firme Frau kommt als (Mit-)Täterin in Betracht, gleichgültig, was man sonst von ihr hält. Gleichgültig auch, um welche Ideologie es sich gerade handelt. – Dieses Schweigen vor Gericht: die Mimesis darin ist mit Händen zu greifen. Überhaupt die RAF-Parallele, mit einer Ausnahme: damals wussten es alle, wenn letztere zuschlug. Wahr ist: ihre Leute haben sich gegenseitig gedeckt, wenn sie vor Gericht schwiegen. Wenn diese hier schweigt, redet ihr Schweigen: »Da war was, aber ich sag’s nicht, weil es sich so gehört. Was wisst ihr denn schon? Falls wir gemordet haben, was geht’s euch an?« Politischer Mord, von dem niemand weiß: Ist das Kampf? Krampf? Verdeckte Mimesis? Apropos verdeckt: zum verdeckten Terror gehört die verdeckte Operation der verdeckten Ermittler vor verdecktem oder verschaukeltem Publikum. Urteilsfindung mutiert zum Spießrutenlauf. Auch das geht: vorbei. Die Spießruten ruhen, verpackt gegen die Nässe, um Fäulnis zu verhindern, das Gefühl, etwas sei faul im Staate Dänemark, hat sich, seiner Allgegenwart ungeachtet, etwas gelegt, verständlicherweise, denn es ist ein Sinkgefühl, das aufgerührt werden muss. Naht das Urteil, springt alles an seinen Platz. Fehlt nur das Duo: weggefault, kaum der Betrachtung wert. Gäbe es keine Überwachungskameras, wo wäre es dann?
Der Beißrüpel ist überzeugter Europäer, nach wie vor. Warum er
letzteres so betont? Er will sich nichts vormachen. »Ich entstamme
dieser Kultur«, pflegt er zu sagen, »ich kann nicht anders. Wäre
ich Brite, ich hätte Alternativen. Aber so – was soll ich tun?« Als
Europäer ist er Atlantiker. »Der Atlantik«, sagt er und schneuzt
sich, »darf kein Graben werden, er muss Brücke bleiben.« Dann sieht
er sich um und forscht, ob die Mienen Widerspruch zeigen. Die
Mienen freuen sich, dass er wieder in Form ist, und hüten sich,
etwas zu zeigen. Der Beißrüpel ist von Haus aus Mienenforscher, das
hat er nicht abgelegt, seit sein stürmischer Aufstieg begann,
vermutlich blieb keine Zeit. Seine Karriere geht auf die Zeiten des
Kalten Krieges zurück, an den er sich mit Freude und ein bisschen
Stolz erinnert. »Das war eine gute Zeit«, seufzt er nicht selten,
»wohin gehen die guten Zeiten, vielleicht in den Abgrund?« Im
Grunde hat ihn das von Homomaris gezeichnete Porträt
nicht schlecht getroffen, sogar zweimal, was einiges heißen will.
Oder so manches. – Als Atlantiker ist der Beißrüpel Pharisäer. Er
weiß, das ist kein Beruf, nur ein Wort, aber auch hier gilt: Er
kann nicht anders. »Wo ich bin, muss Klarheit herrschen«, herrscht
er seine der Melancholie ergebenen Untergebenen an, »völlige
Klarheit, verstehen Sie? Wir können und dürfen uns keine
Zweideutigkeiten leisten. Dafür stehe ich mit meinem Wort. Wieso
übrigens ›stehe‹? ›Dafür sitze ich...‹? Hm. Das scheint nicht zu
gehen. Scheißsprache. Muss reformiert werden.« Schon macht er sich
an die Arbeit, ist tagelang nicht zu sehen. Seine Frau kennt das
und geht auf Sauftour, die Mitarbeiterin beschließt definitiv, in
den Bundestag einzuziehen, sobald sie ›das hier‹ hinter sich hat.
Langsam, Stückchen für Stückchen, gewinnt die Sprachreform Profil.
O unsere Beißrüpel! Wenn wir sie nicht hätten, welche Unkultur!
Welche Friedhofsruhe! Welcher Abfall! – Als Pharisäer ist der
Beißrüpel Exzentriker. Er leistet sich seine Ausfälle wie andere
eine Reise nach Panama. Oder Honduras. Oder Afghanistan.
Brandgefährlich, aber es zieht ihn hin und er denkt nicht daran,
sich zu sträuben. Schließlich bevorzugt er Gruppenfahrten, die er
Inspektionsreisen nennt. »Ich muss wissen, was da unten los ist«,
bellt er auf Anfrage. Was wird schon sein? Ein paar Scherereien,
das bringt einen Kerl zum Anfassen nicht aus der Fassung. Da muss
er durch. Vor seinem Konterfei stehend, gefragt, wie er sich fühle,
bricht es aus ihm heraus: »Alles Lüge! Alles Fratze! Ich ist ein
anderer.« Auch das: geklaut. Als Exzentriker ist der Beißrüpel...
Aber das steht schon auf einem anderen Blatt.
Niemand lässt sich gern in die Bekenntniszange nehmem, doch steckt er erstmal darin, sprudelt es nur so aus ihm heraus. Wohlgemerkt: wir reden hier nicht über Folter, sondern nur über Menschen, die guten Willens sind. Der gute Wille... wo trägt er uns hin? Über Dämme und Deiche, über Nachbars Hausschwelle, wenn es sein muss, über Wüsten und Wüsteneien, über Schock und Schein, über Leichen sowieso, warum denn nicht? Wer über die passenden Instrumente verfügt, will sie auch einsetzen, das ist ganz natürlich. In Verfolgung der Menschenrechte erweist sich so mancher als unerbittlich, der in minderen Angelegenheiten zwischen Mein und Dein nicht recht zu unterscheiden vermag. Und was heißt schon mindere Angelegenheiten? Lasset uns also bekennen. Als kulturelle Errungenschaft ist das Bekennen an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Eine davon ist der Glaube, von dem es keinen Dispens gibt. Keinen Dispens? Keine Instanz, die eine Lösung verspricht, wenn es knirscht zwischen den Bekenntnissen? Nein, es kann sie nicht geben, weil es sie nicht geben darf, zum Beispiel beim Recht auf Unversehrtheit, das ist sonnenklar. Wir können das nicht immer durchsetzen, auch klar, vor allem nicht gegen uns selbst, aber: mach dir mal darüber keine Gedanken. Wir verändern gerade die Welt. Wusstest du das nicht? Gerade jetzt, hier und heute, und du darfst dabei sein. Die Völker lassen sich nicht länger bevormunden und wir preschen vor, um ihnen zu zeigen, wie es geht. Gewaltprävention, ein altes Thema, wir praktizieren sie in großem Stil. Wie wir das machen? Rechtzeitig eingreifen, das ist so eine Formel, die Menschen bewegt, seit sie ihre Zunge bewegen. Man muss sich zum Herren der Zeit machen, dann weiß man, was recht ist, denn: es ist an der Zeit. An der Zeit ist, was in meiner Macht steht, ergo: ich halte das Recht in meinen Händen. Was ich damit mache? Zukünfte austauschen, die schön schaurigen gegen die schönen – nur dafür rasen wir göttergleich über die Erde und klinken aus, was wir haben. Besser als Klinkenputzen ist es allemal.
Belltürme? Aber nicht doch... Wo bitte wollen Sie die denn aufstellen? Am Stadtrand? In die Stadt hinein...? Das ist nicht Ihr Ernst. Nun gut, wenn Sie es wünschen... welche Ausführung darf’s denn sein? Die klassische, hölzern, immer noch sehr... sehr robust, möchte ich sagen. Bringt so eine Art Klangkörper mit, old style, fürs Melodische. Wird gern genommen. Aber falls Sie einen gerichteten Schall vorziehen, kommen Sie, da habe ich etwas Besseres. Sehen Sie: hier durchläuft das Bellen ein System von Kammern und Reflektoren, ein Labyrinth, wenn Sie so wollen, und kommt am Ende gebündelt heraus. Sie können daneben stehen und hören nichts. Solange Sie nicht in den Bellkanal treten, hören Sie nichts. Dort allerdings wird’s infernalisch. Was?? Keine Sorge. Die Reflektoren sind wartungsfrei. Sie werden sie nie zu Gesicht bekommen, sie sind fest in den Kammern montiert und praktisch unsichtbar, sie reflektieren nicht bloß, sie verstärken das Bellen ganz ungemein. Schicken Sie einen Seufzer hinein und Sie erhalten – im Bellkanal, wohlgemerkt, denn sonst merken Sie nichts –, das Angriffsgekläff einer Staffel Rottweiler, den Rest können Sie locker... Wieviel sollen es sein? Zwei? Zwanzig? Hundert? Aber sagen Sie mal, bekommen Sie dafür auch die Genehmigung? Wie, die haben Sie schon? Von wem, bitte, nur aus Neugier, wenn ich fragen darf? Von ganz... oben? Wer ist das? Sie haben die Erlaubnis, uns das Leben zur Hölle zu machen und schneien hier so einfach herein? Gehen Sie, gehen Sie, den Vertrag schicken wir Ihnen zu. Einen guten Tag noch, einen guten Tag, jaja.
Eine Stimmungskanone –! Ein ZDF ganz für sich allein, für nicht
Anschlusswillige, die an allem sparen, selbst an dem, wofür einer
steht. Dieser hier steht für nichts, das gefällt den Adepten. Was
einfällt, muss doch einmal gestanden haben. So ein Geständnis...
Ein Glück, dass die Hüter des Missbrauchs kein Verhältnis zum
Geschriebenen haben, längere Partien stehen sie nicht durch, das
sind die glücklichen.
Eine gewisse Superiorität in kulturellen Belangen lässt sich der
DDR posthum nur schwer absprechen. Es waren ihre Schriftsteller,
die im Westen die größte Aufmerksamkeit genossen. Natürlich nur
solche, die den Dissidenten-Nimbus mit dem Kulturbotschafterposten
zu vereinen wussten, speziell ausgesuchte Leute von erlesenem
Lebenswandel, die nach der Wende überwiegend in die Krise gerieten
oder ins Gerede. Die Misere des ersten sozialistischen Staates auf
... Boden brachte es mit sich, dass auf der anderen Seite des
Vorhangs eine kritische Öffentlichkeit auf dem Posten blieb und
Beachtung produzierte – ein rares Gut, um das man im liberalen
Staat kämpfen muss wie die Löwin um ihr Neugeborenes, was die
einschlägigen Kreise spät, aber gründlich begriffen haben.
›Beobachtung zweiten Grades‹ ist selten, sie ist nicht
institutionalisierbar, jedenfalls nicht auf dem Weg einer auf Dauer
gestellten Produktion hochgestochener Thesen. Sie tritt in der
Gefahr hervor oder gar nicht. Die besten Beobachter vergangener
Jahrhunderte waren ihren Zeitgenossen fast vollständig unbekannt.
Warum sollte das inzwischen anders sein? Die Kaste derer, die sich
heute den zweiten Grad attestieren, produziert für das Vergessen.
Das sollte nicht vergessen werden, wenn sie sich öffentlich auf die
Schultern klopfen, als käme gleich darunter das alte Lametta zum
Vorschein.
Zu den bedenkenswerten Vorgängen der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts gehört auch
die nachhaltige Abdankung der Intellektuellen, die Einschmelzung
dieser Spezies zu etwas, das man ›beratende Intelligenz‹ nennen
könnte, wäre man nicht besser beraten, es zu lassen. Nicht dass
hier Zweifel an der Beratertätigkeit im Allgemeinen oder an der
Intelligenz gewisser Berater geschürt werden sollen! Aber den
beratenden Typus hat es immer gegeben und das sonderbare Verhalten
der neuen Freibeuter, die sich plötzlich in seine Jobs drängen,
verdient vielleicht doch eine deftigere Charakterisierung.
Wahrscheinlich wären schon frühere Zeiten darüber erstaunt gewesen,
wie wenig die Vorgänger der heutigen Pseudoberater in concreto zu
verändern gewusst hätten, hätte man ihnen die entsprechenden Rollen
angedient. Aber da man die Intellektuellen stets als Statthalter
des Feindes im eigenen Lande wahrnahm, an denen die Herrschenden
ein – friedliches, entspanntes, offenes, liberales, deutliches,
strenges – Exempel zu statuieren hatten, bestand das Spiel, in dem
alle Seiten sich trefflich einrichten konnten, doch eher darin, sie
von den Schalthebeln dieser Welt fernzuhalten. Das galt im Westen,
das galt, mit anderer Skalierung der Werte und Mittel, östlich des
Eisernen Vorhangs. Seither haben die Kassandren des Weltgeists
gelernt und sind fort – ein seltsamer Zusammenhang, der jeden
Gedanken daran verbieten sollte, Vögeln in großem Stil etwas
beizubringen. Nein, nicht alle sind fort, ein paar Invaliden sind
zurückgeblieben und vertreiben sich die Langeweile abwechselnd
damit, von den alten Zeiten zu schwärmen und sich gegenseitig zu
denunzieren. Auch sie juckt gelegentlich die Beraterei, aber da sie
die Epochen im Flug überblicken, genügt es, ihre guten Ratschläge
mit Verwunderung und einem warmen Gefühl unirdischer Beglückung zur
Kenntnis zu nehmen.
Sollten wir irgendwann – es kann ja nicht ausgeschlossen werden, dass einmal dergleichen geschieht –, sollten wir irgendwann in die Lage kommen, selbst zu entscheiden, worauf es mit uns hinauswill, so wäre es vielleicht nicht so prickelnd, auf die bewährten Standards zu setzen. Aber es hätte den Vorteil zu wissen, woran der Andere mit uns ist – vor allem im Ernstfall. Nein, schlecht wäre es nicht, als berechenbar zu gelten, es am Ende sogar zu sein. Berechenbarkeit und Verlässlichkeit sind bekanntlich fast dasselbe, vor allem dann, wenn jemand selbst sich für berechenbar hält.
– Wie, das wäre unmöglich? Das kommt alle Tage vor, daran ist nichts unmöglich.
Der Berechenbare, sagen Sie, ist leicht auszurechnen. Gewiss, darum geht es ja. Jedes Kind soll wissen, woran es mit ihm ist – so denkt der Berechenbare. Die Welt besteht nicht aus Kindern? Das stimmt – zwar nur in Maßen, aber es stimmt. Erwachsen ist, wer es gefährlich findet, wie ein Kind zu denken? Sagen wir: blind zu vertrauen, ohne Hintergedanken? Das mag sein, darüber könnte man nachdenken... Der verlässliche Mensch will, dass man ihm vertraut: so etwas erzeugt Misstrauen. Wer Vertrauen erzeugt, erntet Misstrauen? Traurig, aber wahr. Vertrauen will gewonnen, nicht erzeugt werden. Wie also gewinnt man Vertrauen? Durch Berechenbarkeit? Zugegeben, das ist schwieriger, als man denkt. Genau betrachtet, schließt eines das andere aus. Der da will als berechenbar erscheinen? Verdächtig, höchst verdächtig. Er hält sich selbst für berechenbar? Seltsam: leidet er unter Realitätsverlust? Gefährlich, höchst gefährlich. Gegenprobe: Jemand hält sich für unberechenbar. Er will unberechenbar wirken, er will unberechenbar sein: nichts leichter auszurechnen als das. Unberechenbar sind wir alle in unseren Hintergedanken. Nun, wer sich auskennt, der kennt sie alle.
»Beschissen seid ihr!« Wer so redet, hat nicht alle Tassen im Schrank oder er sieht etwas, das außer ihm niemand sieht (oder auszusprechen wagt). In der Regel ist bereits der Versuch, es auszusprechen, sanktioniert, so dass jede Anspielung sich von selbst verbietet. Dieses Selbstverbot weist Gesellschaft als solche aus: Gesellschaft ist, was beim Einzelnen Selbstverbote auszulösen vermag. Er mag dann auch nicht mehr hinsehen. Das Sehen gleitet über das verbotene Objekt hinweg, als existiere es gar nicht, der Anreiz, es zu bemerken, fehlt und also bleibt es unbemerkt. Man nennt dergleichen ›Tabu‹. Aber Tabus existieren selbst dort, wo das Selbst nichts weiter ist als ein kümmerliches Anhängsel von Stammesverhältnissen und keine weitergehenden Ansprüche stellt. Der Mechanismus, von dem hier die Rede ist, erscheint in reifen Verhältnissen – dort, wo das Selbst es zu einer gewissen Beständigkeit gebracht hat, mit einem eigenen Kopf sowie der Bereitschaft, ihn zur Geltung zu bringen. Ein solches Individuum kann prinzipiell jederzeit zur BSI-Formel greifen, stellt daher eine ständige Gefahr für den sozialen Körper dar. Der vollendete Doppelsinn der Vokabel ›Beschiss‹ zeigt den Übergang des Sozialen zum Körperschaftlichen an, zum Verbund. Nur wer sich körperschaftlich verbunden weiß, kennt den kollektiven Schmerz, der aus dem Gefühl des Erkanntseins fließt, und schaltet auf Abwehr um. Merke: beschissen werden kann jeder. Sich stellvertretend für alle der Einsicht in den Beschiss zu verweigern gelingt nur, wenn aus den Tiefen der Gesellschaft etwas heraufdrängt, was sich als ›Denken in Körpern‹ umschreiben ließe, so wie es ein Denken in Zahlen oder in Stellungen gibt, die eingenommen und behauptet werden wollen – zu gegebener Zeit, am gegebenen Ort.
Man bekommt es in Europa schnell mit Leuten zu tun, die denken
können, so weit ihre Englischkenntnisse es ihnen erlauben, das
heißt, nicht sehr weit. Diese Leute sind überall zu finden, wo man
auf die eine oder andere Weise über die Realitäten des Kontinents
verfügt. Da sie nicht wirklich verstehen, was sie tun – oder,
sofern eine Ahnung davon in ihren Köpfen spukt, diese nicht
ausdrücken können und daher lieber heimlich entsorgen –, geschieht,
was geschieht, hinter ihrem Rücken, zwischen zwei
Entscheidungsgängen. Man sollte nicht glauben, sie hätten die
Verhältnisse, die sie produzieren, im Griff. Das Im-Griff-Haben ist
ihre schwächste Stelle – wer immerfort neue Beschreibungen ordern
muss, um den Griff nicht zu lockern, bleibt irgendwann auf ihnen
sitzen. Auch das Unverkäufliche hat seinen Preis; es strapaziert
die Nerven der Anbieter. Da haben sie die Realität, die sie meinen.
Das ist ein großes Wort und Grabbeau bediente sich seiner oft
unter Tränen. Im Wilhelm
Meister hat Goethe diesen Begriff mit tiefen Worten
gedeutet. »Sie ist es«, lässt er Wilhelm am Bett des Flötenspielers
gestehen, »die uns einfängt wie ein Netz, uns niederwirft und
aufrichtet, sodass unser Brot, in Tränen genossen, nach den Feldern
und Bergadern jenes anderen zweiten Mondes schmeckt, von dem das
wahre Getreide der Kunst
oft so unheilvoll auf uns niederrieselt. Wohl dem, der eine Mühle
hat, es süßer zu mahlen.« Auch kennt die wahre Bestimmung keinerlei
Grenzen. Jemand ward früh verworfen und später mit Hilfe Grabbeaus
erhoben, ein anderer stieg mit jämmerlichen Kunststücken auf, aber
Grabbeau warf ihn nieder und so ward sein Name für immer
getilgt.
In Marbach zeigt man, wenn auch nur ungern, die oft sehr
zahlreichen und über Nacht völlig verdörrten Zeitungsartikel der
›Frankfurter allzu kleinen‹, die niemand mehr lesen will. »Aus«,
sagt der berühmte Schneider der Hölle, der Infant mit dem
Ziegenbart, und zeigt seine gelben Zähne. Wir müssen ihn nicht
beschreiben, wir kennen ihn alle, auch er hat seine Bestimmung im
unteren Grenzenlosen. - PM
Siehe –: die Lilien auf dem Felde haben Anzeige erstattet und
bewegen sich in großer gedanklicher Schnelligkeit auf den
Betrachter zu. Ich finde sie aggressiv heute morgen, obwohl ich
zugeben muss, dass etwas herausspringen sollte, so wie sie sich
hergeben. Ich bin keine Lilie, ich weiß nicht, wie man sich fühlt,
wenn man wie sie in der Betrachtung lebt – so versunken in
sie, dass der Boden, in dem sie stehen, nicht weiter in Betracht
kommt, es sei denn, sie laufen Gefahr zu vertrocknen. Da springen
die Helfer herbei, hurtige Burschen, denen kein Weg zu weit und
keine Bürde zu schwer ist. Ein Leben in der Betrachtung, genauer
(was beinahe auf dasselbe hinausläuft): im Betrachtetwerden,
fördert zweifellos den Verdacht, die andere, abgedunkelte Seite
führe etwas im Schilde. Was ja auch stimmt. Wer im Blickpunkt
steht, steht auf Nägeln, und man weiß nie, wohin die Spitze weist.
Das Wirksamste am Betrieb ist die vollkommene gedankliche Leere, in
der er sich vollzieht. Das heißt nicht, dass in ihm nicht gedacht
würde. Im Gegenteil, nirgendwo wird vielleicht so viel gedacht wie
im Gewimmel der Termine und Interessen. Das betriebliche Denken
vollzieht sich im Modus des Im-Bilde-Seins, und es wäre doch
erstaunlich, den Engel die Jungfrau fragen zu hören, in welchem
Bild er sich jetzt eigentlich befinde und ob sie ihm aus dem Rahmen
hülfe, damit er sich ein Bild machen könne. Nein, er beugt das Knie
und überbringt seine Botschaft, Tag für Tag, Nacht für Nacht, er
denkt nicht daran, davon abzulassen, sein Blick glitte an jedem ab,
der ihn zu ein wenig Reflexion anhalten wollte. Man nennt das die
Macht der Rituale, aber da täuscht man sich. Das ist kein Ritual,
nichts, was sich wiederholte, das geschieht, einmal und
unwiederholbar, aber – und das ist das Unfassliche –
ununterbrochen, ohne Unterlass, bis in alle Ewigkeit. Es ist mit
dieser Ewigkeit nicht weit her, wie man sagt, sie liegt gleich um
die Ecke, man biegt einmal ab und ist schon angekommen für immer.
»Das weiß doch jeder«, sagt G., »aber was das Schönste ist, sie
werden unruhig, wenn sie die Ecke nicht gleich finden, sie werfen
ihre Hände und Füße und finden es unerhört, so dass man nicht
unterscheiden kann, ob sie nun hinein wollen oder sich mit Händen
und Füßen dagegen sträuben.« »Weder – noch«, meint A., dem die
Pfeife nie ausgeht. »Sie glauben, sie müssten sich sträuben, aber
es reißt sie dahin, sie finden die Schwelle, wenn sie zu stolpern
meinen und richten sich als andere auf wie in einem Bild von Max
Ernst: auf einmal tragen sie Vogelfedern im Gesicht und sprechen
die Sprache ihrer Hundsnatur.« »Das ginge noch an«, sagt G.,
»könnten sie auch schweigen. Aber wer ihnen zuhört und die Melodie
der Leere vernimmt, ist gebannt für immer. Er müsste sich
freikaufen, doch da wäre eine Schwierigkeit: solche Summen kommen
selten in einer Hand zusammen.«
Erste Regel für Politiker: Nie die Wahrheit sagen.
Zweite Regel: Die Wahrheit, falls nötig, sagen, aber im Folgesatz
wieder verschleiern.
Dritte Regel: Der Wahrheit alle Fetzen vom Leib reißen und auf
den Publikumsreflex vertrauen, der diesen Anblick, als unerträglich,
dem Auge aller zuverlässig entrückt.
Wer diese drei Regeln verstanden hat, sollte keinerlei Mühe haben, dem
öffentlichen Diskurs zu folgen, der sich mit bestimmten planetarischen Wirkungen
befasst, aber jede Erwähnung ihrer Ursachen mit der Bemerkung Darum geht’s
nicht einkassiert. Zum Beispiel zählen sowohl das ungleich verteilte
Bevölkerungswachstum auf dem Planeten als auch das Bedürfnis der Menschen nach
Wohlstand oder zumindest nach einer gewissen Grundsicherung zu den treibenden
Faktoren der Weltwirtschaft. Erklärt man das ›unkontrollierte‹ Wachstum der
Weltwirtschaft zur Ursache gewisser Umweltmiseren, ohne die Gründe der
Begehrlichkeit dabei zu erwähnen, so ist klar, dass die Wirtschaft, die
noch keiner gesehen hat, zum Feind der Menschheit mutiert, welche bekanntlich
keinen anderen Wunsch hat, als sich im Stande der Unschuld mit der Natur zu
vermählen. Ein solcher Feind muss bekämpft und auf Kurs gebracht werden, damit
wir nicht alle untergehen. Am besten bekämpft man ihn durch neue, noch
unbelastete Formen des Konsums, also dadurch, dass man gezielt neue
Begehrlichkeiten, zum Beispiel mit einem schicken Ökologie-Index versehene, in
der Bevölkerung weckt. Die einen Länder haben die Kinder, die anderen den
ökonomischen Erfolg. Das ist so und daran arbeiten wir. Daher sind letztere des
Teufels, während auf ersteren der Glanz einer Zukunft liegt, die wir ihnen
schulden. Wer weitere Fragen hat, möge sich melden. Antworten gibt es gratis,
doch nur freitags und sonntags.
Dieser Beweis ist das Papier nicht wert, auf das er notiert wurde, jener ist so kostbar, dass ihm alle Papierbestände der Welt geopfert werden könnten, ohne dass jemandem Einbuße widerführe ‒ Beweise, Beweise, nichts als Beweise... Was sonst? Das Schöne an allen Beweisen ist, dass sie etwas vorausssetzen, selbst das Voraussetzen ist vor ihren Nachstellungen nicht sicher und lässt sich voraussetzen, als habe es hinten herum nicht genug zu tun. Der Beweis ist das Salz der Erde, der Mensch wäre ein Nichts ohne einen Beweis, dass es ihn gibt, und nichts hinderte ihn daran, die fälligen Konsequenzen zu ziehen. Einen Beweis ohne Konsequenzen gibt es nicht, kann es nicht geben, Konsequenzen sind indirekte Beweise, so wie es indirekte Fortschritte gibt, die nichts bedeuten dürfen, während sich alle Welt an ihnen bedient. Ja, man kann sagen, an diesen Fortschritten, die keine sind, die den Fortschritt ausschließen, sofern man ihnen glaubt, hängt die Welt, zumindest ihr Schicksal, wenn nicht mehr. Ein Fortschritt, der keiner sein darf, der nach nichts schmeckt, aber das große Fressen verhindert, zumindest hinausschiebt, lässt den Beweis, dass es so nicht weiter geht, alt aussehen. Zu Recht, denn auch er nimmt am Alterungsprozess der Welt teil, ein sich selbst verzehrender Terminkalender, stets aufs Neue zusammengestellt, denn Büros sind erfinderisch und schrecken vor keiner Planung zurück.
Wie wenig die öffentlichen Verteidiger der Vernunft gewillt sind,
die Büchse der Pandora zu öffnen, für die sie geräuschvoll eine
Lanze brechen oder auch zwei, erweist sich am Schicksal von
Büchern, die nicht bloß vor Vernunft strotzen, sondern sich den
Grundlagen aller Vernünftigkeit widmen, dem Denken in seinen
Möglichkeiten und Gliederungen, seinen Funktionen und
Wirkmechanismen, seinen Fähigkeiten und Modi der Weltverhaftung.
Diese – wenigen – Werke liegen wie Blei in den Regalen, die
Bibliothekarin blickt auf das Anschaffungsdatum und bläst besorgt
den Staub von den Kanten. Ein schönes Buch, warum wird es nicht
angenommen? Es liegt ein bisschen still da, es ist vielleicht schon
ein wenig dick für sein Alter, aber sind das Gründe? Das Denken
denken – vor dieser Parole laufen alle davon und halten sich noch
auf sichere Distanz die Ohren zu. Was nicht schlecht ist, weil sich
so manches Geschrei erübrigt.
Warum wohl steigert sich so oft die kritische Nachlese zum
Berufsleben, die Bilanzierung von Licht- und Schattenseiten einer
gelernten Praxis, zum Rausch des Verwerfens? Die einen, wollte man
sie befragen, würden angeben, sie hätten schon immer so gedacht,
aber aus pragmatischen Gründen geschwiegen, die anderen, das hätten
sie in jüngeren Jahren so nicht gesehen, erst die Distanz des
fortgeschrittenen Alters habe ihnen die Binde gelöst: zwei
Altersattitüden, die einander an zweckhafter Verblendung nicht
nachstehen. Wahrscheinlich war es gerade umgekehrt und denjenigen,
die behaupten, sie hätten nie anders gedacht, wäre vorher nie in
den Sinn gekommen, was ihnen jetzt so geläufig von der Zunge geht.
Wäre es anders, so wären ihnen die schleichenden Veränderungen im
Denken, seine Um- und Neudispositionen, die meist nur Ausdruck
veränderter Lebensumstände sind, nicht heute noch ein fremdes
Terrain, das sie nur mit Widerwillen und der Bereitschaft, sich davon
auszunehmen, betreten. Gern möchte man jenen Alterserleuchteten
entgegenhalten, dass die großen Umschwünge in den Denkweisen der
Menschen, von einer externen Warte aus betrachtet, bloß
Akzentverschiebungen sind – die große Masse des Gedachten bleibt
davon unberührt oder schmiegt sich willig den neuen
Deutungsverhältnissen an. Worin bestehen die neuen Verhältnisse?
Der Pensionär ist in die Wüste gegangen, teils aus eigenem Antrieb,
teils ungewollt. Wie Jesus kehrt er nach einem Jahr zurück. Er ist
sehend geworden oder geheilt und bereit, Wunder zu wirken, um seiner
neuen Lehre Nachdruck zu verleihen. Wer dann sein Buch
mitbringt, der hatte noch etwas nachzutragen oder er war allzu
begierig, die Fesseln des Gewohnten abzuwerfen – beides im Grunde
unproduktive Attitüden, die durch starke Effekte aufgehübscht
werden müssen. Die Weisheit des Alters, sollte sie jemals kommen,
hätte reifen sollen. Die Angst des alten Eisens vor dem Durchrosten
wirkt da wie ein verlässliches Präservativ.
Auf einem Berg aus Bildern sitzen die Reichen und Mächtigen dieser Welt und spielen Karten. Warum sie das tun, bleibt unklar, klar ist nur, dass sie alle dabei gewinnen. Alle? Alle. Allmächtiges Kartenspiel, das du denen, die dich zu spielen niemals innehalten, alles zuschiebst, was sie begehren, ist das gerecht? Andererseits: was begehren sie denn? Nichts kannst du ihnen geben, was sie nicht bereits hätten, außer dem ewigen Weiter!, das sie vorwärts treibt. Ihr Treiben also ist es, was du ihnen gibst. Dafür der Aufwand, wer hätte das gedacht. Vielleicht hält sich ja auch der Aufwand in Grenzen. All die zerbrochenen Bilder, wer sonst höbe sie auf? So dienen sie, auf einen Haufen geworfen, noch einem guten Zweck.
Dass Bilder eine Geschichte erzählen, ist ein frommer Wunsch, der
viel damit zu tun hat, dass sie so müßig herumhängen. Nicht anders
der Film: die bloße Abfolge von Bildern erzeugt keine Handlung.
Dennoch redet man von der Handlung eines Films, als sei gerade sie
das Reale daran. Jeder ist eingeladen, sich eine zu denken und
folgt spontan. Diese Folgsamkeit, die beim Kinogänger größer ist
als beim Bildbetrachter, erschreckt, sie zeugt von einem Mangel an
Phantasie oder ihrer willkürlichen Beschneidung. Dabei gibt es
Unterschiede. Das Bild zeigt eine Handlung, der Film
hat eine Handlung. Über
den Unterschied lohnt es sich nachzudenken. Schließlich hat der
Film seine Handlung nicht verschluckt, so dass sie jetzt in ihm
steckt und herausgezogen werden kann wie ein Knochen oder ein
Tennisball, er hat sie auch nicht zur Hand, eine solche Vorstellung
wäre ganz widersinnig, man sagt, er besitzt sie. Das lässt aufhorchen: der
Film als Handlungsbesitzer erinnert an einen Kioskbesitzer oder den
Besitzer eines Juweliergeschäftes, in dem die Auslagen diskret
andeuten, was es alles zu kaufen gibt. Der Film verkauft eine
Handlung, dafür ist er gedacht, es ist seine Aufgabe. Zusammen mit
dieser Handlung verkauft er noch andere Dinge: den Geschmack an
bestimmten Landschaften oder Stadtvierteln, an teuren Autos, an
ausgefallenen Klamotten, an Gesten und Blicken, am Typus der
Schauspielerin oder des Schauspielers und natürlich das ›Image‹
genannte Bild dieser Person, das kein Bild ist, sondern ein
Phantasma, mit dessen Hilfe die Kundschaft zur Selbstbefriedigung
schreitet. Dies alles hängt an der Handlung, die er verkauft. Sie
muss gut sein, damit der Film glaubwürdig wirkt und die restlichen
Verkäufe nicht ins Stocken geraten. Gut ist eine Handlung dann,
wenn man zu wissen glaubt, was der Regisseur sich bei seinem
Streifen gedacht hat. Wem das zu schwer ist, der hält sich an die
Schauspieler: wenn sie überzeugen, dann muss auch am Ganzen etwas
dran sein. Dieser Schluss vom Teil aufs Ganze, von der
darstellenden Person auf den Sinn eines Ablaufs, ist widersinnig.
Aber das stört nicht – es hebt die Stimmung. Ein guter Film liegt
leicht auf, er verfliegt. Er ist schon verflogen, nur die
Schauspielerin war süß, sie würde man gern kaufen, aber man muss
warten, bis ihr nächster Film kommt.
Gegen eine journalistische Ungeheuerlichkeit stehen hundert andere, aus allen erdenklichen Lagern. Das gehört zum Journalismus dazu, es ist sein Markenzeichen oder wäre es, wenn die von ihm Porträtierten keine Ungeheuer wären. So finden die Ungeheuer sich gut getroffen, nur ihre gegenwärtige Rolle scheint ihnen ein wenig verzeichnet. Der Journalismus weiß also Bescheid, wenn er lügt, fälscht, unterdrückt. Die Leute nehmen ihm dieses Bescheidwissen ab, ansonsten fühlen sie sich allein gelassen. Sie kaufen alles, heißt das, aber sie glauben nicht, dass sie davon etwas haben. Eine gesunde Internet-Recherche befördert die gegenteilige Einstellung: die Leute denken, etwas dabei zu erfahren, für das sie um nichts in der Welt etwas geben würden. An dieser Stelle entdeckt sich der Internet-Journalismus als unendliche Bildungsaufgabe: dem Volk einzureden, es müsse für etwas bezahlen, was es umsonst gibt, weil es sonst nichts wert sei – das scheint nicht unmöglich, es scheint durchaus vorstellbar, aber eben nur als Aufgabe, vielleicht sogar als Selbst-Aufgabe. Man wird sehen.
Nicht jede Demonstration beweist Stärke, manche bringt den Gegner gleich mit, der sie niederschreit. Ein kluger Schachzug, der beweist, dass es ums Ganze geht, mit all seinen Antagonismen und Widersprüchen. Der Schreier weiß, dass der Niederschreier sein Werk vollendet, der Niederschreier, dass der Sieg sein ist, solange er nur, organgestärkt, den Platz behauptet. Und das ist bloß die geringste aller Behauptungen: Jeder Schuss ein Russ’. Die guten Bürger, weit davon entfernt, sich wegen Ruhestörung zu beschweren, blasen die Backen auf und knallen munter mit, manche werden darüber so rot wie seit Jahren nicht mehr, aber nicht vor Scham, sondern aus Druck. Ein guter Bürger empört sich nur gegen sich selbst, aber auf Zuruf. Kaum fühlt er, dass sich der Antityp in ihm regt, geht er gegen sich auf die Barrikade und sagt, was Sache ist. Maßlos ärgert ihn das lose Mundwerk der anderen, zerschossen, wie es ist, lässt es Laute frei, die allerdings besser in der Brust des Einzelnen verborgen geblieben wären, vielleicht auch in anderen Körperteilen, wer weiß. Der Mensch ist des Menschen nicht wert, das macht, er ist sein eigener Gegen-Wert, auf der Waage der Billigkeit tendieren alle gen Null.
Binkaput, eine Meisterin ihres Fachs, zögerte nie lange, wenn es galt, sich eines Gegners hinterrücks zu entledigen. »Warum von vorn?«, pflegte sie zu fragen, »was soll das bringen?« Außer Scherereien natürlich, aber die wurden ausgeblendet, sobald sie ihre großen stahlblauen Augen in die ihres gewöhnlichen Gegenübers versenkte. Binkaput und ihr gewöhnliches Gegenüber, ein unzertrennliches Paar, gondelten durch die USA ihrer Jahre, stets einen joke im Gepäck, als bereisten sie die Galaxis: auf exakt vorausberechneter Bahn, mit majestätisch gehisstem Sonnensegel, von einer Massenansammlung zur nächsten sich schwingend, deren jede ausgereicht hätte, sie spurlos zu verschlucken, Kälte verströmend und Kälte empfangend – frenetische Kälte, die ein Beobachter leicht für Hitze hätte halten können, doch Naturwissenschaftler sind schwer zu täuschen. Das Ziel ihrer Reise: ein weißer Zwerg, kaum zu entdecken im Sternengewirr der Milchstraße. Ein Zwerg, ganz recht, manche nennen ihn ausgebrannt, aber welche Anziehungskraft! Einer für alle! Wer ihn einmal entdeckt hat, kommt von ihm nicht mehr los. Mag ruhig hier ein Bein, dort ein Arm verlorengehen in den Weiten des sogenannten Alls, why not? Ah, mein Gebiss – ich hätte es brauchen können, kein Zweifel, da braust es hin, möge es in Jahrmillionen einer ins Maul fliegen, der es steht, wem fehlt schon ein Gebiss? Aufgeben einer solchen Lappalie wegen? Nie und nimmer. Niemals und nirgends.
Nein, er ist nicht lustig, der Ausdruck ›Biodeutsche‹, er ist faschistisch, ohne Abstriche, ohne Wenn und Aber. Hervorgekrochen aus Regionen der Gesellschaft, in denen gestänkert werden darf, weil der Gestank aus den Poren des vorbereiteten Bewusstseins quillt, hat es der Vorsitzende einer etablierten Partei sich nicht nehmen lassen, ihn in die feine Welt der ›wertebezogenen Auseinandersetzung‹ und des medialen Gerangels um die beste Lösung des Zukunftsproblems emporzuheben – zum stillen Vergnügen mancher Gesinnungsfreunde, deren Hauptaugenmerk auf einer gesunden Gülle liegt, zur lauteren Freude von Zwangsneurotikern, die, weil es zur Selbstscham nicht reicht, sich ihrer Mitmenschen schämen und dafür nach dem ideologisch korrekten Ausdruck fingern, zur heimlichen Befriedigung quergestrickter Bevölkerungsplaner, die mit dem Gedanken an künftige Reservate hausieren gehen (»Rosenheim Ost«, »Uckermark«, »Prenzlauer Berg«) und gern schon einmal die Eintrittkarten drucken, zum Was-auch-immer von Masochisten, die blinzelnd ihre waidwunde Seele nach außen kehren und dafür Beifall von der falschen Seite einfordern. Er ist nicht lustig, weil er das Fortleben giftiger Distinktionen in den Köpfen ihrer angeblichen Überwinder bezeugt: Es darf, vorerst verbal, gefoltert werden. Er ist nicht lustig, weil im Hintergrund ein Modell der ›Landnahme‹ aufscheint, dessen Vorhandensein anzudeuten unmittelbar in die glitschigen Gefilde der politischen Inkorrektheit und des ›Hate Speech‹ führt. Zu Recht! In einem von allen Landesbewohnern gewollten demokratischen Gemeinwesen darf und kann es dergleichen nicht geben. Darf und kann…? Parallelgesellschaften mit der Tendenz sich auszubreiten und zu konsolidieren, Inseln patriotischer, rechtlicher, kultureller Inaffiziertheit und herkunftsstolzer Separation, von ideologisierten Sprücheklopfern bewirtschaftet, die auf den ›biologischen Gang der Dinge‹ setzen, sind weder harmlos noch lustig noch ›kulturell bereichernd‹, wie manche zu glauben wünschen, sondern, ganz recht, Zeugnisse gelingender Desintegration.
Dass etwas von A bis Z erlogen sein könne, ist ein Philologentraum.
›Alles Lüge‹ steht über den eifrig geschriebenen Biographien der
Künstler, der Autoren, der Menschen von außergewöhnlicher
Kompetenz. Glaubt ihnen kein Wort, denn den bedeutenden Menschen
gibt es nicht. Kennen Sie das Wort ›Litanei‹? Ein bisschen? Das
reicht nicht. Die Herstellung der Lügen erfordert eine eherne Stirn
und das Absingen immer derselben Strophen aus einem Buch. Und das
ist wahr. Über das Wunder der inversen Wahrheit wurde viel
geschrieben, überwiegend von Menschen, deren Biographien
selbstredend aus lauter Lügen bestehen, weil niemand die Wahrheit
kennt. Biographien sind Würfe. Ob sie ins Ziel gelangen, hängt von
der Art und Beschaffenheit des Ziels ab wie von der Art des Wurfs,
der bei Linkshändern anders aussieht als bei einem Neurodermitiker,
der trotz eifrigen Forschens nicht weiß, was ihn reizt. So wird ein
Leben emporgeschleudert und ein anderes in den Abgrund versenkt,
beides sinnlos. Dazwischen bewegen sich die Schlaumeier mit der
Unbefangenheit von Kröten oder Eidechsen: ein kleines Vergehen,
eine kleine Entlarvung, eine kleine Verächtlichmachung, eine
Andeutung, jemanden wie dich und mich vor sich zu haben, berechtigt
bereits zu den unsinnigsten Zuschreibungen. Jeder, der sich im
Leben halbwegs kundig gemacht hat, ist ein Kompendium seines
Jahrhunderts. Darin liegt nichts Besonderes. Fragt sich, wie
beschlagen der Biograph ist und woran ihm liegt. Entsprechendes
gilt für die Tat, die ihre Bedeutung aus flüchtigen Konstellationen
empfängt und deshalb mit der Zeit sinnlos erscheinen muss. Der
Biograph, der sie aus der Sinnlosigkeit erlöst, ist immer ein
Heiland. Oder ein Nussknacker. Die kleinen knackt er, die großen
lässt er unter dem Vorwand liegen, sie bestünden aus lauter
Missverständnissen. Wir wissen
noch nicht, wie wir verstehen sollen, was damals geschah. Es ist
mir eine Ehre, jedem künftigen Verständnis vorgearbeitet zu haben,
das als solches wird auftreten können. Amen.
Glücklich die Zeiten, in denen das Wort ›Weltblatt‹ ohne ein Grinsen passieren konnte. Heute versteht es vermutlich ohnehin keiner mehr. Die Blätter, wie wir sie kannten, sie existieren nicht mehr. Sicher, sie existieren noch, aber man muss, um sie zu entdecken, den verzweifelten Blick von den Kronen lösen und den mürben Haufen braunen Materials zu seinen Füßen zuwenden. Doch, da liegen sie: das einst stolze konservative Vorblatt, jetzt Vorreiter in puncto Lächerlichkeit, das liberale Wochenblatt, jetzt der Abscheu der Welt, stets bereit, Halali zu blasen… Ja, sie blasen und prusten, sie pusten, zwitschern und pfeifen und sind doch nur Abfälle einer langen Saison. Genau genommen ist es der Herbstwind, der sich in ihrem Getue regt, sieht man vom Rascheln ab, das entsteht, wenn ein einsamer Fuß sie durchquert. Am schlimmsten hat es die hyperkritischen Blätter von einst erwischt, sie treiben ziellos dahin, als schlügen sie Purzelbäume für Kinderherzen. Aber auch die Kinder haben jetzt andere Pläne.
Die Literatur, wie wir sie kannten, hat eine Bleigestalt, sie ist schwer, sie zieht nach unten, es braucht Ablagen, um sie festzuhalten. Irgendwann verwechselt man sie mit den Ablagen, das viele Blei scheint angewachsen, es wächst die Lust, sie sich selbst zu überlassen und zuzusehen, wie die Natur sie zurückholt. Die Literatur, wie sie heute entsteht, hat kein Gewicht, sie ist federleicht und jeder versteht sie – vielleicht nicht jeden Buchstaben, aber den Geist, der aus ihr spricht, auch wenn das Wort ›Geist‹ zu denen gehört, die auf der Ablage vermodern. Man liest, um zu verstehen, das ist richtig, das Wort Blei gemahnt an den Berg aus unverstandenem Zeug, auf dem man, recht bedacht, steht, auch wenn er längst abgesackt ist und eher einer Kuhle gleicht, in der das Regenwasser sich sammelt. Nie wieder Blei! ›Wir verstehen uns‹, das ist der Satz, der das Zeug hat, verstanden zu werden, er enthält alles, was von der Buchform übrigblieb, er ist das Buch. Oder doch Blei? Es bleibt schwer, ein Buch zu lesen, es ist eine Kulturleistung, für die nur belohnt wird, wer bei der Stange bleibt. Nicht aufhören! – so klingt der leise Sermon des Buches, wenn der ermüdete Arm es sinken lässt und die Sinnfrage weicht. Nicht aufhören! – so klingt es zwischen den Seiten, wenn der Leser, erschöpft ob all des Überflüssigen, das er in sich hineinschaufelt, die Notbremse fixiert. Dies hier ist Überfluss und Überfluss ist Kultur. »Soviel Kultur«, denkt der Leser, »ist das nicht anstrengend?« Kultur ist anstrengend, zwitschert das Buch, zwischen den Seiten ruht das Vergessen. »Kultur ist anstrengend, weil man vergisst?« denkt sich der Leser, »ich hätte gedacht, Denken strengt an, damit das Gedachte nicht mehr weggeht.« Dummkopf, flüstert das Buch, wer redet vom Denken? Literatur denkt nicht, sie regt das Denken an. Welches Denken kann das sein? Denk nach! »Aber wenn ich nachdenke, muss ich mich konzentrieren. Wenn ich lese, konzentriere ich mich, wie du sagst, auf nichts. Was soll denn dabei herauskommen?« Das kann ich dir sagen, schwatzt das plötzlich vertraulich gewordene Buch. Wenn du denkst, du liest, liest du dann nicht? Wenn du aber liest und denkst, dass du denkst, denkst du automatisch, dieser Bleiberg, auf dem du stehst, befinde sich in dir selbst, in deinen Eingeweiden, in deinen Muskeln, in deinen – achte auf meine Worte! – Gedanken. Wenn die Literatur eine Frage ist, dann bist du die Antwort. Wenn du die Frage bist, ändert sich daran nichts. Du bist also die Frage und die Antwort, doch nur, solange du liest. Noch Fragen?
Die Waffe der Unaufrichtigen ist die Unaufrichtigkeit. Das ist allgemein bekannt. Weniger bekannt sind die Gründe der Unaufrichtigkeit (das liegt in ihrer Natur) – eine missliche Situation, vor allem, wenn es sich um Unaufrichtigkeit, begangen im öffentlichen Interesse, handelt wie zum Beispiel das Beschweigen und Beschönigen bestimmter Aspekte der Verbrechensstatistik, wobei mit den betroffenen Tatbeständen auch, bedingt durch den Wandel des Zeitgeistes, die Gründe wechseln können – können, denn, wie gesagt, Genaues erfährt man nicht, wenn es sich nicht gerade um Schreibregeln für Journalisten handelt, die dann und wann an die Allgemeinheit durchsickern. Solche Regeln werden gern ›ethisch‹ genannt, nicht ganz zu Unrecht, da sie Verhaltensweisen vorschreiben und dafür Grundsätze anführen, die auf der Sonnenseite der allgemeinen Überzeugungen zu Hause sind. So den der Nichtdiskriminierung: wer nicht diskriminiert, also nicht unterscheidet, der bezichtigt auch nichts und niemanden, der hält sich heraus.
Die Frage wäre also stets, wer sich wo heraushält, mit welchen Folgen, bedachten und unbedachten, gerechtfertigten und ungerechtfertigten, und welcher Regel er dabei folgt. Wenn bei einer Gerichtsverhandlung herauskommt, der wegen Mordes und Vergewaltigung Angeklagte habe eine Schreinerlehre absolviert oder arbeite bei einem bekannten Bankhaus, dann geht das in Ordnung und niemand, der bei Verstand ist, wird daraus Vorwürfe gegen den Schreinerberuf oder besagtes Bankhaus ableiten. Diese Regel ist außer Kraft gesetzt, sobald sensible Bereiche der aktuellen Opfermythologie gestreift werden, wenn also der Täter einem bestimmten – unaussprechlichen – Personenkreis angehört, wenn seine Gruppe, mit einem Wort, der unterstellten Verletzlichkeit wegen privilegiert wird. Also versucht, wer kann, zu verhindern, dass eine entsprechende Linie gezogen wird, und der ethische Kodex bietet eine ausgezeichnete Handhabe dazu. Am Ende liegt auf der Welt ein Tabu, das nur zu berichten erlaubt, irgendjemand habe irgendein Unrecht an irgendjemandem verübt, denn das Opfer oder seine Verwandten und Erben könnten ebenfalls Verschwiegenheitspflichten anmahnen und verstehen sich oft genug dazu. Die Unterstellung in diesem Fall lautet, dass ›dort draußen‹ niemand bei Verstand ist und deshalb die einfachsten Zusammenhänge unerörtert bleiben müssen, um die Volkswut zu bändigen, selbst wenn die Erörterung im Interesse des Gemeinwohls zwingend geboten wäre.
Sinnigerweise nährt sich die Volkswut, wie jedermann wissen sollte, am besten an Kaum- und Halbwissen und an Gemunkel, womit sie im gegebenen Fall blendend bedient wird, während die genauestens Informierten, die es immer und überall gibt, sich ins Fäustchen lachen. Das Ergebnis der Operation besteht also darin, dass die Informierer sich selbst blenden, indem sie nicht mehr zu wissen wagen, was sie doch wissen können und wissen müssten – aus Angst, dem Feind in der eigenen Brust Vorschub zu leisten. Denn sie bewegen sich, wie sie glauben, in Feindesland, sozusagen von Berufs wegen und ohne die Möglichkeit eines Rückzugs. Die Unaufrichtigkeit ist ihnen zur ersten Natur geworden, sie sind sich keiner Machenschaften bewusst, sie attackieren diejenigen, die sie für uninformiert und ›schlimm‹ halten und die doch nur, von Unruhe für das Gemeinwesen gepackt, die Decke zu lüpfen versuchen, unter der die mit Fleiß zurückgehaltene Wahrheit lagert. Dafür sollen sie büßen.
Es gibt Stunden, da holt der alte Schallmeier seinen Bloch heraus,
putzt sich die Brillengläser und beginnt zu lesen. Drei Sätze nur
und er ist wieder im Rhythmus, dem eckig, ruck-zuck und dabei so
geschmeidig sich wälzenden Strom von Undurchdachtem, Verdautem,
Unverdautem, Verschrobenem und Gestemmtem. Er liest nicht lange und
er hält inne, die Erinnerungen haben ihn überwältigt, es glänzt die
Backe und eine Träne läuft darüber hin, als wollte sie sagen: Was
soll ich tun? – Und wirklich, was sollte sie tun? Eine Träne dem
Universum, der brodelnden Materie, dem prometheischen Feuer und der
Mission: Er war der letzte, der sie seinen Deutschen entlockte, der
sie ihnen entrang oder entriss, ja, entriss, das wird es sein, denn
eigentlich war, was da stand, komisch – es war schon immer komisch,
nur heiter, das war es nie. Schrecklich dagegen der gütige Apologet
des ›schon immer‹, der hinauswatete, wo dieser unterging. Dass der
sozialistische Held eines Tages sogar den Tod besiegt, das
Skandalon – diese Große Marotte des Denkers sagt viel, wenngleich
nicht alles. Immerhin verdeckt sie den Käfig, in dem der
Unsterbliche sitzt, abgewandt, bleich, mit erloschenen Augen
angesichts all der Tode, die aufgewandt wurden, um ihn für eine
Weltsekunde hervorzubringen – ein Untoter unter seinesgleichen, ein
Toter unter Toten und Lebenden. Zwischen diesen da und das All
passte nichts als eine Trompete.
Wie blöd muss einer denn sein, um endlich auch für blöd gehalten zu werden? –
Das ist eine Preisfrage. Wer die Antwort weiß, der heimst alle
Preise ein, die das Leben zu bieten hat, jedenfalls dann, wenn er es
geschickt anstellt und nicht zu blöd für den Erfolg ist wie alle
die anderen. Die meisten Menschen sind zu blöd, um Erfolg zu haben.
Daran erkennt der Gerechte, wie positiv diese Eigenschaft ist. Ohne
sie wäre Gesellschaft ein einziges Hauen und Stechen und der Erfolg
bliebe auf der Strecke. Medien zum Beispiel halten ihre Kundschaft
notorisch für blöd, solange sie sich auf der Erfolgsspur wähnen,
sie begreifen nicht, dass die Kundschaft sie nur ersatzweise
frequentiert, solange die richtigen Informationen noch ausstehen, die
richtigen Analysen, sogar die richtigen Ansichten,
denn das öffentlich-rechtliche Kommentatorengeschwätz kann es nicht
sein. Das heißt sich von Tag zu Tag informieren. Information
entsteht aus Desinformation, wer halbwegs informiert ist, misstraut
jeder Information. Mit wachsendem Misserfolg, das weiß jeder
halbwegs kluge Kopf, greifen alle Medien unter sich, sie begnügen
sich nicht länger damit, ihr Publikum für blöd zu verkaufen,
sondern versuchen es zur Blödheit zu nötigen: ein Circulus vitiosus
mit bekanntem Ausgang. Es geht ja mit, das werte Publikum, so wie ein
Gesunder mit einem Kranken mitgeht, in der Hoffnung, es ginge dann
besser, doch wenn alles nichts nützt und der nächste Termin drängt,
lässt er los und schon bleibt der Kranke mit seinem Gebrechen allein
zurück. Das mag bedauerlich sein, aber so grausam ist das Leben,
jedenfalls von Zeit zu Zeit. Meine Zeitung zum Beispiel, wie hieß
sie nicht gleich? Blödgehaltene aller Länder – nein,
bitte, vereinigt euch nicht! Es wäre furchtbar.
Man muss den Leuten nur sagen, der und der ist ein großer Denker, dann klauben sie den größten Schwachsinn aus seinen Sprüchen heraus und merken ihn sich. Überzeugungstäter gehen dafür durch dick und dünn, Berufsdenker nerven ihre Mitmenschen generationenlang, vor allem vom Katheder herab. Das ist nicht zu verhindern, da die schwierigeren Gedanken den meisten Verehrern verschlossen bleiben und alle an Größe partizipieren wollen. Der wirksamste Denker ist daher der gemischte, einer, der sich nicht scheut, krasses Zeug zu notieren, weil das sichernde Denken ihn nicht auslastet und er den Erfolg sucht, schon um zu spüren, was Leben heißt. Die blonde Bestie war die Erfindung eines, der auszog, die Menschen das Fürchten zu lehren, allein mit der Botschaft ›Fürchtet euch nicht‹. Zu diesem Zweck musste sie ein wenig umgestaltet werden, sie musste invers wirken, dafür durfte sie gern pervers sein. Übrig blieb von seinen feuchten Träumen der blonde Engel, der durch die Welt der Kinematographen geisterte, bis ihn der Serienkrimi zum Geständnis zwang.
Wir fanden, das sei ein treffender Name, als wir daran gingen, das
kopernikanische All neu zu justieren, und nach einem Ort suchten,
an dem diese notwendige Operation mit Leichtigkeit vollzogen werden
konnte. Der Ort selbst war rasch gefunden: ein sanfter Hügel in
einem Gelände voller Bauschutt, durchzogen von gurgelnden
Wasseradern. Hier aber fanden sich Krokusse und, Glück eines neuen
Tags, wiegten sich Butterblumen im Wind. Auf diesem Hügel saßen und
redeten wir viel mit uns selbst, wir redeten uns die Tage weg, als
seien es Stunden. Jahre vergingen so wie nichts und Bücher
entstanden, von denen wir vordem kaum etwas ahnten, dickleibige,
wie es sich an einem solchen Ort gehört, wir aber ließen die Finger
unserer Gedanken wie Elfen durchs Gras laufen und dünkten uns
glücklich. Nur hier konnte es geschehen, dass einer, inmitten
restrukturierter Trümmer, die Legitimität der Neuzeit fand, diesen
ebenso bestechenden wie zeitlos gültigen Gedanken, in den sich alle
eintragen können, die noch vor Ablauf ihrer Frist seufzen möchten:
»Wir waren es auch.« Und das ist sogar legitim. Denn angenommen, es
wäre anders, so bliebe doch der Verdacht, es könne alles mit
rechten Dingen zugehen, die gezinkten Karten müssten so sein und es
komme nach und nach auf den Tisch, was darunter verkauft wurde.
Neuzeit ist immer, wie sollte gerade diese nicht legitim sein?
Welche Wucht steckt hinter einem solchen Gedanken? Man denke hier
an die stete Brise, das Säuseln der Gedanken im Denken selbst, aus
dem sie selten, und nicht zu ihrem Vorteil, herausbrechen. Von
diesem aber lernten wir viel.
Zweierlei Ekel: der erste angesichts des besinnungs- und grenzenlosen Auskostens eines Weltzustandes, in dem den Deutschen der allgemeine Scham-Part zufällt. Der zweite davor, wie schamlos die Deutschen dieses Geschäft betreiben. Es scheint, sie betrachten es als ihr Glücks-Los. Das mag psychologisch und ›moralisch‹ richtig (und gut fürs Geschäft) sein. Aber: was für eine Moral ist das? Nirgends ist Scham gleich Moral. Allenfalls darf sie Handlangerdienste verrichten. Erst die gebändigte, die für die ›richtige Sache‹ mobilisierte (und kanalisierte) Scham wird moralisch – oder sollte es. Scham zeigt sich – als was? Erzwungene Scham wird Beschämung, Beschämung Gefolgschaft, Gefolgschaft jener bedenkenlose Fanatismus fürs Gute, der jeden Einwand beiseiteräumt und, sofern man ihm freie Bahn lässt, schon den Ansatz von Fairness mit eigentümlicher Wut verfolgt. Was also wäre eine zur öffentlichen Anstalt mutierte Scham? Vermutlich: archaische Un-Moral, als Sensibilität getarnt. Bei soviel (gedoppelter) Anfälligkeit fürs Gewesene blüht der Manichäismus der Gegenwart. Immer auf der richtigen Seite zu stehen, das kommt, aufs Ganze gesehen, teuer zu stehen, vor allem, wenn die moralischen und ökonomischen Ressourcen der richtigen Seite schwinden. Die Schlauen wissen es wohl und wechseln die Seiten wie öffentliche Verkehrsmittel – Hauptsache, die Selbstgerechtigkeit des in dritter Instanz Geläuterten kommt mit. Wo alle Volk sind, sind die Antideutschen die Erwählten. Zu was erwählt? Erwählt wofür? Vor allem: Erwählt wogegen? Erwählt von wem? Kinder, stellt Fragen. Schließlich seid ihr erwachsen. Auch das geht, wie vieles andere, vorbei.
Bockshörner gibt es in allen Größen und Preisklassen. Das, hier, so klein, so weich, so biegsam, noch kaum Horn zu nennen, für die lieben Kleinen: geht reißend weg, denn auch sie wollen schon verschaukelt werden, und nicht nur von den eigenen Eltern. Das dort ist ein edles, geradezu klassisches Stück. Man beachte die Krümmung. Damit lässt sich jemand in die Wüste schicken, der selbst sein Handwerk versteht, aber damit findet er seinen Meister. Es geht nichts über ein gutes Arbeitsgerät. Ein gutes Bockshorn verrät den Meister der Intrige. Oder soll ich sagen: die Meisterin? Es ist nicht alles Geschlecht, was sich unter einem Dach zusammendrängt, schon gar nicht unter dem eines Hohen Hauses. So ein Bockshorn… Wer weiß schon, was ein Bockshorn wiegt? Bockshornjäger oder -jagende, wie sie neuerdings nach offizieller Lesart heißen, bleiben deshalb meist unerkannt, weil ihr Opfer alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Doch gilt das bloß, wenn die Operation auch gelingt. Scheitert sie, möglichst sogar in Serie, so heißt es in der Politik dann gleich, klar doch, FDP. Als ob eine Partei ein Monopol auf Niedertracht besitzen könnte! Noch dazu gegenüber verantwortungsbewussten Bürgern, die ihr am Wahltag die Stimme geben. Was ist eine Stimme gegen eine Parteispende? Frei sein heißt eben, so frei zu sein, dass die eigenste Überzeugung als nichts Besonderes gilt, vor allem vor oder nach einer Wahl. Es gibt aber auch andere Anlässe. Wenn die Redner anderer Parteien am Parlamentspult rödeln und pinschern, um der Regierung zu Diensten zu sein, die längst schon vergessen hat, wen und zu welchem Ende sie regiert, dann ist es eine Freude, dem freien Menschen bei der freien Entfaltung seiner freiheitlichen Weltsicht zuzuhören und zu ‑sehen. Und wenn er dann seine Papiere zusammenlegt, sich umdreht und geht, dann weiß man, dass man einem Ereignis beiwohnen durfte – einem von denen, die neuerdings immer seltener werden. Wie gesagt, Bockshörner, in die Jahre gekommen, sind die edelsten Trinkgefäße. Man muss sich nur auf sie verstehen.
Ein Ritt über den Bodensee kommt selten allein. Schon bei
paarweisem Aufritt verdoppelt sich die Annehmlichkeit des
Versagens. Darin liegt ein Geheimnis, das vielen bekannt und kaum
einem recht ist. So sieht man sie gekrümmt dahinjagen, auf
Tuchfühlung fast, aber ohne Blick. Wie das Eis trägt! Verblüffend,
ganz verblüffend.
Der fein zu verteilende Stoff – BW, das Salz der Erde, Be-Wusstsein: kein käufliches Produkt, dem es nicht beigemengt wäre, in niedrigen Dosen, versteht sich, unterhalb jener Grenze, an der die Hüter der Werte Einspruch erheben, obgleich sie beweglich ist und in Gefahrenzeiten leicht erhöht werden kann, so dass die Gefahr, wie jeder weiß, der im Bilde ist, augenblicklich zurückgeht. In der Gefahr weicht die Gefahr, um als Chance wiederzukehren. Das ist eins der Geheimnisse, vor denen die Misstrauischen zittern. Hölderlin hat es gewusst und Reagan, der Schauspieler, auch. Im therapeutischen Raum wird BW noch immer als Spritze verabreicht, man glaubt hier stärker dosieren zu dürfen und die Effekte ergeben ein rasch lesbares Bild. Vernünftigerweise lässt man es nicht dazu kommen. Was immer einst Psychoanalyse und Marxismus bezweckten, Designer können es besser und werden auf diesen Punkt trainiert. Die Welt steckt voller Bewusstsein, wussten Sie das? So lassen sich z.B. durch kleine Täfelchen Religionen verbreiten oder zerstören, eine geschickt gestaltete Website kann eine Region in den Wahnsinn treiben und, wer weiß, den Weltbrand entfachen. Daran arbeiten viele.
Der Botschafter ist die Botschaft. Da schreitet er die Treppe herab, der alternde Neue, der neue Alte, denn auch dieser hat viel gestalten müssen, um in der Gestalt des Botschafters erscheinen zu dürfen. Nur die Botschaft wandelt sich nicht, sie ähnelt ein wenig der des Jüngsten Tags, wenn endlich alle Zukunft aufgebraucht sein wird. Nein, so weit ist es noch nicht. Aber der Verbrauch an Zukunft hat ein bedenkliches Maß angenommen und wird jetzt auf ein bedenkliches Maß zurückgenommen. Gleich fühlt die Gegenwart sich bedrängt und fordert ihr Recht. Welches sollte das sein? Welches Recht sollte die Gegenwart haben, wenn nicht das auf Gestaltung der Zukunft? Zukunftsfähig wollen sie sein und alles jetzt, das geht, unter Währungshütern, nur um den Preis der Falschmünzerei. Ganze Staaten lassen sich dabei erwischen und spielen mit ihren Flügeln, um Reue anzuzeigen und die Luft zu testen, vielleicht können sie noch entwischen. Der Botschafter kennt seine Kameraden, er ist einer von ihnen, er ganz allein, ein Staatswesen mit einem linken und einem rechten Flügel. Er weiß, wie man die Gewichte verteilen muss, auf dass niemand sich erhebt. Er weiß es gut, denn er ist gewarnt. Die Geschlechtslosen starren auf sein Geschlecht, als erwarteten sie dort ihr Los. Wenn es bitter kommt, tut es doch gut zu wissen, wo so einer den Most holt.
Im Brabbelsumpf geht es uns wohl. Warum das so ist? Keine Ahnung. Ein richtiger Brabbler benötigt den Sumpf um voranzukommen ohne voranzukommen, aber das Rudern ist herrlich. Das Material ist zäh, es klebt an den Seiten, es klebt zwischen den Zehen, es verschmiert den Mund, sobald er sich öffnet, sieht es so aus, als öffne der Sumpf selbst seinen Schlund, oder besser: als öffne sich Schlund an Schlund, denn ein Brabbler kommt selten, eigentlich nie allein. Diese leuchtenden Zahnreihen haben etwas zu erzählen, etwas Großes, zu dem jede ihr Scherflein beiträgt, den Brabbelcent, erkennbar an seiner Unerkennbarkeit, die mancher für bare Münze hält. Keine Spielereien! Die Brabbler haben die Welt nicht erobert, sie haben sie nur verändert. Und das gründlicher, als sie es jemals verstanden. Verstehe einer die Welt.
Zu den überragenden Verdiensten Willy Brandts wird man einmal seine drei Söhne zählen müssen, von denen einer als Schauspieler die Nation allabendlich mit den Schrecken ungesetzlicher Handlungen versöhnt, während der andere, als Historiker, die Schrecken der Geschichte, ohne ihnen ein Jota abzunehmen, als lebbare Mitgift der Menschheit behandelt.
Denn tatsächlich blieb es dieser Generation vorbehalten, die Lebbarbeit der Geschichte neu zu erproben, insbesondere desjenigen Teils, den ihr die Vorgänger (und Vor-Vorgänger) hinzugefügt hatten. Dem Leben im Schatten der Bombe entsprach in diesem Weltteil symmetrisch das Leben im Schatten der mühsam geteilten Einsicht in die Realität des absoluten Grauens. Fälschlicherweise nahm man an, es sei an der Grenze des eigenen Daseins gestoppt worden, während es doch auf anderen Kontinenten fort- und koexistierte: eine doppelte Virtualität, die ihre eigenen Virtuosen hervorbrachte, Bewältigungsathleten im Zeichen der moralischen terreur, die bei einigen, wie zu erwarten, in physischen Terror umschlug, bei anderen in eine Art von dauerhaftem Wundstarrkrampf mündete. Dass man im geteilten und geschrumpften Land die Nation zum Müllschlucker des Gewesenen deklarierte, lag wohl am Wege, in einer Welt der gelernten Lektionen blieb dies die gelernteste und gelehrigste. – Nicht das So-Sein, sondern das Sohn-(und Tochter-)Sein war über diese Generation verhängt, der noch immer etwas Blasses, Verwaschenes, Unfertig-Altbackenes und, ehrlich gesagt, bei aller vorgetragenen Entschiedenheit Unentschiedenes anhaftet. Der Sohn des zum Repräsentanten des ›anderen Deutschland‹, dann seines Landes und schließlich der sich restituierenden Nation aufgestiegenen Exilanten, des ersten und bislang einzigen Kanzlers, der nicht ›beliebt‹ war, sondern geliebt wurde, musste irgendwann wohl oder übel Historiker werden und die Linie, die der Vater in der Politik zog, ins Gewebe der Fußnoten und der gelehrten Parenthesen übertragen. Und wohl oder übel musste es die Nation sein, die ihn dabei beschäftigte: die besudelte, aber eben auch lebbare, jene geteilte, deren Einheit lange Zeit denkbar, aber praktisch unmöglich schien, die erneut vereinte, deren Ruhelosigkeit sich sofort neue Formen der Selbstnegation verordnete, auf dass sie ihrer Funktion als ideologische Schaltstelle Europas nicht verlustig gehe. Wer Peter Brandt für einen Apologeten des Ausgleichs hält, hat etwas grundlegend missverstanden. Wenn ›Verständigung‹ den rationalen, ›Ausgleich‹ den (macht-)ökonomischen und ›Versöhnung‹ den ethisch-religiösen Aspekt der Aufgaben umreißt, die nach Vernichtung und Aufbau anstanden, dann ist ›Entwahrlosung‹ vielleicht nicht der heikelste, aber subtilste, da unmittelbar auf den Wandel der Selbstverständigung im jeweiligen Ganzen zielende Teil. Das ist, alles in allem, ein kollektiver Vorgang, dem vorzugreifen gefährlich, dem hinterherzutrotten tödlich sein kann. Wie alle historischen Prozesse braucht auch dieser Symbolfiguren. Voilà – bedient euch!
Wer den Braten riecht, der muss ihn wenden. Das ist eine alte
Regel, herüberschallend aus Bereichen, in denen ›Kultur‹ weniger
mit einem Theaterabend assoziiert ist als mit den Fingerzeigen
einer nahen, nichtsdestoweniger schwer zu fassenden Gottheit, wie
es denn geht, das Leben, oder meinethalben: wie Leben geht.
Die intellektuelle Ableitung kommt demgegenüber spät, fast zu spät,
aber sie bleibt deutlich, es handelt sich um eine der letzten
Zuckungen der Wahrhaftigkeit, bevor sie in der Fülle des
Gleichgültigen ertrinkt. Also: Wer den Braten riecht, muss ihn
wenden. Oder: Es geht nicht an, in einem Gehäuse aus Überzeugungen
weiter zu leben, dem bereits das Dach davonfliegt. Doch das ist ein
grobes Bild – wer sich auskennt, dem sagen weit subtilere Zeichen
Bescheid, er ist bereits im Bild, bevor es entsteht. Wer kennt sich
da aus? Ist es der, der unruhig wird bis in die Zehenspitzen, weil
ihm heiß und kalt ist, weil er es nicht mehr aushält im gesicherten
Heim? Oder ist es der, der in Ruhe den ersten Streich führt? Welche
Motive sind da im Spiel? Auch die Nachwelt ist kein genauer Herold,
sie kann sich schwer täuschen, wie man so sagt. Und wer ist die
Nachwelt? Den Braten riecht keiner und mancher, der sich als
Verhängnis ausposaunt, sähe sich als Fliegenbeinzähler rasch
überrundet.
Diese Frau ist eine Heuchlerin, na und? Sie ist Alleinerziehende.
Der Mann an ihrer Seite, der als Vater konsumiert wird, weiß davon
und schweigt. Er schweigt nicht nur, sondern ist eifrig dabei,
geleitet von dem sonderbaren Gefühl, nicht hinter das Erreichte
zurückfallen zu dürfen, weil es sonst aus wäre. Was wäre wohl aus,
wenn er sich zurückzöge? Die Täuschung, was sonst. Die unerhörte
Täuschung, Vater sein zu können unter Konditionen, die von ihm
nicht gemacht wurden und die er nicht verantworten kann. Er
akzeptiert sie aber und versucht, mit ihnen ›zurechtzukommen‹. Das
Zurechtkommen ist eine merkwürdige soziale Tugend, die das Fußvolk
nicht gern analysiert. Man verdankt sie Trümmerlandschaften, von
denen manche glauben, sie existierten nicht mehr. Aus den Augen,
aus dem Sinn. Und wirklich: seit draußen alles so geleckt aussieht,
als stünde die große Flut gleich bevor, spielen sie Innenwelt.
›Erlaubt ist, was sich ziemt‹: der Zurechtkommer darf sich
aufbrauchen. Dafür gibts Urlaub extra. Vaterschaft ist Bringschuld
– ein Geschenkartikel, der sich im Geben verzehrt. Am Ende der
Seifenoper erstrahlt aus den Kulissen die Fratze der Kindheit, die
keine war. Erwachsene, gewillt, niemals erwachsen zu werden,
reichen einander die Hände und ein auf X-Beliebigkeit
heruntergedrückter Idiot murmelt bühnenreif: »Aber ich will
doch...« Sein Double nervt derweil die Gäste des Stammlokals,
sofern er nicht die Bedienung anmacht. Sie bringt das Zeug, das er
dringend benötigt.
Wäre Broder nicht Broder, er wäre dennoch Broder geworden. Das ist keine Kritik, sondern eine Feststellung. Sie zieht die berechtigte Frage nach sich, was aus Broder geworden wäre, hätte er nicht von Beginn an Broder sein müssen. Solche Fragen sind, ihrer Natur nach, nicht zu beantworten. Sie leben vom Paradox, lebendiger sein zu müssen als das bewegte Bild, das sie hervorruft, während sie doch nur seinen blassen Widerschein liefern. So wirkt die Vorstellung eines anderen Broder schlechterdings widersinnig: Sie beleidigt den guten Geschmack und tritt den schlechten mit Füßen, statt ihn zu hofieren, wie es sich doch gehört. Es gehört sich, Broder als Broder zu betrachten, als das Absolutum, zu dem der Mensch nicht heranreift, sondern als das er in die Welt eintritt, jedenfalls in die Welt des Feuilletons, wo er hingehört. Broder, das ist: das Ei des Kolumbus, auf sich selbst gestellt. Broders fundamentale Entdeckung, sein Einstieg in die Welt derer, die, nun ja, zählen, bestand darin, den fleißig-kritischen Geistern der Republik ihre Kolumbus-Eier zu entwenden und dem Publikum lachend unter die Nase zu halten: Seht her, damit machen sie’s! Und alle sahen her. Bekanntlich entsteht ein Kolumbus-Ei dadurch, dass einer den Mumm hat, hart aufzusetzen, was partout nicht stehen will, und dadurch einen künstlichen Stand zu erzeugen: Geht doch! Der künstliche Stand der Kritik ist der Kritizismus: ›Da Juden Opfer sind, sind wir alle Juden. Da Opfer Opfer sind, sind wir alle Opfer. Da alle Opfer sind, sind alle wir.‹ Die künstliche Jagd nach dem leeren Täter, der mittels abstrakter Worthülsen wie ›Kapitalismus‹, ›Imperialismus‹, ›Neoliberalismus‹, ›alte weiße Männer‹ etc. fluktuierenden Täter-Imago, erheitert Broder und lässt seine professionelle Zornader schwellen. Einer wie er wird nicht müde, unter den Wortkaskaden des Opferdiskurses und der durch ihn hofierten Unfähigkeit zu trauern die wirklichen Opfer hervorzuklauben und auf die Delle zu deuten, die der Kritizismus der Wirklichkeit zufügt. Kritizismus ist der Konformismus derer, die von der Kritik leben. Wovon lebt Broder? Von der Kritik des Kritizismus? So kann man es sehen, so sieht es Broder, falls er zu sehen geruht. Wie kann einer immer neu kritisieren, was sich im Kern immer gleicht? Broder, dem auf Dauer gestellten Kulturlärm dauerhaft attachiert, kann nicht anders, als die eigene Kritik auf Dauer zu stellen. Das ist das Broder-Ei, wie die Republik es kennt. Kein Wunder, dass ihre Grenzen in ihm, gegen den enthemmten Konformismus, einen ihrer eifrigsten Verteidiger finden. Sie ist sein Lebenselixier, sein Jungbrunnen, sein Haus ohne Hut, sein Eierlieferant: Knirscht, aber steht.
Offiziell besitzt Berlin 961 Brücken, leidenschaftliche Zähler kommen, laut Tagesspiegel, auf 1600 bis 2100, wer weiß, welche Zahlen Nachtzähler vorzeigen könnten, ließe man sie zu. An der Zulassung scheitern viele. Diese Diskrepanzen…, denkt Adler, das muss einen Grund haben, einen einzigen am besten, aber wir kennen ihn nicht und deshalb bleibt er geheim. Ein geheimer Grund ist so gut wie viele Gründe, er ersetzt sie im Handumdrehen, man muss nur drauf kommen. Der geheime Grund, denkt Adler, wäre ich auf allen Brücken präsent, ich hätte ihn schnell entdeckt, so muss ich mich auf meine alten Tage mit Mutmaßungen herumquälen. Was z.B. unterscheidet eine offizielle Brücke von einer inoffiziellen? Nichts, denn das Amt lässt keine inoffiziellen zu; sobald es von einer erführe, wäre der Abbruch beschlossene Sache und die Brücke registriert. Trotzdem scheint es immer wieder zu passieren, dass eine Brücke nicht registriert wurde, vielleicht eine Nachtgeburt, die sich tagsüber versteckt, in hohen Gräsern womöglich, oder im Schilfgürtel. Vielleicht sollten einige der leidenschaftlichen Zähler besser ›Brückenseher‹ genannt werden: sie sehen Brücken, wo für andere nur Wasser strömt, und das keineswegs metaphorisch – es strömt ja, es stromert, es bewegt sich doch und wer hineinspringt, kommt als ein anderer heraus, mit gebrochenem Genick bisweilen oder als halbwegs verfaulte Wasserleiche, jedenfalls verwandelt. Auch er ist hinübergegangen, er hat seine Brücke gefunden, im Mondschein meinetwegen, aber es geht auch bei Nieselwetter. Solche Menschen gibt es zuhauf. Natürlich werden sie registriert, nur die von ihnen benützte Brücke bleibt dem Amt ein Geheimnis. Ist es immer dieselbe? Vermutlich nicht, denkt Adler, das wäre unnatürlich. – Berlin, Stadt der Brückenbauer. Bekäme jeder, der diesen Ehrentitel zu Recht trägt, seine eigene Brücke, die Spree wäre Publikumsblicken auf ewig entzogen. Bloß das Bootswesen hätte Konjunktur. Nein, denkt Adler, die wirklichen Brücken sind unsichtbar, sie verbinden Menschen, die einander sonst nichts zu sagen hätten, es sei denn Beleidigungen. Jetzt sind sie verbunden und reden miteinander all das dumme Zeug, das sonst ins Wasser gefallen wäre, es holt ja keiner heraus. Man sollte auch jene Über-Brücken nicht vergessen, die nur gebaut werden, damit die Zeit rascher vergeht, vermutlich, weil sie sich unter ihnen durchzwängen muss, anschließend erholt sie sich schnell und beginnt zu trödeln. Über-Brücken fallen unter die Rubrik ›nicht zählbar‹, damit käme man den Diskrepanzen schon näher. Nimmt man den seit Jahren grassierenden Brückenklau in die Statistik auf, dann rundet sich das Bild: selten zerfällt eine geklaute Brücke im Gelände, die meisten verrichten ihren Dienst wie gewohnt, nur versetzt. Kein Wunder, dass sie doppelt und dreifach in der Statistik erscheinen. Das LKA sollte, denkt Adler, entschlossen nach der Brückenkönigin fahnden: zigfach entführt und hundertfach wieder aufgebaut – das ist Berlin.
Anspielungen gibt es, bei denen das Publikum brüllt, ohne dass es verstünde, worum es geht. Warum? Weil das Brüllen in seiner Natur liegt? In seiner Theaternatur? Das Publikum besitzt keine Theaternatur, es fordert sie nur – von anderen, aber natürlich auch von sich selbst, wozu säße es sonst an diesem Ort, wo es bekanntermaßen laut zugeht? Natürlich nicht im Zuschauerraum, hier geht es still zu und unbeweglich, schließlich sitzen hier die Verhältnisse ein, die da vorne am Pranger stehen, doch keine Regel ohne Ausnahme. Warum brüllt das Publikum? Weil es sich vor Eifer nicht anders zu helfen weiß? Nein. Es muss nur einmal heraus. Alles muss einmal heraus. All das Ungesagte, einmal muss es gesagt sein, damit es gesagt ist, und wenn es gesagt ist, dann hat es doch einer gesagt, oder? Applaus! Genauso gut muss heraus, was alle dauernd sagen, wenn man genau hinhört, das Mitgeplapperte, das Geplappere überhaupt, das alle kenntlich macht. Selbstgenuss im Ekel, Sie wissen schon. Kommt so ein Ekel auf die Bühne … we love it. Schon brüllt der Laden. Manchmal geht nur ein Stöhnen durch ihn hindurch, das ist dann grausiger als alles, was die Welt draußen zur Kenntnis nimmt, das geschieht nur hier.
Wie sie lauthals das Ende der Gutenberg-Galaxis verkündeten und anschließend in die Hülle des Buches zurückkrochen … sie müssen ihre Gedanken entwickeln, den Faden ziehen, von Seite zu Seite, von Kapitel zu Kapitel, um anschließend wieder von vorn anzufangen. Sieht so Denken aus? Gewiss nicht. Gewiss gibt das Netz andere Möglichkeiten an die Hand, ihm nahe zu sein. Warum werden sie nicht ergriffen? Vielleicht ist es mit dem Denken der notorischen Buchdenker nicht so weit her, wie sie behaupten? Vielleicht ziehen sie auch nur das Prestige dem Gedanken vor, die Schnecke Prestige, die dem Stand der Dinge stets hinterherkriecht, aber in ihrer Schleimspur alle Bedenken ertränkt. Respice finem! Bedenke das Ende! Im einen wie im anderen Sinn.
An der Buchfront wird munter gekämpft, es geht dort zu wie auf dem Basar, wenn die Preise verrutscht sind und dem Handel der Untergang droht. Das Buch schweigt zu diesen Kämpfen, es hat, wie zu allem, eine Meinung, und schwitzt sie aus, denn es geht um die Existenz. Was andere Front nennen, gerät ihm zur Fron, seit es die Welt nicht mehr abbildet, sondern verarmt. Die Welt ist mehr als ein paar Blätter Papier zwischen zwei Deckeln, das hat man immer gewusst, aber sein Wissen brav zwischen besagte zwei Deckel gepackt. Damit ist es vorbei. Was sich noch immer zwischen den Blättern tummelt, ist Betrug: man sieht sich von Marktschreiern hineingenötigt und strebt enttäuscht dem Ausgang entgegen, müde des Aufschubs, der sich im Wenden der Seiten kundtut, und entsetzt taumelnd angesichts des Versuchs, dem kindlich gebliebenen Gemüt das alte Quidproquo anzudienen. Schmeckt denn keiner die Asche? Nein, an der Buchfront wird nicht mehr gekämpft, man hat dort andere Sorgen.
Dass man aus Buchstaben Labyrinthe bilden kann, wissen alle, das
ist nichts Besonderes. Dass man Buchstaben aus Labyrinthen
verfertigt, wissen die wenigsten. Wie viele Labyrinthe gehen in
einen Buchstaben? Viele, sehr viele, die meisten vielleicht. Nicht
nur, dass man sie unter Buchstaben bringen kann – das geht
immer, aber es bleibt ein bisschen beliebig –, sondern auch, dass
die Grade ihrer Verschlingung nie zu hoch ausfallen können, um
nicht irgendeiner Figur zuzuneigen, macht sie anfällig:
irgendeine Figur ist bereits genug, um eine der robusten
Typen hineinzulesen, welche die Welt regieren. Da geht es den
Labyrinthen nicht anders als den Zeichen ohne Sinn, die sich eine
sinnlose Deutung gefallen lassen müssen. Apropos: Sind Labyrinthe
sinnlos? Doch nur, insoweit sie Buchstaben ähneln. Mit ihrer Hilfe
lässt sich jeder Sinn erzeugen: durch Legen und Deuten. Nur die
Freizeitlabyrinthe, an denen ein Schild hängt, das darauf hinweist,
wie bedeutsam sie sind, bleiben stumm. Das versteht sich von
selbst, der Buchstabe L, an dem ein Schild hinge mit der
Aufschrift: Man kann damit lesen, böte einen ähnlich
traurigen Anblick. Labyrinthe gewinnen ihren Sinn wie die Kopula
für den, der nicht stehen bleibt, sondern weiter geht. Wer sie
anstarrt, kann lange warten: da rührt sich nichts. Wer hineingeht,
um eine Belohnung zu erhalten, dem winkt der Hirntod.
Wir wissen wenig darüber, was Buchstaben wissen, und dennoch
vertrauen wir ihnen unser Liebstes an. So sind die Menschen:
leichtfertig bis zum Exzess. Vor Jahren las ich eine Abhandlung mit
dem Titel Können Buchstaben denken? Sie war, wie Sie sich
vorstellen können, das Papier nicht wert, auf das sie gedruckt war.
Können Sklaven denken? Stumm schleppen sie die Buchstabenfracht
über den Appenin und weiter bis nach Zeppelinheim, dort können sie
verschnaufen, aber äußern dürfen sie sich nicht. Zur Qual
verurteilt, dass sich andere bei ihrem Anblick etwas denken, leiden
sie erstaunlich wenig. Ihr Anblick, ließe sich raten, straft das
Denken Hohn. Wäre es nicht so selbstbezüglich, flösse etwas davon
in es ein. Nein, mit dem Wissen der Buchstaben ist es nicht weit
her, es lebt von der Hand in den Mund und freut sich, wenn der
Fernseher geht. Dann haben sie frei. Schriftzeichen nennt man sie,
das ist ungerecht, es unterschlägt ihren Eigenanteil an dem, was
recht ist. An ihren Zeichen erkennt man die Schrift, an seinen
Buchstaben hat man das Wort. Man kann es hochheben und wegtragen,
man kann es auf den Markt tragen und verbrennen oder es tief
vergraben, nur nicht in der Brust, die sich physiologisch nicht
dafür eignet. Zeichen lassen sich übermitteln, ein Buchstabe
erscheint, wenn man ihn am wenigsten erwartet. Das erscheint wenig
plausibel, doch es ist die Wahrheit, mit der keiner rechnet.
Die wahren Schlachten des asymmetrischen Krieges sind Budget-Schlachten. Sobald Berichte über bewaffnete Konflikte in den gängigen Einflusszonen hochgefahren, sobald Gefechte, Niederlagen oder Massaker an Zivilisten in den ›Fokus‹ der allgemeinen Aufmerksamkeit gerückt werden, schreiten die Budget-Planer zur Tat: ein Fenster der Bearbeitbarkeit hat sich geöffnet, für eine kleine Weile lockert sich der Griff, der den Säckel des Finanzministers fest verschlossen hält ... gerade so lange, wie die Wogen einer diffus gefühlten Bedrohung durch die Bevölkerung laufen. Rasch und entschlossen müssen die Akteure zu Werke gehen, denn eine belanglose Nachricht lässt die Unruhe rasch wieder verebben. Bürger ist, wer morgens aufsteht und ganz vergessen hat, dass er sich gestern abend noch in tödlicher Gefahr befand. Das Leben geht immer weiter, das Büro ruft und die Kinder müssen zur Schule gebracht werden. Am Budget erweist sich die Wahrheit des Satzes, dass Krieg in bestimmter Hinsicht vor allem aus Warteschleifen besteht. Wer dem anderen an den Beutel will, muss nicht bloß auf eine passende Gelegenheit lauern, er sollte auch seine Zuarbeiter kennen und sich mit ihnen auf Zuruf verstehen. In der gekonnten Budgetschlacht wirken alle Faktoren, die sich sonst gegenseitig blockieren, in eine Richtung – wer auch jetzt nicht mitzieht, wird zum Mitwirkenden, ja zum Mittäter: das Ärgernis, das er den anderen gibt, fungiert als Katalysator, es regelt die Gemüter ein. Selbst ein Nichtsnutz, zum Beispiel ein Politik-Professor, findet dabei seine Aufgabe, indem er von postheroischen Gesellschaften fabelt, die sich mental irgendwie aufgegeben haben. Nichts peitscht die Wehrbereitschaft junger Männer mehr als dieser leise aus der Ampulle tröpfelnde Hohn, nur eben zu seiner Zeit, denn immer ist nimmer. Wo Männer sich wehrhaft fühlen, steigen die Ausgaben, übrigens auch die Unfallzahlen, also die Ausgaben: der Zyklus stimmt, das Leben hat alle wieder.
Da sich die Praxis der Bücherverbrennung nicht eindämmen lässt, wären alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen darauf zu verpflichten, eines jeden Autors, dessen Bücher auf seinem Territorium dieses Schicksal erleiden oder in der Vergangenheit erlitten haben, binnen Jahresfrist an einem zentralen öffentlichen Ort unter Angabe der einschlägigen Titel in würdiger und fortdauernder Form zu gedenken. Auf diese Weise wäre sichergestellt, dass sich die Verfolgung des Wortes nicht lohnt, es sei denn... Aber der an dieser Stelle keimende Gedanke ist trivial: ein Schriftsteller, der mit Verfolgung rechnet, kalkuliert ihre Wirkungen ein, einschließlich der erwünschten Umkehr der Verhältnisse. Er errichtet sich sein eigenes Denkmal und stünde gerührt vor dem staatlichen Monument – erstaunt darüber, das Herz aus Stein gerührt zu haben. Vielleicht wäre dies der Moment regierungsamtlicher Rührung und beide lägen sich in den Armen, bis die aufkommende Dämmerung und die allgemeinen Schalterstunden sie trennten.
Vom Spanner zum Büchsenspanner – alle paar Jahre erfindet die journalistische Meute sich neu und vergisst, was zu erweisen davor als eins ihrer höheren Ziele galt: die Korruptheit des Krieges, die heuchlerische Bemühung von Recht und Völkerrecht auf Seiten derer, die da am Drücker sind. Das Vergessen kommt und geht anfallsweise, so bleibt immer zu tun und zu schauen, vom Durchreichen einmal abgesehen.
Ein Bündnis ist nichts für Leisetreter. Nur ein Bündnis, in dem es rappelt und knallt, ist etwas wert. Ansonsten fliegt es auseinander, sobald der Bündnisfall eintritt, und der Fall wird zur Falle. In der unendlichen Privatheit ihres Urteils lesen die Menschen ›Bündnis‹ als ›Beziehung‹ und fürchten sich vor dem, was sie selbst zielstrebig ansteuern, sobald sich Konflikte zeigen: dem Schlussmachen. Vor dem Schlussmachen steht das Alleinsein. Wer in der Beziehung allein ist, fürchtet sich davor, das leuchtet ein und es ist der Irrtum. Wer sich im Bündnis allein wähnt, der begeht die ernstesten Fehler. Ein Bündnis ist etwas für den Ernstfall. Der Ernstfall... Schon vergessen, worin er besteht? Der Fall, an dem nichts zu deuteln ist? Vorausgesetzt also, er tritt ein und der, den es trifft, vertraut darauf, dass alle sich ›ihrer Verpflichtung bewusst‹ sind, dann zählen nicht die Zeiten des gefahrlosen Miteinander. Dann zählt, wer zählt. Wie kann einer zählen, dessen Wort nie gezählt hat? Jedes größere Bündnis besitzt seine Mitmacher. Nicht der Eifer macht den Verbündeten, sondern der Verbund, man kann auch sagen: das Einvernehmen, das seine Differenzen austrägt, solange es Zeit ist. Immer gibt es Verbündete ersten, zweiten und dritten Grades und immer sind es die Eifrigen, die den ersten Grad verfehlen.
Kaum erhebt sich irgendwo ein Geschrei über ein archaisches Kleidungsstück, das den Mindestanforderungen an die Beweglichkeit des menschlichen Körpers widerspricht und seinen Trägerinnen buchstäblich die Welt-Sicht nimmt – um von elementaren physischen Bedürfnissen wie dem nach Licht und Sonne, vor allem in nördlichen Breiten, ganz abzusehen –, tritt eine Modetheoretikerin ans Mikrophon und belebt die Debatte mit dem Hinweis auf das weibliche Ur-Recht, sich Männerblicken zu entziehen und dadurch dem über sie verhängten Dasein als Sexsklavinnen des anderen Geschlechts wenigstens ansatzweise Grenzen zu setzen. Im übrigen regle die Mode das diskrete Spiel aus Zeigen und Verhüllen viel wirkungsvoller als jedes Gesetz. Man werde sich des neuen Accessoires schon annehmen – Raffinesse toujours, please! Wer so sehr von der Asymmetrie des Blicks zwischen den Geschlechtern überzeugt ist – der Mann blickt, die Frau wird erblickt –, der sollte seine Aufmerksamkeit doch auch für einen Moment auf den Umstand lenken, dass eine Person, die glaubt, sich den Blicken anderer durch Verkleidung zu entziehen, nicht weniger, sondern mehr Aufmerksamkeit erregt – und damit mehr Blicke, mehr Empfindungen, mehr Fragen wie zum Beispiel die nach dem Männerbild der betreffenden Dame oder nach der Art von Männergesellschaft, in der sie sich zu bewegen wünscht und vielleicht wirklich bewegt. Da spritzt der Saft, wo nur ein Näschen oder Härchen sich zeigt, und es wächst der Wunsch, die Maskerade vom Leib zu reißen, an welchen Ecken und in welchen Häusern auch immer, ins Ungeheure. Wenn Mode darauf zielt – pansexuelle Eindeutigkeit anstelle des diskreten Spiels der Blicke, der Begehrlichkeiten und der Freude am schönen Dasein –, dann ist sie bereits Komplizin der Überwältigung und Unterwerfung, der Vergewaltigung durch die Männergesellschaft und ihre Sendboten, gegen die sie angeblich aufbegehrt, Teil des großen Sado-Maso-Spiels, das in minder gesitteten Kreisen selten als Spiel ausgetragen wird und oft genug in Mord und Totschlag endet. Die Parodie der Sittsamkeit ist die Orgie, die Parodie der Selbstbestimmung die Unterwerfung aus Kalkül. Die Parodie der Mode trägt viele Namen, ihr Klarname heißt: Demütigung. Es existieren Lehrstühle in diesem Land, auf denen frau sie lehrt.
Abschreckendes Beispiel der Cahiers Valérys: Gymnastik des
Geistes, jeden Morgen die gleichen Griffe, die gleichen Sparten,
das Bedienen derselben Fasergruppen. Brillant sein, ohne vom Fleck
zu kommen, weil das die Regel des Spiels ist. Das Umschlichenwerden
durch die Diplomaten des Intellekts, die untrüglich wittern, woher
heute der Geist weht, während sie artig ihren Tee nehmen. Die
Zumutung, zu erarbeiten, was hier geschieht, der ganze aufgesetzte
Unfug des hermeneutischen Dünkels. Geistverstopfung, es sei denn,
einer hat gute Kanäle und kann das Wasser nicht halten.
Das Geheimnis der Endstation Gottes unter seinesgleichen,
Demiurgenallee ohne Hausnummer. Wir fahren auf, erschrecken und
gedenken der üblen Schöpfung, der creatio mala. Er aber schweigt,
sitzt im Schatten seines Gartens nicht weit entfernt vom einstigen
Paradies und bewundert in vergangener Feierlichkeit seine Irrtümer.
Vor den zahllosen Hunden mit Federn oder wilden Hühnern mit
schwarzem Fell, die sich einmal angemaßt hatten, die Nachfolge
göttlicher Adler anzutreten und jetzt durch die Büsche streichen,
liest er Brehms Tierleben.
Die Straße, von Staub bedeckt, geht an dieser Stelle zu Ende. Die
Sonne ist untergegangen. Die Villa, fast schon im Dunkeln, scheint
auch deswegen unvollständig, weil der Baum der Erkenntnis Teile der
Mauern verschluckt hat. Ein rötlicher Schein wohnt in seinen
Zweigen. Vielleicht stammt er von den Äpfeln der Erkenntnis oder
vom Rücken des wahren Herrn dieser Welt in Nähe seines Bruders,
denn von hier aus, in den ewigen Zweigen des ersten Rätsels spendet
er Päpsten und Künstler die neuesten Moden, so wie er zugleich die
Uhr jedes Langschläfers oder Demagogen heimlich zu korrigieren
versteht, damit das Ende der Zeiten näher komme. Dann nämlich gäbe
es Neuwahlen in seinem Sinne.
Das Bild des Gottes im Schatten seiner Villa erscheint wie gemalt
von Hans von Marées. Solche Schatten kennt nur Italien. Unbedingt
ist es ein Abend vor Rom in den Albanerbergen, der alte Mantel des
Greises verschmölze wohl kaum an einer anderen Stelle der Welt so
tief mit den schwärzlichen Blättern der Stechpalme und des
Hollunders. Auch flüssige Sarkopharge aus den Auszügen des wilden
Lorbeers erstarren niemals an anderen Orten so gründlich zu Malerei
und verlassen das Auge mit solchen elegischen Sprüngen und Rissen
der Leinwand wie hier. Kaum spürt man ja noch das alte Neapelgelb
des Gemäuers, das bloß dahingewischt im verderblichen Asphalt zum
römischen Kubus geworden ist. Vielleicht hat es Gott hier ganz gut.
Die meiste Zeit über schweigen die mißlungenen Tiere und die
brüllenden Löwen hat Gott in sich selber zurückgeholt. Sie hatten
ihm trotz der eindrucksvollen Gemälde friedlicher Gärten im Stile
Rubens, an Regenbögen befestigt, die kostbaren lieben
Protogeschöpfe, Männlein wie Fräulein, niedergerissen und schwer
beschädigt. Er vermochte auch nicht mehr, sie neu zu bilden. - PM
Man kann ein Volk belügen, einsperren, systematisch misshandeln,
aber einige Vorsichtsregeln gilt es dabei zu beachten, sonst geht die
Sache nach hinten los, was immer das in einem solchen Falle bedeuten
mag. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Wo es sich um
so zerbrechliches Zeug handelt wie Ketten im übertragenen und im
wörtlichen Sinn, da kann man wohl des Einzelnen habhaft werden, doch
nicht der Masse. Man muss also verhindern, dass Masse entsteht.
Andererseits bedarf diese Art der Behandlung der Masse, allerdings
der fügsamen. Man braucht also Psychologie. Glücklicherweise ist
die Psychologie der Gewalt gut beforscht und an Fachleuten herrscht
kein Mangel. Gewinne die Eliten! bedeutet: Schmeichle denen,
die kraft ihres Berufes über den Mitmenschen zu stehen wähnen: den
Schauspielern, den Wissenschaftlern, den Priestern, den Lehrern und
überhaupt jedem, der ein kleines Amt ausübt und stolz darauf
ist. Doch schmeichle ihnen nicht zu sehr, da sie sonst wähnen,
die Schmeichelei gelte ihrer Person. Die Technik der leisen Drohung
an die Adresse der Paladine ist die Ur-Technik aller Politik. Wer sie
beherrscht, beherrscht das Land.
Zu den putzigen Einfällen der letzten Jahrtausendwende gehörte die Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs auf die berühmten zwei Grad Celsius – frenetisch gefordert von ein paar Dutzend Karriere-Wissenschaftlern mit besten Verbindungen und einer nach Erlösung ächzenden und nach Millionen zählenden Weltgemeinde, als Planziel verkündet von ein paar Regierenden mit Pokerface und in nächtlicher Kleinarbeit formuliert von Stäben aus Sprachkünstlern, die wissen, wie man schein-eindeutige Verpflichtungen aus der Retorte zaubert, ohne sich dabei nass zu machen. Zwei Grad Celsius, sagt mein naturwissenschaftlicher Berater, das entspricht vielleicht allzu genau der statistischen Mess-Ungenauigkeit im empirischen Unterfutter des Standard-Weltklimamodells. Ein Schelm, wer sich dabei etwas denkt. Auch sollten, neben der zweifelhaften Effektivität der Programme, die Zeiträume nicht unbedacht bleiben, für die hier geplant wird. Wer, nach verstrichener Galgenfrist, von den heute Handelnden Rechenschaft über die Diskrepanz zwischen realem und prognostiziertem Klima fordern wollte, wird sich unter Alzheimer-Patienten und auf Friedhöfen umtun dürfen. Doch man kann nicht jahrelang die Massen mit ›wissenschaftlich validen‹ Weltuntergangsszenarien versorgen, ohne krasse Reaktionen zu provozieren. Die Illusion, Politik ließe sich am Gängelband einer Theorie punktgenau steuern, sprich: gegen die Konsum- und Freiheitsphantasien der Regierten durchsetzen, gerät aufs Glatteis, wenn es gilt, den Fanatismus der Überzeugten wieder einzufangen und sie mit neuen, nach geänderten Prioritäten verlangenden Lagen vertraut zu machen. Ob dann die Glaubwürdigkeit der Politik oder der Wissenschaft auf der Strecke bleibt, hängt von allem Möglichen ab, vor allem vom beiderseits noch vorhandenen Vertrauensbestand. Jedenfalls hat die Wissenschaft in diesem frommen Wettlauf mehr zu verlieren, als ihren Vertretern zuträglich ist. Das lässt sie ängstlicher werden und, falls das möglich sein sollte, abhängiger.
Eins, zwei, drei, zählt der Kinder-Coach und schon braust sie
dahin, die wilde Kinderschar, denn das Gelände ist groß und wer am
weitesten rennt, kommt als letzter dran oder gar nicht, was natürlich
das Beste ist, obzwar langweilig. Letztlich will jedes Kind gefangen
werden, der Moment, in dem es geschieht, ist der aufregendste in
seinem kurzen Dasein und nur im Widerstreben liegt wahrer Genuss.
Draußen, ja draußen, weit draußen lauert der böse Riese
Ce-oh-zwo, der Kinder einfängt, wenn sie sich nicht rechtzeitig
fangen lassen. Natürlich kennt jedes Kind die Geschichte von
Ce-oh-zwo und seiner glücklichen Kindheit, die ihm zum Unglück
ausschlug, weil er sich nicht rechtzeitig fangen ließ. Nun ist er
zum Riesen herangewachsen, vor dem sich alle Welt fürchtet. Alle
Welt? Abweichler gibt es, die ihn für einen Scheinriesen halten,
aber die gibt es immer. Nur böse Jungs, die es auch immer gibt,
finden es toll, Riese zu sein, und wollen dahin.
Wer im Beruf steht, ist selten Apokalyptiker. Die Apokalypse ist etwas für Kindsköpfe und alte Leute. Die einen schreckt’s, die anderen treiben ihre Umgebung damit in den Wahnsinn. Beruf und Apokalypse schließen sich aus. Ablesen kann man das an den berufsmäßigen Apokalyptikern: kein selbstgefälligeres Volk unter der Sonne ist denkbar. Wer mit der Apokalypse hantiert, sollte verstehen, dass er ein Schmierengeschäft betreibt. Das könnte ihn immerhin davor bewahren, schmierig zu erscheinen: Leuten ohne Distanz sieht man an, was sie treiben, und rechnet es umstandslos ihrer Person zu. Bei Politikern und Vorständen sieht man die gegenläufige Tendenz am Werk. Zu dem, was ihre Tätigkeit unterm Strich bewirkt, haben sie so wenig Verbindung, dass sie mit einem Pokerface die gröbsten Verstöße gegen den gesunden Menschenverstand begehen können, von der wissenschaftlichen Vernunft ganz zu schweigen.
Die Apokalypsen des Lebens sind keine. Sie sind zeitlich und räumlich begrenzt. Selbst die Auslöschung der Menschheit durch ein seltenes Naturereignis ließe genügend unbetroffene Lebewesen auf diesem oder anderen Planeten zurück, um als lokales Ereignis durchzugehen. Damit muss man leben. Es schickt sich nicht, davon Aufhebens zu machen. An diesem unerschütterlichen Leben, das weitergeht, weil es nichts anderes kennt und zu nichts anderem fähig ist, zerschellen alle Torturen, mit denen Natur und Technik die Menschheit bedrohen. Schreckt ein grausamer Mord oder ein Terroranschlag die Menschen auf, dann fügen sie sich gern den Anweisungen der Behörden und gehen weiter. Nichts ist menschlicher als dieses Weitergehen, das ein sensibles Gemüt zur Verzweiflung treibt. Dann geht es weiter.
Wir machen aus Chirico ein
Idol. Wir fragen nicht: War Chirico ein Renegat (einen
Künstler, der das Antlitz seines Jahrhunderts gemalt hat, einen
Abtrünnigen zu nennen, ist schon ein ziemlicher Schwachsinn), hat
er diesem oder jenem Maler der ›klassischen‹ Moderne in seinen
späteren Aufsätzen, in denen er die Rückkehr zur Malerei fordert,
Unrecht getan, einen Cezanne beleidigt, einen Picasso gekränkt?
Solche Fragen sind von Haus aus kindisch, unter uns: genauso
kindisch wie die Sprache der Dekadenz, deren er sich in seinen
Tiraden bedient – mit der gleichen Selbstverständlichkeit
wie Nietzsche
übrigens, dem sie nicht geschadet hat. Ein Klassiker beleidigt
niemanden, er taxiert durch Erwähnung. Nennen wir den späten,
nahezu unsichtbaren Chirico einen Klassiker und entklassifizieren
wir ihn im gleichen Zug. Dann wird sichtbar, dass dieser Ikonoklast
im Namen der Bilder um – beinahe – jeden Preis verhindern wollte,
dass die Malerei aufgegeben wird, wie es irgendwann wirklich
geschah. Er hat den nächsten Schritt gesehen, als ihn noch – fast –
keiner sehen wollte, und er wollte nicht, dass er gegangen wird. Er
ist einer aus der Ordnung derer, die nicht wegsehen, wenn noch Zeit
ist. Das gibt seinen Texten das Konvulsivische, das nicht zu ihren
Inhalten zu passen scheint – den Ausdruck einer gewissen
Beklommenheit aus Sorge, zu spät zu kommen. Eine hypertrophe Sorge,
wie uns scheint, denn niemand, es sei denn der Engel der Malerei,
erscheint rechtzeitig, um das Äußerste zu verhüten, wenn es sich
doch darum handelt, es zu realisieren. Gesetzt, in ihm wäre der
Engel der Malerei erschienen, in der einen Hand den Pinsel, in der
anderen die über die Köpfe der Menge gehaltene Schreckschusspistole
– was ist so wichtig an der Malerei, dass sie um – fast – jeden
Preis bewahrt werden muss? Das ist die Frage, die er selbst nicht
beantworten konnte, sein stummes
Geheimnis. Hüten wir uns, es als ›erledigt‹ zu betrachten.
Der Preis des Etabliertseins besteht darin, dass man Noam Chomsky
niemals erwähnt, es sei denn als netten Vorgartenzwerg, der grüßen
lässt und schnell einmal selber grüßt, wenn man es eilig hat mit
den Auftritten. Das gilt nicht überall und es gilt nicht immer,
aber es gilt unter den ›obwaltenden‹ Umständen – man vergebe ihrem
Walten das Ob. Es wird nicht immer so bleiben, man wird sich aus
gebührendem Abstand wieder mit dem ›großen Linguisten‹ befassen und
sein ehrenvolles Engagement für die gepeinigte Menschheit
herausstreichen. Man wird diese eigentümliche Wirkung, die darin
besteht, dass alle wissen, wovon er redet und schreibt, und so tun,
als seien es Gemeinplätze, die das Problem hoffnungslos
unterbieten, in ihr Gegenteil verkehren. ›Wir alle haben damals von
ihm gelernt‹ – so wird es heißen und es wird die blanke Unwahrheit
sein, es sei denn, man lernt so, wie ein Staubsauger Krümel vom
Boden saugt: gleichgültig, lärmend, die leisen Geräusche, gleichsam
die Abschiedsgeschenke des Weggesaugten, mit links übertönend, den
Grund freimachend für anderes. Das ist die ›am häufigsten zitierte
lebende Person der Welt‹. – Der geschluckte Chomsky
oder: Der Heuchelei eine
Gasse – ein solcher Titel könnte über vielen hochtrabenden
Beiträgen zur Analyse der Gegenwartskultur stehen, also etwa zu
dem, was bei Jaspers die ›geistige Situation der Zeit‹ hieß und
mittlerweile zusammengeschnurrt ist zu einem Hände-weg-Appell an
Leute, die in keine dieser von Amts wegen gesponsorten
Kulturveranstaltungen gehen, es sei denn, um Käsehäppchen zu klauen
und aufkommenden Ärger mit Sekt wegzuspülen.
Ein Held, dem es nicht genügte, gegen Windmühlen zu kämpfen, der
unentwegt neue erfand, für den Hausgebrauch und für den Versand in
alle Welt. »Aber man muss Windmühlen nicht erfinden, sie sind ja
längst erfunden und funktionieren immer nach den gleichen Prinzip!«
Das sagte ihm vor langer Zeit ein Besucher, als sie zusammen den
Boulevard Saint-Germain entlangschlenderten. Es war ein Tag, an dem
die Sonne den Regen wegblinzelte und die Straße im Nu mit
Müßiggängern bevölkerte, deren zerknitterten Gesichtern man noch
das Warten ansah. Der Weise blieb gelassen, blinzelnd auch er. »Man
erfindet sie nur, solange man noch nicht weiß, wie sie
funktionieren. Ich stehe nicht für den Erfolg, sondern für den
Misserfolg. Sobald die Leute sich etwas Gutes tun wollen, verweise
ich sie an die Konkurrenz. Ich spreche ihnen Mut zu und verspreche,
mit ihnen zu weinen, wenn der Mut sie verlässt. Der erste Brief, in
dem steht, es hat funktioniert, verwandelt mich unwiderruflich in
einen von denen da.« Der Besucher sah die Inschrift über der Tür
des Leidverwöhnten, sah, wie der Eingang zu diesem neuen Inferno
sich öffnete und verschwand unter gemurmelten Worten, die heißen
mochten »Ich komme gleich wieder« oder »Der Trommler kommt nieder«,
Lautfolgen ohne Verstand, einzig der Not geschuldet, sich
verständlich zu machen und keine Geste zu provozieren, die es ihm
schwer machen würde zu gehen.
Der Erfinder des Sehepunktes hat der akademischen Nachwelt ein Kuckucksei ins Nest gelegt, das sie bis heute nicht richtig ausbrüten wollte: den ›Sehepunckt eines akademischen Lehrers‹. Gemeint ist damit der synthetische Kathederbericht über vergangene Ereignisse, in dem alle verfügbaren Quellen zusammenlaufen, um eine mehr oder minder stringente Erzählung zu bilden. Die Kritik am Historismus hat den Objektivitätsanspruch dieser Art von Erzählungen gründlich in Frage gestellt und die Unhintergehbarkeit der ›subjektiven‹ Erzählungen bei der Erforschung der Vergangenheit ins Licht gehoben. Aber sie hat die Frage unerörtert gelassen, in welchem Maße all diese subjektiven Erzählungen selbst vom Bemühen um Objektivität ihre Färbung erhalten, das heißt bereits einen ganz eigenen synthetischen Charakter besitzen. Das Bewusstsein dessen, der berichtet, ist ein Niemandsbewusstsein, es scheitert bereits an der Aufgabe, den Generationsstandpunkt festhalten, geschweige denn eine bestimmte Perspektive. Niemand hat erlebt, was hier berichtet wird, am wenigsten der Berichtende. Der Vergangenheitsbericht geht über den Erlebnisraum des Berichtenden hinaus; wer berichtet, ist bereits außer sich. Man kann das Außer-sich-Sein als eine physiologische Gegebenheit oder als gesellschaftliche Tugend hinnehmen, man kann bei jeder passenden Gelegenheit seine Notwendigkeit und seinen Wert herausstreichen, aber man wird nicht verhindern, dass es eine Nonsens-Komponente mit sich führt, die sich aus keinem historischen Erzählen herausfiltern lässt. Nimmt man das mimetische Bedürfnis hinzu, das zwingend gebietet, vergangene Konstellationen nachzuspielen, als seien es eigene, dann ergibt sich zwar nicht die Banal-Idee von der Vergangenheit als ›Konstrukt‹, wohl aber die Realität einer ›Lehre‹, eines Belehrenwollens, das aller Rechenschaft beigemischt ist und in erster Linie als Selbstbelehrung, also als Arbeit an einem Selbstverhältnis verstanden werden will, das unübertragbar bleibt.
Jeder Mensch kann auf zweierlei Weise beschrieben werden: als respektable Person oder als erbärmliches Subjekt. Man nennt das: ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen und: die Wahrheit über ihn an den Tag bringen. Kaum einmal treffen Wahrheit und Gerechtigkeit so erbarmungslos auseinander wie hier. Hat die Gerechtigkeit keine Wahrheit? Aber ja doch: auch sie will Wahrheit. Ist die Wahrheit ungerecht? Keineswegs. Sie will Gerechtigkeit. Gerechtigkeit wollen und widerfahren lassen sind zwei Handlungen, die zueinander in einem feindseligen Widerspruch stehen. Sagen wir der Einfachheit halber, es sind Feinde. Wie kann das sein? Wie steht die Wahrheit zu diesem Widerspruch? Besitzt sie Mittel, ihn aufzulösen? Will sie keine Gerechtigkeit? Ist Wahrheit grausam? Nein, sie ist es nicht, aber sie muss es sein, denn es wird von ihr verlangt. Man verlangt ein Gorgonenhaupt, um ihm eine andere, kleinere Wahrheit entgegenzusetzen: die Wahrheit der Person. Die persönliche Wahrheit ist die kleine Schwester der furchtbaren Wahrheit, die keiner aushält. Dennoch muss sie heraus. Die kleine Schwester wird es schon richten. Aber richtet sie es? Und: Was wird hier gerichtet? Ist die Wahrheit einmal heraus, wird sie zugerichtet, verflacht, in Geschichten verpackt und in die Wiederholungsschleife geschickt. Sie wird zur Lüge. Um der Gerechtigkeit willen: Zerschlagt sie! Um der Wahrheit willen: Zerschlagt sie! Aber vergesst sie nicht: Sie ist die Wahrheit. Wenn die Gerechtigkeit siegt, siegt nicht die Wahrheit, sondern ihr erträglicher Teil. Wird sie grausam, so wird sie: grausamer als die Wahrheit selbst.
Das Leiden an der normierten, gleichsam hartpolierten Oberfläche
der politischen Sprache wird von den Akteuren selten geteilt. Es
gehört zu den Berufsrisiken von Vordenkern, die Konzepte jenseits
der Realisierbarkeit testen – im Schlagabtausch unter
ihresgleichen, aber in steter Fühlung mit der Macht und den
Prozessen, in denen sie sich zerstückelt und wiederherstellt, auf
der ewigen Suche nach der verloren gegangenen Legitimität. Diese
Legitimität ist es, die von den Akteuren wütend verteidigt wird und
ihnen von der Zwischenschicht der ›Meinungsmacher‹ – ein Ausdruck,
der nur noch achselzuckend Verwendung findet, weil die Sache zu
groß für den Einzelnen zu sein scheint – nicht anders zugeteilt
wird als den in Nationalparks zur Gesittung verdammten Raubtieren
ihr täglicher Fraß durch die allgegenwärtigen Wildhüter. Wären wir
nur politisch korrekt, so wäre die Sache damit abgetan, vor allem,
wenn man bedenkt, dass die politischen Ideen seit langem als
bekannt gelten und vermutlich wenig kreative Spielräume enthalten.
Wir sind es aber nicht, wir sind wütend, weil wir die unsichtbaren
Gitterstäbe in der Luft zu sehen glauben, gegen die wir weniger
verzweifelt als zweifelnd anrennen, um dann doch lieber zum rechten
Zeitpunkt das werte Haupt in Sicherheit zu bringen. Die Politik ist das Spielfeld – dieser
Afterglaube eines unglücklichen Jahrhunderts mobilisiert zwar die
Massen, aber er demoralisiert ihre Denker. Es macht sie nervös,
wenn sie sehen, wie mindere Intelligenzen das Spiel machen. Nichts
hindert sie einzugreifen, nur das Wissen um das Befremden, das sie
unweigerlich auslösen, hält sie zurück. Sagen wir ruhig: es schlägt
auf sie zurück, so dass sie wechselweise die herrschende Politik
oder sich selbst als monströs empfinden. Der vollständig
politisierte Mensch kann nur an der Politik leiden, es sei denn, er
sitzt an den Hebeln der Macht oder unter seinesgleichen.
Mann und Frau gehen durch den Covid-Winter. Hand in Hand, wie es
sich im Märchen bewährt hat: er männlich, mutig, beherzt, 3x
ge*pft, sie skeptisch, stichfrei – wie sie da
gehen, ein Inbild inniger Verbundenheit im innerfamiliären Dissens,
das ist schon sehens‑, mehr, das ist bemerkenswert, denn es vollzieht
sich … es vollzieht sich in einem Land und zu einer Zeit, da solche
Gesten sich im Absterben befinden und unbedingt staatlicher
Fördermaßnahmen bedürften. Aber nichts da. Lieber wirft man das
Geld anderweitig zum Fenster hinaus.
Mann und Frau gehen – nun ja, es ist noch nicht Nacht, es
dunkelt nur, Grauen senkt sich auf das kleine ostfriesische
Städtchen, ein Lichtpunkt funkelt… Ei ei, sprach die Hexe, wer
knuspert an meinem Häuschen, es ist aber nur der Pommes-Verkäufer,
er fragt die beiden nach ihrem Begehr, den fremden Herrn und die
fremde Dame und beugt sich dabei über die von ihm verwalteten
Kostbarkeiten. Denn es ist kalt und er nützt die Gelegenheit, um die
Hände übereinander zu schlagen. Ei ei, spricht der Herr, er verfügt
über einen angenehmen Bariton und schüttelt bedächtig die
Eiskristalle aus ihm heraus, eine Currywurst wäre schon recht, oder
hätten Sie zwei? Wie Sie wünschen, spricht der Hüter der Würste,
die auf dem Grill unter seinen rissigen Händen brutzeln, Mayo oder
Ketchup? Beides, beides, spricht der Herr, die Dame macht runde Augen
dazu und senkt den Blick, denn sie rechnet in Kalorien.
Wir dürfen doch –? spricht der Herr und nähert sich einem der
runden Tische, auf denen noch Reste früherer Kundschaft im Winde
kullern. Aber gern, spricht der Geschäftsmann hinter der Theke, kann
ich Ihren Verzehrberechtigungsschein, vulgo Impfnachweis sehen? –
Wie gewählt Sie sich heute wieder ausdrücken, scherzt der die Börse
zückende Herr, je kälter der Abend, desto schärfer die
Bestimmungen. – So ist es, entgegnet fröstelnd der Geschäftsmann, und
jetzt den zweiten! – Den zweiten? – Den zweiten, wenn’s recht ist.
Sie wollen doch zwei? Apropos: mit Haut oder ohne?
Ei ei, spricht der Herr, das ist nicht Ihr Ernst, ich stehe gerade
vor Ihnen und möchte zwei Würste bezahlen, meinetwegen abgezogen,
ein wenig Pommes dabei, aber das versteht sich doch praktisch von
selbst.
Ich habe, tönt der Pommesmann, jetzt wirklich die Faxen dicke.
Pro Ausweis gibt’s eine Currywurst, mit oder ohne, ganz wie Sie
wünschen. Wissen Sie – er beugt sich noch weiter vor, sein Antlitz
verdunkelt den hellen Schein seiner Bude –, hier laufen
Curryleugner herum, man weiß nicht woher, der Curryleugner ist unser
Unglück. Kein Fußbreit für dieses Gesocks. Meine Currywurst, sagt
die Polizei, die uns jetzt stundenweise beobachtet, ist praktisch das
Dienstsiegel der Verimpfung. Wer den dritten Grad nicht erreicht hat,
für den bleibt sie unerreichbar. Und wissen Sie was? Die haben
recht. Ich komme nicht viel zum Lesen, ich reime mir die Dinge gern
selber zusammen, aber die haben recht, sage ich Ihnen. Was meinen
Sie, wäre sonst hier los? Bis zum letzten Blutstropfen! Mir kommt
kein Schwurbler aus. Wer leugnet, der hat schon gegessen. Und zack –!
Nicht von meiner Pappe!
Das ist schade, ich meine jetzt für Sie, murmelt der Herr. Er
beugt sich zur Dame und flüstert mit ihr, man sieht sie die Straße
hinuntergehen und langsam im Dunkel verschwinden. Aber er hat doch
gar nicht geleugnet, giftet die bis dato schweigsame Pommesfrau,
warum warst du so streng zu den beiden? War ich das, brummt ihr
Herzensgatte, war ich das? Man muss hart sein und wir sind die
einzigen Pommesverkäufer am Platze. Wehret den Anfängen!
Die Dämonenscheu wächst, unter dem Vorwand der Ratio, ins
Ungeheure. Vernünftig sein heißt, den Dämonen nicht Raum geben –
das ist eine Definition und nicht die schlechteste. Man versteht
plötzlich die zarten Gemüter, die eine Malerei als düster
empfinden, in der die Dämonen ... nein nein, nicht wüten, vielmehr
herumspazieren, als handle es sich um Lustgärten, die eigens für
sie angelegt wurden. Eine lichte Malerei – was ist das? Ein
Versäumnis. »Schweig, Kind, so etwas sagt man nicht.« Aber was sagt
man dann? Am besten gar nichts. Man verlagert die Rede, man redet
von etwas anderem. Bei Platon etwa oder bei Goethe ist das
Dämonische eine unpersönliche Instanz. Sich vor ihr verneigen
heißt, den dämonischen Fratzen, den halb- und
dreiviertelpersönlichen Angstmachern die glatte Stirn bieten, die
Fassade der Arglosigkeit. Was hinter ihr vorgeht, geht niemanden
etwas an. Oder doch? Sollte nicht eine verschwiegene Kommunikation,
ein kleiner Grenzverkehr, über den man besser schweigt, die
Drahtverhaue und Selbstschussanlagen einer rat- und rastlos der
unbekannten Vernunft opfernden Scheu überwinden? Man kann nicht
über Engel reden, ohne über Dämonen zu schweigen. Das ist der
Punkt.
Ichschwäche ist eine schöne Vokabel, die viel Unsinn gebiert. Zur
Ichschwäche gehört der Dämonenglaube. Er personalisiert, wo das
starke Ich glaubt überwunden zu haben oder wo es überhaupt
überwunden glaubt. Seit die Philosophie als eine letzte Form des
Dämonenglaubens aus dem in schöner Idiotie ›gesellschaftliches
Bewusstsein‹ genannten Vorurteil getilgt wurde, grassiert der
theorieentkleidete Dämon und erschreckt seine Kundschaft diesseits
und jenseits des Lethestroms, in dem das schöne Überhaupt versank.
Das ist verständlich, denn überall dort, wo sich Menschen einer
großen Leistung verschreiben – den Aufgaben der Kultur, der
Gesellschaft, speziell der Zukunftsvorsorge –, überall dort also,
wo Unpersönlichkeit gefordert wird, wo sie bis zum Äußersten geht,
dort geht sie fort bis zum – nun, bis zum Abwinken, das weder Sieg
noch Niederlage eines Konzepts bedeutet, sondern seine Erschöpfung.
Es gibt Momente, in denen das ›Ich denke‹ nicht das Ich
stabilisiert, sondern die Gegenseite. Dann personalisiert sich die
unter dem Diktat des vernünftigen Ich zur Impersonalität
verurteilte Affektseite und erfreut oder ängstigt das offene Ich
mit ihren Heimsuchungen. Das Passionswesen trägt seinen Namen mit
vollem Recht. Der Dämonen sind viele. Das erschreckt wenig, wenn
auch die Vernunft sich diversifiziert. Im Schatten des ›Alles geht‹
schließlich tritt der Dämon in voller Kraft hervor: stark, einig,
all-einig, bereit, zu züchtigen und widerrufen zu lassen, was sich
an verzweifelter Freiheit auftut, bringt er die Frommen auf den
Plan, die seine Ankunft lange erwartet haben. Auch der Antichrist
ist eine der Kultur inhärente Figur. Die Reflexion selbst treibt
ihn hervor, wenn sie, wie einst der Hexenwahn, die Massen ergreift.
Im Jahre des Herrn 2015 stürzte eine vom Parlament des Volkes gewählte
Kanzlerin, unterstützt vom willfährigsten aller Präsidenten, ihr Land und den
erreichbaren Kontinent in politische Agonie: Warum? Weil sie es leid war, bloß
nach Recht und Gesetz zu regieren und stattdessen ihrem Machtinstinkt folgte?
Weil es sie überkam wie ein exotischer Einfall, der doch auch einmal ausgelebt
werden wollte? Weil es sie fröstelte auf den Höhen der Macht und sie einfach nur
gut zu sein wünschte? Wer wird schon so weit denken! Das wahre Wunder,
vergleichbar dem der Resurrektion oder den Stigmata jener Resl von Konnersreuth,
deren Karfreitagsblutungen einst halb Europa verstörten, bestand aber in der
Folgsamkeit, mit der ein, relativ gesprochen, großes Land sich kurzerhand selbst
zerlegte und der Herrin an den Urnen dennoch die Treue hielt. So durfte sie ganz
allein drei altgediente Parteien verschleißen, deren jede, gemessen an ihrer
Herkunft und ihren historisch gewachsenen Ansprüchen, die Entfernung der
Amtsinhaberin hätte betreiben müssen. Stattdessen vermochten ihre führenden
Köpfe nicht einmal versuchsweise einen solchen Gedanken zuzulassen. Gegen jeden
Staatsrechtslehrer, der ihr Verfassungsbruch bescheinigte, standen zwanzig auf,
die dem verehrten Kollegen vorhielten, unter die Spökenkieker oder gleich unter
die Feinde der Demokratie, genauer, des demokratischen Aufbaus gegangen zu sein
und sich an ihrem Berufsstand zu vergehen. Die Medien applaudierten und
apportierten und beeilten sich, jede an höherer Stelle unerwünschte Meinung
beiseite zu bringen, Tatsachen oder, da die Welt der Information dicht ist,
Informationen inbegriffen, während immer mehr Leute dahinterkamen, welches Spiel
hier gespielt wurde, und ihr Leib-und-Magenblatt kurzerhand abbestellten. Man
nennt das Erosion. Sie blieb auch nicht auf Zeitungen beschränkt, sondern griff
auf die ältesten Stützen des Systems, die Kirchen über, deren Vorstände sich
geschmeichelt fühlten, wieder an gehobener Stelle dienen zu dürfen – wie in
alten Zeiten, wie in alten Zeiten. »Wie kann Bedeutungsverlust sein, was mein
Bedeutungsbewusstsein steigert?« So wird sich der eine oder andere Kirchenfürst
gedacht haben, entzückt, auch einmal selbst zur Kreuzabnahme schreiten zu
dürfen. »Wohin mit dem Leichnam?« So fragen viele seither, nicht Christen
allein. Es begab sich aber, dass einer großen Zahl von Ungläubigen der Glaube
plötzlich kostbarer erschien als den notorisch Gläubigen, denen bekanntlich
nichts abgeht, solange sonntags alles seine Ordnung hat – wochentags sorgt
ohnehin jeder für sich selbst. Die Kanzlerin aber, schwebend auf Wolke Sieben,
versunken in den Anblick der heimlich von ihren Helfern mit Stoff versorgten
Halleluja-Chöre, rief ihre Paladine zusammen, zählte die Häupter der Amtsmüden,
doch unverändert Karrieresüchtigen, redete jedem tüchtig ins Gewissen und wies
vorsorglich darauf hin, dass ihre weltgeschichtliche Sendung noch nicht
vollendet sei: »Denn schließlich sind wir jetzt da.« Und so geschah es dann auch.
Wir entfernen uns schnell von den Katarakten und Stromschnellen
vergangener Debatten - allzu schnell, wie manche meinen, doch es
hat auch etwas Tröstliches. Wer eben noch, eher träumerisch aus dem
Nähkästchen einer unausgegorenen Zukunft plaudernd, den Grimm der
Auguren heraufbeschwor, tritt einem heute, feist geworden, als
etwas entgegen, das man in weniger geschlechtergerechten Zeiten
einen Dampfplauderer nannte und nicht unbedingt mit philosophischen
Qualitäten verband. ›Eher weniger‹ – das Motto könnte man über
viele Erregungen setzen, in denen sich Gesellschaft intellektuell
wird. Zuverlässig informiert die Wortverbindung ›intellektuelle
Erregung‹ darüber, wie Denken in der Gesellschaft ankommt, falls
ihm das jemals gelingt: als eine Art Schüttelfrost, der die Ärzte
aufspringen und die altbewährten Mittelchen verordnen lässt,
während sie bereits wieder hinter die Kulisse eilen, wo der nächste
Privatpatient auf sie wartet. Diese Ärzte... Man könnte den Kopf
über sie schütteln und Nachforschungen anstellen, wie und wo sie
sich ihre Meriten erwarben, aber das wäre unfein und das Meiste ist
auch bekannt. Doch scheint es Kollegen zu geben, die einst weniger
zum Zuge kamen und ihren Groll mit ins Grab nahmen; nur die
nächsten Angehörigen wissen davon und verteilen ihre Kenntnis in
feinen Dosen.
Ein Holzkopf, der einen großen Maler bezichtigt, nicht malen zu
können, sieht vielleicht mehr als der Maler, denn er sieht das
Daneben. Das Daneben als die Folie aller Malerei, vielleicht aller
Kunst, ist das, was sie in der Zeit hält. Das Daneben lässt sich
nicht wegdenken, ohne dass man die Kunst wegdächte. Es bleibt aber
daneben, es bleibt eine falsche Sicht, erträglich nur dann, wenn es
wechselt. Kriegsheimkehrer, dem immer gleichen Daneben verhaftet,
haben der Kunst mehr geschadet als ihre Verächter. Man muss die
Kunst ein wenig verachten, um sie zu verstehen, und man muss sie
verstehen, um sie zu sehen. Nun, man muss sie nicht sehen,
vielleicht will sie nicht wirklich gesehen werden, jedenfalls
nicht, solange es dem Geschäft schadet. Aber ein wenig sollte man
schon. Wozu gäbe es sie sonst? Sagt die Verachtung.
Das Verstummen vor großen Kunstwerken ist barbarisch und
reell, selbst das elaborierteste Darüberreden quatscht sie
herunter, nichts anderes ist ihm inhärent. Aber vielleicht liegt
auch darin eine Kunst,
entfernt verwandt der Lebenskunst, die nicht teilt, weil sie nichts
besitzt außer dem Reichtum, der aus den Poren quillt und an der
Luft verdunstet. Die Kunst des Verstummens, im Leben so glorreich wie vernichtend im
Kunsthandwerk, tritt spontan vor die großen Kunstwerke hin, sie
gesellt sich zu ihnen von gleich zu gleich, es wäre lächerlich, zu
behaupten, sie werde geübt. Das Herunterquatschen dagegen ist reine
Übung, zu nichts nütze, außer am Folgetag fortgesetzt zu werden.
Wie jemand morgens aufsteht, duscht, sich ankleidet, frühstückt und
das Haus verlässt, um abends ermattet in die Kissen zu kriechen, so
erhebt sich das Herunterquatschen vor den Arbeiten der Künstler, um
niederzusinken: Brückenwerke für einen Tag, über die ein
Ochsengespann zieht, einsam, einem fernen Horizont zu. »Lass uns
darüber reden«, sagt der Agent, er meint das Geld, das die Sache
einbringt, aber sein Angebot bringt den Horizont zum Leuchten. Ein
Sonnenuntergang mehr, da ist nichts zu machen. Jedes Kunstwerk ist
das letzte. Was nach ihm kommt, liegt im Ungewissen. Man hat
noch nichts gesehen, man will es wissen, hat aber nichts in der
Hand. Ein Prospekt wäre viel, manche gäben den Anblick dafür hin.
Dasein kann man nicht lehren und tut es doch, alle Welt tut es, falls nicht, tut es die Nacht. In der Philosophie finden sich Wörter dafür, sie ›leuchten ein‹ oder auch nicht, geht man in die Breite, dann versinken sie im Gezänk. Vielleicht wird Dasein kenntlich durch diesen Gürtel aus Gezänk, der es umschließt. So weilt man in Gedanken lieber bei denen, die nicht mehr da sind, und was ihnen an Fürchterlichem widerfahren sein mag, es kommt nicht an gegen die Nähe, die man empfindet, wenn man sie liest oder ›ihrer gedenkt‹: seltsam ungelenker Ausdruck für etwas, das der Gelenke fast gar nicht bedarf. Dass gerade hier von interessierter Seite heftig gelenkt wird, nimmt nicht wunder, schließlich ist jede Art von Intimität, zumindest geistiger, ein Verbrechen gegen die Gesellschaft und muss erodiert werden. Dasein lernt man von denen, die nicht mehr da sind. Was war, leuchtet aus der Tiefe der Zeit, dass Zeit tief ist, gehört schon zum Dasein. Alles Herkommen ist nur ein Herunterkommen, schließlich gehört den Heruntergekommenen das, was sie die Gegenwart nennen. Schenk sie ihnen! Gegen- oder widerwärtig zu sein ist eine Hauptaufgabe, die immer gelöst werden muss. Auch dich nimmt sie nicht aus. Sie nimmt dich mit, deine Organe zeugen davon. Als Zeuge bist du rasch ein Versager, es fällt dir schwer, dich auf die justitiablen Aspekte zu konzentrieren, was geschieht, verwandelt sich, während es dich durchläuft. Kein Zeuge zu sein wäre die Aufgabe, schwer zu lösen, beinahe unmöglich und fast schon unsittlich, weil ohne Zeugen bloß das Verbrechen negiert.
Verstehe einer die Welt. Was gibt es da zu verstehen? Gib der Welt einen Sinn! Leichter gesagt als getan. »Gib dem Leben einen Sinn!« – so flüstert die Werbebranche, die das Leben für einen Kleiderhaken und Sinn für eine Parfüm-Marke ausgibt, in der alle anderen Platz finden. Es ist leichter, dem Leben einen Sinn, als der Welt einen Kinnhaken zu verpassen. Mit dem Sinn der Welt hält sich keiner auf. Was die Sprache ›Weltsinn‹ nennt, ist der Verzicht darauf, ihr einen zu suchen oder zu verpassen, wie es so sinnreich heißt. Der verpasste Weltsinn steht in eigensinnigem Widerspruch zur Welt der Verpasser, er passt nicht in sie hinein, er steht abseits. Man könnte ihn umrunden, bloß um zu sehen, was hinter ihm steckt, aber dazu bedürfte es der Umkehr, die den wenigsten mundet. Die meisten erhaschen einen ersten und letzten Blick auf ihn, wenn er im Rückspiegel verschwindet. Und das ist viel. Ein Verpasser kommt selten allein, es ist das Rudel, das diese Dinge veranlasst, der Einzelne hat dabei wenig zu melden. Aber er darf mit sich ringen, das ist ein feiner Zug und verhindert, dass sich das Rudel vor dem Einlauf zerlegt.
Wenn Sie immer davonlaufen wollen, wird es bald eng, das wissen
Sie, aber es hält Sie nicht auf. Also? Wo gehen wir hin? Treiben
Sie das Spiel, wie Sie wollen, aber nicht bis zum Äußersten. Das
Äußerste, da haben Sie recht, ist ein großes Ziel, wert aller
Anstrengung, wert auch, dass man alles andere wegwirft, dass man
sich wegwirft... sehen Sie, da beginnt es. Sie können sich
wegwerfen, das ist wahr. Sie können sich auch aufheben, das ebenso
wahr und überdies falsch, denn, wie Sie wissen, nichts ist auf
Dauer aufgehoben. Auf die Dauer ist jede Aufhebung passé. Sie haben
also die Wahl, sich gleich wegzuwerfen oder Stückchen für
Stückchen, peu à peu. Das hat Konsequenzen, die nicht jeder gleich
überschaut. Und wenn schon. Zum Beispiel könnte es vorkommen, dass
Sie hier und da ein größeres Stück von sich unterwegs verlieren,
einfach so, weil Sie schon daran gewöhnt sind, dass alles in
Auflösung – wie sagt man? – begriffen ist. Sie wollen auch kein
Aufsehen, das ganz sicher nicht, daher schauen Sie sich gar nicht
erst um. So verliert man den Überblick, irgendwann weiß man nicht
mehr, was an einem dran ist und was schon fort, so gerät man ins
Feuer der Zweifel. Oder Sie sind plötzlich in Geberlaune, das soll
vorkommen, im Grunde ehrt es Sie, und Sie spenden mit Freuden,
wovon Sie nichts, nicht das kleinste Fitzelchen hergeben dürften,
wäre es Ihnen ernst mit Ihrer Person oder Identität oder wie Sie
sich sonst nennen, dort, wo die Namen von einem abfallen und
anstelle der Nacktheit die innere Kleiderstange zum Vorschein
kommt, die allem den Halt gibt, den eine Form nun einmal benötigt.
Aber das ist ja... Ja? Was wollten Sie sagen? Nein? Zum
Davonlaufen, nicht wahr? Das wollten Sie sagen, stellen Sie sich
nicht so an, ich seh es an Ihrem Gesicht und an der Art, wie Sie
die Wange verbergen. Davon rede ich doch... Im Davonlaufen steckt
eine Kraft, die dem abgeht, der immer standhält. Irgendwann wird
sie böse, aber das ist eine andere Geschichte. Vielleicht auch
nicht, vielleicht sollte man sich stärker damit befassen. Das
Davonlaufen, als schöne Pflicht betrachtet, halten die Leute gern
für die Kür und klatschen Beifall, was sonst? So kann man sich
täuschen. Erst wenn der Davonläufer um sich schlägt und darauf
beharrt, dass er einer Pflicht obliegt, werden sie ärgerlich und
finden es nach und nach unerhört. Wer den ersten Preis im
Davonlaufen errungen hat, sollte sich daher zufrieden geben und
nach Hause gehen. Nach Hause? Leicht gesagt, da liegt das Problem.
Das Gros der Weltkrieg-II-Soldaten liegt unter der Erde. Die
wenigen, die noch leben, werden so sichtbarer, wenngleich nur auf
kurze Zeit. Sie haben ihr Leben gelebt – die meisten von ihnen in
der gusseisernen Überzeugung, wenn nicht das Rechte, so das
Gebotene getan zu haben – und fanden daran keinen Makel. Sie waren
Überlebende. Die Zartbesaiteten taten sich damit schwerer, sie
gingen zuerst. Kriegsversehrt waren sie alle. Das große Morden steckte
ihnen in den Knochen und begehrte im Sterben noch einmal Ausgang.
Sie haben, mit Berechtigungspapieren und Stempeln an den
vorgeschriebenen Stellen, auf Geheiß der Sieger und aus
unterschiedlichen Antrieben den einen oder anderen Staat errichtet.
Doch das kam danach. Sie blieben Davongekommene. Daraus entsprangen
ihr Hochmut und ihre Verblendung. ›Nach uns wird kommen / Nichts
Nennenswertes.‹ Brechts Diktum könnte über jedem einzelnen dieser
Leben stehen, auch wenn das eine oder andere wütend Protest erhöbe.
Diese mit Trauer grundierte Herablassung, dieses Glauben-zu-Wissen
war fürchterlich für die folgende Generation, zu spät und zu selten
als Zeichen der Ausweglosigkeit erkannt. Vielleicht werden so
Staaten gegründet, vielleicht entsteht daraus die strukturelle
Gewalt, die sich nicht mehr aus ihnen entfernen lässt.
Glauben-zu-Wissen, das ist als Formel der Konversion schlagender
als jenes ›Schwerter zu Pflugscharen‹, an dem sich die
Ostgewaltigen ritzten. Was daran Glauben, was Wissen sein mag,
wissen die Götter, unscheinbare, in den Tempeln des Nachkriegs
nicht zugelassene Leute, die ihr Zeugnis für sich behalten.
Wie entzündet man eine Debatte? Was man braucht, ist ein Thema. Ich
verrate Ihnen, im Grunde ist jedes Thema eine Debatte. Wir beide können
sie führen oder auch nicht, dann führen sie andere. Ohne Debatte kein
Thema, ohne Thema keine Debatte: so einfach ist das. Ganz anders liegt
die Sache, wenn eine Nation debattiert. Die Nation debattiert ohne Wenn
und Aber, so dass sich mit Fug sagen lässt, an dieser Debatte kommt
keiner vorbei, zum Beispiel, wenn er auf Sitz und Stimme im Parlament
spekuliert. Gesetzt, Sie wünschen diese Debatte nicht, Sie wünschen
nicht, dass sie geführt wird, weil Sie finden, sie führt zu nichts und
schadet Ihrer Meinungsführerschaft, dann brauchen Sie eine andere. Und
um die zu bekommen – ganz recht –, brauchen Sie den
Debattenanzünder. Ist er ein Mensch? Klare Antwort: nein. Sie
können einen Menschen zu allem möglichen gebrauchen, aber nicht als
Debattenanzünder. Ist er ein Gerät, käuflich zu erwerben und auf den
Tisch zu stellen? Man hält ein Thema dran und schon hat man die
gewünschte Debatte? So einfach könnte es sein, doch leider… Wo
Mensch und Gerät passen müssen, geht was geradewegs durch? Zeit.
Ganz recht. Die Zeit geht überall durch. Wie soll ich’s erklären … Sie
kennen Wärmetauscher? Sagen wir: ein Debattenanzünder ist ein
Zeittauscher. Wie das geht? Passen Sie auf. Sie sammeln ein paar
Menschen, drücken ihnen ein Plakat in die Hand, auf dem das Wort
»Zukunft« steht, und stellen sie auf einen öffentlichen Platz. Dann
lassen Sie sie von allen Seiten ablichten und warten ab. Nichts
geschieht. Sie mieten sich einen Debattenanzünder und er beruhigt Sie
im Handumdrehen: »Das haben wir gleich.« Der Debattenanzünder
kommt aus dem Nichts. Das bringt die Sache so mit sich, es brächte auch
nichts, sie anders zu sehen. Wer nichts an der Backe und nichts in der
Hand hat, was hat der am Ärmel? Ganz recht, ein Händchen. Nun, der
Debattenanzünder verfügt, wie alles aus seiner Zunft, über ein
Zauberhändchen. Sehen Sie hin! Plötzlich, einfach so aus dem Nichts,
steht auf dem Plakat: »… und nichts geschieht!« Da sehen Sie
schon, das beunruhigt die ersten Passanten. Sie finden, hier müsste
etwas geschehen und nichts geschieht. So etwas ärgert den Konsumenten:
Gleich fühlt er sich um den Eintritt geprellt. Warten Sie ab.
Erkennen Sie das zweite und dritte Plakat gleich neben dem ersten? Was
steht darauf? »Warum geschieht nichts?« »Was muss noch geschehen, damit
etwas geschieht?« Sie denken, das ist jetzt aber eine akademische
Frage, wo bleibt der Philosoph, der sie beantworten könnte? So geht der
gesunde Mensch in die Irre. Bemerken Sie das vierte Plakat gleich neben
dem dritten? Schauen Sie, da steht es schwarz auf weiß: »Heute
entscheidet sich unsere Zukunft und nichts geschieht!« Hoppla,
denken Sie, diese Leute kennen bereits ihre Zukunft, das ist unfair,
warum weiß bloß ich nicht, wie’s weitergeht? Aber Sie wissen es doch!
Blind vor Eifer schnappen Sie sich das Plakat, das gerade herumliegt,
halten es hoch und stellen sich damit in Reih und Glied. Gruppennutz
geht vor Eigennutz. Was steht auf Ihrem Plakat? »Zukunft geht alle an!«
Wer sind alle, grübeln Sie und fast verfehlen Sie darüber den
Heimweg. Erst vor dem Fernseher fällt es Ihnen wieder ein. Denn wie der
Moderator zu sagen weiß, Zukunft geht alle an. Jetzt sehen Sie auch das
Plakat, nicht Ihres, es füllt die Rückseite des Studios und lautet:
»Wie wollen wir morgen leben?« Komfortabel, denken Sie sich, wie sonst?
Wie soll ich leben wollen? Will ich denn anders leben? Nicht wirklich,
denken Sie sich. Nichts ist gefährlicher als ein Blankoscheck für
Gefährder, die sich ein zweites Leben verschaffen wollen, indem sie
meines verändern. Weiß der Mensch nicht, wie nichtssagend seine Frage
ist? Er sollte sich schämen. Stattdessen beschämt er Sie mit dem
einfachsten Mittel: mit einer Umfrage. »Soll alles so weitergehen wie
bisher oder finden Sie, es muss sich ändern?« Schon wächst Ihre
Besorgnis und siehe da: 85,6% – in Worten: fünfundachtzigkommasechs
Prozent – der Befragten finden, dass sich etwas ändern muss, und zwar
unverzüglich. »Die Politik ist aufgerufen, dafür zu sorgen…«
Vergessen Sie nie, Ihren Debattenanzünder ordentlich zu bezahlen.
Er könnte sonst aus Versehen Ihr Haus in Brand stecken und das wäre, so
aus dem Nichts, ziemlich lächerlich.
Solange die Definitionsmacht über die Kunst, sagen wir: bei einigen
New Yorker Galeristen und Museumsleuten liegt, solange liegt sie
gut, so gut wie fest. Was will man mehr? Ich frage: Was will man
mehr? Jedoch sollte sie einst, aus Gründen, die keiner überblickt,
ins Rollen geraten, sollte sie, denn ausgeschlossen ist nichts
hinieden, auf dich zurollen, dann... dann... Ja, was dann? Was denn
dann? Freude, Frohlocken über ein sichtbar gewordenes Stück
Freiheit, ein wenig – wie sagt man? – Eigenwelt? Nein? Was dann?
Betretenes Schweigen? Wegsehen, Wiederhinsehen, Panik? Springst du
dann auf und läufst vor ihr davon, aus lauter ungesicherter Angst,
sie könnte über dich wegrollen? Wohin könnte sie wohl rollen
wollen, wenn sie erst einmal den Weg über dich genommen hat!
Riefest du dann, noch platt vor Entsetzen, hinter ihr her: »Habe
ichs nicht gesagt? Habe ich es nicht vorher... schon gut...
gesagt?« Sei gewarnt: es könnte doch sein, dass sie zurückkommt und
noch einmal den Weg über dich nimmt, immer wieder, bis nur noch ein
wimmerndes Bündel zurückbleibt, unfähig, die zerschlagenen Arme zu
heben und »Halt! Halt!« zu rufen, wie es sich nun einmal gehört. So
ein Urteil wiegt schwer. Arme Schildkröte, kein Panzer hält das
aus. Jedenfalls nicht auf Dauer.
Die Deklammeroskopie (aus altd. Klammer, altgr. σκοπείν skopeín
›spähen‹) dient der Erforschung des Volkskörpers, genauer der
Entdeckung, Ausforschung und Anprangerung von Elementen, die sich der
Klammer der zum jeweils aktuellen Zeitpunkt angesagten Gemeinschaft
allein oder gemeinschaftlich mit anderen entzogen haben, sich zu
entziehen im Begriff sind oder sich in näherer oder fernerer Zukunft zu
entziehen gedenken. Die Deklammerung (lat. de-
›ent-‹) wird gemeinhin als Akt der Subversion, soll heißen der
›Entbürgerlichung‹ im weiteren Sinn begriffen. Der Ausdruck umfasst
sowohl die aktive als auch die passive Version desselben Vorgangs – den
unaufhaltsamen Verlust bürgerlicher Ehren- und sonstiger Rechte,
als da (beispielsweise für Literatur- und Filmschaffende) sind:
das allen Menschen gemeinen Sinnes zustehende Recht, vom
Bundespräsidenten empfangen und / oder geehrt zu werden, vom Hausverlag
/ Hausverleih der Kulturschickeria verlegt / verliehen / vermarktet,
von der Kulturschickeria des Landes besprochen / verehrt / belächelt /
mit Sottisen bedacht zu werden, von ahnungslosen Menschen ›draußen im
Lande‹ gekauft, angelesen / angeschaut, resigniert in die Ecke gelegt,
ins Regal geschoben oder über einen Online-Verkäufer aus dem
Gesichtsfeld entfernt, schließlich, sofern es sich um einen Autor /
eine Autorin von Verkaufsrang handeln sollte, seitens gewisser
Buchhandlungen zu sogenannten Lesungen mit abschließendem Signierzwang
geordert zu werden und dergleichen mehr. Der / die – aktiv oder
passiv – Entbürgerlichte sollte tunlichst den Gedanken vergessen,
irgendwann im Laufe seines / ihres Lebens für etwas in der Art des
Nobelpreises / Goldenen Bären u. dgl. nominiert zu werden. ›Vergiss
es!‹ steht als Motto über dem Leben der Entbürgerlichten oder aus der
bürgerlichen Mitte des Landes Entfernten; manche fügen aus eigenem
Antrieb hinzu: ›So soll es sein.‹
Die zwanziger Jahren des 21. Jahrhunderts sind die Zeit einiger
überflüssiger, aber lesenswerter Dissertationen über das Thema: »Kann
Deklammerung rückgängig gemacht werden?« Sämtliche Autoren verneinen
die Frage, mit Ausnahme eines, dessen Arbeit allerdings nie in
Fachzeitschriften besprochen wurde und daher als nicht ins Bewusstsein
der Menschen gedrungen gilt. Einem aus dem Bewusstsein der Menschen
gestrichenen Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts verdanken wir
eine der frühesten Definitionen der Deklammerung: »Deklammerung ist
der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten
Unmündigkeit.« Allerdings tobt unter den berufenen Interpreten ein
Kampf um die Frage, ob eine Sentenz, in der die beiden seit der letzten
Rechtschreibreform getrennten Wörter ›selbst‹ und ›verschuldet‹
zusammengeschrieben werden, noch zitationsfähig und nicht vielmehr
unter die pudenda (lat. ›Schamteile‹) des alten Denkens zu
rechnen sei. Diese Diskussion wird aber bloß akademisch geführt, da die
Kenntnis des Lateinischen bei den unter Hundertjährigen nicht mehr
vorausgesetzt werden kann und daher als versuchte Deklammerung gilt.
Als Pionier der Deklammerung kann übrigens Otto Lilienthal angesehen
werden, der stets klamme Erfinder von Gleitmaschinen, aus denen sich
das moderne Flugzeug entwickeln sollte. Er schaffte es in seinem Leben
zwar nur von Anklam nach Berlin, aber die wenigen Hopser, mit denen er
sich von seiner Umgebung abhob, ließen ihn bereits zu Lebzeiten als
Ausreißer erscheinen und sorgten letztendlich dafür, dass sein Name
während der Dritten Großumbenennungsmaßnahme von sämtlichen
Straßenschildern des Landes wieder verschwand. Das spurlose
Verschwinden geläufiger Straßennamen gilt als bekanntes Symptom der
Deklammerose, einer epidemisch auftretenden Krankheit, die neben
Herz und Lunge vor allem das Gedächtnis der Menschen befällt, und zwar
in der Regel gleichzeitig an unterschiedlichen, bloß durch Medien
miteinander verbundenen Orten.
Die intellektuellen Bewegungen in Westdeutschland seit den frühen
siebziger Jahren, also zu meiner Zeit, wurden von drei, vier,
vielleicht sechs Verlagen gemacht – mit starrem Blick auf das
Machbare, internationaler Erfahrung, aufeinander eingespielten Autoren
mit dem richtigen Sinn für Bezüge, guten Kontakten und einem eisernen
Willen, links und rechts des Weges nichts Nennenswertes aufkommen zu
lassen. Die Wissenschaften haben es ihnen auf ihre Weise gedankt. Man
könnte die Gelehrten jener Jahre ›Reihengelehrte‹ nennen, wären damit
nicht auch andere, selbstverständlich unstatthafte Assoziationen
verbunden. Der Erfolg hat diese Verlage in das große Delta des
amerikanischen Marktes hinausgetrieben, in dem sie nach und nach
Richtung und Antrieb verloren. Seither ›covern‹ sie die gähnende
Langeweile ihrer europäischen home markets mit Bestsellern aus
den Schreibstuben elitärer Wissensfabriken, in denen vor allem eines
herrscht: Hochdruck – eine ausgefallene ›Bedingung‹ für das, was
idealiter alle Zeit der Welt bräuchte, um zu werden. Doch man täuscht
sich leicht. Europa ist anders. Nicht viel, aber... anders. Zwar übt es
sich in den Verrenkungen des Juniorpartners, zur Belustigung seiner
asiatischen Partner und unter dem lässigen Hochmutsblick der
amerikanischen Freunde, die der übrigen Welt so weit enteilt sind, aber
allen ist klar, dass dabei nur die Einfältigen und die Schlaumeier auf
ihre Kosten kommen. Eine Lage, in der die Intelligenz eines Landes oder
eines Kontinents in Fragen des Denkens und Wissens nicht mehr zum Zuge
kommt, ist noch gar nicht analysiert worden. Es gibt nur eine Vokabel
dafür und die ist historisch besetzt: Zivilisationsbruch. Fragt sich,
wer eine solche Untersuchung beginnen könnte – die Gelangweilten? Die
Frustrierten? Die um die Mitte des Lebens herum Abgewrackten? Die
panischen Selbstretter mit dem sardonischen Lächeln und dem Willen zur
absoluten Lüge? Die absolute Lüge... nun, das wäre etwas. Darauf ließe
sich vielleicht bauen. Ein Schiff, eine Arche... ein Ararat-Modell für
den heillosen Verstand, dem es an nichts fehlt außer an Stoff. Der
Stoff, das sind die anderen.
Auch Demokratie muss sich bewegen, sonst schläft ihr der Arm ein oder ein wichtigeres Organ. Also bewegt sie sich mit trägem Wellenschlag über die Ozeane. Das stört die Statthalter des Bösen, sie halten ihren Untertanen Augen und Ohren zu und versuchen mit allen Mitteln zu verhindern, dass es schöne Bilder gibt. Die schönen Bilder umkreisen den Erdball und werfen begehrliche Blicke auf die schlimmen Orte. Dort wollen sie landen und sich vermehren.
Das Denken erreicht sein Extrem dort, wo es das Denken des Denkens
denkt oder zu denken vorgibt, denn der Schwindel, der es an dieser
Stelle erfasst, ist nicht hintergehbar. Dabei wäre das Denken des
Denkens leicht aufs Notwendige zu beschränken, hielte man sich nur
an einige Grundregeln, ohne die auch hier nichts geht. Gerade das
scheint unmöglich. »Es gibt keinen Grund«, sagen die Philosophen,
»Sie müssen schon ins Freie herauskommen, wenn wir es Ihnen sagen.«
Darin liegt eine ziemlich unfeine Anspielung auf Platons
Höhlengleichnis, uns stört ebenso sehr das Müssen daran wie das
Herauskommen, es ist schon mancher erschossen worden, der einer
solchen Aufforderung Folge leistete – in Folge, wenn man so will
und den Kalauer nicht fürchtet. Wer will schon in Folge erschossen
werden? Das Denken des Denkens erfordert, für sich genommen,
bereits den ganzen Menschen. Nicht wahr? Wahrlich, ich sage euch:
den Menschen darüber hinaus, der das Denken des Denkens denkt,
haben Dilettanten erfunden, um unseren Geist zu beschäftigen, der
sonst frei hätte. Komm heraus ins Freie, ruft er, seit es so warm
geworden ist, dass im Frühjahr die Birken blühen. Er ist ein
Spötter. Wäre es denkbar, im Schatten des Gedachten zu ruhen wie
Ionas unter dem Blatt? Undenkbar, wo geriete man hin! Der
geschäftige Geist setzt seine Klammer um alles, es ist seine Art,
sich herauszuziehen. Da sitzt er nun, gleichsam mit dem
Klammerbeutel gepudert, und schert sich um nichts. Es sei denn, man
sähe darin ein Zeichen und die letzte gedachte Klammer wäre die
wirkliche.
Der Goldmacher will wissen, wie die anderen zu ihren Reichtümern kommen, da ihnen doch das Geheimnis des Goldmachens fehlt. Er weiß zwar, wie man Gold macht, aber in Wirklichkeit weiß er nichts. So jedenfalls könnte er denken, und um dem abzuhelfen beschließen, immer daran zu denken, wie es die anderen machen, und sich auf diese Weise ihre Reichtümer nach und nach anzueignen. Lasset uns eine Denkfabrik gründen, lasset uns die anderen einladen, in ihr zu arbeiten, auf dass wir sehen und lernen, was sie denken und wie sie arbeiten. Dann wird es uns an nichts fehlen. So denkt er und sein Gedanke ist die Tat. Das Ende vom Lied? Nun, er erfährt, wie die anderen denken und arbeiten, und darf sich glücklich schätzen, wenn er, außer Landes gejagt und mit Hohn und Schande bedeckt, sein Süppchen im Angesicht eines reizenden Abendhimmels genießt.
Wer einmal von der stillen Flut der Gedanken
fortgezogen wurde, der weiß, wie wenig Besitzansprüche hier gelten:
das Sich-Lösen und das Sich-Verbinden geschieht fast von allein, und
was man Konzentration nennt, ähnelt mehr dem Gehorsam gegenüber dem
Aufpasser als dem Denken selbst. Dennoch gibt es das konzentrierte
Denken, es kommt als ›Verfassung‹ und hinterlässt Spuren (manche
sagen: Kerben) im Gemüt, die sich lange erhalten, bis unbemerkt die
leere Erinnerung an sie an ihre Stelle tritt und plötzliche Abstürze
produziert – gerade dann, wenn man sich ganz ganz sicher ist… Das
konzentrierte Denken beruht auf verschärfter Auslese, der
Konzentrierte verwirft in Windeseile, was nicht ›zur Sache‹
gehört, und folgt damit irgendeiner Konvention oder einem vorgefassten
›Konzept‹, das er ebenso blitzschnell verwerfen kann, wenn es
sich als irreführend erweist. Er kann aber auch in die Irre gehen,
ja sicher, die Wahrscheinlichkeit sich zu irren ist der Konzentration
inhärent. Wer sich fragt, was wohl das Denken so anschärfen mag,
gerät rasch an das Gefühl der Bedrohung. Wie physisches Bedrohtsein
die Sinne spannt, so spannt das soziale Bedrohtsein den Intellekt.
›Du bist in eine Falle geraten, denk nach, wie Du Dich befreist!‹
– darin besteht das Grundmuster allen konzentrierten Denkens. Die
klassischen Lagen, in denen konzentriert gedacht wird, lassen keinen
anderen Ausweg zu als den einen: die Wortmeldung, hinter die es kein
Zurück gibt, die Schreibtischsituation, in der es gilt, heute ›ein paar Seiten‹
zustande zu bringen (»Heute
habe ich nichts zustande gebracht«), nicht zu
vergessen die Examensklausur, die so viele Menschen blind für den
naheliegendsten Gedanken werden lässt, während andere zu ungeahnter
Hochform auflaufen. Jeder weiß, dass all diese Situationen auch eine
gewisse Blindheit produzieren – die Blindheit dessen, dem die Zeit
knapp wird und der da jetzt durch muss. Es kommt also darauf an, wie
einer sie beherrscht. Scharf denken heißt blind denken.
Professionalisierung hilft, sie löst die Binde, um sie am nächsten
Pfahl zu befestigen, dem der Professionalität: Kein Schritt über
das abgezäunte Gelände der Profession hinaus! Dort draußen lauert
der Absturz, der soziale Tod. Die Professionellen sind Löwen in
ihrem Beruf und Schafe, sobald sie an eine eingeschriebene Grenze
kommen und die Furcht sie regiert, sie unwillentlich zu
überschreiten. Auch dieser Unwille lässt sich nach außen kehren:
gegen mutigere Kollegen, die ›unkonventionell‹ zu denken wagen
oder einfach in einer anderen Gedankenspur laufen. Vielen bedeutet
die einmal übernommene Rolle Entlastung und schon ist es um ihre
Denkkraft geschehen.
Stellt man die Leistungen der Nachkriegsdeutschen ›auf
intellektuellem Gebiet‹ in einen weiteren Rahmen, so ergibt sich
ein erstaunliches Potpourri aus Einseitigkeiten, leicht
durchschaubaren Übertreibungen, fleißigen Adaptionen und einem
gewissen Rezeptionsmarathon, das ebenso sehr von schlechtem
Gewissen wie von der Angst herrühren dürfte, den Anschluss zu
verlieren. Man hat wenig zu sagen außer dem gebetsmühlenhaft
wiederholten Anderen zu einem unsäglichen Erbe. Darin steckt der
kaum bemerkte, aber merkliche Verzicht auf primäre Weltsicht.
Dieses zwanghafte Nach-Denken treibt langsam seinem biologischen
Abgang entgegen und man weiß nicht, was an seine Stelle treten
wird. Vorerst nichts, könnte man meinen, aber das scheint nur so.
Immer bereitet sich etwas vor, wenn eine Disposition im Schwinden
begriffen ist. Von Tüchtigkeit ist hier nicht die Rede. Tüchtig ist
auch der Faule. Ohne ein gewisses Maß an Denkfaulheit ist
Tüchtigkeit nur schwer zu erreichen. Tüchtigkeit türmt Schulden,
könnte man mit einem Blick auf die gegenwärtigen fiskalischen
Verhältnisse sagen. Denkschulden sind giftiger als Staats- oder
Unternehmensschulden. Das muss so sein, da allen Unternehmungen
Denkmuster vorausliegen. In diesen Regionen darf einer großzügig
sein. Was dem einen Denken heißt, heißt dem anderen Strampeln. Zu
bedeuten hat beides nichts. Wer glaubte, man könne die Sache mit
Auftragsarbeit für Vordenker abdecken, stünde rasch im Freien.
Hier ist Deutschland, ich bin ein Deutscher. Wer hat mir das
beigebracht? Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht daran erinnern.
Es geschah in jener Tiefe der Zeiten, in der, wie in einem
Abklingbecken, sich alle wesentlichen Ursprünge der Person auffinden
lassen – Vorsicht! Es ist Teil dessen, was mich gemacht hat, ohne
dass jemand Bekenntnisse oder Entschlüsse von mir erwartet hätte.
Was meinen Sie? Ich bin hier geboren, ich bin nicht eingewandert. Ich
kann keinem Vater, keiner Mutter, keinem Onkel oder sonstigen
Verwandten die Verantwortung dafür aufbürden, dass es so gekommen
ist. Nie habe ich mich entschlossen, Deutscher zu sein. Ich habe es
nur irgendwann begriffen. Niemals habe ich die
Staatsbürgerschaft dieses Landes beantragt, sie wurde mir ohne mein
Zutun ›verliehen‹. Und wäre es anders, es liefe doch auf dasselbe hinaus: Dies ist mein
Land. Ein anderes habe ich nicht, jedenfalls nicht in dem Sinn, dass
ich ›mein‹ sagen könnte, selbst wenn ich Grundstücke rund um den Globus
aufkaufte. Keine Sorge: ich nehme nicht an, dass es mir gehört. Wie ich gelegentlich vernehme, gehört es anderen, die sich darüber auffällig ausschweigen. Nicht mir ist es eigen, dies Land, es ist eigen. Wahrscheinlich bin ich ihm eigen, sicher bin ich
ihm eigen, auch wenn die Zeiten vorbei sind, in denen die Einberufung
zum Wehrdienst als realistische Option gelten musste. Sein Staat –
mein Staat – hat in der Vergangenheit Menschenopfer verlangt und erhalten, von denen einem
die Sinne schwinden. Zu mir war er freundlich, solange ich lebte und
mich erinnern kann. Ich meine das nicht persönlich. Bin ich ihm
etwas schuldig? Die Phrase klingt nach Schuld und da wird der Mensch
hellhörig. Muss das sein? Spricht da ein sterblicher Gott, in dessen
Schuld ›wir alle‹ stehen? Man hat mich nicht dazu abgerichtet,
Fremdheitsempfindungen zu hegen, aber an dieser Stelle bin ich
befremdet. Doch es bleibt wahr: dieses Land hat mich gemacht. Ich
habe seine Schulen besucht, seine Landschaften bewohnt, seine
Bewohner studiert, tagaus tagein, selbst im Traum verwende ich seine
Sprache, ich wüsste nicht, was ich ohne sie dächte. Ich habe in ihm
gearbeitet, geliebt, gelitten, all den Kleinkram praktiziert, den man
Leben nennt. In ihm kenne ich mich aus. Doch, ich würde es
verteidigen. Natürlich verteidige ich nicht alles, was in ihm
geschieht, das wäre paranoid oder senil. Nein, ich kämpfe nicht für
ein anderes Deutschland. Ich muss schlucken, wenn ich daran denke,
dass dies in zehn, zwanzig, dreißig Jahren ein anderes Land sein
wird. Ein anderes Land? Was ist das, ein anderes Land? Ich
werde in einem anderen Land aufgewachsen sein und gelebt haben. Ich
werde Geschichte, ich werde niemand sein. Ich? Mein Land? Die Leute
werden sich wundern, wenn sie die alten Fotos sehen: keine Klauen?
Keine Hörner? Kein bisschen Walhall? Keine Todeslager, kein
Stalingrad? ›Wir‹ hatten Todesstreifen, vergessen? Stalinisten
und kalte Krieger en gros, alte und neue. Wer wird meine Sprache
sprechen, wer wird sie verstehen? Gestern, im Museum, las ich leichte
Sprache. Ein Franzose fragte mich, was das sei. Da liegt der Kern
meiner Unruhe offen: Wer wird mich hören? Hört mich noch einer?
Will mich noch einer hören?
Deutungen sind die Substanz der Freiheit, besonders wenn es um
Wahrheiten geht. Neben der Brücke der Lüge – das Wort enthält auch
Spuren wie Liebe –, die vor dem Weltmeer der Unwissenheit ihre
abgebrochenen Bögen schwingt, schwirren Millionen deutende
Zeigefinger als Vögel verkleidet zur Insel Utopia.
Als Grabbeau, er
nannte sich damals noch Philip und trug sein rötliches Haar
versteckt unter einem Dreispitz, an einem Frühlingstage von der
Place de la Concorde aus eine Anzahl solcher befiederten
Zeigefinger nach Süden fliegen sah, wusste er, was die Stunde
geschlagen hatte. Wir wissen es leider nicht.
Deutungen könnten Lücken wie diese, die in der Geistesgeschichte
des Alphabets nur von minderer Bedeutung sind, leichtfertig zur
Ehre der Altäre erheben, auf dass gefällige Brüder sie anbeten
mögen. Auch hier sieht man Anfänge jener Religion der
aufgebrochenen Sprache, die Grabbeau vorsorglich für bessere Zeiten
in Museumsbehältern gefangen hält. - PM
Wir sind doch keine Ärzte, die täglich dem Patienten, Gesellschaft genannt, die Diagnose stellen müssen.
Erwachsen, wie er ist, kommt er ganz gut selber zurecht und misst
auch brav seine Werte. Den Rest kann er nachschlagen, damit ist er
beschäftigt. In dieser Hinsicht also wären wir frei. Was hindert
einen, der frei ist, sich das Gesicht zu bemalen, die Finger zu
spreizen und Faxen zu machen? Wenig, vielleicht Reste eines
verborgenen Schamgefühls, man sollte ihn lassen. Nicht die
Diagnose, sondern das Durcheinanderreden, dem immer neue
Hiobsbotschaften einen Anflug von Irrsinn verleihen, lässt dich
zusammenzucken. Die Diagnose zieht sich zurück, sie ist der
stecknadelkopfgroße Punkt am Horizont, der nicht weggeht, aber auch
nicht näherkommt. Alles was recht ist! Eine rechte Warnung ist ihr
Geld wert oder man schlägt sie in den Wind. Alles, was näherkommt,
trägt diesen Zug von Schlaumeierei im Gesicht, den du nur zu gut
kennst. – »Du! Was weißt denn du? Selbstüberhebung, was?« – Eine
Diagnose, aber presto.
Nicht wenige arbeiten still daran, die Dialektik von dem schlechten
Ruf zu befreien, in den sie durch Gedankenlosigkeit und staatlich
sanktionierten Missbrauch geraten ist. Ob man eines Tages Erfolg
haben wird, hängt nicht zuletzt daran, ob es gelingt, sie vom
Gestrüpp sogenannter Klassikertexte zu befreien. Ob man aus ihr
nicht mehr über den Witz, seine Funktionsweise und seine
Verbindungen zum wirklichen Denken erfährt als aus den trüben
Spiegeln des Freudianismus, das ist die Frage, offen wie eh und je,
doch im Prinzip nicht offener als die andere, ob nicht der
dialektische Materialismus am Ende nur ein Witz war, ein blutiger,
zugegeben, nichtsdestoweniger einer, der es in sich hat; ein Stück
Menschheitsentwicklung als Parabel über die Menschheitsentwicklung
zu entwerfen und durchzuführen, das wirkt im Nachhinein
nicht viel anders, als gehe jemand hin und gestalte die Straße nach
Maßgabe der Kehrbesen, die auf ihr Samba tanzen. Die Dialektik ist
als der grosso modo
vergebliche Versuch zu betrachten, den menschlichen Witz, der aus
Laune entspringt und der Bereitschaft, sich nicht blindlings zu
unterwerfen, das Meiste verdankt, arbeiten zu lassen – für die
Geschichte, ihre vermeintlichen Lenker und wirklichen Henker.
Jeder weiß, dass Dekonstruktion nur ein Taschenspielertrick ist. Er
weiß es als denkendes Wesen oder er ahnt es zumindest in
Zonen, zu denen die halbgare Verwirrung nur schwer Zutritt findet,
er weiß auch, was dieser Trick bezweckt: den Sturz alter und die
Vorbereitung auf neue Götter. Woher also der seltsame, nicht enden
wollende Eifer von Hermeneuten, die darin eine Methode, zumindest
ein probates Verfahren der Zurichtung der von ihnen verwalteten
Texte gefunden haben wollen? Etwas kommt ihnen entgegen, man muss
es nur sehen. Sie glauben, etwas Festes auf Zeit zu finden, etwas,
das dem Beziehungsleben gleicht, dem sie den größten Teil ihres
Lebens opfern. Ein kommodes Opfer – das wird es sein. Der Dienst am
Text im Modus des ungläubigen Taktierens ist alles andere als
geruhsam, aber er bleibt lebbar.
Wir möchten einen Preis für den Philosophen vorschlagen, dem es gelungen ist, die lebhafte Reisetätigkeit des ehemaligen Ostblockbewohners in eine genuin philosophische Lebensform zu verwandeln und diese zu leben. Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, wem er gebührt, möchten wir auch gleich mitteilen, an welchen Kandidaten wir dabei denken. Dietzsch, ein Apologet des Lachens, das keiner Gründe bedarf, weil es sie jederzeit mitzubringen sich anheischig machen würde, käme es einmal auf eine solche Befragung an, wurde zum Nietzscheaner, weil er Nietzsche, vermutlich irrtümlich, für den Prototyp des europäischen Intellektuellen hält – Feind jeder Gemeinschaft, die ihre Rituale und Kollektivmorde lebt, weil es draußen kalt und der Feind nah ist. Jeder, wie er sagt, doch er weiß schon, welcher er entrann, und er registriert die ideologischen Reparaturtrupps, die schon einmal üben, wie es sein wird, beim großen Aufbau, wenn sich alle die Hände reichen, um abzuliefern, was sie sich in der Zwischenzeit widerrechtlich angeeignet haben, z.B. Gedanken, aber es gibt auch anderes.
Was als ›Kultur‹ in die Distanz verlegt wird, rächt sich im
Nahverhältnis als Repression. So oder so ähnlich lautet
das Konzept der Kulturfalle, in die, wie es
heißt, vor allem Menschen geraten, die an einem Übermaß an
Verständnis leiden, an Verständnisbereitschaft, leicht abrufbar und
nach Belieben zu applizieren. Das muss nicht sein, aber es
passiert, es passiert sogar in der Regel angesichts der einschlägig
bekannten Arbeitsteilung zwischen Normverstehern und
Normdurchsetzern. Das eintönige Pingpong zwischen Kulturbewahrern
und Kulturverächtern, das notorische ›Ich meine nicht, dass...‹
wird angeregt durch diese fundamentale Fernstellung, die
Horizontalisierung des Denkens, mit der die philosophische
Hermeneutik zu ihrer Zeit hausieren ging und die heute das
paarweise Zusammenrücken angeblicher Kontrahenten gewissermaßen
flächendeckend ermöglicht. Wenn alles in der Kultur liegt, dann ist
sie selbstverständlich beides, Zwangsjacke und Ermöglichungsgrund,
beides in einem (und in einem fort), und jeder, der sich angeblich
nach draußen begibt, sieht sich auf der Stelle von neuen Horizonten
umzingelt und steht in einfachem Gegensatz zu dem, was neben ihm
dazusein gleiches Recht beansprucht. Dieser geteilte Blick, der
zwischen innen und außen irrt und hier wie dort ›Kultur‹ zu sehen
glaubt, ist die hauptsächliche Ursache des Kulturschwindels, der
mit gleichem Ernst ›Gänseleberpastete‹ und ›Kopftuch‹ zu sagen
ermöglicht, weil es der Kopfschmerz ist, der den Ernst zeitigt. Die
Distanz denken – das ist nicht so einfach, das überfordert den
gesellschaftlichen Disput bei weitem. Das öffentliche
Kopfzerbrechen, das die ›Kultur‹ bereitet, hält die sogenannten
Kulturwissenschaften bei Kasse und bringt sie davon ab, ihren Job
zu tun: wer nicht Ping sagt, wird von jedem Pong überrascht und muss nachsitzen,
bis er seine Lektion gelernt hat. Sprichst du in Rätseln, so sprichst ach! du
von Rätseln nicht mehr.
Wer den Menschen keine Disziplin anbieten kann, der unterhält sie
vielleicht eine Weile, aber er imponiert ihnen nicht, er bleibt ein
Pausenclown. Es ist müßig, geistige Disziplin nur im
Gotteskriegertum und in sexueller Verneinung zu finden. Das Gewebe
aus schlauen Andeutungen, gezielten Indiskretionen und
Pseudoindiskretionen erledigt sich früher oder später von selbst
wie jede Wichtigtuerei. Disziplin ist immer geistig. Auch die rüde
körperliche Variante besitzt etwas, das man Geist nennen könnte.
Wieviel G-Stoff darf es wohl sein? Darüber rätseln die
nachdenklichen Geister und schielen nach den halbvollen Flaschen in
ihren Regalen. Was davon ließe sich noch verwenden, um jenes Nichts
an Lebensspannung zu erzeugen, unter dem einer mit der Unbill des
Existierens zurechtkommen könnte? Während sie brüten, hilft der
Geist der Fitness-Studios und Yogakurse mit physisch induziertem
Wohlgefühl über die Runden. Über welche Runden? Welche Kampfart ist
hier gefragt? Der auftrainierte menschliche Terrier, ein abrufbares
Stück Erde, auch er ein Betrogener, wie man weiß, fällt irgendwann
die Umgebung an. Seine Rache durchsetzt die abgedunkelte Kultur der
Alten, die keiner Werbeetats bedarf, um Nachwuchs zu binden. Die
fleißigen Amokläufe beginnen jenseits des fünfundvierzigsten
Lebensjahres, bei abflauender Bereitschaft mitzutun.
oder das schöpferisch Schöpferische. In der unscheinbaren Doppelung
lauert der Nachkrieg, das Sich-Entziehen, nachdem man genug belangt
worden ist und ein paar Jahre zur freien Gestaltung wünscht. Diese
Freiheit kann nur in der Freiheit zur Obsession bestehen, zum
Besetzt-Sein, gleichgültig, wer noch klingelt. Alles, was ab jetzt
Forderungen erhebt, tendiert zum Pseudos, es ist ein Pseudos,
verdrehte Welt, verdrehter Geist, verdrehte Menschheit.
Sieh dich nicht um! Das
sitzt und ist als Parole unnütz, weil es die Bewegung nach
rückwärts bereits ausführt, aber es reduziert die Nötigung,
vorwärts zu gehen und erlaubt den geschärften Blick auf die
sinistren Mittel, die eingesetzt werden, um sich im Dasein zu
halten. Die Poesie des Sich, des Sich-Erhaltens, Entfaltens, des
Sich Aus- und Einrollens, scheinbar fast nach Belieben, doch in
Wahrheit nach Druck, einer angedeuteten Äquilibristik gemäß, die
sich zeigt und im Sichzeigen verbirgt, eine solche Poesie findet
ihren Weg wie Wasser durchs Geröll – zäh, zuckelnd, allerwege auf
Vertiefung hoffend, also auf den Effekt von Jahrhunderten. Doch,
leider, soviel Zeit bekommt niemand.
Wer von der Kunst redet,
muss über die Dörfer gehen. Das sagt sich leicht, aber in den
Dörfern ist keine Rede davon. Künstler lieben das Dorf, es kommt
ihrer Neigung entgegen, im Beisichsein aufzugehen, beinahe wie ein
Teig, der woanders bereitet wurde und nun, bei mäßiger Hitze, im
Besinnlichen wächst. Das größte Dorf dieser Art ist Manhattan –
hier sitzt der Gickelhahn neben jedem Bett und schreit jeden Morgen
und Abend Verrat. Ein schöner Ort, das Künstlervolk liebt ihn und
schwört Stein und Bein, ihn nie zu verlassen. Ist das fair? Nicht
dass die Dörfer da draußen ein Recht darauf hätten, die Kunst zu
besitzen, kein Dorf besitzt so ein Recht, die Kunst kommt und geht
und nimmt sich der Armen an, wie sie mag. Aber so ganz von allen
guten Geistern verlassen sollte das Land nicht sein, das
schließlich alle trägt. So kommt es, dass in den Dörfern das Licht
nicht ausgeht, dass in ihnen allabendlich die große Parade der
Erwartung stattfindet, zu der sich kein Großfürst des Gewerbes
blicken lässt. Nur kleinere Geister tummeln sich auffällig, sie
schäkern mit den Töchtern der Dorfoberen und zeigen dem Gärtchen
hinter dem Haus, das sie sich hier leisten können, was eine Harke
ist. Dafür überlässt man ihnen dann die örtliche Druckerei, in der
die kleineren Wahlplakate hergestellt werden, die einzufliegen sich
aus ökologischen Gründen verbietet. Manchmal allerdings kommt ein
großer, den keiner kennt, man merkt es gleich, denn er weiß nicht,
was eine Harke ist, jedenfalls zeigt er es keinem. Man braucht eine
Weile, um mit ihm warm zu werden, aber dann ist es gut. Was er hier
zu finden gedenkt, will man von ihm wissen. »Nichts«, sagt er und
lacht, »es ist doch alles da.« Er meint es nicht ernst, der Schalk
blitzt ihm aus den Augen, aber die Antwort freut alle. Daheim
spuckt er in die Suppe und schlägt das dreifache Kreuz derer, die
vom Unglück gut bedacht wurden.
Die Sprache der Not – wie auch der Notdurft – verfügt über einen gewissen Witz und eine bescheidene Anmut. Woran das liegt? Vermutlich daran, dass die Parameter der gesellschaftlichen Überblendung auf Null gestellt sind und der gesellige Charakter des Sprechens, leichter als jedes Element der öffentlichen Moral, mehr oder weniger ungehindert an die Oberfläche steigt. Ein Wort genügt, um sich zu verständigen, sobald die Geltungssprache stockt. Dieses Wort aus der Tiefe reißt Partikel der verschiedenen Sprachschichten mit sich, die es passiert – kein Wunder also, dass es glitzert, als sei es direkt der Phantasie entsprungen, die es bewegt. Die Surrealisten haben es deswegen für poetisch gehalten und, weil ihnen das nicht genügte, in ihm die ursprüngliche Dimension der Poesie zu erkennen vermeint. Irrtum! Das kräftige Wort bezeugt keinen kräftigen Geist, es verrät keine Geheimnisse aus dem psychischen Untergrund, es beweist nicht einmal Phantasie. Was es verrät, ist die Not selbst und die Filterfunktion der Sprache; sie begütigt auch dort, wo sie die Norm wegfegt, die selbst nicht mehr ist als: Sprache.
Die Großen wohnen in Donnerwohnungen, die Kleinen in Wisperkammern.
Beide Stätten zusammengelegt ergeben den Ort der Demokratie. Nicht
dass die Großen mehr Platz besäßen, um rascher Drachengespanne der
Wortwahl auffahren zu lassen, sondern sie gleichen staubigen
Photographien auf bürgerlichen Dachböden und haben insofern keinen
anderen Vorteil als den, in trockenen Höhlen bei schlechtem Wetter
seufzen und klagen zu dürfen, denn niemand lässt Regen in Dachböden
dringen.
So ging es bereits den Steinzeitmenschen, die nackt hinter
Dornengestrüppen den Säbelzahntigern heulend vor Angst die Milchzähnchen zeigten. Der Großvater aber,
kaum 30 Jahre alt, malte sie beide, die Großen wie Kleinen, mit
Rötel und Hasenfett. Wie köstlich ward da noch die Furcht gebannt,
der Schrecken gelähmt. Kein Mensch wagt heute, die Kunst im Arm, auf Brautschau nach
solchen Motiven zu gehen. - PM
Ein paar Hexen, mit Unguentum
somniferum beträufelt, halten den Bann aufrecht, der auf
diesem Bilde liegt wie am ersten Tag. Sein Jahrhundertschlaf unter
bröckelndem Putz hinter verschmutzten, halbblind dem angebrochenen
Tag wehrenden Scheiben darf nicht unterbrochen werden, denn das
gestreifte Einhorn, das ein Auge zuviel hat vielleicht, ist nicht
zu halten, es hält sich, so wie es steht, kaum selbst. Die Uhr mit
Libellenflügeln weist dem »Gib acht« den Trompetenton und den
Ohrenbläsern des Unheils fliegt das Liktorenbündel voran: Aus dem
Weg! Den fahlen Rappen, auf dessen letztes verbliebenes Auge der
Dolch des Einhorns zielt, kennen wir gut. Er ist die Stelle im
Bild, die nicht weggeht, das Auge der Welt, das nicht sieht,
sondern glotzt, weil es weiß und nicht weiß, es ist alles eins.
Statt des Tamburins kreist ein Patronengurt, das versteht sich von
selbst und bedarf keiner näheren Weise. Der Friede von Münster
gebar dieses Bild und bewahrte es auf, manchmal kommt jemand
herein, der es wissen will, und der Sturm klagt im Gebälk.
Es gibt keine Zufälle, es gibt nur Zusammenhänge. In Folge dieser
Erkenntnis ist die Verfolgung in Linien bis ins Zentrum eines neuen
Zeichens denkbar, und gäbe es dann auch nur für einen Augenblick die Erleuchtung. Alles andere wird
ohnehin zur Arbeit der Philosophie. Sind erst die in den Alpen
getanzten Nester schwungvoll genug gebildet, verfängt sich alsdann
auch der Stoff der Gedanken und der Meister hebt beide Hände, um
das Papier und den Tisch für die kurze Zeit des Empfangs von allen
Mächten materieller Vernunft zu erlösen. Nur so kann der
wartende Geist dem
kommenden Geist geöffnet entgegentreten, damit die eingefangenen
Zeichen, wie Tiefseefische im Netz, herbeigeschleppt und offenbart
werden können. Dann senkt der empfangende Philosoph die Hände und
der Drachenzauber beginnt.
Etwas Feuer der Sprache, dem oberen Bogen des Mundes in Höhe der
vierzehnten Linie bergaufwärts entnommen, wird rasch aufs Papier
gemalt (man vergesse die Malbutter nicht), sodann eine Spur
des alten und steif gewordenen Wassers hinzugefügt – dieses Wasser
ist fast getrocknet und Teil der unendlichen Dunkelheit –, und
schließlich folgt jenes Magnesium oder Manna philosophorum (gewöhnliches
Brausepulver der Kinder), um damit das knisternde, niemals kochende
Wassser in weitem Bogen zu öffnen und dann mit einem Ruck förmlich
aufzureißen.
Nun erscheinen die Eltern des Drachen, manierlich gekleidet nach
den Moden getaufter Sünder des Jahres Tausend nach Christi. Sie
führen den aufgerufenen Drachen als Knäblein bis an den Tisch. Sie
bitten um Hilfe und Lehre. Das Drachenkind soll Schüler, Magister
und endlich ein Drachenprofessor werden. Der Philosoph, der den
Ritus beherrscht, lehnt anfänglich einige Male höflich ab, um
schließlich durch mehrmaliges Öffnen und Schließen der Augen,
gleichsam in Nähe des Schlafs, zuzustimmen. So entgeht er der Sünde
wider sein Amt. Der junge Drache wird jetzt zusehends größer,
fordert Becher und Schwamm, Malbutter und Zuber, um die
Verkündigung zu vollziehen. Unverzüglich, auf herbeischwebenden
Luftkissen, beginnt er die Zeichen der Zauberei zu entwerfen.
Feierlich tunkt er die eine Pfoten in die Malbutter, entnimmt mit
der anderen bunte Teilen seines gepanzerten Leibes, um
entsprechende Farben zu finden, und so entstehen der Reihe nach
luftgeschwängerte Teppiche von unendlicher Größe. Sie legen sich,
kaum gemalt, über Häuser und Landschaften oder neu entstehende
Orte, in denen künftig große Meister der Zauberei und der hohen
Künste zur Welt kommen werden. Ein solches Prophetentum ist wahrer
als alle Vernunft, getreuer als jeder Wachhund und vor allen Dingen
so beständig wie jene Alpen, unter denen zuvor getanzt worden ist.
Daher tragen sie oft deren Namen, wie
Kaiser-Glücklich-Wand-Prophetie, Poltergauklamm-Gesänge, hohes
Gesyndel-Wort und Spitzkofler-Unheil. Die Professur ist dem
Knäblein jetzt sicher. Die glücklichen Eltern entschwinden, und das
gute Kind, das inzwischen kaum noch in ein gewöhnliches
Arbeitszimmer passt und dessen Flügel mit Gletscherspuren und
Bergkristallen die Dünste der einsamen Höhenluft in akademische
Räume tragen, legt befriedigt die ersten frischen Orakelblätter als
Tafeln aus Gummigutti, aus Gneis und Glimmer wie Spielkarten auf
den Tisch und ist zunächst noch, unter der Hand, Drachenprofessor
geworden. Er hütet für die Dauer schwarzer Semester die Liste aller
künftigen großen Persönlichkeiten, ob dämonengeschlechtlicher
Abkunft, ob als Saatgut von Weiber- und Männerkernen oder als freie
Gestalten des schwer überprüfbaren Poetenstandes. Er wählt sie
geruhsam aus, um ihre Seelen zur Vorbereitung in die einsamen
Hochschulen der großen Verwirrung zu senden, in denen die Zukunft
ebenso wütet und mordet, wie sie auch Kunstwerke entstehen lässt. -
PM
Die große Psychologin, die sich in das Denken des Gegenübers einfühlt, als vertrete das Fühlen dem Denken gegenüber ein unnachahmliches Plus, investiert sie mehr in Empathie oder mehr in Interessen oder doch in Abwehr? Gefühlt, möchte man sagen, mehr in letztere, es beleidigt sie, womöglich persönlich, dass Menschen anders denken als die Mehrheit oder die Clique, der sie sich zugehörig weiß (eine besondere Form des Wissens, die alle anderen aussticht) – es beleidigt sie und sie kann es nicht einfach hinnehmen, also fühlt sie sich ein, um die Motive des anderen, nein, nicht zu ergründen, denn das hieße sich ja in Gedanken mit ihnen zu beschäftigen, die nicht die eigenen wären, nein, um sie zu blockieren: ihr dem des anderen unendlich überlegenes Gefühl strahlt die wahren, die emotionalen, also doch wohl verständlichen Motive so rein, so absolut verständnisoffen und gleichzeitig unrettbar verschroben zurück, dass der andere sich nur verlegen an der Mütze zu schaffen machen kann, will er nicht als Hinterwäldler oder – wie hieß noch einmal das männliche Rüpelwort, das der großen Psychologin niemals entschlüpfen würde? – ... Schlimmeres in die Maschen des Drahtverhaus beißen, der die Kreise sondert. Fühlen, dass der andere eine andere Position vertritt, und es beim Fühlen belassen: ein Verständnisblockierer ersten Grades, dem weitere, derbere auf dem Fuß zu folgen pflegen, aber bereits unendlich wirkungsvoll – ausgeübt von Privilegierten im Namen von Privilegierten zum Zweck der Erhaltung von Deutungsprivilegien, die unter redlichen Argumentierern rascher in Bedrängnis kommen könnten, als es ihren Inhabern lieb sein dürfte. So funktioniert Gesellschaft, so funktioniert Politik, andernfalls wäre es – vermutlich – keine.
Kein Umsturz ohne Drahtzieher. Was bedeutet das? Sind die Handelnden Marionetten? Mitnichten, man muss sie nur in Bewegung setzen. Man muss ihre Bewegungen kontrollieren, man muss dafür sorgen, dass sie nicht ausbrechen oder einknicken, man darf sie mit ihrem Anliegen nicht allein lassen, man muss dafür sorgen, dass der Geldfluss nicht zum Erliegen kommt, der ihnen wundersame Kräfte leiht, man muss ihnen Unterstützer zuführen, also für sie lügen und heucheln, aber so, dass sie nicht beschädigt werden. Kurz, man muss dafür sorgen, dass sie so glaubwürdig auftreten können, wie die Natur sie geschaffen hat. Drahtzieher, heißt das, sind Helfer in der Not, vierzehn an der Zahl, man findet sie an Brücken und reißenden Übergängen, die Welt wäre um eine Hoffnung ärmer, gäbe es sie nicht. Gibt es sie denn? Die Natur hat dafür gesorgt, dass man sie nicht sieht, nur im Davongehen blitzt etwas von ihnen auf. Die Welt ist gütig.
Die späte Rache an dem Drecksack, der mein Leben ruinierte, erregt immer Aufmerksamkeit, umso mehr, je neiderfüllter die Blicke der anderen auf das fragliche Leben ausfallen. Eine Hollywood-Schauspielerin, in die Jahre gekommen, erinnert sich der zahllosen Berührungen genau, die ihr Körper erdulden musste, um das zu werden, was er dann auch wurde: Projektionsfläche für die Wünsche von Millionen, die geduldig an den Kassen Schlange stehen, wenn sie nicht die häuslichen Wonnen von Netflix et al. vorziehen. Und das sind ja, egal, was man davon hält, keineswegs ausschließlich Männer. Man muss hier sehr vorsichtig formulieren, sonst landen, flupp, die ältesten Vorurteile auf dem Tisch und das wäre schade, weil wir noch von ihm essen wollten. Hollywood lebt von der Sottise, die besser im Mund stecken bleibt, denn sonst wird es brandgefährlich. Andererseits will und muss sie heraus. Voltaire, der das große Frauenbeben voraussah, soll gesagt haben: Zwei Nutten genügen, um jeden Mann zu stürzen. Zwei Männer genügen, um einer Frau den Triumph zu verschaffen, ihr Geschlecht gerächt zu haben. Wieso zwei? Damit einer übrigbleibt, den sie verachten kann. Seit es aus der Mode gekommen ist, Leute zu verachten, die auf der sozialen Leiter eine oder mehrere Sprossen tiefer stehen, hat sich das Bedürfnis nach Verachtung zwischen den Geschlechtern spürbar verschärft. Ein schöner Beleg für den Satz: Die Gesellschaft verliert nichts.
Wenn einer seiner ideologischen Lieblinge rhetorisch über die Stränge schlägt, bedient sich der Deutsche, um die Wogen zu glätten, gern des Ausdrucks ›Satire‹ – Satire darf alles, nach dem Gemeinspruch Tucholskys, der sich, bei aller Versiertheit, nicht vorstellen konnte, was alles dieses ›alles‹ noch decken würde. Darf Satire alles? Nein, natürlich nicht, heißt die Antwort, zwar nicht aus dem Mund eines Juristen, der hier zu Unrecht gefragt ist, aber aus berufenem Munde: Dürfte Satire alles, wäre sie nicht länger Satire, vielmehr alles, was Satire sein könnte und alles dazu, was nie und nimmer Satire sein kann, weil der übertreibende Witz und die witzlose Übertreibung nicht zusammen in diesen Kahn passen. Wo kein Geist, da kein Witz, wo kein Witz, da keine Satire, so etwa verliefe die Linie, kämen jetzt nicht die Wächter der Meinungsfreiheit verschärft auf den zu, der so zu trennen versucht: ›Geist‹ ist keine juristische Vokabel und Witz daher nicht einforderbar, also auch nicht zu erwarten – ein klassischer Fehlschluss, der aber zu gute Dienste leistet, um abgelehnt oder auch nur bemerkt zu werden. Wer meint, er schreibe Satire, der möge gern bei seiner Meinung bleiben, wer zu meinen meint, er lese Satire, während er doch nur die bedruckte Klorolle abspult, möge weiterhin meinen, denn … es tut sich ja sonst nichts. Was haben Meinung und Satire miteinander zu schaffen? Nichts! Wer zwingt sie zusammen? Die Geistlosigkeit, die Talentlosigkeit, die Heuchelei, die sich hinter Begriffen verkriecht, die sie nicht versteht, weil sie nicht zu ihren Äußerungen zu stehen wagt, die taz und einige andere Medien, die aus Besorgnis, auf dem Schlammfuß erwischt zu werden, ihren Lesern Kröten zu schlucken geben, die sie selbst noch lange werden verdauen müssen – der Markt ist groß, die Welt ist klein, man trifft sich zweimal. »Dreckskultur«? »Schafft euch endlich ab!«? Aber bitte. Wer keift, gehört in die Realsatire, aber nicht federführend, da sind andere schneller und weiter.
Das drehbare Buch, kaum erfunden, ein Welterfolg, sage ich Ihnen!
Ein Einfall, im Grunde ein einfacher Einfall, sagen wir ruhig,
schlicht, jawohl, schlicht das Ganze, aber: genial. Sie drücken auf
einen Knopf und die Sache rollt ab. Linksherum, rechtsherum, je
nach Bedarf oder Laune, das hält einer sowieso kaum auseinander.
Technik eben, für alle Seiten nützlich. Auch Missbrauch, sicher,
kommt vor, kommt vor. Wir können das nicht verhindern, wie sollen
wir. Ja, wir legen Kundenkarteien an, das müssen wir, obwohl es...
ja ja, verboten, ganz recht, auch das ist verboten, insofern...
vergessen Sie’s! Vergessen Sie’s einfach! Ein wenig
Technikbegeisterung, wenn ich bitten darf, sonst kommen wir nicht
weiter. Und sagen Sie nicht, die alte Leier. Hier leiert nichts,
wir garantieren... Keine Garantie? Sie wollen keine Garantie? Lesen
ohne Garantie? Und was kommt dabei...? Bitte, hier ist der Ausgang,
ich sag’s Ihnen. Eana. So ein Stoffel. Wer mir heute ein Drehbuch
zeigt, ist für mich gestorben. Abgang, aus, durch die Küche. Diese
Laffen meinen, sie haben den Erfolg gepachtet. Welchen Erfolg?
Nein, meine Liebe, dieses Spiel ist nicht vorbei, es hat gerade
erst begonnen, und es ist kein Witz. (Ein Witz, der eine Beziehung
eingeht, ist keiner.) Jedes Dreieck, das in Betracht kommt, verfügt
über einen stumpfen Winkel, eine Asymmetrie, die das Spiel in Gang
bringt und verwirrt. An diesem Ort der größeren Spreizung entstehen
die Spannungen, er nimmt den Bogen auf und damit die Rundung des
Ganzen. Unter dreien schlägt einer den Bogen, nicht weil er Cäsar
wäre oder Titan oder ein großer Kommunikator, sondern weil er dem
Zentrum am nächsten steht. Wo alles nach außen drängt, bleibt ihm
keine Wahl, nur Zerrissensein und Zerrissenwerden. Der
Herausforderer hat es leicht, seine Kraft ist am stärksten, solange
er sie nur wenig einsetzt. Mimetische Verähnlichung nennt die
Theorie das, was zwischen den Kontrahenten geschieht, sobald der
Kampf eingesetzt hat, ob es die Parteien schöner macht, bleibt
dabei ausgespart. Allgemein nimmt man an, dass der Kampf die Züge
verzerrt, manch einer gewinnt so erst welche, ein anderer verliert
seine Zug um Zug. Das Kenntlichwerden ist eine zu ernste Sache, um
sie Schiedsrichtern zu überlassen, die selbst nach dem Ort der
Begierde schielen, sei es, um ihn einzunehmen, sei es, um mit
dem Objekt davonzuziehen. Ein Dreieck ohne Zuschauer gilt nicht, er
bildet den vierten, gewöhnlich ungenannt bleibenden Winkel.
Von dritter, sprich: interessierter Seite gefördert zu werden – wer wünschte es nicht? Es ist der Traum all derjenigen, die nicht hoffen können, auf eigenen Füßen zu stehen. Sie gehen Verpflichtungen ein, über deren Art und Umfang sie sich nur ungern Rechenschaft ablegen. Selbst Täuschung, aktive und passive, gehört zum Spiel: wer sich gern täuschen lässt, täuscht sich selbst, er ahnt, wo es langgeht, aber er lehnt es ab, die Konsequenzen in Rechnung zu stellen. Alle ›Karriere‹ vollzieht sich nach diesem Muster, im Vertrauen darauf, nicht eines Tages vor Gericht zu landen, weil die Organisation es schon richten wird. Die Organisation rekrutiert ihre Leute – das setzt voraus, dass sie ihre Leute kennt, zumindest ihren Schatten, ihre Umriss, ihre Statur, sie weiß, wo sie die Daumenschrauben anlegen wird, um an die gewünschten Resultate zu kommen. Eine auf ›Drittmittel‹ gestellte Wissenschaft ist bereits keine Wissenschaft mehr, jedenfalls nicht in dem Sinn, der ihren heroischen Aufbruch begleitet hat, sie ist etwas für Leute, die herausbekommen sollen, was Dritten nützt. Ist Wissenschaft nicht nützlich? Wer diese Frage stellt, ist entweder naiv oder bereits auf Droge – er ist drittmittelaffin.
Man muss, darin sind sich die Klassiker einig, Druckfehler annehmen können. Diese in den Text eingefügten
Unbestimmtheitsmomente erinnern daran, dass das Geschriebene sich
an jeder Stelle einer Wahl verdankt, die auch anders hätte
ausfallen können. Wer das bestreitet, ist weniger Dogmatiker als
Vermittler. Erst in der Vermittlung wird das Aufzuschreibende
sakrosankt. Deshalb liegt es den Zeitgenossen, denen das große Glas
das Denken versiegelt, als Vermittler tätig zu sein: sie können den
Eifer produzieren, den die Konzentration auf die sich entziehende
Sache unmittelbar hervorbrächte und rechtfertigte, und sie können
ihn auf der Stelle nach außen wenden – als Gewusst-wie. Das große
Glas, die Scheibe, die das Denken vom Nach-Denken trennt, die
Unberührbaren von den Vertretern des Gewusst-wie, es ist eine
Einrichtung, die man bewundern und die man verachten, aber nicht
vernachlässigen darf. Ich will
nicht verwechselt werden, hat Nietzsche einst bekundet,
darin liegt eine Verwechslung, da die Ideenklempner sich im Anderen
erkennen, in was denn sonst. Gerade ein solches Zitat gibt ihnen
ein gutes Gewissen, sie haben es am Schnürchen und wissen, dass sie
auf dem rechten Wege sind – in jedem Sinn. Dennoch muss vermutlich
so reden, wer eine Religion zu gründen gedenkt. Er kann gar nicht
anders, weil anders die Spiele des guten Gewissens nicht in Gang
kommen. Und Gewissheit, gute Gewissheit, die Gewissheit, auf gutem
Wege zu sein, die will man doch, wenn man sich aufs Abenteuer
einlässt, auch wenn es nur den Weg zum nächsten Symposium
einschließt. Abenteuerlich ist schließlich alles, was sich
behaupten lässt, ganz schön abenteuerlich, daran besteht nicht der
mindeste Zweifel.
»Sie haben mein Vertrauen.« »Nein, hab ich nicht.« »Doch, doch, Sie haben es.» »Wie kommen Sie darauf?« »Geben Sie’s her.« »Ich denke nicht daran.« »Geben Sie’s sofort her!« »Hören Sie, ich kann die Polizei rufen, wenn Ihnen das lieber ist.« »Ich bestehe darauf, dass Sie mir mein Vertrauen zurückgeben. Ich habe kein zweites dabei und brauche es für die Busfahrt.« »Wieso das denn?« »Ich steige niemals ohne Vertrauen in einen Bus. Es behagt mir nicht, beim Schummeln erwischt zu werden.« »Und jetzt glauben Sie, Sie hätten mich erwischt? Im Vertrauen: Ein wenig plemplem ist das schon.« »Ich weiß, dass Sie es haben.« »Sie wissen es nicht.« »Ich weiß es schon lange.« »Das wird ja immer bunter: Wie lange wollen Sie das denn wissen?« »Das verrate ich Ihnen nicht. Holen Sie jetzt die Polizei?« »Ich, warum ich?« »Weil ich Sie verantwortlich mache.« »Ich dachte, ich hätte Ihr Vertrauen?« – Solche Dialoge hört man bereits vereinzelt, sie werden in Zukunft häufiger zu hören sein, denn sie drücken den herrschenden Geist aus, sie rollen ihn gleichsam vom hinteren Ende her auf, damit vorn alles herauskommt, was man sich von ihm erhofft. Kenner der Materie wissen, es gibt stets eine Rest-Strecke, auf der noch etwas nachkommt; niemand hat es erwartet, man dachte schon, es sei nichts mehr drin und hätte das Drücken fast aufgegeben, gerade dann erfährt man das Beste.
Die Ansammlung glatter Baumstämme neben den raueren Eichen bezeugt
die nahe Verwandtschaft aufgerichteter Schlangenleiber vor dem
Hintergrund eines chaotischen Meeres aus Blättern unterschiedlicher
Farben. Dem Waldrand gegenüber bildet das ockerfarbene Sonnenmeer
eines abgeernteten Feldes die Leere der klugen Natur, die seheinbar
immer das Gleiche bietet, obwohl in unendlicher Feinheit ihr
Anblick von unbekannten, stets wechselnden Geistern durchzogen ist,
deren Anblick schwermütig macht. Vor dieser Weite liegt kaum zwei
Schritte vom Weg der viel kleinere Ort eines unsichtbaren
Geheimnisses in einem Waldrand ohne zeitgenössische Weitläufigkeit.
Andere, heitere Waldregionen umgeben in immerwährender Feme aber
auch dieses kleine bedenklich erscheinende Feld. An jenen glatten
Bäumen, die einen verwachsen aufgerichteten, vielfach geschwungenen
Zirkel aus Stämmen bilden, wandert das sehende Auge eines fast
schlafend vorbeiziehenden Spaziergängers, gehüllt in seinen hier
ganz befremdlichen Anzug, in weißer Hose und schwarzem Hemd. Der
Ort scheint dagegen nichts einzuwenden, denn seine Zeichen
entfernen sich nicht. Man darf des uralt anmutenden Dunstkreises
dieser hier so besonderen Luft nicht vergessen, sie gebietet
Aufmerksamkeit, die, von Anspielungen durchsetzt, auf die
Anwesenheit des Übernatürlichen hinweisen. Indem die Natur hier so
vieles offen lässt, ist sie dem frommen Misstrauen der Poesie
verwandt, das ja so oft der hohen Sonnenmitte zur weiteren Welt hin
schwankend Einhalt geboten hat, und wäre es nur für wenige
Augenblicke. So entsteht diese kleine zusammengefasste Einsamkeit
aus leeren Andeutungen, die fähig sind, Gewissheit zu überwinden
und Ahnungen zu erfrischen. Es bleibt der geheime Kreis dieser
Stämme dem übrigen Waldrand nur scheinbar verwandt, denn sie sind
nur in höfischer Weise unschuldig grün belaubt, aber meilenweit von
ihresgleichen entfernt. Das poetisch eingeschlafene Auge wandelt im
Kreis dieser Gruppe der wenigen Auserwählten, die zweifellos eine
hohe Familie bilden, immer tiefer hinaus in das Geheimnis einer
Dryadensiedlung. Alle Stämme sind glatt und grau, rötliche Streifen
fahren von den Kronen herab in spärliches Gras, das der Schwäche
des Waldbodens, schwach durch Geister, schütter entsprießt. Vieles
gäbe es noch von der frühen Verwandtschaft der zierlichen Frauen
mit den älteren Schlangen und Drachen zu sagen, die der Sommertag
hier für Sekunden umschlossen hält, aber das schlafende Auge
erkennt, daß sich hier nichts Menschliches offenbart, sondern
unvorstellbar das Ahnungsvolle sein Netzwerk stiftet. Eben eine
Dryadensiedlung. - PM
Was ist ein Duckmäuser? Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben …
nein, das ist kein guter Gedanke. Am Ende sind Sie selbst einer und
wie stünde ich dann da? Am besten wäre es, ich ginge gleich davon
aus, dass Sie einer sind, und wir verständigten uns gemeinsam auf
die wesentlichen Merkmale. D’accord? Packen wir’s an. Ich
assistiere Ihnen und Sie geben mir grünes Licht. Nun, als erstes
wäre dem Duckmäuser nichts wesentlich außer dem Duckmäusertum,
d.i. der Tatsache, dass es im Leben wie im Sterben bloß nötig sei,
sich zu ducken. Ein aufrechter Duckmäuser wäre so viel wie der
schiefe Turm zu Pisa, nur in der Horizontalen gedacht. Wenn Sie sich
unter diese Erkenntnis ducken, sind wir gleich weiter. Spüren Sie
den Blitz, der durch Sie hindurchgeht? Funkt es in Ihrem Gehirn?
Nein? Nehmen Sie ergeben auf, was ich hier zusammenschmiere? Nun,
dann verstehen wir uns. Wer glaubt schon an die unbefleckte
Empfängnis? Die unbefleckte Empfängnis ist etwas für Kirchgänger
und Sie gehen aus Prinzip leer aus. Leerausgänger haben eine
natürliche Neigung zum Duckmäusertum. Ihnen muss ich das nicht
sagen, Sie wissen Bescheid, aber wissen es auch die Vielen? Die
meisten Menschen glauben ja, sie glaubten an etwas, während sie sich
doch nur ducken, aber darüber sprechen wir ein anderes Mal. Wir
glauben ja auch nicht an die Grammatik, wir fügen uns nur. Wer hat
Recht? Wir oder die Grammatik? Ist das existenziell oder kann das
weg, wie der Bauer die Bäuerin fragt? Vielleicht sind Sie ein
weiblicher Duckmäuser und monieren das Maskulinum, das sich bei
diesem Wort einschleicht. ›Duckmäuserin?‹ Nie gehört. Sehen
Sie? So versteht man sich wie geschmiert. Das Wort allein wäre ein
Anschlag auf das weibliche Geschlecht, so etwas denkt ein Duckmäuser
nicht. Der Duckmäuser ist männlich von Haus aus, vielmehr, er kommt
gar nicht aus dem Haus heraus, unter dessen Dachbalken er sich duckt.
Dort trifft er sich mit Freunden und wird gesehen. Bei einer solchen
Gelegenheit entstand das Wort ›Augenhöhe‹. Das ist
Politikersprache und bedeutet: Deine Schuhspitzen und meine
Hühneraugen – welch ein Paar!
In aller Welt lesen Philosophen Literaten, um von ihnen zu lernen oder, wenn schon nicht zu lernen, sich wenigstens das eine oder andere Motiv abzuschauen oder abzuschreiben. Was wenig verwundert, da die Literaten die Felder des Sagbaren weit und breit abgrasen, so dass kaum jemand sich eine Formulierung ausdenken kann, die nicht irgendwann durch den Magen der Literatur gewandert ist. Eine Ausnahme bilden die ›deutschsprachigen‹ Philosophen, deren angestammtes Metier die Philologie ist – Altphilologie, viel deutscher Idealismus und noch mehr Nietzsche, dazu seit Jahrzehnten anschwellend dieses Stocher-Englisch, mit dem der linguistic approach anfangs seine Herkunft aus dem Wiener Jargon bemäntelte. In dieser kuriosen Philosophen-Philologie kommen literarische Texte nicht vor, sie bleiben, da unerheblich, ›ausgeblendet‹. So denken die Philosophen, aber sie täuschen sich. Ihre Texte wimmeln von literarischen Topoi, darunter solchen der übelsten Sorte, sie halten sie nur für Philosophie, weil sie sich das Lesen verboten haben und lieber abends auf Talkshow schalten.
Als die Kunstkritik der Einsamkeit des großen Chirico überdrüssig ward, erfand sie ihm einen
Bruder: Alberto Savinio. Sie machte ihn, wie es sich gehört, drei
Jahre jünger und verlieh ihm, da es sinnlos ist, eine Gabe in
schlichteren Dimensionen zu wiederholen, ein Multitalent, so dass
Chirico eines Tages den Satz schreiben konnte: Mein Bruder war ein großer Schriftsteller und
Komponist. Er hätte auch schreiben können: Mein Bruder war
ein großer Hallodri, aber das hätte den Tatsachen noch weniger
entsprochen und wäre als Beleidigung auf die Nachwelt gekommen.
Die Dioskuren
verdankt die Nachwelt dem Brauch, bis zwei zu zählen und dann ins
Grübeln zu geraten: Was kommt danach? Vielmehr: Was wird schon
kommen! – Der Bruder also? Der Bruder existiert eigentlich nicht.
Er ist eine große, eine maßlose Hypothese. Durch einen Irrtum im
Begrifflichen wie im Ausdruck, dessen Ursprung sich in der Nacht
der gesprochenen Sprache verliert, wird der Bruder verwechselt mit
dem brüderlichen Freund, dem Weggefährten, der interpretiert und
erklärt – in Worten und Werken –, was der andere macht. Der es so
erklärt, wie es sich selbst erklärte, könnte es sich erklären. Der
es überdies nach- und vormacht – in einem anderen Medium, versteht
sich –, so dass es weiter keine Umstände bereitet, auf dem einmal
eingeschlagenen Kurs fortzufahren. Was wäre ein Leuchtturm, der
nicht anderen den Weg wiese? Was wäre der Zeiger, der zitternd
diesen Dienst leistet, anderes als der Bruder im Geiste? Und was wäre schließlich der
letztere, wenn nicht der erste noch einmal? Aber weit gefehlt,
dieser Zeiger zeigt nur, insofern er sich zeigt: Due Savinii, per favore.
Die Dummen sind auf eine selbstlose Weise besorgt, sie könnten am Ende die Dummen sein. Selbstsucht müsste ihnen den Gedanken eingeben, sie seien es längst.
Nehmen Sie ein bisschen von diesem Verbrechen, nehmen Sie ein
bisschen von jenem, verrühren Sie das Ganze – Rührung tut gut – und
reichern Sie es mit Stundensex an, wo immer sich Ihnen ein
Sendeplatz bietet: bleiben Sie am Ball, allabendlich, Jahr um Jahr,
Jahrzehnt um Jahrzehnt, erzeugen Sie das größte kriminalistische
Durcheinander des Jahrhunderts in den Köpfen von Kindern, alten
Leuten, Schwachsinnigen, Perversen, Kassenpatienten, Eltern,
Nichteltern, Durchblickern, Bescheidwissern und Abstaubern, und Sie
werden sehen, es wirkt. Sie können jedes Thema lancieren, jeden
Verdacht unter die Leute bringen, jedes Misstrauen gegen ganze
Bevölkerungsgruppen schüren und Heilige en gros fabrizieren. Es
kostet Sie nur ein bisschen Geduld und braucht eine Maschinerie,
die läuft und läuft... kurz, ein Medium. Aber was heißt schon, es
kostet? Sie lassen diejenigen bezahlen, denen Sie das alles
zwischen zwei Freifahrten antun, auch wenn sie nichts mit Ihnen zu
tun haben wollen, und es läuft rund.
Die Alten kennen sie noch aus Omas Erzählungen: »Warte nur, wenn
die Dunkelflaute kommt und dich holt!« Da hüpft das Kind und tut,
wie ihm befohlen (oder angeraten, denn eine kluge Oma befiehlt nicht,
sondern gibt Ratschläge fürs Leben). Entgegen verbreiteter Ansicht
ist die Dunkelflaute kein Nachtgetier. Wenn sie kommt, dann bei Tag
wie bei Nacht, sie achtet den Unterschied gering. Bei Dunkelflaute
stehen die Windräder still und den Stromsammlern geht das
Sonnenlicht aus, so dass ihre Sammlungstätigkeit zum Erliegen kommt.
»Warum zum Erliegen?« fragt das Kind. »Können sie dann nicht mehr
stehen?« »Sei ruhig, mein Kind«, flüstert hastig die Märchenoma,
»dass dich nur niemand hört. Wer lehrt dich solche Sachen?« »Ich
mich selbst«, strahlt das Kind, es hat einen Lebkuchen zum
Geburtstag bekommen und kennt sich aus. Es kennt schon alle Fälle,
nur den Fall der Fälle, die Dunkelflaute, kennt es noch nicht. »Und
was passiert dann?« »Dann schließen sich die Tore der Welt und
Recht kennt kein Geschlecht.« »Wie geht das?« erkundigt sich das
Kind, dabei will es die Antwort nicht wissen und sinnt auf Anderes.
Sein Geschlecht ist sächlich, aber es hält nichts davon. »Das
behalte ich mir noch vor!« zwitschert es mit freudiger Stimme. »Das wird
eine Überraschung!« Doch in diesem Punkt ist Oma echt
stressig. »Wenn die Dunkelflaute kommt, ist es wichtig zu wissen,
wer man ist.« »Wer ist man denn?« »Das ist ein Geheimnis, das
jeder für sich hüten muss.« »Aber wenn ich es nicht weiß?«
»Du weißt es, mein Kind, du wirst es wissen. Wenn die Zeit gekommen
ist, wissen es alle.« Da lacht das Kind. Anschließend wird es ganz
ernsthaft. »Weißt du, Oma«, träumt es und zupft sie am Kleide, »ich habe gelesen, wir dürfen der Dunkelflaute keine Macht über uns geben, dann kommt sie auch nicht.« »Das hast du gelesen?« fragt Oma verwirrt und gibt ihr einen Klaps. »Ich werde dich daran erinnern, wenn es soweit ist.« »Wirst du nicht.« »Und warum nicht?« »Ach Oma, du bist kleinmütig und kleinmütig sind nur die Schlimmen. Ich gehe jetzt hinaus in die Welt und werde berühmt. Dann vertreibe ich die bösen Geister und deine Dunkelflaute kann bleiben, wo der Pfeffer wächst.« »Ach Kind, wenn nichts mehr geht, dann nützt es auch nichts, bei Rot über die Straße zu gehen.«
»Das darf man nicht.« »In der Not ist alles erlaubt.« »Auch
schlimme Dinge?« »Das hängt von der Not ab. Aber das darfst du
nicht wissen.« »Ich darf alles wissen. Das hat meine Kitatante
gesagt und die ist ziemlich hell im Kopf. Naja, wenn die Dunkelflaute doch kommt… Aber dann bin ich längst in der Schule und habe Mathe. Und
was passiert dann?«
Es war ein kräftiges Stück Arbeit, das Schaf zu melken, ordentlich
mitgenommen sehen die Hände danach aus. Mitgenommen wohin? Ein
Bauer, der nicht mit seiner Ansicht sparte, und aus diesem bekommt
ihr nichts heraus. Sich inwendig ausgeben hat Vorteile, die dem
Herzinfarkt ähneln, der sich – vielleicht – auf diesem Wege Bahn
bricht. Poco poco, lente
lente, man kann seine Einbrüche schließlich nicht stapeln.
Das Schaf steht nebenbei, es hat sein Bestes gegeben, vielleicht
das Zweitbeste, das wird sich weisen. An einem Baum schaukelt der
böse Rest, der nie in Betracht kommt oder erst spät, es reicht,
wenn er einen überkommt, dem muss man nicht vorgreifen. »Durabile«,
sagen die Landwirte des Südens, sie klopfen das lederne Gemüt in
der Hoffnung, einmal etwas anderes herausfallen zu sehen als die
Erwartung. Aber Leder bleibt Leder, man trägt es außen, freiwillig beißt kein Mensch hinein.
Unterkomplex denken, unterkomplex handeln, das war von jeher die
bevorzugte Methode, sich beliebt zu machen bei Menschen und
Göttern. Wer eine Kleinigkeit vergaß, dem gelingt der Durchbruch
spontan. ›Verzeihung, ich vergaß‹: das könnte über dem Leben so
manchen Hoffnungsträgers stehen, am besten vor seinem Abgang, oder,
noch besser, vor seinem Auftritt. Es sind nicht die terribles simplificateurs, die das
Leben würzen, sondern all diejenigen, die ihre Hausaufgaben gemacht
haben, aber im Modus der Ungeduld, denn sie wollen vorankommen. Nun
preschen sie dahin, auf ebener Strecke, wo doch jeder, der Augen im
Kopf hat, den Hügel sieht, in den sie sich bohren werden.
Vielleicht wollen sie tiefer hinein als andere, das wäre denkbar
und nicht einmal unplausibel. Ob es auch gut ist?
Alle bedeutenden Durcheinanderwerfer sind auch Zurechtrücker, im Gegensatz zu den unbedeutenden, die für das geordnete Durcheinander verantwortlich zeichnen. Daher der Choral derer, aus denen noch etwas werden soll: Seien wir ein bisschen durcheinander / Leben wir ein bisschen auf dem Mond..! Dieses ›bisschen‹, man beachte, wird nur von der Grammatik künstlich klein gehalten, in Wirklichkeit ist es riesengroß und regelt die Welt oder was sich dafür hält.
»Das Schicksal der westlichen Gesellschaft entscheidet sich an...« Wieso Schicksal? Wenn Gesellschaft ein Konzept ist, wieso dann Schicksal? Allen Konzepten steht das Schicksal bevor, entsorgt zu werden oder in andere, bessere, modernere, effizientere überführt zu werden. Das sind keine wirklichen Schicksale, sondern Maximierungsgeschichten. Kann Gesellschaft maximiert werden? In welchem Maximum jenseits ihrer selbst fänden sich ihre Spuren wieder? Kann es Gesellschaft jenseits von Gesellschaft geben? Mag sein. Gesellschaft ist eine Maximierungsvokabel: das jeweils Neue, Aktuelle, Unübersteigbare im Zusammenleben der Menschen scheint gerade das zu sein, was sich in ihr ›abzeichnet‹. Sagt man etwa, Frauen seien die besseren Gesellschaftswesen, so sagt man etwas, das je nach Gesellschaft differiert. Sagt man etwas Genaues damit? Will man überhaupt etwas Bestimmtes zum Ausdruck bringen? Oder will man bloß bestimmen? Ein Wechsel der Intonation ruft sehr unterschiedliche Vorstellungsreihen auf – man meint, je nachdem, ein Talent, eine Vorzugsstellung, einen Mangel, womöglich einen Makel oder, nicht zu vergessen, eine Aufgabe, vielleicht eine praktische, historische, vielleicht sogar eine immerwährende, einen Durst der Menschen nach mehr Gesellschaft, der sich schwer oder gar nicht stillen lässt. Mehr Gesellschaft, wer kann so etwas wollen? Wie lange kann einer durchhalten, das zu wollen?
Gestern Gespräch mit dem Fingernagel. Er ist krank, der Gute, er geht kaum noch aus. Ein wenig gelblich das Gesicht, mit einer Wulst dort, wo sonst die Stirn thronte, man sieht ihm an, dass es ihm schlecht geht. Warum nicht zum Arzt, fragt das Mitgefühl. Törichte Frage an jemand, der gerade von einem kommt. Wie geht’s dem Arzt, sollte die Frage lauten. Gut, wie sonst? Wer weiß schon, wie es den Ärzten geht? Die kassenärztliche Vereinigung, sicher, aber das steht hier nicht in Frage. Hier geht es ums Ego und da ist Fingernagel der Spezialist. Gehen Sie nicht zum Arzt, so lautet sein Fazit, er meint es ernst und macht dazu eine bittere Miene. Seit der letzten Laserbehandlung sind Teile seines Gedächtnisses weggebrochen. An die Krankheit davor zum Beispiel kann er sich kaum erinnern. Es gilt der Augenschein. »Laser, was ist das?«, sagt er. »Ich kenne keinen Laser. Es war ein chirurgischer Eingriff. Nun, ich bin der, der ich bin. Sehen Sie mich an, junger Mann: einen Nagel in der Fülle seiner Möglichkeiten. Einige davon werde ich ergreifen, das ist sicher, andere werde ich auslassen, denn auch im Auslassen realisiert sich manches. Überhaupt kommt es im Leben aufs Auslassen an. Das Ausgelassene, wie sein Name schon sagt, ist das, was irgendwann doch herauskommt. Es hat eine Kraft, wissen Sie, eine Kraft... Ob es bleibt? Wie sollte es bleiben? Wo sollte es bleiben? Wenn doch sonst nichts bleibt!«
»Ich erinnere einzig daran, dass die kostbaren Gaben des Geistes
den Verlust auch des kleinsten Quentchens Ehre nicht vertragen.«
André Breton. – Leicht zu missbrauchende, aber untilgbare
Elementarbegriffe wie Ehre oder Stolz überantwortet man
nicht dem toten Feind oder dem ›fremdkulturell Geprägten‹, man
paradiert mit ihnen nicht in Gänsefüßchen und benützt sie nicht, um
Nachbarn anzuschwärzen, sondern bewahrt sie vor falschem
Zungenschlag und fatalen Lockungen. Man stellt solche Begriffe
klar, nicht bloß. Dergleichen gehört zu den Regeln ihres Gebrauchs,
ohne die sie ganz sinnlos erscheinen – totes Gewäsch von Leuten,
die, aus welchen Gründen auch immer, beschlossen haben, nicht in
Betracht zu kommen. Diese hier sind archaischer Herkunft, sie
halten ein Stück Menschheitsvergangenheit fest, das macht sie der
liberalen Gesellschaft verdächtig und signalisiert Gefahr.
Zugleich stehen sie für die innersten Überzeugungen und
Regularien eines Menschen.
Das lässt sie unverzichtbar erscheinen. Wer diese aristokratische
Begriffsschicht in sich abtötet, wirkt in der Regel geistlos, ein
Unhold unter den Menschen, einer, der Anstoß erregt und den man
stehenlässt, wann immer man die Möglichkeit dazu besitzt. Überdies
erscheint er potentiell gefährlich, denn er achtet die Menschen
nicht, er schmeichelt ihnen nur.
An einer ordentlichen Ehrenhaft ist nichts ehrenhaft außer der
Phrase und die ist abgeschmackt. Es gibt aber auch, woran viel zu
wenig gedacht wird, die außerordentliche Ehrenhaft, die selten
verhängt wird, allerdings mit großem Erfolg. Wer mit
außerordentlichen Ehren haftet, ist praktisch nicht wegzukriegen.
Auch wird es von niemandem ernsthaft versucht. Die Versuchung liegt
in der Ehrenhaft selbst, sie kriecht in ihr hoch wie in einem
Mantel aus Blei und es ist nur eine Frage der Zeit und der
Witterung, ob sie ihren Weg in die Freiheit findet, die als
Knopfloch am oberen Ende prangt: die Freiheit der Selbstanzeige,
die von den Steuerbehörden so außerordentlich geschätzt wird, aber
erst bei Schriftstellern und Großintellektuellen die ihr ganz und
gar gemäße Ausprägung findet. »Seht her, dieses klägliche Häufchen,
das war ich, ihr solltet euch die Nase zuhalten und mich verachten,
aber es gelingt euch nicht. Ihr könnt euch ruhig ein wenig mehr
anstrengen, man möchte ja meinen, ich hätte es nicht um euch
verdient. Beugt euch ruhig darüber, in dieser Pose habe ich euch
gern, ich könnte mich daran gewöhnen. Übrigens, wenn ihr mich
sucht: Hier bin ich, hoch über euren Köpfen.«
Der Seelenlaut hat eine Literaturgeschichte im Gepäck und die tickt katholisch. Sie könnte auch anders ticken, aber so, wie sie nun einmal tickt, tickt sie fort, in einem fort, könnte man, mit einer Spur Häme im Gesicht, anmerken. Es ist die alte Geschichte, das Erste und Einzige braucht die längste Rechtfertigung. Pädagogisch muss sie sein, das unbedingt, die ganze lange Rolle des Geschriebenen darf nicht mehr enthalten als eine Anleitung zu dem, was man gerade so treibt, das unbedingt und weiter ohne Besinnung. So muss es sein. Waldesrauschen und Weihrauchduft und Wortkaskaden über alles, was anders spurt. Die eiserne Romantik rumpelt auf Holzkarren durch den Zauberwald und reklamiert die Sterne als geistiges Eigentum. Warum? Weil sie so funkeln. Hübsches Wort für eine verteufelte Sache. Dass die Minnesänger noch »hoch zu Ross« dichten, wer möchte einen Pferdeapfel dagegen setzen? So atmen sie freier und sind, aus der Perspektive von Steigbügelhaltern, den Stars näher, auf die man, tick tack tick tack, zählt.
Wir lernen heute viel über die Religiosität vergangener Epochen, doziert Engel, jedenfalls, sofern wir uns lehren lassen. Vor allem das Gemachte daran, die Zurichtungen des Glaubens, des scheinbar Einfachsten und, wie es lange schien, Naivsten daran, erscheinen uns mittlerweile in einem neuen Licht – und damit der Kern aller Religiosität, falls man sie nicht auf soziales Brimborium und zauberischen Hokuspokus eindampft und so neuen Zauber betreibt. Glaube ist gewendeter Unglaube, ein tiefes Umströmtsein von dem Gedanken, es könne auch anders sein, es könne immer auch anders sein, zugleich ein entschlossenes Festhalten dessen, was wechselweise als Planke und Festung erscheint: als Ideenverheißung und -gebäude. Das Ergreifen einer Planke erfordert andere Vorkehrungen als die Verteidigung eines strategischen Areals...
– Vorkehrungen, sagten Sie?
– Aber sicher. Das nach vorne Gekehrte, das ist der gläubige Mensch in Erwartung von Sieg oder Niederlage. Er ist es selbst, während er darüber verfügt, darin besteht der Trick. Doch zu meinen, das Wissen entkräfte den Trick, ist nichts weiter als die gewendete Furcht, ein frevelhaftes Wort sei geeignet, den Weltuntergang heraufzubeschwören. So naiv war die Gott-ist-tot-Front nie: sie deutete das peinliche Gefühl des homo pagans, der eigenen Enttarnung als staats- oder kirchen- oder gedanken- oder gemütsfromm beizuwohnen, als ultimativen Sieg des Unglaubens über den Glauben, ein Faktum, das es nur noch herauszuposaunen galt, um ihm – was wohl? – Geltung zu verschaffen, Geltung auf allen Gebieten, in allen Wissens-, Denk- und Handlungsformen, mit allem, was daraus folgen möge. Dumm nur: wer auf Sieg setzt, muss akzeptieren, dass jeder Sieg nur auf Zeit gilt, dass er, wie es so schön heißt, den ›Keim kommender Niederlagen‹ in sich trägt. Alsdann: die Zeit der Niederlagen, sie scheint gekommen zu sein.
– Glauben Sie?
Wenn ein Einäugiger ein Museum einrichtet, wie sollte das anders
sein als...? So denken die Leute, mit einem gewissen Recht, wenn
man ihren Standpunkt einnimmt, der sicher einer unter mehreren ist,
aber eben... Eben, das ist das Wort. Über der Ebene der
Sonnenhaften glühen die Sonnen mit verstärkter Wucht, sie suchen
näher heranzukommen, um jeden Preis, sie versuchen die große
Verschmelzung. Da tut es gut, durch ein totes Auge zu sehen, durch
das Auge der Toten. Es fehlt den Lebenden, den nur Lebenden, es ist
ein Privileg, ein wenig
tot zu sein, es ist ein menschliches Privileg oder das
Privileg der Menschen. Wessen auch sonst? Sollen unsere tierischen
Freunde ihre Toten hervorkramen, um uns einen Gefallen zu tun? Wir
halten sie doch ohnehin für unsere Vorfahren, also für tot.
Melancholisch, wie sonst, treten sie uns gegenüber, als unsere
anderen Toten, die nichts hinterließen als uns. Eine schreckliche
Erbschaft. Eigentlich sollten sie uns hassen. Oder wir sie.
Das Glück, wenn es denn eines ist, kommt, als sei es aufgehalten worden, ein wenig später. Die Menschen nennen es ›innere Einheit‹ und verlangen zu viel und zu wenig von ihr, so dass sie nicht umhinkommen, sie zu verfehlen. Als Getrennte waren sie vollständig, nichts fehlte ihnen außer der Erfahrung der Einheit, die, da sie fehlte, keinen zerbrach. Nun, als vereinten, fehlt ihnen alles. Der Grund zum Beisammensein hat sich verflüchtigt und wohnt bei der Schwiegermutter. Dabei ist das der Weg, auf dem man sich findet: der Grund trägt den Gang, nicht den Kopf, den jeder selbst tragen muss, was immer schwer fällt. Manche wissen das und bestehen auf ihrem eigenen Kopf. Solange sie nicht stehen bleiben, geht das in Ordnung, es geht ganz gut, nur der verlorene Grund zeigt an, dass sie kopflos gehen.
Was haben sie damals gelacht, die Einprozenter der exceptional nation, als die Zahlen durch die Medien rauschten und die 99% mit nachdenklichen Gesichtern die Kerzen ausbliesen, bevor sie sich in ihre bescheidenen Bettchen legten und die Nachtmütz’ über den Kopf zogen. Ein Viertel des Volkseinkommens in ihrer Hand! Vierzig Prozent des Gesamt-Nationalvermögens! Was immer das Herz begehrt! Es war eine Freude, ein Tuscheln, ein Angenehm-Überraschtsein, das sich in den Gesichtern spiegelte, denn eine glatte Zahl ist stets wie ein Sechser im Lotto: Nicht die Summe macht das Vergnügen, sondern das Glück des Gelingens! – Perfekt. Wie immer sich die Zahlen seither verschoben haben mögen, das Glück ist geblieben. Ein paar Handvoll Leute besitzen die Hälfte des Weltvermögens und es werden von Jahr zu Jahr weniger. Ist das nicht traurig? Wer möchte so einsam zurückbleiben? Doch was immer sich einwenden lässt, es hebt den Ehrgeiz an der richtigen Stelle. Wie das Wort bereits sagt: er geizt, der Ehrgeiz, er geizt mit allem, aber mit ihr besonders. Ehre wem Ehre bekommt, der Ehrgeizige holt alles Entbehrte nach, sobald er die Spitze erklommen hat, alles und alle. Mir nach, Milliarden! So hallt sein Ruf über den Erdboden und die Milliarden – geben ihm nach.
Wer das Wort ›Elite‹ betont, der führt etwas im Schilde. Er spricht
einer gewissen Konzentration von Kräften das Wort, einem gezielten Um-
und Ausbau von Institutionen, einer strafferen Indienstnahme
gesellschaftlicher Ressourcen, einer Mobilisierung der Gesellschaft
über das im Laissez-faire der
sozialen Kräfte erreichte Maß hinaus. Die Zukunft, dieser diffuse
Horizont über einer Landschaft, in der die Dinge ihren gewohnten Gang
gehen, wird unversehens zur Aufgabe, die es zu meistern gilt. Die
Situation ist ernst, es gilt, ihr angemessen zu begegnen. Elite, die
eingebildete wie die vorgebildete, ist das Schoßkind einer
Gesellschaft, die um ihr Überleben in einer gefahrvoll sich wandelnden
Umwelt bangt. Ihre Stärke, so ließe sich leicht zynisch folgern, beruht
mithin auf der Ängstlichkeit derer, die ihr Vertrauen auf Vorschuss
bekunden. Es ist eine Stärke, die von Erwartung genährt wird. Seinen
magischen Reiz bezieht das Konzept einer künftigen Elite aus dem
Versagen der stets existierenden, sattsam bekannten Eliten.
Entsprechend trägt sie die bekannten Züge derer, die heute (wie der
populäre Ausdruck lautet) ›das Sagen haben‹, nur eben ins Ideale
überzeichnet. In den einschlägigen Entwürfen figuriert sie als eine nie
ganz reale, nie ganz futurische Größe. Eins vor allem zeichnet sie aus:
sie wirkt ganz und gar unberührt von den mühsamen
Selbstbehauptungszwängen des gegenwärtig vorhandenen Führungspersonals.
Die neue Elite hat den Nachweis ihrer Fähigkeiten immer schon hinter
sich. In ihrem Handeln – so will es die planende Regie – manifestiert
sich der Behauptungswille der Gesellschaft. Entsprechend gilt ihr das
Vertrauen aller, denen der Zweifel an den eigenen Fähigkeiten zur
zweiten Natur geworden ist.
Es fragt sich allerdings, wie weit hier Wunschdenken im Spiel ist,
wie weit das Schillernd-Zukünftige dieser neuen Elite nicht in den
Bereich irrealer Wunscherfüllung gehört, wie man sie aus Märchen
kennt. Es fragt sich darüber hinaus (obgleich die Frage selten
gestellt wird), ob und wie lange eine neue Elite bei der Lösung der
ihr vorab gestellten Aufgaben verharren darf, insbesondere dann,
wenn sich diese Aufgaben im wesentlichen als unlösbar erweisen.
Besteht nicht die Gefahr, sie könnte sich aus eigener Machtbefugnis
und getrieben von unabsehbaren Systemzwängen an neuen, eigenen
Aufgabenstellungen versuchen, die den Zielen ihrer heutigen
Propagandisten geradewegs zuwiderlaufen? Und wäre dann dies noch
die heute projektierte Elite? Kurz: Ist Exzellenz planbar? Die
Frage klingt, zumindest auf den ersten Blick, paradox.
Nichtsdestoweniger verdient sie, dass ihr nachgegangen wird. Nicht
vergessen sei, dass ›Elite‹ einst eine Güteklasse bezeichnete. Es
wäre daher angebracht, zur leichteren Bezeichnung für die
Bewältiger der unterschiedlichen Aufgaben, die im Schoß der Zukunft
lagern, Eliteklassen einzuführen, EK1, EK2 usw., deren wesentliche
Bedeutung sich nur einer kleinen Schicht von Gesellschaftsplanern
erschließt, die selbstverständlich über jeder Elite rangiert.
Ich betrachte den Ekel als einen bewohnten Turm nach Art des Burj
Khalifa in Dubai, der in der Höhe in etwa die Troposphäre umfasst,
also die luftige Planetenhülle, in der sich der Mensch, mit einiger
technischer Nachhilfe, zur Not zu Hause fühlen darf. Will sagen, der
Ekel ist unter den Begleitern des Menschen vielleicht der
aufmerksamste und der mit der längsten Skala. Vielleicht … denn es
kommt immer darauf an, wer ihn gerade bewohnt, denn Gebäude ekeln
sich, wie Maschinen, denen sie ähneln, bekanntlich vor nichts. Sagt
einer »Das ist ekelhaft!«, dann schau ihm gerade ins Gesicht: Es
kann sich um einen Turmbewohner handeln, aber auch um einen
gewöhnlichen Idioten, der nicht weiß, wovon er redet. Im ersten
Fall kommt es darauf an, in welchem Stockwerk besagten Turms er sich
eingerichtet hat – daran bemisst sich der Abstand zum
ekelerregenden Objekt und daran die Kraft der Aussage. Es gibt
schwächliche Ekelvarianten, für die es sich der Blick aus dem
Fenster nicht lohnt, es gibt den Grundekel, der die gesamte Höhe des
Turms durchzieht wie die pulverisierten Stahlstreben des World Trade
Centers und sich von selbst versteht, und es gibt den starken Ekel
vis à vis der Person, dem Ereignis oder der Praxis, die ihn gerade
eingibt. Um diesen starken Ekel zu empfinden, bedarf es starker
Charaktere, die den Mut besitzen, das Fenster offenzuhalten, auch
wenn es zieht und stinkt. Vermutlich wurde der ganze Turm ihnen
zuliebe erbaut. Wie gesagt, viel braucht es nicht, um den Grundekel
zu pulverisieren, sollte einer erst den Sinn des Gebäudes nicht mehr
verstehen. Zum Glück will auch der Terror gegen Andersdenkende
gelernt sein und der Grundekel nimmt, will man dem subjektiven
Eindruck trauen, eher zu als ab. Aber man kann sich täuschen: Die
Welt vom Ekel befreien ist eine Aufgabe, die auch im Blindflug
Lösungen erlaubt.
›Zu denken geben‹ – das klingt nach Tierfütterung im Gehege und meist ist es so gemeint. Die Bestie hat Hunger: diese Aussage stimmt immer und stimmt den Nachdenklichen ein auf das, was ihn erwartet, wenn er seine Einsichten zum Besten gibt. Wird, was er sich ausdachte, verschlungen, so bleibt ihm ein bisschen Zeit, sich in Sicherheit zu bringen, doch wehe, die unwillige Tatze schlägt es ihm aus der Hand und sie stehen vis à vis, Denknehmer und Denkgeber, einander unter Ekelempfindungen musternd, dazwischen das Gedachte, ein Gekröse, dessen Anblick augenblicks nur noch Ekel erregt –: eine Situation, die das Zeug dazu hat, sich endlos zu dehnen, ein Ewigkeitsgefühl zu vermitteln, und die doch nur ein Moment ist, der kurze Moment, bevor alles kippt und die Brühe des Lebens über den Nachdenklichen rinnt, während die Bestie sich knurrend in ihren angestammten Winkel verzieht. »Glück gehabt«, murmelt der Nachdenkliche, »das nächste Mal werde ich vorsichtiger zu Werke gehen.« Sieh einer an: er träumt schon vom nächsten Mal.
Man erkennt den Elsässer in allem, was er treibt, er hat eine ganz eigene Art, die
Dinge auf den Punkt … zu treiben, so dass sie immer ein wenig auf
der Kippe zu stehen scheinen: Geht’s noch? Oder fällt es schon? Er
hat daraus ein Gewerbe gemacht, das vermutlich seinen Mann ernährt,
aber darauf soll es nicht ankommen. Dass einer täglich seine
Glaubwürdigkeit riskiert, um sie sich zurückzuholen wie aus
Feindesland, das offenbart eine Einstellung zu den Gegebenheiten
dieser Welt, die man als ›postjournalistisch‹ bezeichnen könnte,
wenn man davon absieht, dass damit in der Regel bloß der auf Halde
produzierte Informationsmüll bezeichnet wird. Der Postjournalist ist
Nachrichtenjäger, nicht -sammler, wie seine Vorfahren, er genießt
die Freiheit der Jagd, weil er im voraus weiß, in welches Gebüsch
das erkorene Wild sich flüchten wird, ein wenig kontrollierte Hetze
in freier Luft kräftigt die Lungen und gibt den Kontakt. Wie der
organische Intellektuelle (für den er sich hält) weiß der
organische Journalist sich getragen vom Wohlwollen derer, denen er
seine Jagdbeute offeriert. Gern hält er sich an ihren Lagerfeuern
auf und singt ihre Lieder, dann verschwindet er wieder im Gebüsch.
Weiß der Teufel, was daran ›organisch‹ ist – außer ihm noch
Herr Gramsci, der zu tot ist, um ihn darüber befragen zu können, es
käme auch wenig dabei heraus.
»Ekelhaft, das ist ekelhaft!«, ruft der alte Mann im Park mit der strengen Stirnfalte und zeigt auf die rund um den Papierkorb verstreuten Abfälle. ›Jetzt weiß ich also, was dieses Wort bedeutet‹, denkt das Kind, vielleicht sein Enkel, und mustert ihn gleichmütig. Die Elstern rings auf den Bäumen, Urheber des Spektakels, schweigen. Dumpf empfinden sie, dass es gegen sie geht, dabei sind sie längst weiter und haben anderes vor.
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Anders ausgedrückt, an ihren
Früchten kann man sie erkennen. Eine ganz eigene Art der
Erkenntnis, die reklamiert wird für dieses Paradies, in dem man
keine Äpfel essen durfte. Die Schlange als Ohrwurm, der Eva zu der
Art Selbsterkenntnis trieb, die sie ihre Überlegenheit über Adam
erkennen ließ, eine sexuelle (oder doch biologische?) Abhängigkeit
und notwendig, da es sonst schlecht bestellt gewesen wäre um die
zukünftige Menschheit. Ein standhafter oder frauenfeindlicher Adam
hätte die Sache vor jedem Gedanken an sie abgetrieben. Eva dämmerte
sie mit den Worten der Schlange im Ohr ganz allmählich und sie
opferte sich für die kommende Menschheit. Wie gut, dass Adam bis
heute nichts begriffen hat. Der heutige Adam hält Eva für eine
gefährliche Frau. Ach wie gut, dass er nicht weiß, dass ihr einfach
langweilig war mit ihm allein im Paradies. Nicht, weil er ihr nicht
genügte oder nicht schön, klug oder reich genug war. Nein, das nun
wirklich nicht. Er sah sie doch gar nicht. Jedenfalls hatte er sie
nicht ›erkannt‹, wie es so rätselhaft in der Bibel heißt.
Selbstgenügsam wie Männer in diesen Dingen nun einmal sind,
beschäftigte er sich in diesem verdammten Paradies mit allem
Möglichen, bis hin zum Gärtnern, nur nicht mit ihr. Die Worte
»Wachset und mehret euch« waren noch nicht gesprochen. Das waren
Post-Paradiesworte. Eva kam die Erkenntnis, die ihr die Schlange
ins Ohr gesetzt hatte, gerade recht. Ergreifen was einen
ergreift. Und so ließ sie Adam kräftig zubeißen. ›Nimm mich!‹
sollte der Apfel ihm sagen und es begann der erste Akt, an dessen
Ende auch für Adam eine Erkenntnis stand. Die Fron begann. Die
Geburt der Klamotten aus der Erkenntnis der Nacktheit oder,
anders ausgedrückt, als Rat an den Mann (genauer nachzulesen bei
Kant): ›Pass auf, dass deiner Frau nie langweilig wird, sonst bist
du schneller emanzipiert als dir lieb ist.‹ ›Keine Gefahr‹ kann man
da heute nur rufen, ›die machen doch alle Karriere. Das ist ganz
groß in Mode‹. - AC
Unter den Begriffen, mit denen man den Wandel zu fassen
versucht, erfreut sich die Emergenz, das blinde Hervorbrechen einer
größeren Einheit, gesteigerter Beliebtheit. So erscheint es der
Risikogesellschaft angemessen. Wo sich nichts kalkulieren lässt,
kalkuliert man das Risiko, am Ende steht das Risiko für das Ganze.
Dass das ganze Begriffsfeld verfehlt sein könnte, dämmert
vielleicht in einigen Köpfen, aber dieses Konzept ist viel zu
schön, als dass man es aus der Hand geben möchte. Das Ersinnen von
Metagrößen, von Meta-Ereignissen und Metastrukturen stößt auf keine
wirklichen Widerstände, auf theoretische ebenso wenig wie auf
praktische, es ist, um es einfach zu sagen, ein müßiges Spiel. Seit
dieses Spiel politisches Handeln begründet, Geldflüsse steuert,
Gesetzgebungen umformt, die Stätten des Wissens zum Umbau freigibt
und globale Freiflächen für militärische Einsätze präpariert,
sollte man wissen – und wenigstens ein Stückweit zugeben –, dass
man spielt.
Was ist passiert? Wie konnte ein solcher Absturz geschehen? Hat man
den jungen Leuten das Welt-Sensorium herausgeschraubt, als handle
es sich um eine kaputte Glühbirne? Was sage ich! Das Malheur ist
nicht auf die jungen Leute beschränkt. Alle leiden simultan. Leiden
sie denn? Man könnte immer noch meinen, sie hätten das Glück
erfunden. Es geht, wenn ich so sage, rückwärts voran, das ist ein
großes Wort für eine unmerkliche Sache, die doch in allen Köpfen
spukt. Das geparkte Leben summt, als sei es entschlossen, aus der
Garage herauszufinden, in die es durch Unvernunft hineingebracht
wurde, aber durch wessen? Und wessen Vernunft sitzt jetzt am
Steuer? Das sind Fragen eines pensionierten Chauffeurs, der, unter
uns, in seinem Leben nie eine Anstellung gefunden hat. Ich denke
aber, dass er Recht hat. Man muss den Dingen auf den Grund gehen
und wo gefahren wird, dort entstehen Lenkungsprobleme. Was ich
eingangs den Absturz nannte, ist ein solches Lenkungsproblem. Man
hat den Leuten nicht gesagt, was ihnen bevorsteht und jetzt tut es
sich hinter ihnen auf. Schlimmer: nichts tut sich auf als dieses
Dunkel, in das der Dieselqualm mächtig hineinbläst, als wolle er
das Problem vergrößern. Auf Energie gesetzt: das ist es. Man hat
die Leute auf Energie gesetzt und jetzt zieht man sie ruckweise aus
ihnen heraus. Aber das stimmt nur halb. Man zieht sie aus ihnen
heraus und steckt sie ihnen an anderer Stelle wieder zu. Eine
Energieart entbirgt der Gesang: »Wir köhönnen uns euch nicht
leisten, das Leheben ist viel zu kurz.« So etwas singt man nicht
wirklich, nur übersetzt könnte es so lauten. Natürlich erhebt sich
die Frage, wer hier wir
ist und wer ihr, aber kaum
gestellt, erhebt sich das Wir auf seine eigensten Zehenspitzen und
ergeht sich im hohen Ton, so dass man sein eigenes Wort nicht
versteht. Woran erkennt man dann, dass es das eigene ist?
Vielleicht an der Art, wie es untergeht, man könnte meinen, es
winke.
Es war schön hier und jetzt ist es aus, denn der Auftrag fehlt. Er wurde entzogen, dir, mir, der ganzen bunten Theaterwelt, die wir sind, weil wir darstellen, was wir sind und nicht sind, immer schön eines mit dem anderen. Was sind wir denn? Das habe ich mich gefragt, jeden Abend, wenn ich den Kopf zur Tür hereinstreckte und alle waren schon da. Was sind wir denn? Ein Leckerbissen? Ein Augenschmaus? Ein Ohrengewitter? Eine Grille vom Stadtrand, aus Versehen ins Zentrum verschleppt, dorthin, wo die Kulturtempel stehen? Ach dieser Tempel! Wir nennen ihn nur das Haus. Nun, da wir schaudernd erkennen, dass es nie unser Haus war, bloß eine Lagerstätte für Brennbares, die jetzt geräumt wird, weil neue Gefahren gebannt werden müssen, ist es zu spät. Sind wir denn ausgeglüht? Sind wir nicht mehr … Bares? Zahlt unbar, Leute, dann sehen wir uns bald wieder.
Das Entdummungsprogramm der Regierung: eine Katastrophe! Und wer sind
die Dummen? Die Dummen. Am Ende trifft es immer die Falschen, die
falschen Fuffziger und die falsch Informierten. Dumm gelaufen! Sind Sie
falsch informiert? Ich für mein Teil bin es gern. Das trägt zur
Allgemeinbildung bei, was will der Einzelne mehr? Ein voller Erfolg
hingegen ist das in alle öffentlichen Hände gelegte Programm ›Qualen
mit Zahlen!‹ (von ein paar Ulknudeln entstellt zu ›Quälen durch
Zählen!‹). In allen Provinzen des Landes werden nach einem wirren,
dabei leicht zu handhabenden System Zahlenbündel zusammengekehrt, auf
ultraschwere Lastwagen verladen und in die alte Reichshauptstadt
transportiert. Mancher im Lande fragt sich gebannt, was dort mit ihnen
geschehen mag. Werden sie, nach Begutachtung durch die oberste
Bürokratie und einem publikumswirksamen Besuch des zuständigen
Ministers, verbrannt und auf dem zentralen Zahlenfriedhof entsorgt?
Weit gefehlt: Sie werden verbaut. Die Regierung lässt bauen und folgt
dabei der altbewährten Devise ›größer, schneller, weiter‹. Ein Dach
aus Zahlen – das erinnert entfernt an den berühmten
Churchill-Spruch: Die Festung Europa hat kein Dach. Andere
Zeiten, andere Sorgen. Andererseits braucht so eine Festung Licht, Luft
und vor allem: Wasser. Zahlenregen, daran sei an dieser Stelle
erinnert, löst das Problem nicht. Was löst es dann? Ich sage es Ihnen:
Propaganda! Propaganda löst jedes Problem, warum nicht dieses? Das
Lösungswort heißt Dürre. Wir werden diese Zeit der Dürre gemeinsam
überstehen, wenn alle die richtigen Schlüsse ziehen und keiner auf
eigene Faust behauptet, es gäbe doch Wasser, man müsse es nur fließen
lassen. Ein solcher gehört auf der Stelle ertränkt. Doch halt, so
billig kommt keiner davon. Besser, er klemmt, trocken gesprochen,
zwischen Baum und Borke, ein richtiger Schädling: erkannt, verbannt!
Man mobilisiert Menschen durch Enteignung, das freut die Enteigner, die weniger mobil sind als sie die Welt glauben lassen, schließlich sind sie es, auf die all das Eigentum übertragen werden muss. »Der beweglichste Mensch ist der beste« – das zu dekretieren fällt nicht schwer, es zu leben schon eher, vor allem dem, der dadurch gezwungen wird, unter lauter besten Menschen zu leben. Wer auf Besitz verzichtet, kann nicht zu den Besten zählen, er ist geistig immobil, das wirkt sich gegen ihn aus. Besser verzichtet, wer nach Besitz strebt, Streben kann nicht schaden, es steigert die Mobilität gelegentlich bis in Bereiche, in die selbst die Gesundheit nicht nachkommt … Streben ist Selbstgenuss pur, insofern ist mehr Genuss nicht vonnöten, doch auch er besitzt eine mobile Seite und begleitet den mobilen Menschen auf seinen Exkursionen wie das Eichhörchen den Waldgänger: geortet – verschwunden. Währenddessen schreitet, dem technologischen Wandel sei Dank, die Enteignung stetig voran, sie macht auch vor der Eignung nicht halt und dekretiert, dass sich, relativ und aufs Ganze gesehen, in den Ländern des Reichtums immer weniger Menschen für immer mehr eignen, während immer mehr Menschen sich mit immer geringeren Eignungschancen zufrieden geben. Wozu sollte ich mich eignen? – Das ist keine Klage Bedauernswerter, die ihr mangelndes Selbstbewusstsein vom Staat alimentieren lassen, sondern die stolze Selbsteinschätzung von Menschen, die sämtliche Ausbildungen durchlaufen haben und sich nun fragen, wie sie den Rest ihres Lebens hinter sich bringen sollen. Wo nur Eigentum zählt, wiegt die Enteignung doppelt schwer, weil mit jedem Stück entgangenen Eigentums zugleich ein Stück Eignung schwindet, bis alles dahin ist, ohne dass einer sagen könnte wohin. »Wieviel Mensch braucht der Mensch?« Dahinter steht die Auffassung, dass jeder Mensch eigen ist und daher nur begrenzt einsatzfähig. Ein Satz zuviel und er landet im Gebüsch. Wird er dort Eigner? Oder nur eigener?
Im Inneren des entfürchteten Universum braut sich etwas zusammen.
Weit entfernt davon, sich zentrifugal zu entfernen, lockert es die
Distanzen, schraubt die Birnen aus, deren kaltes, hartes Licht
seinen Platz als Platzanweiser beansprucht, fegt als Sturm über die
Gefilde des Tausches und stellt den Ramschtisch in die Mitte des
entkorkten Gemüts. Da steht er, ein wenig schwankend, weil
überladen, zum unmittelbaren Genuss des Heterogenen auffordernd,
zum verzehrenden Blick. Oder zum verheerenden? Wer will das wissen.
Wer sich fürchtet, geht über derlei Unterscheidungen im
Schweinsgalopp weg. Und auch das ist nur eine Metapher. Die
Zukunftssorge, so hört man, nimmt die Zukunft hinweg, in die hinein
sie sich sorgt. Diese Zukunft wird niemals stattfinden, während sie
unaufhaltsam auf den sich Fürchtenden zurast. So bleibt nichts als
sich zu entfürchten. Wo
lernt man das? An welcher Quelle? Am Quell der Weisheit, das ist
doch selbstverständlich. Das Wort allein weist es aus. Im Weisen
herrscht Ruhe. Nicht jene Friedhofsruhe nach dem Sturm, den der
Fürchtende fürchtet. Die Ruhe des Entfürchteten versteht sich nicht
von selbst, sie versteht sich nicht von gestern oder morgen, sie
versteht sich von... Heraus! Heraus mit dem Wort! Es muss heraus,
will einer nicht daran ersticken. Das Wort ist einfach, es knirscht
zwischen den Zähnen, es ist nicht zu knacken, es ist einsilbig,
soviel wird verraten. Ist das viel? Wer sollte das wissen? Unsinn,
hört man da sagen, das ist doch Unsinn. Nun, welcher Unsinn kommt
einsilbig aus – keiner! Im Unsinn steckt ein Winkel, ein
gewinkelter Sinn, der den Anschluss sucht und das Fürchten lehrt,
um der Sorge willen. Sorge dich nicht! Das ist leicht gesagt und
überdies töricht. Tor, auch so ein Wort, das den Einsilbigen plagt
und nicht zur Ruhe gelangen lässt. Er spuckt es aus und verlässt
die Walstatt, wer weiß, zu früh.
Geschwisterliche Nähe gilt als Glück, dabei wird sie leicht zur Falle. Man kann die missglückte Geschwisterbeziehung als mimetische Erstarrung bezeichnen, bei der die Nachahmung und -äffung des jeweils anderen nicht aus dem Willen zum Ähnlichsein, sondern aus dem verzweifelten Verlangen hervorgeht, anders zu sein und dadurch den anderen auf Distanz zu halten – ein Stellungskampf der Posen und Possen, die allesamt auf Krampf hinauslaufen, wobei letzterer nicht die physische, sondern die soziale Muskulatur befällt: ein feiner, in der Realität nicht immer trennscharf durchgehaltener Unterschied. Dass vieles, was zwischen Brüdern (und Schwestern) geschieht, ›Krampf‹ ist, merkt auch das dümmste Opfer familiärer Verhältnisse. Doch glauben die meisten, er lasse sich dadurch lösen, dass man das alte Intimverhältnis erneuert. ›Es muss doch möglich sein‹: so lautet die Standardformel der untereinander Zerfallenen. Die Möglichkeits-Obsession schleudert sie in endlosen Trommeldrehungen gegeneinander. Just das eine Wort, das alles lösen soll, gibt das andere und erweist sich als pures Beziehungsgift. – »Das soll ich gesagt haben? Und wenn schon: so ganz gewiss nicht. Welch ein Irrsinn.« Wieso Irrsinn? Dass ein Sinn sich auf Abwege begibt, ist sein gutes Recht, es sollte ihm kein Vorwurf daraus erwachsen. Verhältnisse, in denen der Irrsinn herrscht, lassen sich schwer reparieren, denn sie sind der Irrtum. Gelitten wird an der Nähe, die sich als verlorene maskiert. Da hilft nur Entschwisterung, was immer daraus entsteht. »Du meine Schwester? Das müsste ich wissen. Und wenn schon – wer bist du wirklich? Brauche ich diesen Umgang? Bereichert er mich? Schwächt er mich? Treibt er mich in den Wahnsinn? Will ich ihn – den Wahnsinn? Warum? Was führt er mir zu? Wovon hält er mich ab? Was verliere ich, wenn ich dich verliere? Meine Erinnerungen? Aber nicht doch. Du bist es ja, die sie bestreitet. Dich, die ich meine? Aber dich habe ich verloren, jedes deiner Worte bestätigt es. Also was? Nichts? Weniger als nichts? Was ist weniger als nichts? O – ich weiß es. Aber ich sage es nicht. Das bleibt mein Geheimnis. Daran sollst du nicht rühren.«
Die großen Enttäuschungen beulen das Leben, die kleinen das Sofakissen. Eine Enttäuschung kommt selten allein, es verlangt sie nach Gesellschaft, sie will, dass alles auf den Tisch kommt, was sich bisher darunter befand. Die größte Enttäuschung von allen betrifft natürlich das Leben selbst; deshalb kommt sie auf Raten und immer unverhofft. Im Grunde sind alle Enttäuschungen Brocken jener einen großen Enttäuschung, die das Leben bereitet, ja in gewisser Weise darstellt, nachdem selbst sein Danach als lebensdienlicher Bluff daherkommt. Man muss sich nur anhören, was Religionsvertreter über das Jenseits der anderen sagen, dann weiß man Bescheid. Dass Leben auf Täuschung beruht, ist unter Aufgeklärten ein alter Gemeinplatz, es kann jedoch sein, dass sie sich damit täuschen. Erst das Denken bringt die Täuschung hinein, und es täuscht so lange, bis es sich zu Ende gebracht hat. Da aber des bloßen Denkens kein Ende ist, muss es im Einzelnen irgendwann an sich selbst ermüden, das heißt die kurzen Wege bevorzugen und die sind nun einmal mit Enttäuschungen gepflastert. »Bringt nichts!« murmelt der emeritierte Physiker, der sein Lebenswerk durch neuere Forschungen in Gefahr sieht, und gesteht damit indirekt, es nicht gebracht zu haben, jedenfalls angesichts der großen Frage, die alle Forschung antreibt. »Bringt nichts!« dröhnt der Unternehmer auf dem Altenteil, wenn der Stolz auf die Erbin verrauscht ist und schwere Zeiten sich ankündigen. Er hat sich getäuscht und nun ist die neue Täuschung da. Sie ist bloß nicht mehr die seinige. So warten alle auf den kurzen Klick der finalen Enttäuschung, umhegt von der Medizin, die ihre exorbitanten Künste auffährt, um am Ende – zu enttäuschen. Nur der Staat, der sie alle enttäuscht, besteht als Vexierbild fort, und jeder der behauptet, von ihm nichts zu erwarten, lügt.
Ein Neologismus, der es in sich hat. Wenn es Verwahrlosung gibt, dann muss es auch Entwahrlosung geben. Viele den Menschen gemeinsame Güter erweisen sich, näher betrachtet, als nicht gut verwahrt oder, auch das gibt Sinn, als zu gut, als habe sie jemand mit Vorsatz eingewickelt und weggeschlossen – das betrifft vor allem solche, die prinzipiell allgemein zugänglich sein sollten, z.B. Werte, aber auch elementare Einsichten, darunter einige, welche die Funktionsweise von Staaten betreffen, deren Führungspersonal alle paar Jahre zur Wahl steht: letztere sollten unbedingt vor jeder Wahl bekanntgemacht und in den Köpfen der Wähler nach Kräften gehegt und gepflegt werden. Was die Werte angeht, sollte man sie nicht zu abstrakt sehen, sondern auf den Mix aus Überzeugungen, Hochmut, Abneigung, Hass, Verachtung, Ängstlichkeit, blindem Vertrauen und Skrupulosität achten, der sie zu begleiten und betten pflegt. Auch Werte können verwahrlosen, wenn man sie nicht an sich, sondern in ihrem Gruppendasein unter die Lupe nimmt. Ein gewisser Grad an Verwahrlosung ist unausweichlich und sogar wünschenswert, sobald es um Einsichten und Werthaltungen geht, deren Verbreitung jedem Demokraten angelegen sein muss, denn nichts ist flüchtiger als die Reinheit einer Idee, die ihre Runde durch die Köpfe beginnt. Jede Öffentlichkeit unterhält, was meist geflissentlich übersehen wird, neben ihren offiziellen Kommunikationsmitteln auch eine stille Post, die Informationen nach Kriterien wie Schwerhörigkeit, Dickfelligkeit, Schwerfälligkeit, Unaufmerksamkeit, freie/unfreie Assoziation, Denunziationsbereitschaft, Autoritätshörigkeit, Feigheit, mangelnde Merk- und Sprachfähigkeit, vorsätzliches und mechanisches Missverstehen, Kosten-Nutzen aufbereitet und dafür sorgt, dass fast alles, was ›am Ende‹ draußen bei den Menschen ankommt, sich in einem mehr oder weniger heillosen Zustand befindet, angesichts dessen kluge Leute die Hände über dem Kopf zusammenschlagen mögen, was aber auch nicht weiter hilft. ›Entwahrlosung‹ ist die Kunst oder geduldig geübte Fähigkeit, in öffentlicher und privater Rede die Fäden zu entwirren, das panisch Zusammen- oder Auseinandergedachte in eine rational und human vertretbare Ordnung und Relation zu bringen, der Bosheit, Bösartigkeit und dem interessegesteuerten Willen zur Unwahrheit entgegenzutreten, wo immer sie sich der Gedanken anderer zu bemächtigen anschicken, die vergessenen oder versteckten oder verschwiegenen oder tabuisierten Seiten einer Angelegenheit von allgemeinem Belang ins kollektive Bewusstsein zurückzuführen und generell der Verwechslung von Wahr- und Wahn-Nehmung die gesellschaftliche Spitze zu nehmen. Das klingt, als werde sie allzeit geübt, ja, als liege hier eine von jedermanns Haupttätigkeiten, doch das Gegenteil ist der Fall. Nichts ist schwerer an seinen Platz zurückzustellen als eine entglittene Wahrheit, deren Posten von Stellvertretern blockiert wird, die äußerlich aus Pappe gefertigt scheinen, aber inwendig die Härte von Stahl mit der Unnachgiebigkeit von Industriekeramik vereinen.
Man kann es mit dem Gedächtnis leicht übertreiben. In dieser Hinsicht ist die Alzheimer-Erkrankung eine Erkrankung der ganzen Gesellschaft, so wie einst das ganze Haus am Kapitalismus erkrankte und verschied. Die künstliche Bevorratung der Erinnerungen erzeugt Visionäre des leeren Gedächtnisses, die sich laut rufend in den Spalten der Jahrtausende verirren und nur durch engen Umgang mit dem geschulten Pflegepersonal der Informationsmedien so etwas wie eine späte Normalität erfahren. Wer immer in früheren Jahren oder Jahrzehnten ihren Weg oder auch nur ihre Gedankenbahn kreuzte, sollte sich von ihnen fernhalten oder äußerst warm anziehen. Der Eishauch, der von ihnen ausgeht, wirkt absolut tödlich. Da sie nichts zu sagen haben, kommen ihnen die Tränen, sobald sie den Mund aufmachen, und niemand macht ihn ihnen zu. Diese aufgeklappten, mahlenden Münder sind ein Symptom, aber für was? Wie immer haben die klinisch Kranken das Nachsehen: das Aufregende an ihnen ist, dass sie für etwas stehen, von dem sie nichts wissen können und, könnten sie es, nichts wissen wollten. Und selbst damit sind sie ein Zeichen.
Das Ende einer Vorherrschaft ist gekommen, wenn es zwar Kandidaten für eine Nachfolge, aber keine Nachfolge gibt. Mancher Anwärter lauert ewig darauf, das Amt anzutreten, das sich ihm akribisch verweigert. Die Auguren des Heute würden ihn gern installieren, aber etwas passt nicht: dieses nicht, jenes nicht, einmal, zweimal, immer wieder, sooft der Versuch auch gewagt wird. Woran es liegt? An wechselnden Gründen, also an nichts Bestimmtem, also an dem, was sich nicht ändern lässt. So verändern sie einmal dies, einmal das, und vertun damit ihre Zeit. Es kommt auch vor, dass der Kandidat klüger ist als seine Parteigänger, es passt ihm nicht, so beim Wort genommen zu werden, und er entzieht sich. Wohin? Das bleibt sein Geheimnis.
Lange Zeit haben wir geglaubt, ›erbärmlich‹ komme von Erbarmen. Doch das Deutsche kennt keinen Spaß und so müssen wir am Ende zur Kenntnis nehmen: nein, es kommt von ›erb-ärmlich‹ und gibt einen unmissverständlichen Hinweis auf die ererbte Ärmlichkeit, mir der man, politisch wie privat, Abweichlern begegnet, die ›einen eigenen Kopf haben‹ und wie dergleichen Phrasen lauten mögen. Armut im Geiste kann auf eine lange, ihr nur selten geläufige Tradition bauen. Wäre es anders, sie müsste vor sich selbst davonlaufen. Nichts zum Beispiel fällt der hiesigen Erbärmlichkeit leichter, als einen Gast aus Israel, der vom Katheder herab einer bequemen Ideologie die Gefolgschaft verweigert, als ›Antisemiten‹ zu denunzieren und ihn dorthin zurückzuschicken, wo er hergekommen ist – ohne Gründe zu geben, einfach so, aus dem Übermut des Gerechten, der weiß, dass für die gute Sache am Ende sich jede Gemeinheit rechnet: ein Beispiel von vielen, deren Aufzählung rasch an den Nerven der Wohlmeinenden zerrt. Das alles bereitet keinerlei Schwierigkeit, es gilt als erlaubt, sogar als geboten. Der Erbarmungslosigkeit ist schon damit gedient, dass sie sich ihre Vorgeschichte ›nicht anziehen‹ will. Nein, sie entstammt nicht dem Heute, sie ist nicht ›rein entsprungen‹, sie ist überhaupt nicht entsprungen, es sei denn dem Irrenhaus, sie ist überall Erbe, sie gedeiht auf eigenem Grund, sie streckt ihre Wurzeln tief in die Vergangenheit und saugt dort Nahrung, wo andere Pest und Verwesung wittern: sie ist antiliberal.
Wenn es wahr ist, dass keine Ware ganz Ding ist, sondern immer auch etwas anderes, ein Produkt, eine Verrechnungseinheit oder ein Fetisch zum Beispiel, dann ist es auch wahr, dass kein Ding ganz Ware sein kann, nichts als Ware und nur die Ware: was unter anderem besagt, dass Sediment gewordener Besitz nur oberflächlich in die Warenwelt überführt werden kann und seine Eigentümlichkeit sich beim Besitzerwechsel vermindert, er sie schlimmstenfalls verliert. Das war seit jeher das Argument aller Konservativen, doch ausgehebelt ist es deswegen nicht, es sei denn, man wäre gewillt, alles Konservierende und Konservierte der Vernichtung preiszugeben. Was für Dinge gilt, gilt auch für Strukturen: der Funktionalismus ist ohne Funktionsminderung nicht zu haben, zumindest in seiner dynamischen Gestalt, die an die Stelle des dysfunktional Gewordenen das jeweils ›Funktionalere‹ setzen will. In der Welt der wirklichen und nicht nur formal gefassten Funktionen ist z. B. Geld Geld und nicht nur ein Zahlungsmittel oder ein intermittierendes Element: etwas mit einer Geschichte, einer Ausdehnung, mit Form- und Gestaltmerkmalen unterschiedlichster Art, mit physischen und psychischen Tiefenwirkungen, mit Glaubensartikeln, ein wirklicher Überzug der wirklichen Erde. So etwas wirft man nicht weg, weil die digitalen Netze es, ökonomisch-theoretisch betrachtet, überflüssig machen oder machen könnten, falls ein entschiedener Wille so etwas ins Werk setzen sollte. Man wirft es ebensowenig weg wie einen Besitz, den man zwar erworben hat, aber, unter individuellen Glücks-Gesichtspunkten, nur zu geringen Teilen nutzen kann, während er sich in seinen Hauptmomenten als harter Stoff erweist. Besitz bindet, er schafft Licht, Wärme, Sinn, – eine Erbschaft auf der Suche nach ihren Erben nicht minder. Selbst im Untergang und Verfall setzt sie Kräfte frei, die sich an ihrem Ort realisieren, und sollte sich partout kein Ort finden, so gilt die in die Luft gezeichnete Signatur.
»Sie befinden sich praktisch auf
Erbsenzählergebiet«, erläuterte der Landvermesser im blauen
Kittel, »hier haben wir alles unter Kontrolle.« »Wenn Sie alles
unter Kontrolle haben, warum kontrollieren Sie dann so streng?« »Wir
können es uns nicht leisten, dass das Land außer Kontrolle gerät.«
»Wohin gerät das Land, wenn es außer Kontrolle gerät?« »An
seine Grenzen. Warum wissen Sie das nicht?« »Dann wäre das Land ja
leer und Sie hätten alles unter Kontrolle. Bis auf die Grenzen,
nicht wahr?« »Ich weiß nicht, was Sie damit meinen, aber ich
empfinde ihre Aussage als … ich will nicht sagen grenzwertig
– aber mein Gefühl geht in diese Richtung.« »Sie fühlen,
was ich sage?« »Ich sagte, ich empfinde Ihre Aussage als
grenzwertig.« »Empfinden Sie noch mehr?« »Hören Sie auf. Sie
gehen zu weit.« »Das war es, was ich meinte. Der einzige Wert, den
Sie kennen, ist der Grenzwert.« »Das ist richtig.« »Kommt drauf
an.« »Jeder Wert setzt Grenzen. Das ist doch selbstverständlich.«
»Ihr Land muss besonders wertvoll sein.« »Wie kommen Sie darauf?«
»Weil Sie überall Grenzen ziehen.« »Das ist nicht wahr.« »Aber
eine Tatsache.« »Lügner.« »Aber da ist eine Schwierigkeit.«
»Die wäre?« »Je mehr Werte Sie produzieren, desto mehr müssen
Sie kontrollieren. Je mehr Sie kontrollieren, desto mehr Verstöße
registrieren Sie. Je mehr Verstöße Sie registrieren, desto größer
wird das Problem und desto mehr müssen Sie kontrollieren. Je mehr
Sie kontrollieren, desto gleichgültiger werden den Leuten Ihre
Kontrollen. Je gleichgültiger die Kontrollen werden, desto mehr
entgleitet Ihnen das Land und desto wertloser wird es für Sie.«
»Verlassen Sie mein Land!« »Ist es denn das Ihre?«
Sie sind Getriebene des Planeten und wissen es nicht, sie halten
ihn für ein zu klein geratenes Geschenk und wünschen sich zum
nächsten Festtag ein größeres. »Behandelt es gut, man weiß nie, was
danach kommt.« Solch mütterlicher Rede sind sie hilflos
ausgeliefert, zur rechten Stunde kommen ihnen die Tränen.
›Erdbewohner‹ ist ein Wort wie ›Rittmeister‹; verständlich durch
langen Gebrauch, verrätselt es sich, sobald einer hinhört, als höre
er es zum ersten Mal.
Humanisten haben sie einst verhöhnt und von leeren Tüten geredet,
die als Stiftung des Teufels den Mützen gleichen, die Seher im
Gefolge des Satans bemerkt haben wollen. In diesen Tüten stecken,
nach der Organisatione
della Armada Diaboli, tatsächlich die Häupter
seiner ersten Familie (er besitzt deren drei, nach der
Verstümmelung der Dreifaltigkeit): der Ankläger und Sykophanten,
das sind die Lieblinge der Könige und Demokraten, der Pragmatiker
und Rationalisten. Sie bilden die Fundamente der Wissenschaften und
des Bankwesens.
Immer wieder seit unendlicher Zeit, ruckweise, aber gelegentlich
auch in einem Zuge aufs Haupt gesetzt, ›erfüllen‹ sie gemäß einem
rätselhaften Kommando das exercitium antispirituale, denn ihre
Waffen sind (gleich denen aller ›Spitzbuben‹ – sic! – dieser Welt)
ihre flinken Köpfe, die sie stets aufs Neue bedecken, um wie Büßer
zu wirken.
So war es auch ein französischer Jesuit und Cornet seines Ordens,
der das Tütenkleben als Strafe in den Gefängnissen Frankreichs
eingeführt hat (das Cornetieren). Um die Gefangenen wie einst
Diogenes vor den Statuen der Götter im ›Nichtsbekommen‹ zu üben,
mussten sie sich jede hundertste Tüte ans Kinn kleben, um so
erniedrigt und beleidigt ihre Suppe zu löffeln. Napoleon schaffte
zwar diese Strafe ab, ersetzte sie aber durch das Kleben von
Edikten in Form von Pulverkartuschen, von denen sie jede zehnte als
Papilotte an bestimmte Haarsalons in Paris abliefern mussten. Die
Rue Papillote an der Place de la Pulvre legt von dieser Auflage
immer noch Zeugnis ab. - PM
Wer das Messer im Sack trägt, braucht für den Erhalt nicht zu
kämpfen. Welchen Erhalt? Heilige Einfalt! Ein Erhalt lässt sich nun
einmal nicht zerlegen, nur quittieren. Die Quittung fügt dem Erhalt
nichts hinzu außer seiner Ordnungsgemäßheit. Der Geber sichert sich
ab und der Abnehmer ist der Dumme, denn ihm obliegt hinfort die
Sorge um den Erhalt. Wir wissen nicht, ob er nächtens wachliegt,
weil der Erhalt ihn drückt. Was wir wissen ist, dass die Sorge ihn
zu befremdlichen Handlungen treibt. Seine Versuche, das Erhaltene
einzuhegen, sind rasch Legion. Gut dokumentiert ist die Geschichte
der Zäune, deren er sich bedient und von denen jedes Modell durch
das nachfolgende entwertet wird. Ein entwerteter Zaun ist zu gar
nichts nütze, etwa wie ein beiseite geworfenes Verkehrsschild oder
ein Wachhund, der sich vergnügt. Er muss aber entsorgt werden,
dafür ist das eingezäunte Gelände gut. So stapeln sich die Leichen
entsorgter Zäune, Zeichen einer immerfort verdoppelten Sorge, auf
dem ach so erhaltenswerten Grundstück. Wie bald verstellen sie den
Anblick des Himmels, der uns sonst so rührte, weil er der
Sorglosigkeit eine zugegebenermaßen flüchtige Bleibe verschaffte.
Schon zieht sie klagend über die Erde, nächtens hören wir ihr
Geheul.
Da ist eine denkerische Aufgabe, die hält dich fest. Und da ist das
Erinnern, aufgegeben auch das, eine Aufgabe, meinetwegen, aber sie
hält nicht fest, sie lässt los, sie zwingt dich, loszulassen, nein,
das ist falsch, sie zwingt nicht, sie wartet. Sie wartet darauf,
dass du loslässt, Stückchen für Stückchen, Bröckchen für Bröckchen,
in die Netze hinein, ans Davonschwimmen ist nicht zu denken. Aber
in den Netzen herrscht keine Geborgenheit, ihre drangvolle
Verdichtung schafft keinen Raum. In ihnen herrscht Enge, sonst
nichts. Auch das ist zu viel gesagt, es herrscht der Nicht-Raum.
Der Nicht-Raum kennt keine Fläche, er kennt kein Außen, das in ihm
läge, er kennt nur das Außen, das unerreichbar bleibt. Dennoch
treiben die Netze, das Außen umspült sie, fast hätte ich gesagt,
von Ewigkeit zu Ewigkeit, aber das wäre nur eine Floskel. Sie
treiben dahin, da ist keiner, der sie birgt. Aber auch das ist ein
Wort, das den Widerspruch aufruft. Da steht er, eine Ampel auf
einsamer Strecke, sie könnte sich den Wechsel sparen und alle
Farben auf einmal anzeigen: Grün, Rot, Gelb, das wäre ein schöner
Zusammenprall, wenn mal jemand käme.
Sie wirkt auf verschiedenen Ebenen. Man kann befreit werden, was
der Erlösung nicht gleich kommt. Man kann von Fesseln, vom Schmerz,
von der Bosheit seiner Feinde und Feindinnen befreit werden, aber
erlöst werden ist etwas anderes. Erlösung ist nicht zu erleben,
denn sie ist eine Vorstufe des Ersterbens. Insofern ist der Sinn
dieses Wortes unter uns peinlich Unsterblichen aus der Mode
gekommen. Man hat die Stufen vergessen, die in die Leere führen, in
der die Erlösung, von einem jungen Drachen bewacht, dem Leben die
Stirne bietet. Denn mitten in diesem Licht gedeiht die blühende
Erlösung, die mit den Äpfeln der Hesperiden an ihren sechs
Luminarien jede gewerbsmäßige Schönheit der Kunst in den Schatten stellt. Wehe dem
Haupt, das die Zahlung des Lebens an dieser Stelle verweigert. Das
Licht erlischt und der Besucher, der es vielleicht bis zum jungen
Drachen gebracht haben könnte, steht nun hinter dem Zelt eines
Marktplatzes auf verlorenem Posten. Vergebens sucht er ein Taxi,
denn er haust jetzt für lange Zeit in der dritten Natur und sein
Körper schwebt mühelos durch eine Gegend, die ihm das Zeitgefühl
nicht zum Erlöschen gebracht hat, ihn aber jahrhundertelang
festhalten könnte, obwohl er sie immer aufs Neue zu kennen glaubt.
- PM
Die Erlösung ist zweigeteilt, sie wird gewährt, aber ebenso auch
erworben. »Oh, göttliche Teilung von Gnade und Wunsch« heißt es in
einem früher sogar von Freibündlern und in Studentenverbindungen
sehr gerne gesungenen Kanon der Serapionsbrüder, der leider den
stark verkürzten Messen zum Opfer gefallen ist, denn er war, der
Erlösung entsprechend, von fast unendlicher Länge. Männer und
Frauen, die sich erlösungsbedürftig wähnten, schlossen sich in noch
früheren Zeiten zu riesigen Chören zusammen und brausend stieg der
Wunsch in den Himmel, jedenfalls wenn die Zeit es erlaubte. In
Reims sang man einmal drei Monate lang während der Erntezeit ohne
Unterlass, und wenn nicht die Pest ausgebrochen wäre, sänge man
hier vielleicht noch immer. Aber kurz darauf drangen die Engländer
ins Land und von Johanna von Orleans hörte man damals noch nichts.
Man hätte Gründe gehabt, um Erlösung zu singen, doch die Zeit ließ
es nicht zu. Die Kollektive der Christenheit verbargen sich überall
und von gemeinsamen Chören im Schrei nach Erlösung war nichts zu
hören. Später kamen andere Völkerschaften und nach und nach auch
wieder die Pest, bis hin zu den Hugenottenkriegen und der Bluttat
der Bartholomäusnacht.
Ohne Gewährung durch höhere Mächte ist allerdings auch der höchste
Eifer sinnlos, und auf gut Glück trauen sich selbst unter
Inbrünstigen nur die wenigsten, in Reihenhäusern oder
Plattenbausiedlungen laut zu singen. Überhaupt ist der private
Gesang in Haus und Küche mit dem Erlöschen der Erlösungschöre
ebenfalls untergegangen.
Es gibt nun aber ohne den Willen, erlöst zu werden, keine Erlösung,
denn die Sache hat hier unfassliche Wurzeln. Unendlich vielen,
allzu vielen, bleibt der Erlösungswunsch stets nur ein Wahn,
eigentlich ohne den erhofften Ausgang. Zu viel muss geschehen, bis
Gewährung und Wille eins miteinander werden, und Erlösungswille ins
Blaue hinein ist oft nur ein kurzer Wunsch, immer erneut von Sünden
und Zweifeln unterbrochen. Mit ihnen im Gepäck kann niemand
Erlösung erwarten. Aber dieser Zustand mag ja noch angehen, er ist
wenigstens einleuchtend. Es gibt aber leider auch Fälle, in
welchen, dem Anschein nach, jedenfalls nach menschlichem Ermessen,
alles zusammenpasst und der berechtigte Schrei nach Erlösung
grausam, in unerforschlichen Ratschlüssen, niemals gewährt wird.
Das allerdings bezeugt dann, nicht ungeschickt für die unseligen
Materialisten, das Fortbestehen einer alten himmlischen Zerrüttung
im Vermögen über das menschliche Schicksal.
Kaiser, Könige, Päpste und Heilige haben vergebens Erlösung
herbeigefleht, hingegen empfing nach Pascal ein am Parktor
bettelnder Blinder, nichts weiter als ein namenloser Mann in
Lumpen, durch die Kutschenräder des nächstbesten Höflings den
schmerzvollsten Stoß gegen die Brust und zugleich eine grausame
Erlösung. Das wäre natürlich im Sinne des Christentums noch gerecht
und verständlich, aber der rohe Kutscher erlangte seine Erlösung,
ohne sie überhaupt je wie der Bettler erfleht zu haben, noch am
Abend durch den blitzschnellen und völlig schmerzfreien Huftritt
eines verhexten Rosses, wie Hans Baldung Grien es in Kupfer so klar
und deutlich gestochen hat.*
Man bleibt eben unbehext viel ahnungsloser als jenes Pferd, das
zwar voll glühender Bosheit, aber doch im Dienst der Erlösung
rückwärts blickt. - PM
* Der behexte Stallknecht,
1544.
Erneuerung geht nicht ohne Abbruch vonstatten; große Freundschaften verwandeln sich unter der Hand in Zahnbelag, dessen Entfernung beim nächsten Arztbesuch ansteht. Ein Fall für die Gehirnforschung! Aber auch andere Disziplinen zeigen Ansätze des Helfersyndroms, sobald man sie darauf anspricht. – Tu’s nicht! Das Problem ist die Psyche. Immer wieder: die Psyche. Viele sehen in ihr (oder dem Postulat, das ihr ins wissenschaftliche Dasein verhilft) die Lösung, sie leben gut von ihr und können nicht von ihr lassen. ›Wie funktioniert das?‹ Gute Frage, gut, dass einer sie stellt. Was wäre die Psyche ohne ihre Analyse? Ein Problem. Und siehe da: sie ist ein Problem. Die Psyche ist das Problem der Psyche. Daran ist nichts geheimnisvoll. Der Mensch ist das Wesen, das seine Psyche vorschiebt, wenn es ihm schlecht geht. Ein glücklicher Mensch braucht keine Psyche. Erst die Zumutung, die er für seine Mitmenschen darstellt, erzeugt sie reihenweise. Psyche ist, was immer die Leute sich von ihr erzählen, unglückliches Bewusstsein, Leiden an einer unauflöslichen Spannung, sprich: Diskrepanz. Man kann auch sagen (und damit kommen wir der Sache allmählich näher), sie ist verhülltes Gottesbewusstsein: ein Bündel Probleme, das mit dem Streben der Seele zu Gott ins Leben tritt, sobald man die Tatsache dieses Strebens leugnet. Warum...? Manches geht, weil es geht, weil es den theoretischen Kropf füllt, einfacher gesagt, weil es das Bedürfnis nach Anschauung bei Leuten stillt, denen Theorie ein Buch mit sieben Siegeln darstellt. Deshalb kursieren auch unter den Liebhabern der Psyche die Anleitungen zum Selberbauen. Doch sieht man nur selten, dass wirklich so ein Drachen sich in die Lüfte erhebt. Was die Lust am Weiterbasteln nicht mindert: der unbeirrte Glaube an die eigenen Fertigkeiten (ein Irrglaube wie irgendeiner) erzeugt den Aushilfsglauben an Reparatur-Instanzen, die pünktlich bereitstehen, falls etwas nicht klappt. Erst wenn der approbierte Mechaniker den Daumen senkt, weiß gewöhnlich der Letzte: hier ist nichts mehr zu machen... ein Fall für den Schrottplatz. Warum? Es liegt am Glauben. Ein rechter Glaube kann, wenn er zusammenfällt, Freundschaft in Hass verwandeln, Nähe in Gegnerschaft, gemeinsame Überzeugung in erbitterte Frontstellung. Eine Freundschaft, der kein gemeinsamer Glaube zu Grunde liegt, verwandelt sich früher oder später in einen Straßenköter, den man, sobald keiner hinschaut, mit Steinwürfen verjagt: ein lästiges Wesen, das nicht zu einem passt, und zwar gerade dort, wo es einmal gepasst hat. Eine solche Freundschaft wird nicht gekündigt, sie wird gekappt. Soll sie doch schwimmen, wohin sie will, wie sie will, sofern sie will. Geht sie unter: auch gut, schade drum, Schwamm drüber.
Es gibt Regionen der Ernsthaftigkeit, in die man nur im Scherz
vorstößt – nicht zum Scherz, wie die Sprache abschließend anmerkt,
sofern niemand ihr widerspricht. Der stumme Ernst ist eine Figur,
die wenig zu denken gibt, da bereits alles gesagt ist. Man reicht
sich die Hand, eine angemessene Geste, die, wie alles, was dem
Entgleiten entgegen geht, es im Hinauszögern auslöst. Alle stürzen
sich in die Zukunft hinein, als sei sie aus einem schmiegsamen
Element, das überdies trägt; angesichts dieses Wahnsinns gibt der
Ernst den, der nicht mitkommt, eine Figur aus dem ewigen Gestern,
das sich ebenso erneuert wie alles, was ansteht. Man hält ihn für
bekloppt und alle lieben
ihn, er sich vermutlich auch. Man macht Scherze über ihn, das ist
wahr, und mancher amüsiert sich auf seine Kosten, aber das gilt als
ungehörig und verrät einen Charakter, mit dem alle können, unter
Vorbehalt, versteht sich. E la
nave va.
Die Erregbarkeit der Deutschen, dieses im Grunde phlegmatischen und, wie vielfach behauptet wurde, gutmütigen Volkes ist jüngeren Datums, soweit es um weltliche Dinge geht; in Fragen der Religion waren sie früh ein Verein von verzückten Dreinschlägern. Bei der erwähnten Erregbarkeit handelt sich um eine Art Rheumatismus, den sie sich zuerst in den Napoleonischen Kriegszügen zugezogen zu haben scheinen, einen Schmerz, der nicht weggeht und nach Überbehütung und Ausbruch zugleich verlangt. Die Quadratur des Kreises heißt Effizienz, nicht um eines Zieles oder einer Sache willen, sondern als Lebensfigur, die zwischen alle anderen tritt und sie scheucht. Im Grunde geht es darum, sich an die Spitze des Zuges vorzuarbeiten, aus dem Gefühl heraus, sonst rettungslos unter die Räder zu kommen. Was sie ›historische Erfahrung‹ nennen, ist der diffuse Schmerz, der sie zwingt, nicht stillezuhalten, sondern ›die Verhältnisse‹ zu ihren Gunsten zu wenden, als ob es genügte, die Kehrseite aufzuschlagen, um Entlastung zu erfahren. ›Entlastung‹: dieses Wort sollte man rot anstreichen, wo immer es in programmatischer Absicht begegnet – es sagt viel, wenn nicht alles über ein Lebensgefühl aus, das unter seiner eigenen Bürde keucht.
Alle Welt interessiert sich für die Lüge; die Wahrheit, so wahr sie auch sein mag, ist ohne Belang. Man geht über sie weg, als verstünde sie sich von selbst. »Das mag schon so sein«, murmelt dein Gesprächsfreund, der Wahrheitsfanatiker, dann stürzt er sich ins Getümmel. »Alles Lüge!« So schreit er, das Gesicht gerötet, und klopft auf den Tisch. »Reg dich nicht auf!«, ruft seine Gattin. Sie fürchtet, dass er sich übernimmt. In Wahrheit liebt auch sie die Emphase. Erkläre den beiden, wie es ist, und sie verstummen. So ein schöner Tag! Jetzt ist er ruiniert. Doch nicht für lange – wie schnell so eine Wahrheit verdampft, man glaubt es kaum. Ein paar müde Sentenzen noch und der Sturm bricht los. »Eine dreiste Lüge!« kräht der Gesprächsfreund und glänzt vor Vergnügen. »Unglaublich.« Unglaublich, aber wahr: nicht die Lüge zählt, sondern die Dreistigkeit, mit der sie aufgetischt wird. Man soll nicht lügen, man soll dreist lügen. Ein zaghafter Lügner, das ist, als nähme einer es mit der Wahrheit nicht so genau. Wohin führt das? In jeder dreisten Lüge steckt ein Führungsanspruch, der will heraus. Die Erregung bindet den Menschen, wer führen will, muss erregen. Was lässt sich noch leichter erregen als Wahrheitsgefühl? Das Geschlecht. ›Und wenn er Recht hätte? Wenn er doch Recht hätte? Was dann? Alt sähe man aus. Hässlich sähe man aus. In jeder Lüge steckt eine Wahrheit, die mich besitzen will, mich ganz allein. Die anderen laufen dem Lügner nach, ich weiß, wo er Recht hat und finde: er ist mein Mann.‹ Er ist eine Frau? Na dann: Nichts wie hinterher!
Du befindest dich in einer sonderbaren Lage: fast wie der gläserne Mensch, aber doch anders, verstellter. Angeschossen von einer Seite, jedenfalls blutend, unfähig, dich zu halten, von der anderen Seite fixiert durch ein System aus Stützen, deren Möglichkeiten sich weitgehend darin erschöpfen, dass sie sich gegenseitig in der Lage halten, die dir zu nützen scheint, aber nur für den Augenblick. Du weißt (wie man diese Dinge weiß): sobald du dich anlehnst, fällt alles zusammen. Und doch wirst du gehalten, darüber besteht kein Zweifel. Nicht, dass du Halt fändest, du suchst ihn nicht einmal, schon diese Bewegung wäre gefährlich und führte vielleicht zum Kollaps. Aber die Erwartung: sie lässt sich nicht abstellen, du findest den Schalter nicht und, ehrlich gesagt, du bist keineswegs wild darauf, ihn zu finden. Eher erwartest du, dass die Dinge sich ändern. Diese Änderung, davon bist du überzeugt, kann nur von innen kommen, aus einer Ecke jener unbestimmten Region, in der du dich vermutest oder deinen Gott oder ein dir treu ergebenes Wesen, das vielleicht nicht dich meint, sondern etwas, das durch dich hindurch in die Wirklichkeit eintritt oder einsickert oder eingreift. Nein, Medizin wolltest du es nicht nennen. Die Vorstellung, einen Eingriff vorzunehmen, hat etwas hoffnungslos Übertriebenes, weder passt sie zu deiner Lage noch zur Wirklichkeit draußen. Ehrlich gesagt, diese Wirklichkeit besteht fast nur aus Eingriffen, auf jeder Narbe sitzt eine frische Wunde, Schläuche, wohin man blickt. Ein paar davon, soviel weißt du schon, warten auf dich. Lass sie warten, denkst du, solange meine Mission nicht erfüllt ist, werden sie mich schon meiden. Darin steckt natürlich der Fehler, denn was eine Mission ist, das bestimmt sich dort draußen. Du bist nur ausführendes Organ. Als solches wird man dich warten. Aber so ist es nicht, nein, so ist es nicht.
Die den Ethikschwund öffentlich beklagen, haben es leicht, denn sie
haben die Eisbären auf ihrer Seite. Die Eisbären sind für die
Ethik, die ihnen nur Vorteile bietet. Sie selbst besitzen keine,
also kann ihnen niemand vorwerfen, sie suchten nur den eigenen
Vorteil. Im Gegenteil: erst der Vorteil aller verschafft ihnen das
kalte Plätzchen, das sie fürs Überleben brauchen. Eisbären leben
von anderer Leute Ethik wie diese vom Tran der Wale. Kein Eisbär
hat je die Kälte vergessen, aus der seinesgleichen kommt. Man
könnte sagen, er schmilzt unter der glühenden Sonne der Arktis wie
ein Stück Erz im Hochofen der Stahlköche. Nur den stählernen Eisbär
wird es aller Voraussicht nach nicht geben. Die Evolution
verweigert ihm diesen letzten, alles entscheidenden Dienst und
schleudert ihn ins Dunkel der zoologischen Anstalten, wo er sich
wohl fühlt, aber manchmal ein Reißen verspürt, wenn er zwischen den
Besuchern die kleine Meerjungfrau sieht, die es ins Wasser zieht,
die aber tapfer dagegen angeht. Solche Tapferen kennt er, sie würde
er gern zerfleischen.
Nur unbedeutende Menschen verwechseln Nation und Ethnie, bedeutende machen die Gleichung auf, wenn sie ihnen in den Kram passt, und räumen sie aus dem Weg, sobald sie lästig wird. Warum gibt es sie überhaupt? Weil sie gebraucht wird, kein Zweifel, und zwar auf beiden Seiten. Für die unbedeutenden ist sie eine Sache der Ehre (also des Familiensinns), für die bedeutenden ein billiger Motivator, der Heißsporne generiert, und zwar am laufenden Band – man muss, so denken sie, nur die kruden Figuren aussortieren und laufen lassen, dann läuft alles Weitere wie geschmiert. Da die Gleichung stets positiv und negativ besetzt ist, fällt es leicht, über sie auch größere Massen zu steuern. Wer daraus partout schließen will, dass die Nation, um handlungsfähig zu sein, ihrer bedarf, der steht mit seinen Gedanken bald allein. Er hat etwas gesehen, was keiner sehen sollte, der nicht in den Zirkeln der Macht zu Hause ist, er steht im Verdacht, etwas auszuplaudern, was man besser verschweigt. Dabei hat es keine Gefahr: das wirkliche Geheimnis besteht darin, dass es niemanden außerhalb jener Zirkel interessiert. Warum das so ist?
Fühlen Sie sich nicht wohl? Haben Sie Kopfschmerzen, wenn Sie die Straße betreten? Fühlen Sie sich nass, beschmutzt, unwürdig, eine degoutante Erscheinung? Kommen Sie mit der Miete nicht zurecht? Haben Sie Sorgen? Handfeste Sorgen? Glauben Sie nicht an das Gute im Menschen? Wünschen Sie einen festen Halt? Wollen Sie vorankommen? Verachten Sie Kettenraucher? Brauchen Sie einen Stoß in die Rippen? Fürchten Sie Schicksalsschläge? Haben Sie Angst vor Gewalt? Macht es Ihnen nichts aus, Ihren Nachbarn zu beleidigen, solange Sie sich durch Recht und Gesetz geschützt fühlen? Operieren Sie gern aus dem Hinterhalt? Schlafen Sie oft? – Keine Bange, das ist kein Fragebogen, das ist ein Aufruf. Willkommen! Sie sind gewählt – ja, gewählt! –, Sie sind ein Kandidat, nein, Sie sind mehr, Sie sind aufgenommen ins Eurofugium, nur herein, hier schneit es nicht, hier können Sie Ihren Mantel ablegen und sich an einem Feuer wärmen, das andere für Sie entfacht haben, das Eurofeuer, das jeden erfasst, der sich mit ihm abgibt, und nicht nur zur Nachtzeit. Sie glauben mir nicht? Dann sehen Sie selbst: Sehen Sie, wie sie brennen und schmoren, die Euroskeptiker, hier rechts, diese lange Reihe, das wird sie Mores lehren. Und hier links, sehen Sie, der gegenteilige Effekt: ein Leuchten geht von diesen Menschen aus, das die Welt erhellt und ihre Seelen wärmt bis hinein in die Fingerspitzen. Der so geschäftig zwischen ihnen einher eilt, Küsschen links, Küsschen rechts, ist Juncker Valand, der fahle Gesell, hier hat er sein Auskommen gefunden und kann endlich beweisen: Etwas Besseres als den Tod findest du überall. Im Eurofugium gehen die Lichter nicht aus, es ist immer Tag- und Nachtzeit, eine Zeit für alle, Eurozeit, hier gehen die Uhren anders als anderswo, bleibt eine stehen, schubst die andre sie weiter. So geht das hier. Haben Sie Kinder? Im Eurofugium können Sie alles ablegen, auch die Sorge um Ihren Nachwuchs, das klingt doch praktisch, oder? Hier spielt die Zukunft, sie spielt wirklich, manche sagen, sie spielt Zukunft, aber das ist natürlich Wortklauberei. Leiden Sie unter Wortverlust? Im Eurofugium erhält jeder seine passende Sprache ausgehändigt, nur anwenden muss er sie selbst. Was sagen Sie dazu? Ich wüsste nicht, was praktischer wäre. Wollen Sie eine Kostprobe? Gehen Sie ins Internet und besuchen Sie uns da. Und jetzt: Schlafen Sie! Schlafen Sie, das gibt eine schöne Haut.
Wäre ich
Eurokrates, ich ließe es krachen, dass der Kontinent bis in die
Grundfesten erbebte. Ach was Grundfesten! Bis in die Haarspitzen
sollte erbeben, wer noch nicht weiß, was die Stunde geschlagen hat.
Erbleichen sollte die Gilde der Euro-Leugner, ihre Schreibfinger
verfaulen, ihre Stützstrümpfe abfallen, ihre Bandagen sich
verhärten bis zum Verhängnis. Eurokrates sein, das wär’s. Wer
über Europa herrscht, was kümmert es ihn, wer in
Europa herrscht? Ich aber, ich wollte nicht über Europa
herrschen, ich wollte nicht in Europa herrschen, ich wollte
Europa anherrschen,
ich wollte ihm beibringen, Europäer zu
machen, wie noch niemals Menschen gemacht wurden. Sie
schmunzeln? Oh, Sie verkennen mich. Ich will keine Europäer aus der
Retorte, ich will keinen Extra-Sex für Zeugungsbeflissene, was ich
will, ist Klarheit: Klarheit in den Köpfen und untenherum. Der
Europäer der Zukunft wird rechtdenkend oder er wird gar nicht sein.
Dieser Satz ist von mir und ich gebe ihn nicht aus der Hand. Auch die
Taube auf dem Dach kann ihn mir nicht entwinden. Was treibt sie
überhaupt dort? Herunter mit ihr! Oder fort! Da fliegt sie schon.
Scheiße. Eine Scheiße ist das. Nicht reiben, das ätzt sich ein.
Unter Rechtdenkenden will ich der erste sein, Number One. Ich
säße zwischen den Meinen, das heißt zwischen allen, die meinen,
was ich meine, und meinte dasselbe. Wir alle meinten dasselbe, alle
Tage unseres Lebens, immer dasselbe. Zum Beispiel hätten wir alle
dieselbe Vereinsbank und dasselbe Geschlecht, jeder seins und jeder
dasselbe, ganz so wie diese Eurostecker, die in jede Steckdose
passen. Da gäbe es viele Beispiele. Unendlich schön müsste das
sein. Nur bei der Sprache müssten wir nachlegen, diese dauernde
Übersetzerei macht einen ganz konfus. Ich, Eurokrates, spräche gern
gleichzeitig in allen Zungen des Kontinents, das gäbe zwar ein
Geplärr, aber digital ließe sich bestimmt was draus machen. Also
doch der Euro-Chip, ich wusste es gleich, nur die Begründung fiel
mir nicht ein.
Das strategische Genie Helmut Kohls zeigt sich unter anderem darin, dass er die deutsche Sozialdemokratie nachhaltig ans Kreuz des Euro genagelt hat: als erste staatstragende Partei Europas, die der Nation den Rücken kehrte, um sich dem Aufbau dessen zu widmen, was sie hartnäckig ›Europa‹ nennt (oder besser: genannt bekommen hat, denn dieses Europa ist und bleibt ein Zusammenschluss zu klein gewordener Volkswirtschaften, in dem die Weltkonzerne und ihre Ableger im politischen Showbusiness das Sagen haben), kann sie nicht anders als in jeder Krise mehr Euro verlangen, sprich: mehr Zusammenschluss, mehr Kompetenzübertragung, mehr Schuldengemeinschaft, weniger Souveränität und damit weniger Bürgerkontrolle und weniger Demokratie – ein Teufelskreis, dem gegenüber die wahren Verursacher der Misere, die für sie keine ist, mit gewichtiger Skeptiker-Miene zu Vorsicht und Zurückhaltung raten, um die entscheidenden Züge im Halbdämmerlicht einer sogenannten Notwendigkeit vorzunehmen, weil nun einmal getan werden muss, was auf wundersame Weise unumgänglich wurde, ohne dass eine ernstzunehmende Opposition sie behelligte. Das betrogene Wahlvolk lässt seinen Verdruss eher an den betrogenen Betrügern aus als an den Urhebern des Betrugs – nicht etwa, weil es unfähig wäre, ihn zu durchschauen, sondern weil es von ›der Politik‹ erwartet, dass sie Lösungen auffährt und nicht Verschlimmbesserungen das Wort redet, bloß weil es irgendwo ideologisch klemmt. Dabei lässt das Volk sich liebend gern selbst ideologisch vereinnahmen, solange es nur weiß, wer die Prügelknaben sind und wie man sie züchtigt. Seit klar wurde, dass die Fehlkonstruktion des Euro allein durch eine auf demokratischen Wegen nicht zu erreichende europäische Staatsgründung zu heilen ist, wissen die Leute, dass die SPD nur mehr als Beiboot mitläuft, auf dem eine Notbesatzung durch Fuchteln den Eindruck zu erwecken sucht, sie zöge den Ozeanriesen EU hinaus in die Freiheit der Meere. Kein Wunder, dass die Parteileute mit dem Begriff ›Volk‹ nichts mehr anfangen können und über jeden herfallen, der ausspricht, was die Spatzen von den Dächern pfeifen, als sei er soeben dem Schlund der Hölle entstiegen, die abgeschafft zu haben sie sich seit langer Zeit rühmen.
All diese guten Europäer, die Worte von Toten im Mund führen
und einen gemeinsamen ›Erinnerungsraum‹ herbeten, an den sich so
keiner erinnert, denn er ist, was immer man sagen mag, konstruiert,
sie mogeln ein wenig, wenn man so will, diese guten Europäer. In
Wirklichkeit fühlen diese guten Europäer sich abgestoßen von der
Enge, der Muffigkeit, der Politik und den Schikanen des Erdteils, das
sie umgibt, und warten sehnsüchtig auf die nächste Einladung nach
Princeton oder Dubai. Wären sie die Europäer, als die sie sich
ausgeben, so arbeiteten sie still, energisch und umsichtig an der
europäischen Nation, an der Gründung der Republik Europa – um genau
zu sein, sie selbst begriffen sich als europäische Öffentlichkeit und
setzten alles daran, diese halb private, von müßigen Institutionen
gesponsorte Fiktion ernsthaft umzusetzen, auf die Gefahr hin, von
notorischen Schulterklopfern halbtot geschlagen und auf offener
Straße liegen gelassen zu werden. Aber gerade das ist ihnen
verwehrt, es wäre ›zu leicht‹, es würde den Traditionen Europas
nicht gerecht. Sie sollten bedenken, dass jene früheren, allzu
wenigen ›guten Europäer‹, die vor den großen Katastrophen des
Kontinents in Erscheinung traten, einer kulturellen Gemengelage
angehörten, die geradewegs auf die Katarakte zuhielt, dass fast
alle, darunter die ›Besten‹, von denen man hin und wieder
schwadronieren hört, mitdestruierten und dass das heutige Europa
der Normierer und Augenwischer, das sie im Unernst ablehnen und
wortreich ›weiterbringen‹ wollen, sich jenen Katastrophen
›verdankt‹ – ihren Fakten und ihren Lehren. Europa wird Nation oder
Wirtschaftsstandort, also nichts Besonderes sein.
Europa hat ein Problem. Da lachen die Auguren und rufen: eines? Europa ist ein Problem. Welches Problem haben Sie denn im Auge? Wovon reden Sie? Aber reden Sie weiter, reden Sie einfach weiter. Dürfen wir Ihnen weiterhelfen? Nun gut, wenn Ihnen der Sinn nicht nach Reden steht, versuchen wir es anders. Wann haben Sie das letzte Mal an Europa gedacht? Nein, das ist wichtig, glauben Sie uns, wir halten Sie nicht mit Kleinigkeiten auf. Woran haben Sie gedacht, als Sie das letzte Mal an Europa dachten? Das kommt ins Protokoll, aber es ist wichtig. Sicher kennen Sie unsere Fahne, die mit dem dürren Männchen als Fahnenmast, übersteht jeden Sturm: Wie finden Sie das? Haben Sie jemals daran gedacht, sich so ein Fähnchen … irgendwo … hinzustecken? Das nützt doch nichts, grob zu werden, das bringt uns jetzt nicht weiter. Wie haben Sie an Europa gedacht? Wie? Wie! Auf welche Weise! Wie? Sie wissen nicht –? Eine Weise wäre zum Beispiel, Sie vergössen Tränen bei dem Gedanken an – jaja sicher, auch bittere Tränen, dann wären Sie ja schon Europäer, wenn auch enttäuschter, wir dachten jetzt mehr an Tränen der Rührung, warme Kullertränen, Sie wissen schon, beim Gedanken an all die Beitrittskandidaten, die Schlange stehen vor dem gemeinsamen Haus…
Nein? Sie sind beleidigt? Persönlich beleidigt? Von all dem Undank, den die Beitrittskandidaten von gestern absondern, seit sie aufgenommen… Stört Sie das wirklich? Was haben Sie gedacht? Wer ein Haus baut, befragt er den verbauten Stein, ob er tragen will? Wie, Steine schimpfen nicht? Hören Sie nicht die Hilfeschreie aus dem Gemäuer, sobald Sie ein Haus betreten? Was hören Sie überhaupt? Gespenster? Die Ewiggestrigen, die Untoten, die Wiedergänger, die Altlasten? Sehen Sie, das haben Sie schön gesagt. Sie sind doch einer von uns. Vom gleichen Schlag, wenn Ihnen das etwas sagt. Europa ist keine Schöpfungsgeschichte, die sich in sieben Tagen abhandeln lässt. Das Abhandeln, sehen Sie, das ist auch so eine Sache. Wir handeln den Ländern die Seele ab und schicken sie in die Wiederaufbereitung. Wie bereitet man Seelen auf? Ganz einfach: Man imprägniert sie mit Schuld. Europa ist ein Schuldtraum, wussten Sie das nicht? Was gestern noch einfache Sorge ums eigene Fortkommen war, ist heute schuld am Verblassen des gemeinsamen Traums. Warum verblasst er so schnell, der gemeinsame Traum? Die Schulden, lieber Freund, die Schulden!
Was ist das geeignetste Mittel, die Bande zwischen den Menschen zu lösen, Partner gegeneinander zu hetzen, Eltern und Kinder zu entzweien, gewachsene Freundschaften in veritable Feindschaften zu verwandeln, die Kommune, die Region, den Staat in Misskredit zu bringen? Schulden natürlich! Schulden verbinden, sie schweißen zusammen, sie dulden nichts zwischen sich und den Schuldnern, alle aus einem Haus, dem gemeinsamen Haus … damit, sehen Sie, sind wir beim Thema. Schulden fressen Gemeinsamkeiten auf und scheiden sie als Verbindlichkeiten wieder aus. Dieses Europa, das wir lieben, ist so verbindlich geworden, dass manche angefangen haben sich umzudrehen und »Scheiß-…« zu murmeln. Verstehen Sie das? Dann fangen wir wieder von vorn an. Wie verbinden Schulden? Ganz einfach: sie nötigen zu gemeinsamem Handeln. Das ist ein hohes Gut, dessen Einlösung von Europa immer erwartet wurde. Wissen Sie, was ›Einlösung‹ bedeutet? Denken Sie nach! Sie besitzen einen Gutschein und wollen ihn einlösen, das ist Ihr gutes Recht, dafür wurde er ausgestellt. Sie haben ihn ja bereits bezahlt, auf die eine oder andere Weise, vielleicht wurde er Ihnen geschenkt, dann wissen Sie vielleicht nicht so genau, womit Sie ihn bezahlt haben – Ihr gutes Recht, Ihr gutes Recht, wer wollte da rechten. Ihr Gutschein lautet auf gemeinsames Handeln, nicht in den blauen Tag hinein, sondern aus einer Not heraus, im Notfall, dergleichen soll vorkommen.
Und jetzt, sehen Sie, passiert etwas Grundeuropäisches: Sie finden sich wieder in einem Kreis von Freunden, die sagen: Wir wollen ja helfen, wir werden auch helfen, aber sehen Sie, als wir diesen Gutschein ausstellten, dachten wir an andere Fälle, die Ihnen jetzt nicht so wichtig erscheinen mögen, aber uns scheint es jetzt an der Zeit zu sein, sie anzugehen. Gerade jetzt, Sie verstehen? Wann, wenn nicht jetzt? Wie, Sie verstehen nicht? Sie Schuft! Sie erbärmlicher Schuft! Sie haben unser aller Europa niemals verstanden, Sie sind keiner von uns. Hinaus mit Ihnen! Und wenn schon nicht hinaus, dann an den Rand, ganz an den Rand, aber dalli. Schämen Sie sich. Jawohl, schämen Sie sich. Sie sind kein Europäer, Sie beschmutzen das gemeinsame Haus. Aber bitte, helfen Sie sich selbst. Wagen Sie es ruhig! Sie wissen, wir sind auf der anderen Seite, wir werden Sie nicht daran hindern zu tun, was in Ihren Augen getan werden muss, wir werden nur die Mittelflüsse ein wenig ändern, das wird Sie in Schwierigkeiten bringen und wir werden weiter sehen. Diese Mittelflüsse … Europa ist eine Geldverteilungsmaschine, sie generiert den Kredit, den seine Mitglieder verbrauchen, um Europa in Misskredit zu bringen – ein Wettlauf, der an den Toren des Weltalls endet. Nicht alle wollen das begreifen und rennen hinaus.
Leicht lässt sich über jene angeblich rückwärtsgewandten Europäer höhnen, die das europäische Staatsvolk vermissen und deshalb vom Projekt des Super-, Post- und Trans-Staates Europa in Gedanken vorerst ein wenig Abstand nehmen. Dabei sind sie mehr Europäer als ihre Denunzianten, denen es bloß um Lenkungskompetenz und globale Stärke geht. Sie stellen nicht den ›Prozess Europa‹ in Frage (wie man ihnen nachsagt) oder gar den Gang der europäischen Dinge im globalen Machtpoker. Zwischen – erlaubtem – Befragen und dem berüchtigten In-Frage-Stellen liegt ein Abgrund an Ignoranz, der täglich mit gedroschenem Stroh gefüllt werden muss. Zwielichtig wirkt schon der Ausdruck ›In Frage stellen‹. In ihm paaren sich zwei Forschheiten, die publikumssüchtig nach Klicks und Auflagen schielen. Einer Sache auf den Grund gehen und sie von Grund auf zerstören wollen sind sehr unterschiedliche Handlungen. Zusammen fallen sie nur, wenn der Grund um der Sache willen nicht aufgedeckt werden darf – um keinen Preis sozusagen, weil jeder Preis hier zu hoch wäre. Europa, hieße das, dieses Lieblingskind der Eliten, vertrüge es nicht, würde man ihm öffentlich auf den Grund gehen? Auf dem Grunde des Allerweltsprojekts Europa schlummerte möglicherweise ein Arkanum? Die Pazifizierung, Zivilisierung, Demokratisierung, Emanzipierung, Nachhaltig-Machung und Selbstbehauptung Europas berge ein Geheimnis, das nur einer ausplaudern müsste, um sie zu Fall zu bringen? Seltsam, seltsam.
Aber welches Geheimnis könnte das sein? Eines, in dessen Besitz ein Frager eher die Träger von Springerstiefeln vermuten dürfte als jene vielberufenen Bürger Europas, die inmitten aller Projekte gelassen ihren Geschäften nachgehen? Welch ein Unsinn, möchte er ausrufen. Doch dann erinnert er sich –: am Ende bergen auch Springerstiefel ein Geheimnis. In ihm, das verdächtig einem Geschäft zum beiderseitigen Nutzen ähnelt, versichern sich Europas Funktionseliten und seine Unbelehrbaren gegenseitig ihrer Unabdingbarkeit. Die Zwangszuweisung der Skepsis ans Lager von Leuten, die nicht einmal wissen wollen, wie man sie buchstabiert, gleicht ihrer Expatriierung. Warum das Ganze? Weil niemand erfahren darf, dass der feine Nationalismus die geheime Triebfeder jener Funktionseliten ist und auf absehbare Zeit bleiben soll?
So zu reden gilt als unfein, als unerhört und, selbstverständlich, realitätsblind. Schließlich lernen alle voneinander und übereinander. Jeder liebt seine Gremien und Symposien und kehrt angeregt wieder nach Hause zurück, zu gleichen Teilen beeindruckt von der Offenheit wie der Blindheit des Nachbarn. Aus beidem ergeben sich Chancen, die man nicht auslassen sollte. Was für eine Situation! Was ließe sich daraus machen! Nun, ganz einfach: genau das, was daraus gemacht wird. It’s the education, stupid.
Europa kann sich nicht auf sich beschränken, es geht überall über
sich hinaus. Das macht es zu einem bizarren Erdteil für andere und
endlich, auf seine Binnenräume zurückgeworfen, auch für sich
selbst. Es kennt nur eine Lage und die ist, wie die Nietzscheaner
sagen, exzentrisch. Daneben kennt es tausend Lagen dank einer
Auslegungssucht, die noch jeden Dialog der Kulturen in eine
Simulation zu verwandeln gewusst hat. Europa redet mit sich selbst,
es redet ununterbrochen mit sich selbst, aber dazu bedarf es der
Illusion einer in Rede stehenden Welt. Die Aufforderung, über
Europa zu reden, bedeutet, den Sprechfluss zu unterbrechen und den
Simulationen schlitzohriger Politiker das Feld zu überlassen.
Warum das so ist? Es ist so geworden und es wird auch wieder
weggehen, aber abzusehen ist davon nichts. Was nützt es, den
Universalismus als Ethnozentrismus zu denunzieren, wenn dieser
Ethnozentrismus nur ein Universalismus ist (eine Anleitung zur
Selbstaufhebung oder ‑vernichtung)? Nicht viel, wie die Erfahrung
lehrt. Seit Europa sich in den Schutz einer Weltmacht begeben hat, lebt
es bequem vom natürlichen Reichtum der anderen an Waffen, Öl, Geld,
Arbeitskraft etc. Die Geschichte hat ihm gezeigt, was auf diesem
Feld möglich ist, Europa liebt die Geschichte. Dass es zur
Einwanderungszone wurde, hat seine Sucht nicht gemindert. Natürlich
nicht, in Einverleibungen kennt es sich aus. Schließlich heißt
seine Gefahr, wie fast alle wissen, fast food.
Wer die Wege des Eros als eine ›Kette von Demütigungen‹ erfährt und
darüber im Tonfall dessen berichtet, der das Weiterlesen so satt
ist, dass er sich mit einem Schnitt davon trennen möchte, ist
entweder auf dem Weg zum Heil oder auf dem Holzweg. Das
Experimentum carnis ist Teil jenes größeren Experimentum mundi, in
dessen Zentrum die Immanentisierung oder ›Verweltung‹ steht, wie
ein aus Funk und Fernsehen bekannter Vordenker das nennt: das
Aufgehen aller Gedanken, aller Begriffe in einem Weltbegriff, der
sie nicht nur enthält, sondern rechtfertigt und Instrumente für
eine neue Menschheit aus ihnen – ja was denn? Werden, entstehen,
entspringen lässt? Ein großes ›Fiat‹ prangt über dieser Art des
Philosophierens, die sich antimetaphysisch nennt und das
Wiederkäuen ins Zentrum des Nachdenkens verschoben hat. Nachdem die
Begriffe der Metaphysik den Dienst quittiert haben, steht das Wort
›metaphysisch‹ wie eine Vogelscheuche im Raum, ein nebulöser
Stellvertreter und zugleich ein kerniger Bursche, der Wind und
Wetter trotzt und für jede Flegelei zu haben ist. Vielleicht kommen
Nächte, in denen er vor Erschöpfung umfällt oder weil der Boden um
ihn zu weich geworden ist, aber sobald der Morgen graut, haben ihn
unbekannte Helfer aufgerichtet und er reckt seinen Stecken zum
Himmel – priapisch vielleicht, wer kennt schon die Wege des Heils.
Der Ottomotor ist ein vortreffliches Beispiel für die technisch
gereizte Wut der Materie zur Gewinnung von Energie. Ströme der
Raserei durchfahren die elektrischen Leitungen und entzünden ebenso
Lichter wie Bomben. In diesem Sinne ist Rache oder der Schmerz der
Materie das wesentliche Prinzip der gewonnenen Energien. Vertieft
man diesen Gedanken, so geraten auch Speisen zur Todesmaterie des
Menschen. Der beißende und kauende Mensch vervielfacht motorisch
die Kräfte verspeister Pflanzen, so harmlos sie auch zuvor an der
Sonne gewachsen sind, wobei natürlich auch sie die Sonne um ihre
Kräfte gebracht haben, und jeder Apfel verdient eine hübsche kleine
Bombe genannt zu werden. Insofern ist selbst der Stoffwechsel des Menschen
nichts als eine fortwährende Kette von Explosionen.
Hier übrigens begegnet die Folgenforschung unmittelbar der
Todesmechanik, die durch Leben und Streben Schicksal stiftend
zur Explosion gelangt. Homomaris hat diese Durchkreuzung
von Karma und Energie
einmal »die große Explosion des Leibes und der Seele« genannt und
damit den Thanatoskomplex Sigmund Freuds bedeutend
weiterentwickelt. - PM
In den Fünfzigern blühten die Blumen anders, sie trugen Handschellen und seufzten, ob jemand sie aufschließen wolle, doch es war niemand da. Es war niemand da. Die Blumen hätten sich vielleicht selbst befreien wollen, wären sie zahlreich genug gewesen, aber sie waren sich ihrer kollektiven Stärke noch nicht bewusst und so blieb es beim individuellen Protestlook. Traurige Zeiten. Der Briefträger kam in Schwarzweiß, nur die Socken lugten ein wenig heraus, und wenn sie auch noch nicht rot waren, so guckten sie doch unsäglich genug unter den amtlichen Stulpen hervor, um in Träumen wiederzukehren, die sehr verbreitet waren: Sonne, Strand und Meer, eine Kinderschippe in der Hand und viel Sex. In den Fünfzigern war unter der Decke des Schweigens der Sex so verbreitet, dass viele sich Taschentücher unter die Nase banden, um dem Geruch von verbranntem Obst auf der Straße zu entgehen. Heute kann man lesen, die Sache sei damals zu neu gewesen, um ihre Folgen richtig abschätzen zu können. Überhaupt sei man sehr unaufgeklärt an sie herangegangen. Vermutlich stimmt das sogar. Den Alten war die Lust vergangen und den Jungen wuchs sie zu den Ohren heraus. Wohin sie wohl wuchs? Zu den Sternen, den Sternen.
Die gewöhnlichen und ältesten Fälschungen finden sich schon
bei den unbekannten Kopisten in den Höhlen von Lascaux. Ein
bedeutender Bison, von stattlicher Höhe und ausschweifenden
Hörnern, wird dort bereits, wenige Schritte weiter, von schamlosen
Kopisten schlecht und recht wiederholt. Nun hat er eng stehende
Hörne, Knickbeine und einen Stummelschwanz. War diese Fälschung
eine Bosheit oder der bis heute bekannte gescheiterte Ausdruck
eines gerissenen Ehrgeizes? Gab es schon damals die ersten,
vielleicht noch seltenen falschen Künstler, die schlau genug waren,
den gefährlichen Jagdkollektiven zu entgehen, um Malerfürsten zu
werden? Was kann van Gogh gemeint haben, als er auf dem Sterbebett
sagte: »Das Elend wird nie ein Ende haben.« Hier kommt das
›Fürchterliche‹ hinzu, denn fürchterlich ist im Sinne seiner
Erscheinung das Zentrum jedes Schreckens auf Erden, genau wie die
Sonne, die der Maler gemalt hat. Seine Seligsprechung, seit einiger
Zeit von Grabbeau und
mutigen Belgiern bei vier Päpsten vergeblich versucht, gibt der
Sonne das böse Leben
zurück. Denn bildet die Sonne das Leben, so ist sie schon furchtbar
genug. Aber sollte sie mit dem drehbaren Rücken zum All erst
lebendige Tote spenden wie in den frühesten Zeiten Gottes, so
bedürfte sie weder Wiesen noch Äcker zu deren Wachstum, sie könnte
hinabsteigen gleich einem toten Gott und sich niederlegen in einem
Feuerschweif so groß wie der Rhein. - PM
Auf schweren Teppichen, womöglich sogar hinter täuschenden
Butzenscheiben der ächzenden Welt der ohnehin noch ganz anders
Betrogenen ein paar bunte Streiche zu spielen und neben einem im
Orient eingelegten Tisch voll kostbarer Farben und Meißentassen im
Sessel sitzend mit dem Pinsel zu lügen, das ist wahrhaftig ein
genußvolles Treiben. Wenn ein freundlicher Gott wie der Gauner
Merkur dazu einen Dauerregen aufs Dach prasseln lässt, so ist kein
Besuch zu erwarten und die Leute bleiben in ihren hässlichen
Häusern buchstäblich stecken, denn der Klingelton entsetzt doch
wirklich jeden frei gewordenen Menschen. Kein Kind auf der Straße
schreit und man wiegt sich im Rausch eines rumänisch-ungarischen
Adelstitels von glühender Farbkraft zu den Klängen eines
berauschenden Preußischen Marsches. Der Titel, ob falsch oder
nicht, wird nach Goethe so manchen Puff abhalten können.
Wen alles das und Verwandtes und anderes mehr als tiefe Erkenntnis
vom Wert der Lüge im Wesen der Kunst ganz rein und ohne Ehrgeiz
berauscht, der ist, nach meiner Meinung, zum wahren Fälschen
geboren, ob er nun bloß kopiert oder als großer Erfinder in eigener
Sache Maler genannt werden darf. Denn man sage mir was man will,
jeder Künstler ist stets auch ein Fälscher, voll glühender Lust
nach der Manifestation eines fremden oder selber erfundenen
Irrtums.
Die Hilfsgeister von oben oder unten kennen hier keinen
Unterschied, »die von unten, die köstlich Dunklen« noch am
wenigsten. Hingegen haben die von oben den Nazarenern zu lange nahe
gestanden. Das gesteht im Alter sogar unter Tränen an der Piazza
des Weinens Herr Overbeck in der Kirche Santa Maria del Pianto vor
zwölf seiner Schüler am Tage des heiligen Lucas.
Die Düfte des Leinöls, der Harze, die wachsvermischten Tinkturen
widersprechen der Bildung einer Familie und die köstlichste
Einsamkeit, die mit Spuren von Schadenfreude vermischt ist,
übergeht die trostlosen Wochenenden und Feiertage im Zauberreich
der Kultur.
Man kann als Genießer oder als Schöpfer die Kultur hereinlegen oder
man wird als eifernder Narr ihr gequältes Opfer. Allerdings, ein
monastischer Zug von Verzicht gehört als Ausdruck von Weisheit
dazu. Verzicht auf Streben nach öffentlichen Ruhm, die Vermeidung
aller intelligenten Gesellschaften und als wirkliche Hilfe nur ein
älterer Herr mit einem zierlichen Bauch unter englischem Stoff, der
Besitzer einer ebenso geheimnisvoll zeitlosen Galerie, weit, weit
entfernt von Berlin und Paris, etwa im fernen Ostende, das ein
ebenso köstlicher Schwärmer und Anti-van Gogh auf verwirrende Weise
in vollendeter Naivität schon vorgewärmt hat.
Zerfallende Bauernhöfe liefern die alten Bretter oder die an den
Rändern vergilbten Hochzeitsleinwände, die alten Nägel, den echten
Staub, der, mit Regenwasser vermischt, den wertvollen Dreck der
alten Zeiten so anspruchslos liefert. Etwas Rost für den allzu
neuen Zinnober, es gibt den alten nur noch in China, statt dessen
abgeriebene Steine von den roten Ufern des Mains, Phiolen voll
aufgewärmter Insekten mit Eierhonig, zur fleckigen Stärkung der
Leinwand mit Roggenkleister vermischt, gelegentlich auch einen
prachtvollen Schinken mit Frühstückseiern beim Aushandeln dieser
bescheidenen Waren. Was für ein Traum.
Die Inbrunst der Suche nach solchen Stoffen, dieser alchimistischen
Bildungsreisen einer kunstreichen Pilgerschaft, mischt sich mit dem
Glauben an geistige Schätze, die als Reliquien Macht besitzen, an
berühmten oder berüchtigten Hauswänden kleben oder an einfachen
Kieselsteinen am nächsten Waldrand, die nach zehntausend Jahren das
erste Mal stupore
erwecken. Sie bilden die Hausmacht gegen alle Moral, Fälschungen
hin oder her. - PM
Das Familiäre bedenken, bis es so mit Pusteln überdeckt ist, dass
es sich Zeit lässt: wunderbar. Aber so ist es nicht. Es bringt
seine Zeit mit, es läuft wie auf Schienen, wie geschmiert, wie man
so sagt, es unterläuft alle Bindungen, denn es bringt sie mit. Es
hat, wie man so sagt, alles dabei: dabei bleibt es. Das Familiäre
ist das Familiäre, nackte Identität, wenn du willst, aber im Grunde
wird keiner gefragt. Es hat seine Falten, das ist wahr, es besteht
nur aus Falten, praktisch, auch das ist wahr. Ach, diese
Wahrheiten, alle zusammengenommen, sie passen auf einen Seziertisch
und doch... Man muss sehen, dass sie nicht herunterfallen, das kann
wichtiger sein als eine gelungene Operation. Was bedeutet schon
eine gelungene Operation gegen die Unzahl derer, die anstehen? Das
Einzelne verzwickt, das Ganze unbezahlbar, die Verantwortlichen
schleichen sich vom Tisch, sie können nicht ertragen, was sie da
anrichten, und laufen in ihr Unheil hinein, privat, wie denn sonst,
ein richtiges Unheil kommt immer privat. All diese Privatheiten
summieren sich, sie ergeben eine erkleckliche Summe, für die man
sich eine Welt kaufen könnte, aber gegenwärtig haben wir keine im
Angebot. Das Familiäre ist ein Diebstahl am Allgemeinen, der älter
ist als das Allgemeine, das durch ihn Schaden leidet, es ist König
Diebstahl, der in allen Türen steht und die eingelagerten Vorräte
mustert, bevor man ihn rituell verbrennt. Geständig wiederholt er
noch auf dem Scheiterhaufen die Worte: »Das ist alles meins!«,
bevor ihn das Entzücken Batailles bis zum nächsten Mal in seine
Schranken verweist.
Ilse, mit Emphase: »Die Fangquote ist eigentlich eine gute Sache. Ihr verdanke ich Erfahrungen, die mir sonst mit großer Wahrscheinlichkeit entgangen wären. Ich sage ›mit großer Wahrscheinlichkeit‹, weil ich das immer so sage, es entspricht meinem Lebensgefühl und, sagen wir mal, den Gegebenheiten. Man darf sich nicht festlegen, weißt du, sonst fliegen einem die Festlegungen früher oder später um die Ohren. Das fand ich nie so prickelnd. Der nicht festgelegte Mensch ist der gute. Natürlich enthalten auch die Fangquoten so eine Art Festlegung, aber wer kein Fisch ist, der bekommt das nicht so zu spüren, es kommt vor allem darauf an, kein Fisch zu sein. Ein Fisch bin ich nie gewesen, ich war immer auf Fang, ein Leben lang, eine Quote macht auch Appetit auf Neues, da muss einer erst drauf kommen. Und vergiss den Beifang nicht: Ganz wichtige Lebensregel. Der Beifang hat mich mit dem Leben versöhnt, weniger mit dem meinigen, aber mit dem der anderen. Käme jeder als solus ipse daher – ich mag diesen Ausdruck, er erinnert mich daran, die Sohlen in Schuss zu halten und mir nicht die Hacken abzulaufen –, dann könnte er gleich bleiben, wo der Pfeffer wächst. Ein Mensch ist kein Mensch, es dackeln immer noch zwei hinterher. Da darf man es mit der Quote nicht so genau nehmen, sie regelt den Verkehr ja nur obenhin, nach unten ist immer Luft. Gelegentlich auch nach oben, man darf sich bloß nicht erwischen lassen oder muss gleich ein großes Geschrei anfangen. Ein richtiges Geschrei ist stärker als jede Quote. Es hebelt sie zwar nicht aus, aber es dickt sie ein und anschließend sind alle wieder ein Stückchen klüger.«
Der Kampf der Farbe mit dem Hunger der Leinwand ist viel
bedeutender und ernster zu nehmen, als der oberflächliche
Betrachter der Bilder ahnt. Der Maler erweckt nicht nur Illusionen,
sondern er ist auch ein Speisemeister und sättigt die Leinwand
ebenso mit gesunden Erdfarben und Leinöl wie mit den Giften des
Bleiweiß oder des Schweinfurter Grüns. Die Seher – es sind nicht
die gaffenden Ästheten gemeint, sondern die alle Materie
durchdringenden Späher des Untergangs, der in allen Dingen waltet –
bezeugen den Kampf aus Hunger und Gift auch auf der Leinwand. Warum
gäbe es sonst auch die gute Malbutter des Johannes, die
bon beurre de peinture,
die der Lichtverkünder heiliger Worte im hohen Alter den malenden
Mönchen vom Berge Athos gestiftet hat? Sie vollzieht die innere
Taufe der Bilder mit Hilfe des ›Grisams von Patmos‹, wie diese
Butter mit Recht bei ihnen genannt wird. Restauratoren unserer Zeit
ahnen wohl kaum noch, warum manche Gemälde zerfallen und andere
duften und unvergänglich erscheinen. Der Geruch der Heiligkeit
waltet auch hier, aber sie wissen es nicht.
Ein furchtbares Beispiel für die doppelte Barbarei des
Zusammenhangs zwischen den prophetischen Illusionen der Kunst und
dem Hunger der reinen Materie vollzieht sich am deutlichsten wohl
auf der großen Leinwand von Géricault, die man im Louvre unter dem
Titel Le naufrage de La
Méduse oder als Floß der
Medusa besichtigen kann. Hier sieht der genaue Beobachter,
der die Verwandlung der Materie im Objekt einer Illusion nicht aus
den Augen verloren hat, die verhängnisvolle Verwicklung von
materieller Gier und Vergiftung ebenso im grausamen Hunger der zu
Kannibalen gewordenen Matrosen wie in der stummen Gefräßigkeit
jener Asphaltfarben, die im neunzehnten Jahrhundert die Maler so
sehr begeisterten. Aber die Brillanz dieser Farben ermattete rasch,
indem sie sich anfänglich voller Pracht auftragen ließen, um
alsdann in die Tiefen der Leinwand zu fahren und wie gefräßige
Schlangen bloß ihre runzlige Haut zurückzulassen. Die großen,
gewiss einst schwermütigen Schatten des Bildes sind inzwischen
dunkel und blind wie Leder. »Cannibalisme de la couleur« befand ein würdiger
alter Herr, gleichsam ein Nachfahre jener verruchten Matrosen, der
im Museum neben mir stand, und er nannte auch gleich die ebenso
verruchte Farbe, die den zahlreichen Liebhabern alter Meister übel
genug bekannt ist: »Brun de Cassel.« - PM
»Angenommen…« – »Ja?« wirft B ein, es klingt wie eine Drohung, aber das
bleibt eine bloße Annahme –, »angenommen, ich nehme die Wahl an, nehmen
die anderen dann an, dass ich gewählt bin oder fallen sie über mich
her, weil sie annehmen, dass ich die Verweigerung verweigert habe und
sie einer solchen Verweigerung die Zustimmung verweigern müssten,
vulgo: sie nicht dulden wollen? Bin ich also angenommen? Falls ja: werde ich
angenommen als einer, der annahm, dass er annehmen dürfe, was
anzunehmen ihm angetragen wurde, nachdem er einmal bekundet hat, dass
er annehme, anzunehmen sei die Pflicht des Gewählten, zumindest dann,
wenn unter der Annahme gewählt wurde, dass er annehmen werde, weil er
die Annahme im voraus zugesichert hat? Oder bin ich der falschen
Annahme erlegen, dass Annehmen das selbstgewählte Schicksal des
Gewählten sei, der gewählt wurde, weil er sich in eigener Person der
Wahl stellte, also nicht etwa hinterrücks, unter der Annahme, er werde
schon ablehnen, in die Wahl eingeschmuggelt wurde? Noch habe ich
angenommen, aber ich nähre bereits die Annahme, dass meine Annahme
unter der irrigen Annahme erfolgte, von denen angenommen zu werden, die
annehmen durften, ich werde die Annahme nicht verweigern, was ich
hiermit tue, obwohl sie ja, streng genommen, bereits erfolgte und daher
als Annahme von mir und anderen angenommen, d.h. akzeptiert
wurde. Nun wurde ich aber angenommen von denen, die mich gewählt haben
und also annehmen durften, es sei mir recht, gewählt zu werden und ich
würde die Annahme nicht verweigern, was ich ja auch, wie jedermann
nachlesen kann, nicht getan habe. Nicht angenommen werde ich hingegen von
denen, die annehmen durften, dass die Annahmen, unter denen ich
annehmen durfte, angenommen zu werden, ihnen zugute kommen würden,
während sie sich in aller Öffentlichkeit davon distanzieren könnten, da
sie mit der Wahl und all ihren Annahmen vorher und nachher im strengen
und im loseren Sinn nichts zu tun hätten, was immer noch richtig ist,
solange man davon ausgeht, dass sie, rein rechtlich gesehen, keine
Oberen sind, sondern nur Entferntere. Es sind also die Entfernteren,
die mich zur Aufgabe der Annahme unter der Annahme drängen, dass ihre
Interessen durch die Aufgabe meiner Interessen und derjenigen, die mich
gewählt haben, besser gewahrt blieben als dadurch, dass ich, der ich
nun einmal näher dran und sozusagen mittendrin bin, meine Interessen
unter der Annahme verfolge, damit dem Interesse derjenigen zu dienen,
die durch ihre Wahl gezeigt haben, dass es möglich ist zu wählen, z.B.
mich, während die Verweigerung der Annahme meinerseits die Wahl selbst
zur Farce hätte werden lassen, ich sage: zur Farce, denn es ist eine
Farce, zu wählen und gleichzeitig nicht zu wählen, durch eine Art
wählendes Nichtwählen die vorangegangene Wahl durch die Wähler, die
mich und alle hier Wählenden gewählt haben, damit gewählt sei und
gewählt werden könne, zu annullieren und somit den Wählern und
Wählerinnen eine Nase zu drehen. Ich darf also annehmen, dass die von
mir nicht angenommene, aber durch mich erfolgte Annahme der Wahl der
Annahme der Vielen Vorschub leisten wird, dass die Annahme, ich und
meine Partei stünden wie alle anderen zur Wahl, auf dass die Wähler und
Wählerinnen die Wahl hätten, heute dahingehend korrigiert wurde, dass
sowohl mein persönliches Zur-Wahl-Stehen als auch das meiner Partei
eine einzige … ich sagte es bereits, Farce sei, was, wie alle, die mich
kennen, bestätigen werden, einerseits eine große Ungerechtigkeit
darstellt, andererseits den Nagel auf den Kopf trifft.« Soweit A.
»Aha«, sagt B, »ich verstehe Bahnhof. Sparen Sie sich das für Ihre
Memoiren auf und stehen Sie mir nicht im Wege. Das kann ich schon
selber.«
Ist das Spiel erst aus, gelingen die entschiedensten Würfe.
– Weiter. – So sieht man einen Menschen, der eben noch in vollem Spagat
seinen Geschäften nachgeht und sich privat vergrübelt, verborgen
bis zur Unkenntlichkeit in Formeln, die, von ihm abgesehen, keiner
entziffern kann. Von sich absehen kann er nicht, die anderen können
es wohl, ihr Blick gleitet an ihm entlang wie am Inneren einer
Regenrinne, er tropft ab. Heute laufen seine Geschäfte leer, der
Raum, in denen er Kundschaft erwartete, ist zu und er schenkt jedem
ein zerstreutes und unverständliches Lächeln, der ihn darauf
anspricht. Das verstehen die Leute, es sagt ihnen, dass er einer
von ihnen geworden ist und Fassadenkunst betreibt. Fassadenkunst!
Er könnte darüber lachen, doch er bemerkt es nicht einmal. Oder er
bemerkt es und versteht es nicht. Oder er versteht es und glaubt es
nicht. Oder er glaubt es und ist froh. Die Formeln bedecken die
Mitte des Raumes, er vertreibt sich die Zeit damit, zwischen ihnen
hindurchzugehen, man könnte es einen Tanz nennen, einen sehr
privaten Tanz, den keiner zu sehen bekommt. Dabei schichtet er
Hölzchen auf, eins neben das andere, eins über das andere, in
unregelmäßigen Schichten. Zusammen könnten sie eine Pyramide
ergeben, er weiß es noch nicht. »Nicht verzetteln« brummt er und
schiebt einen bekritzelten Zettel zwischen zwei Hölzer.
Gewiss, gewiss, wer das Alphazet nachmacht oder verfälscht, wer
nachgemachte oder verfälschte Artikel des Alphazets sich verschafft und
in Verkehr bringt, wird mit Gelächter nicht unter zwei Jahren bestraft
– das klingt gut und schön und vertraut oder vielmehr ungut und unschön
und umso vertrauter, aber es verdeckt doch das Wesentliche, den Impuls,
der, es kann nicht anders sein, hinter solch schändlichem Treiben
steckt: die bedingungslose Verehrung, die bis zum Wahnsinn gehende
Vernarrtheit ins Original, das rücksichtslose, über Buchstabenleichen
hinwegwieselnde Begehren, sich mehr davon zu verschaffen, bei
vollkommener Unfähigkeit zu begreifen, dass auf eigene Faust hier
nichts zu holen ist, teils, weil die Faust, die sich da in der Tasche
ballt, bei Licht besehen nur als Fäustchen durchgeht, gerade gut genug,
um bei Gelegenheit hineinzukichern, teils, weil das Verlangen selbst
nichts als eine Narretei ist, als solche bereits im Alphazet aufgehoben
und mit Hilfe von Omas Silberbesteck verspeist. So gesehen ist jede
Nachahmung bereits gegessen, bevor sie das Licht der Welt erblickt –
gegessen, nicht verdaut, wie alles Unverdauliche, am Ende kommt jedes
Stück so heraus, wie es eingespeist wurde, nur kenntlich geworden …
kenntlich, das ist das Wort, man müsste es, anstelle des aus
der Mode gekommenen Prangers, an öffentlichen Leseplätzen anbringen,
ohne Zusätze, ohne Erklärung, ohne weiteres.
Dass die Faust recht hat, dass sie gern recht hat, ist allgemein
bekannt und bedarf keiner Nachfrage. Weniger bekannt scheint zu
sein, dass sie nur gezwungen auf dem besteht, was ihr gutes Recht
ist: das Recht nötigt sie dazu. Ungezwungen wäre die Faust ein
Zeitgenosse wie jeder andere, ein wenig kauzig vielleicht, aber man
ließe ihm das durchgehen. Gezwungen entsteht aus ihr ein Wesen
anderer Ordnung, das sich holt, was ihm zusteht. Da ist ein
Magnetismus im Raum, der alles, was herumsteht, ein wenig zu ihr
hinüberbiegt, ein Stehen-zu, wenn Sie verstehen, was ich
meine, unübersehbar für den, der sich in solchen Dingen auskennt,
und das sind viele. So wird die Faust – wie gesagt, das Recht
scheint sie dazu zu zwingen – für mancherlei zuständig, darunter
ganze Bereiche, die sich ihr auf den ersten Blick zu entziehen
scheinen. Es gilt aber der zweite. Im Grunde weiß niemand, welcher
gilt, es ist auch egal, am besten sieht man nicht hin. So eine
Faust ist schließlich ein Objekt der Furcht. Sie vor allem steht
ihr zu, sie steht und stiert ihr nach, dass es einen juckt. »Ich
hole mir mein Recht« – an einem solchen Satz erkennt man die Faust,
bevor sie niederfällt und dem Recht die erste Quetschung beibringt,
das noch nicht weiß, dass es ihr Recht ist und mit der Folgsamkeit
zögert. So mag es der Teufel holen. Er ist ein Rechthaber, da kommt
es auf zwei oder drei neue Rechte nicht an. Wir haben ja! Man kann
sie nachschneidern, das hat keine Schwierigkeit.
Die, denen nichts fehlt außer dem Fehlen selbst, sind der Fehler. Das ist übrigens kein Kalauer, sondern die reine Wahrheit, Betonung auf ›rein‹, so dass kein Rest bleibt, über den sich diskutieren ließe. Viele Menschen sehen das anders, sie diskutieren gern, aber in so einem Fall müssen sie passen. Müssen sie? Sie müssen nichts, darin besteht ihr Vorteil und ihr Beschränktheit. Sie müssen nicht, sie können und wollen, vor allem letzteres, mit einem Schuss ›dürfen‹ dabei, das sie ablehnen, weil es sie verrät. Warum verrät es sie? Weil sie im Grunde Erlaubte sind, Leute, denen man einen Spielraum gegeben hat und in diesem Raum einen Spielgrund. Sie haben Grund zu spielen, weil sie von allem anderen ausgeschlossen sind, was nicht bedeutet, dass sie z.B. keine Kriege führen dürfen, selbst dieses Privileg besitzen sie, aber nicht in vollem Umfang. Sie dürfen, weil sie müssen und weil es ihnen vorgeschrieben wird, übrigens auch der Rahmen und die Ziele, für die sie es tun. Sie sind also, wenn es hart kommt, reine Tötungsmaschinen und dürfen als solche getötet werden. Eine schreckliche Konsequenz, über die nicht diskutiert werden darf, auf keinen Fall und unter keinen Umständen. Eine solche Diskussion wäre ›nicht produktiv‹. Und produktiv sein, das wollen sie, am besten an allen Fronten. Warum das so ist, wird man erst später erfahren, eine Ahnung davon geht um, aber etwas Genaues weiß man nicht.
Man liest fehl, wie man fehlgeht, nichts ist natürlicher und regt
die Menschen weniger auf. In Büchern kann man sich leicht verlesen,
anders als in Menschen, an denen man sich bequemer vergeht. Das
liegt daran, dass ihr Inneres unzugänglich bleibt und nur auf dem
Weg der Selbstpreisgabe ein wenig Hokuspokus erlaubt. Der Wunsch,
in Menschen zu lesen wie in Büchern – und in ihnen statt in Büchern
–, ist uralt. Da die Buchstabenschrift an den Grenzen der Psyche
endet, verzeichnen die Analphabeten hier einen leichten Vorteil,
der allerdings dadurch entwertet wird, dass sie keine eigentliche
Leseerfahrung besitzen. So bleibt die Psyche das bevorzugte Gebiet
derer, die zwar lesen können, aber nicht ›zu lesen begehren‹.
Vielleicht wollen sie ja, aber ein sonderbarer Zwang treibt sie in
eine andere Richtung – der entschiedene Wunsch, ›etwas mit
Menschen‹ machen zu wollen. Bekanntlich ›macht‹ man mit Büchern
nichts. Nur Kindsköpfe türmen sie wie Bauklötze übereinander und
konstruieren daraus Eigenheime, in denen sie sich bei Regen
verkriechen. Wieder andere machen Geld mit ihnen oder werfen sie
ins Feuer. Doch der Heizwert pro gesellschaftlicher Meile bleibt
gering. In Zeiten, da die Bücher sich an den Rändern aufzulösen
beginnen, da sie zur Netzform übergehen oder zur Unform, werden
die, die schon weiter sind, gnädig. »Es geht um das Buch!« rufen
sie mit erregter Stimme, man merkt ihnen an, dass sie den Fehlgang
fürchten. Vom Umgang mit Büchern weiß zu berichten, wer einmal
versucht hat, sie zu verkaufen. Den Büchern geht es um nichts, als
Stapelware des Geistes genießen sie den heillosen Schreck, an der
Sonne zu bleichen.
Alles Schreiben geht in die Ferne, aber die Menschen machen sich
nicht klar, was das bedeutet. Sie wollen Rapport: sofort. Man kann
das verstehen, aber nicht wirklich. Als Prestigemaschine ist das
heutige Schreiben allen anderen Formen der Mitteilung unterlegen;
wer ins Fernsehen drängt, sollte Umwege scheuen, auf denen
man bequem sein Leben vertrödeln kann. Die Zeit der Bücher ist
nicht die Zeit der Menschen, die sie geschrieben haben. Auch
verdient sie nicht wirklich Zeit genannt zu werden. Es ist etwas an
ihr, das sich schwer benennen lässt. Sie ist durchlässig, eine Zeit
mit Löchern, eine Art Sieb oder Fangnetz, durch ein Gewässer
gezogen. Was sie fängt, ist die Aufmerksamkeit von Leuten, die
einander nichts oder wenig zu sagen haben und sehr überrascht
wären, wenn sich der Autor in
persona in ihre Gedanken drängen würde. Goethe, Tolstoi,
Proust: hätten Sie sie kennen mögen? Mit ihnen reden? Tagaus,
tagein? Ohne Unterlass? Über alles mögliche? Das ist nicht Ihr
Ernst. Oder Sie sind buchuntauglich und sollten an dieser Stelle
das Lesen einstellen. So wie ein Autor nur für das wahre, das
anomyme Publikum schreibt und sich vor Reaktionen bekreuzigt, so
will ein Leser das wahre, das anonyme Werk, eine Folge von
Buchstaben, die ihn überallhin begleitet, aber auf ihre, nicht auf
Menschenart. Es gibt Leute, die Bücher verabscheuen, in denen es
menschelt, in denen ein Autor fleischlich wird, sich am Ende in des
Wortes Vollsinn erklärt. Von derlei Ergüssen mag etwas halten, wer
will, sie sind erschrieben, so wie man etwas
ertrickst oder sich
ereifert, statt Eifer zu
zeigen – oder ihn gar zu verbergen, was wesentlich effizienter
wäre. Wer sich aber, wiederum in des Wortes Vollsinn, verschreibt, der kommt der Sache schon
näher. Man verschreibt sich, wie man sich verläuft: auf einmal kreuzen sich alle
Wege und man steht inmitten – von was auch immer.
Verschrieben hat man sich mit dem ersten Wort, sofern es steht –
wem auch immer, der Sache, dem Widersacher, dem Sachwalter, der
vielleicht nicht ausbleibt. Da gehen die Leute hin und schreiben
für die Lebenden, um etwas zu bewirken, etwas anzuschieben, um zu
kämpfen, um zu zeigen, wie sehr sie dabei sind und auch gehört
werden wollen. Aber man schreibt immer für Lebende, man kennt
sie nur nicht. Die Autoritäten von heute, sie sind schon tot, sie
hören kaum noch hin und lesen –... Lesen? Können sie das? Ist so
ihr Leben? Ist das ihr Kampf? Wirklich lesen Menschen, bevor sie über den Köpfen der anderen
auftauchen, danach brauchen sie Stoff. Wer ein richtiger Lieferant
ist, wird immer den Unterschied leugnen. Daran erkennt man ihn und
seinesgleichen.
Wer im Heiligen Officium nur den Hort finsterer Machenschaften und
grausamer Beschlüsse sieht und darüber die wahrhafte Sorge um die
richtige Auffassung vom Menschen vergisst, den bestürzend
schütteren Stand der Rechtgläubigkeit in den sich christlich
nennenden Gesellschaften der damaligen Welt und die sich daraus
ergebenden Missstände, um das, was zu tun bleibt und was not tut,
der hat vom Fernsehen nicht viel verstanden oder weigert sich, den
Dingen ins Gesicht zu sehen. Man sollte auch den Anteil des
Geheimen am Walten der Inquisition nicht willkürlich übertreiben.
Sie hat es über Jahrhunderte geschafft, die Phantasie der Menschen
zu beschäftigen, ihre bekannten Protagonisten waren in aller Munde
und ihre Performances, vom
freiwilligen Widerruf bis zum Autodafé, waren, neben allem anderen,
wirklich gute Unterhaltung, professionell gemacht und beim
Konsumenten äußerst beliebt.
Da steht er, der kleine Mörder, lässt sich die Handfesseln anlegen und denkt:
»Das also ist mein Tag. Ich habe mein Leben aufgerissen, als ich diese Menschen,
an die ich mich kaum erinnere, zur Strecke brachte, ich war der Jäger und
die Jagd, ein bisschen auch der Gejagte. Meine Opfer kannten mich ja nicht und
wussten nichts von meinen Absichten. Sie kamen mir bloß dazwischen und
eigentlich ist mir der Gedanke an sie lästig. So war ich eigentlich alles in
einem – und jetzt? bin ich willenlos, herumgeschubst von den Bullen, bald kommen
die Vernehmer. Was wollen sie denn vernehmen? Dass ich unzufrieden bin? Ich
werde sie um ein Glas Wasser bitten und sie werden meinem Wunsch willfahren.
Soviel Aufregung um ein Glas Wasser. Sie könnten etwas hineingeben und das wär’s
dann. Warum tun sie’s nicht? Man sagt, sie dürfen es nicht. Ich habe Rechte. Von
jetzt an habe ich Rechte. Das also hätte ich erreicht: Rechte zu haben. Kein
Mensch sollte tun und lassen können, was ihm beliebt. Keiner. Es ist ungerecht,
das so spät zu erfahren. Manche sagen ja, besser spät als nie, aber das ist
bullshit. Wie dem auch sei, ich hab’s hinter mir und was ich jetzt vor mir habe,
das wird man sehen. Sie werden wissen wollen: Wer noch? Als ob sie an mir nicht
genug hätten. Ich habe gesagt: Ich will keine Fremden. Warum hat man mir nicht
geglaubt, als noch Zeit war? Jetzt ist mir alles fremd und ich will das nicht.
Ich glaube, fremd bin ich denen auch. Unheimlich. Jetzt bin ich von allen der
Fremdeste. Klar bin ich ihnen unheimlich. Aber sie lassen sich nichts anmerken
und behandeln mich wie… Dafür fehlen mir jetzt die Worte. Ein Mörder mehr auf
der Welt und sie kriegen mich nicht weg. Das System ist so, dass sie mich nicht
wegkriegen. Von nun an habe ich das System auf meiner Seite. Ein Narr, wer an
das System glaubt. Ich habe nie verstanden, wer sich das ausgedacht hat. Ich
wusste nur, ich würde ihm einmal ins Auge schauen. Ab jetzt muss es mir dienen.
Ich habe das System überwunden. Das ist unfassbar. Und sie merken es nicht, sie
merken es einfach nicht. Sie glauben, sie hätten alles im Griff. Oh ihr
Kleinmütigen – nicht einmal im Traum dürft ihr daran denken, wie sehr ich auf
euch herunterblicke. Ihr blickt durch mich hindurch und ich, ich… habe mich
noch. Von jetzt an bin ich Objekt.« Und er steht wirklich da, mit
zerrissenem Hemd und blutiger Hand, er hat etwas getan und jetzt entspricht es
nicht seinen Vorstellungen.
Dass Kunst Ware ist, dass
sie Ware sein kann, dass sie nichts als Ware sei, hat mehr Gehirne
in Bewegung gesetzt als jede andere Bestimmung, die ihr angehängt
wurde. Das ist verständlich, denn dadurch wurde sie Leuten
zugänglich, die sich ansonsten leichter erhängten als ein Wort von dem zu verstehen, was da
steht, oder denen diese
Bildsprache jetzt nichts sagt. Seit das Wort ›Fetisch‹ im
Raum steht, plappern sie unentwegt und sie finden, dass Kunst ein
guter Begleiter ist, eine wirklich wichtige Sache, ein Stück
Lebensart: »So wollen wir leben.« Unter dem Aspekt des größeren
Glücks für die größere Zahl wäre es allemal besser, wenn sich die
Künstler erhängten anstelle der Kunstliebhaber, leider war von
letzterem nie die Rede. Der Fetischcharakter ist in der Kunst das,
was die Gräten im Fisch sind: unerlässlich fürs Fortkommen, doch
unendlich lästig und endlich gefährlich für den Genießer.
Sie kaufen sich Zeit. Sie kaufen sich Zeit, wie sie sich immer Zeit
gekauft haben, sobald sie erst an der Macht waren. Die Macht ausüben heißt,
sie dafür einzusetzen, dass sie bei dem verbleibt, der sie ausübt. Das
muss nicht immer und überall die volle Wahrheit sein, aber es ist die
Grundrichtung aller Machtausübung. Tun, was getan werden muss, heißt
nicht, die Notwendigkeiten des Daseins aller zu beherzigen, sondern den
ungestörten Genuss der Beute zu sichern. Hier schlägt das Herz eines jeden
Feudalismus, ein anderes Herz kennt er nicht. Die Frage lautet also:
Was ist Feudalismus? Nicht der museale Feudalismus, dem Europa und die
Welt ihre Schlösschen und Paläste verdanken, durch die heute der Pöbel
flaniert, gierig darauf zu erfahren, wie man ›damals‹ zu leben
wusste. Der perennierende Feudalismus ist das System der
ersessenen Anwartschaften in einem auf Gefolgschaft gegründeten
System. Ein solches System kann starr exekutiert werden, dann läuft
es auf irgendeine Form des Staatskannibalismus hinaus, es kann auch
geschmeidig daherkommen und alle staatlichen Sicherungen unterlaufen,
ohne sie nach außen sichtbar in Gefahr zu bringen. Sein erstes Opfer
ist immer und überall das Recht: es wird weiter gesprochen, aber es ist
gezinkt. Doch bevor von Opfern die Rede sein kann, welkt das
öffentliche Wort. Es wird ersetzt durch die Prunkrede,
exornatio, untrügliches Kennzeichen feudaler Verhältnisse, und
ihren verbalen Schatten: die Vernichtung, nihilatio, des
gemeinsamen Feindes. Wer nicht verständigt ist, wer noch nicht weiß,
dass der Andere sein Feind ist, der kann nicht loyal sein. Der subtile
Feudalismus legt eine Schippe drauf und verdoppelt den Anderen: dem
einen verschafft er ein Privileg, dem anderen erlegt er auf, für seine
Kosten aufzukommen. Ein köstliches Spiel: die Erschaffung des Anderen
des Anderen durch Rechtsbruch oder, sagen wir, durch subtile
Modifikationen des Rechts, das keinen Anderen kennt, sondern nur Gleiche.
Wer Privilegien schafft, schafft Feinde ohne Auslauf, eine untertänige
Masse, deren Zähneknirschen sich bequem in Hoch-Rufe umdeuten lässt. Da
fällt Loyalität leicht, denn sie verkörpert das Schöne, das Leben ohne
Ressentiment, das Leben auf der richtigen Seite, das gern mit dem
richtigen Leben verwechselt wird. Aber was heißt schon richtig? Am Ende
aller Zeitkauferei steht das Gericht: Die Belle Époque ist verrauscht
und ein paar Überlebende krächzen: Wer damals nicht lebte,
hat nicht erfahren, was leben heißt.
Am Ende ist alles Feuerwerk. Das betont die Ratte mit feinem
Akzent, als sie die Zündschnur durchbeißt und sich des ungewohnten
Geschmacks wie einer fernen Morgenröte erfreut. Die sichere Distanz
wird nicht ersessen oder erarbeitet, sie wird erjuxt. »Das ist
nicht wahr«, schmollt das Tierreich, »einen Seufzer für jede
Wohltat.« Die aufregendsten Langweiler sind aber die Hasen, ihre
spröde und behende Art kommt aus dem hypertrophierten Gehör hervor
wie der Schnaps aus der Flasche.
Es gibt Kalauer, die man nicht ausführen muss. Nur soviel: keine Bambi-Verleihung und keine Bachmann-Festspiele werden den Antagonismus von Tabletten-Kunst und Literatur jemals besiegen können. Begründet liegt er in jenem ‑iteratur, im Wieder- und Wiederlesen, rein zeitlich im Verfügenkönnen über einen Gedanken, der einmal schriftlich fixiert wurde, und zwar an jeder Stelle, in jeder beliebigen Konfiguration. Das macht, abseits des Lesens, die ›Lektüre‹ zu einem so komischen Unterfangen: wer ein Buch einwirft, wie man Tabletten einwirft, der ärgert sich am Ende, den Film verpasst zu haben, oder er fühlt sich erhaben und ein wenig von der Welt im Stich gelassen, weil er sich soviel Zeit gelassen hat wie sonst kaum jemand. Er lobt sich also dafür, dass er so langsam ist. Vielleicht ist er das ja wirklich: dann ist das Buch sein Kino. Vielleicht hat er einfach zuviel Phantasie, die bei der Lektüre in alle Richtungen davongehen kann, während der Film sie mit Messerhieben traktiert. Oder das Gegenteil ist der Fall und der Film rauscht unverstanden vorbei. Nach aller Erfahrung ist das sogar die Regel. »Ach Gott, ja«: darin besteht die kathartische Anwandlung seitens aller Medien, die über die Zeit gebieten, verbunden mit einem dumpfen Wunsch nach Veränderung. Man könnte z.B. einen neuen Fernseher kaufen und sicher wird man jetzt das eine oder andere kritischer sehen als früher.
Seltsamerweise ist zu Beginn einer Entdeckung der Wunsch, das Entdeckte zu verändern, am größten. Erst später, wenn die wahren Dimensionen des Entdeckten nach und nach sichtbar werden, kehrt eine gewisse Ruhe ein und man lässt die Dinge an ihrem Ort, um von ihnen einen möglichst angemessenen Gebrauch zu machen. Nach diesem Muster wurden Kontinente durch Entdeckung zerstört, die unentdeckt einen langen zivilisatorischen Gang vor sich hatten. Am fruchtbarsten wirkt die Saat einer neuen Botschaft, fällt sie in unbedarfte Gemüter, sie wird furchtbar, vor allem Mitmenschen, die bereits weiter sind. Die erste, noch krude Computersimulation des Weltklimas bescherte der Menschheit einen ›Weltklimarat‹, um den alle sich drängen, denen die Ratlosigkeit ihrer Existenz das Gesicht weggebeizt hat: sie verhindern den wissenschaftlichen Fortschritt nicht, sie behindern ihn nur. Jede gezielte Förderung verändert das Wissen, verengt es zu einem Konglomerat aus Wissen und Überzeugung, das heißt ›Deckzeug‹, unter dem das Wissen zu modern beginnt und schließlich verfault, während die Apparate wuchern, die man aus ihm gewann. Archäologen haben mühsam gelernt, nicht jeden Grabungsfund trophäengleich in ferne Museen zu schaffen, sondern ihn in seiner Umgebung zu studieren und gegebenenfalls die Erdschicht wieder herzustellen, der er sein Überdauern verdankte. Nicht jede Wissenschaft ist auf diesem Stand angekommen, einige ähneln noch immer Granaten schwenkenden Kindern, denen die Finderlust im Gesicht steht.
Die Deutschen sind empfänglich für Untergangsschnitten mit Weihrauchperlen, selbst aus den Nachlässen Verstorbener klauben sie dergleichen heraus, das will etwas heißen. Es ist der Preis dafür, in einem nach allen Seiten offenen Lande zu leben, vor allem, wenn der Eindruck vorherrscht, die Politik habe auf Durchzug geschaltet, was vermutlich der Fall sein dürfte, doch der konkrete Nachweis fällt schwer. Das höchste Glück der Regierenden besteht darin, dass ihnen niemand rechtzeitig auf die Finger schaut, das tiefste Unglück der Regierten darin, dass es so ist. Alle paar Jahrzehnte geht dieses Land unter, danach verlaufen sich die Wasser, man begräbt die Toten, soweit die Umstände es gestatten, erörtert die Schuldfrage und zieht den Karren weiter. Welchen Karren? Ach den! Wie konnte ich das vergessen. Am Ende verlieren die Deutschen immer, schrieb Tolstoi in Krieg und Frieden – weil sie das kennen, sind sie so ungemein tüchtig, sie stürzen sich praktisch von einem Wiederaufbau in den nächsten und wissen doch stets, es hat keinen Zweck. Wieviel Geld ihre Arbeiter in fremde Taschen verdient haben, lässt sich nicht einmal ahnen, es ist auch unnötig, weil alle Taschen fremde zu sein pflegen außer der eigenen, gleichgültig, unter welcher Ländernummer sie registriert sind. Endlich sind längst nicht alle Arbeiter Deutsche, die hierzulande malochen, es lohnt praktisch kaum, die Staatsbürgerschaft eines Landes zu erwerben, in dem alles fließt, man weiß nicht, woher und wohin. Irgendwann sind die Deutschen an ihrer Herkunft so irre geworden, dass sie anstelle der weggeworfenen Ahnenpässe, die auch schon Fiktion waren, nur schlechte, sich nun Biographien erschreiben lassen: ein paar geschönte Eckdaten und schon läuft die Geschichte. Ein paar Jahre noch, und sie stammen alle aus dem Sudan wie vorher aus Polen oder dem Erzgebirge. Das nennen sie ›Nachdenken über Identität‹. Jedenfalls nannten sie es bis vor kurzem so, augenblicklich ist der Ausdruck ›Identität‹ verpönt und wer ihn zu anderen als denunziatorischen Zwecken verwendet, gilt als Nazi. Niemand weiß, wie es damit weitergeht, denn als Deutscher ohne Identität ist man polizeilich verdächtig und praktisch arbeitslos, vielleicht liegt darin die Zukunft.
Auf einer kleinen Anhöhe liegt das Kloster der bekennenden
Immanentisten. Sie reicht aus, um es gut sichtbar werden zu lassen,
doch fehlt jeder Anflug von Erhabenheit, die seine Bewohner mit an
Inbrunst grenzender Überzeugung ablehnen. Mit ein wenig Ironie
könnte man von einer Warft sprechen, aber das wäre gegen den
Comment. Gern nennen sich die Bekennenden hart, obwohl sie die
weichen Themen instinktiv vorziehen. ›Erkennen, was ist‹ lautet ihr
Motto, es steht auf einem kleinen Schild über der Klingel. Übrigens
mag man sie drücken oder auch nicht. Jede Annäherung haben sie
bereits von weitem erspäht und wissen, wie sie den Gast zu
empfangen haben. Nicht umsonst kaufen sie, so wie sich Gelegenheit
bietet, alles angrenzende Land zu. Viele dieser Käufe bleiben
unerkannt. Unmerklich verändern sie das Land, indem sie es mit
Markierungen überziehen. Manch einer orientiert sich daran. Das
merken sie und keiner ist ihnen in der Kunst der Wahrnehmung über.
Wer diese Abzweigung genommen hat oder jene, wann und wo und wie,
mit welchem Ausdruck im Gesicht – solche Fragen sind ihr tägliches
Brot und, seltsam anzuschauen, ihre Gymnastik. Es gibt Grade
weltfrommer Unbefangenheit, die sie aufs schärfste missbilligen.
Aus den Zeiten, als ihre Vorgänger nur Protokollsätze zuließen, ist
der Sinn für das Protokoll geblieben, das anderswo ›Etikette‹
heißt. Alles ist eine Zulassungsfrage, das haben sie klug erkannt
und beuten es aus. So ähnelt der Eingang in ihren Bezirk einem
Flaschenhals: Man sieht die Welt wie bisher, nur ein wenig verzerrt
und grün oder rot oder braun angelaufen, je nach Tageszeit, und man
fühlt sich an gewissen Stellen seltsam gehemmt. Wer nachgibt, darf
gleichwohl erwarten, dass er, alles in allem, zügig vorankommt.
Bleibt die Frage, ob man so aus der Flasche heraus- oder in sie
hineingelangt. Zugelassen ist die Frage selbstredend nicht, wer sie
trotzdem stellt, bekommt einen Cent.
Die Flucht aus der deutschen Frau in die erotischen Sachwerte: ein maskuliner Renner, wenn man es recht bedenkt, über Jahrzehnte. Jeder Kulturkreis ist recht, wenn’s nur dem Spaß dient. Werde geliebt! Das ist ein Imperativ, kurios wie fast jeder. Werde geliebt – und möge die Welt darüber zu Grunde gehen. Welche Welt? Die Welt der gesellschaftlichen Imperative? Die Welt des mageren Selbstseins? Die Welt der einsamen Konsequenzen? Kein Zweifel, die Freiheit in der Bewegung hat demgegenüber etwas Befreiendes. Man hat sich frei gemacht und man ist so frei: ein ganz natürlicher Vorgang wie z.B. das Wäschetrocknen, das bekanntlich von selbst geschieht, sobald ein wenig Sonne sich einmischt. Die Sonneneinmischung in die intimsten Dinge, sie ist bekannt und, sagen wir, keine Geheimnummer. Es mischt sich auch manches andere hinein, manches andere, ja, auch der Sachwert, sagen wir, personalisiert sich nach einer Weile, eher früher als gedacht, das ist ein ganz natürlicher Vorgang. Liebe, wem Liebe gebührt. Die Journaille nennt das Sex-Tourismus mit Spätfolgen, aber im Tourismus läuft die Tour anders, man hat es vermasselt und dient, nach allem, dem großen Transfer. Auf dem Missbrauchskonto steht groß und unbedarft und artikelfrei: Fremde.
Alle Welt kennt die Flüchtlingsfrage, alle Welt stellt sie oder zuckt mit den Achseln: Wohin mit den Flüchtlingen? Wovor sie flüchteten? Keiner weiß es, keiner fragt danach. Warum? Man weiß die Antwort im voraus: Krieg, Hunger, Ausbeutung, Verfolgung, Misshandlung, der sichere Tod. Warum fragen? Bedauern fällt leichter und hält weniger auf. Helfende Hände, dem Elend zugewandt: So sehen wir uns gern. So hätten wir uns gern. Nur tief drinnen regt sich leise der Unwille. Warum so viele? Warum jetzt? Könnte nicht das eine oder andere Elend warten? Könnte es sich nicht eine andere Bleibe suchen statt hierher auszuwandern? Hatten wir selbst gestern nicht schon genügend Sorgen? Wie wird es morgen sein? Was sich drinnen regt, dem schallt es draußen entgegen: »Wer hier? Freund oder Feind?« Wer seine Parole da nicht am Schnürchen hat, der sieht rasch alt aus oder wird es nimmermehr. Die Flüchtlingsfrage spaltet die Länder und Kontinente, warum? Weil jeder weiß, dass, was Menschen anrichten, vor Ort geheilt werden muss. Die Produktion von Flüchtlingen, die ihr Heil außer Landes suchen, muss gestoppt werden, wo immer sie anläuft, die Schuldigen, wo immer sie residieren und welche Immunitäten sie auch beanspruchen, müssen bestraft werden. Jeder weiß es. Wo Flucht ist, da ist Vertreibung, wo Vertreibung ist, da ist Unrecht, wo Unrecht ist, muss es bekämpft werden. Jeder weiß es, denn es ist unendlich einfach. Da lächeln die Verstrickten. So einfach, sagen sie, ist das nicht, sie haben, wie alle, Interessen und die Sorge um das Wohl der Menschheit geht vor. »Auch Flucht ist ein Geschäft, man muss die Renditen berechnen und langfristig denken. Flucht ist ein Lernprozess, in dem alle klüger werden. Ist es nicht das, was wir alle wollen: klüger werden? Darum übt euch in Barmherzigkeit, welche eine Tugend ist, denn sie macht euch klüger und uns wertvoller. Wenn ihr durch Schaden klug werden wollt: Ergreift die Chance! Da ist sie.«
Dass Fluchen, kommt es nicht von ganz oben, eine Form der Heterodoxie darstellt, ist allgemein bekannt. Du sollst nicht fluchen denen, die da oben für Ordnung sorgen, ist mithin die Regel, nach welcher der Fluchende, ob er will oder nicht, verfährt. Wie das? Dass er selbst die oberste Instanz sein könnte, erscheint ihm kaum glaubhaft. Eben deshalb will er es glauben machen. Die Leute können sich das Glaubenmachen nur als Nasführen, also als heuchlerische Verführung verständlich machen. So ist es nicht. Entscheidend für den Akt des Fluchens ist der Sprung, der sich in ihm vollzieht. Der Rausch des Glaubenmachens lässt den Fluchenden nicht unberührt, er erfasst ihn ganz und gar, er formt aus ihm keinen Gläubigen, aber er verhilft spontan zu dieser Empfindung des So muss es sein, ohne die unter Menschen nichts geht. Darin liegt das Geheimnis der Heterodoxie. Das Geheimnis der obersten Instanz hingegen liegt darin, dass sie niemals flucht. Jeder Fluch, jede Verfluchung ist ein Akt der Heterodoxie, die Einrichtung einer Fluchverbotszone für Anderstickende, die hier nichts zu sagen haben sollen, denn –. Man kennt sie gut, diese Denns, an denen ebenso viele Wenns hängen, auf dass die Verkettung der Schicksale kein Ende nehme.
Die Leute sondern ihre vorgeschriebenen Ängste ab, dass es einen schon nachdenklich macht. Aber wer schreibt sie ihnen vor? Menschen haben Angst, das ist bekannt, nur das Phänomen erklärt sich so nicht. Interessen, sagt der Kritiker: Interessen. Interessen sind das A und O der Marktgesellschaft. Also: die mächtigsten Interessen machen am meisten Angst. Man muss sich die Angstmacherei einmal praktisch vorstellen. Wer Angst macht oder verbreitet oder gemachte oder verbreitete Angst zu eigenen Zwecken missbraucht, der fürchtet sich nicht, jedenfalls nicht vor der Angst. Er betrachtet sie als gegeben. Auf dem Schachbrett der Mittel schiebt er sie dahin und dorthin, wo er sie gerade braucht. Wie er das macht? Ach du liebes bisschen. Schauen Sie sich um. Aber schauen Sie nicht zuviel. Es könnte Ihnen angst und bange werden. Warum ich das sage? Gegen einen Orkan, der im Gehirn wütet, sind die wenigsten gewappnet. Und selbst wenn sie es wären: Was sollen sie machen? Beidrehen heißt die Devise. Da tut es gut, ein Boot zu sehen, das, den sicheren Untergang im Hafen vor Augen, gegen die Flutwelle steuert.
Der Förderwille ist mit Sicherheit wilhelminischer Herkunft. Die
ältere Förderabsicht verging mit dem barocken Regierungsstil, nur
der Tourismus profitiert noch immer von ihr. Der Förderwille
hingegen erweist sich bis heute als ungebrochen. Ihm verdanken sich
bereits der Tirpitzsche Flottenbau, der märchenhafte Aufstieg
Krupps und des Simplizissimus aus den Niederungen altdeutscher
Borniertheit, späterhin die Filmwirtschaft und der Rennsport,
schließlich die Atombombe und das Fernsehen und die Windräder und
das deutsche Reedereigewerbe, aber auch die Rednergabe von
Sozialpolitikern und die Kultur. Vor allem letzteres erscheint
schlüssig, wenn man bedenkt, wie gering das Bedürfnis der Menschen
ist, ohne staatliche Anleitung Messer und Gabel zu benutzen, die
Schamteile zu bedecken, kulturell wertvolle Musik zu erzeugen und
Theater zu spielen. Nur geballter Förderwille hält diese Funktionen
in Gang und macht sie ausbaufähig. Hingegen muss das Schreiben
nicht gefördert werden, es sei denn bei Legasthenikern. Das liegt
daran, dass gute Texte sich von selbst schreiben. Bloß die weniger
guten machen Schwierigkeiten, für die der Staat wohl nicht
zuständig ist. Jedoch auch hier hat er seine Hände verdeckt im
Spiel und es spricht für ihn, wenn seinen Vertretern die Schamröte
ins Gesicht steigt, sobald einmal die Rede darauf kommt. Wer z. B.
ist sich beim Schreiben bewusst, dass nicht allein die Kommata sich
der staatlichen Vorratshaltung verdanken, sondern eine so
wunderbare Sinnlosigkeit wie das ›scharfe S‹ ohne Hintergedanken
der Macht praktisch bereits ausgestorben wäre? Aber wie wenig
besagt das gegenüber der im Zweijahresrhythmus erfolgenden Ausgabe
von Hochglanzwörtern. Nachdem sie in einer ersten Erprobungsphase
dem Verkehr zwischen den Erwählten der Macht und ihren
Planungsgehilfen Würde und Effektivität verleihen, beglücken sie in
schönem hierarchischem Abstieg das nach unverbrauchtem Ausdruck
dürstende Publikum. Tadelnswert ist der Staat dort, wo er sich
mittels Verordnungen direkt in die Benennung der Weltdinge
einmischt und in seiner grenzenlosen Naivität Menschen, Formen und
Dinge durcheinanderwürfelt, bis jedes ein künstliches
Geschlechtsteil im Gesicht trägt wie auf manchen Bildern Savinios
oder auf dem Gemälde eines verrückten Wiedertäufers, der von den
Gesinnungsgenossen in der Münsterschen Aa ertränkt wurde, zum
Leidwesen seiner bis heute hier und da auffindbaren Bewunderer.
Doch muss man zugeben, dass sich der moderne Staat auf diese Weise
eine neue Schicht von Ministerialen erschafft, eine Art Dienstadel
wie im frühen Mittelalter, Lehnsfrauen und -männer, die für ihn
durch dick und dünn gehen, je nach Kleiderordnung.
Einen Generationswechsel erkennt man unter anderem daran, dass die Leitwörter wechseln. Ich zum Beispiel – erzählt Rabe – hatte den lebhaften Eindruck, weggeräumt zu werden, als in den einschlägigen Kreisen das Fokussieren angesagt war, dieweil sein Vorgänger, die Konzentration, müde geworden der ewigen Anstrengung, vielleicht genervt von perfider Lagerhaft, durchs Hintertürchen verschwand. Psychologen empfehlen das Fokussieren fürs Leben gern. Es gibt ihnen das Bedürfnis, gebraucht zu werden und die Leistung zu erbringen, die dem schlaffen Gegenüber abgeht. Wer sich aufs Fokussieren fokussiert, dem soll es an nichts fehlen. Alles, was die Gesellschaft zu bieten hat, steht irgendwann im Fokus: dort steht es sich gut. Lästig sind nur die Preisschilder. Wenn sie bloß abgingen! Man sähe gleich, was dahinter steckt. So kauft man die Schilder und wird sie nicht los. – Wen scherts? Im Land hat sich viel getan. Auch die Alten fokussieren wie wild, der Bäcker nebenan zum Beispiel, ein Methusalem, der einfach nicht aufhören kann, ist ganz auf Vollkorn fokussiert. Warum nicht? Viele machen mit, um nicht erkannt zu werden, manche empfinden es als Verjüngungsbad. Was wissen wir schon! Genug immerhin, dass es zur Warnung reicht: alles Sinnen und Trachten ist für die Katz, sofern es an dieser Stelle über die Klinge springt. Nein, sie stehen nicht im Fokus, die Alten, ganz und gar nicht, und wenn, dann nur zur Demonstration, dass es noch Leute gibt, die das Fokussieren nicht von der Pike auf gelernt haben. Ja, sie lächeln, die Jungen, angesichts dieser scharf fokussierenden Alten, dann streichen sie das Lächeln aus dem Gesicht und werden ernst. Ein alter Fokussierer, mein Bruder, aber das tut nichts zur Sache, lebt vom Gnadenbrot der Gerichte – sie wissen schon, was er will, sobald er wieder antritt, und gewähren ihm kalt, was er heiß ersehnt: die Gnade der Demütigung.
Da nichts ohne Folgen ist, gelten die schwebenden Geister dieser
rätselhaften Strömungen, personifiziert nach ihrem jeweiligen
Anstoß, nicht nur als Verfolger einer bereits rückwärts eilenden
Vergangenheit, sondern selbst als Bedränger der Zukunft, die ja
auch von ihnen verfolgt wird. Durch das öffentliche oder auch
einzelne Schicksal bis weit in die Zeiten vor der Geburt eines
Menschen hat man die Folgeister entweder als drängende oder
fliehende Macht, schädlich entschwebend oder boshaft kommend, im
Rücken oder selbst im Kopf und im Schlaf und zumeist als Flecken
der schmerzenden Zukunft mitten im Auge. Verfolgt wird von allen
Seiten, daran hat sich seit Ewigkeiten nicht das geringste
geändert.
Der seit Urzeiten uns bedrückende Seelenrucksack war anfänglich
nichts als das Netz und der Schnappsack eines beginnenden Daseins,
das sich früh der Natur zu entziehen begann. Am Feuer magisch
entleert lasen schon in frühesten Zeiten Frymerker, die Vorläufer
der Poeten, den Inhalt, als wären es Kräuter der Luft. Wandernde
Kinder fingen sie ein. Im Cruciatus Animae des Feuervaters
vom Lichteler Wölobrunn sind Schuld und Schicksal von Kindern
gesammelt – entweder quälende Lasten im Rucksack oder schmerzende
Flecken im Auge. Indogermanischen Ursprungs, lange vor dem
Buddhismus, galt das verwirrende Schwebegesetz der Folgegeister, in
zweierlei Form vereinfacht, als Schuld und Schicksal oder Schicksal
und Schuld, und ward so zur Ursache jeder Philosophie als Netzwerk
ohne Erlösung.
Im Prinzip ist der Folgegeist dem immerwährenden Unheil eingebunden
und zwar »gleichen Ursprungs, aber geteilten Wesens«, eine
Wesensbestimmung, die auf dem Konzil zu Ephesus von den Magiern
unter den Christen Athens im Namen des gekreuzigten Jesus »wider
die Wohltaten Gottes« durchgesetzt wurde. (Siehe auch die
Gottblätter des Homomaris in Köln.) Erst mit dem Aufkommen
der Gnade verendete diese neue Geburt einer ausschließlich
menschenbezogenen Jesusphilosophie unter den Segensfäusten der
Theologen mit »fauler Psyche«. Noch wenig bekannt ist, dass die
Folgegeister, von welcher Seite auch immer sie wirken und woher sie
auch kommen mögen, ob aus der Natur vor oder nach der Schöpfung,
von höher geordneten Supergeistern verfolgt werden und im mal
governo schlimme Bedrückung erleiden. Sie wüten und strafen im
Niederen und erleiden die Folgen – von vorne bedroht und von hinten
bedrückt durch die Sonderform der infinitas animalis – bis in
unendliche Zeiten.
So zeigt sich im ältesten Werk der bildhaft strafenden Metaphysik,
bei Dante, »des Geometers Bogen« am Ende tatsächlich ja nur als
erster Kreis der Ewigkeit, den der Zirkel als farbige Luft
fahrlässig durchstochen hat. Dieser erste Kreis empfand durchaus
noch den Schmerz seiner Deutung und entwickelte Folgen, die einem
höchsten Zeichen Dantes nicht eigen sein dürften. Dieser höchst
künstliche Sonnenschein in all seinem Leuchten war eben noch immer
ein menschenverwandter Anfang.
In der Nachfolge jener verdrängten Urchristen Griechenlands wird
die Vermessung des Geistes durch falsch durchstochene Luftbilder
als schmerzende Seelenfolge betrachtet und seine Weiterentwicklung
im Kreise der Kaleidoskopen den Schattenforschungen
(Folgenforschungen) zugerechnet. Diese wiederum spielen in der
poetischen Heilkunst die Rolle, den geistigen Schmerz kollektiver
Strömungen zu erforschen. Es heißt beispielsweise bei ihnen:
»Gemessener Geist, (es ist hier die materielle Intelligenz gemeint)
treibt den Kopf an falsche Altäre.« Oder auch : »Wo der Zirkel der
objektiven Wahrheit den Geist durchsticht, entsteht der
schmerzhafte Irrtum«, oder: »Man durchbohre den Geist nicht
außerhalb seiner selbst.« - PM
Jedermann sieht die Spur der Verwüstung, die die Wissenschaften vom
Menschen hinter sich herziehen, ihr ewiges Zu-kurz-Springen, das
die neuesten Forschungsergebnisse mühsam verdecken. Morgen
schon werden sie Schnee von gestern sein, ein müdes Lächeln im
Gesicht der Auguren. Doch heute tun sie ihre Schuldigkeit, daran
besteht kein Zweifel. Jedermann schweigt, er ist niemand, eine
Theaterfigur, und wer geht schon ins Theater. In kaum jemandem hat
das sang- und klanglose Ende der Freudschen Dampfturbine, ›Psyche‹
genannt, den Verdacht aufgerührt, das Spiel der Enttäuschungen
könnte weiter gehen, viel weiter als die methodisch gesäuberten
Phantasien derer erlauben, die heute dran sind. Auch das
Computermodell des Bewusstseins ist vielleicht nicht aller Tage
Abend. Dahinter steckt System. An dieser Stelle nicken viele
heftig, die in ihrem Leben keinen einzigen wissenschaftlichen
Gedanken zu fassen imstande sein werden. Aber wer ist das schon.
Kaum jemand schweigt, das ist sein Markenzeichen, er kann nicht
anders. Dieses vertrackte Schweigen... niemand beherrscht es so gut
wie er, zwischen beiden herrscht eine Konkurrenz, die keiner sieht,
denn dieser sieht immer. Keiner, pflegte Großmutter zu sagen, weiß,
was er sieht. Vertraue niemand! Ein verwegener Rat, wie man sieht,
der letzterem eine Verantwortung aufbürdet, unter der er
zusammenbricht. Hinter dem stürzenden Niemand steigt Jedermanns
Standbild steil in die Höhe: Wer bräche da ins Knie? Umspült von
Wissenschaft, ein Opfer subtiler Folterkuren, ist keiner so wenig
beschlagen, dass er durchschaut werden könnte. Warum auch.
Können Verse narren? Spiegeln sie ein Leben vor? Sind sie deshalb verwerflich? Diese hier wurden verworfen, weil die Einsicht in ihr Mittelmaß unmittelbar der Erkenntnis entstieg, dass man gefoppt worden war. Warum gefoppt? Ist Literatur nicht fiction? Wurde der Comte de Lautréamont etwa von einer übellaunigen Kritik geschasst, als Monsieur Ducasse zum Vorschein kam? Der ganze Vorgang ist äußerst lächerlich – ein Stück Nachkrieg, dem das Wasser am Halse steht. In Wirklichkeit tickte das Wort ›Waffen-SS‹ in der leeren Brust eines ›Frühvollendeten‹, den es so nie gegeben hatte, und niemand wollte in der Nähe sein, wenn es hochging. Stattdessen erwischte es einen Nobelpreisträger, doch da war ein halbes Jahrhundert verstrichen. Seltsam die Rolle des aus dem nationalen Bewusstsein verdrängten Georg Forster im Hintergrund, als Namenspender für einen Angeber, den die Vorsicht zur Tollkühnheit trieb.
Bei der unbekannten Größe und Form aller Dinge die unbekannte
Richtung als euphorischer Weg in die scheinheilige Nullität der
Geschichte, denn diese allein wird von nun an von uns für gewiss
gehalten. So bekommen wir diesen Wegweiser des Narrentums, von den
wilden Windrichtungen der Windrose weit entfernt, durch die
Einseitigkeit eines Weges nach rückwärts. Wir haben die blitzhaft
zuckende Poesie von Himmel und Hölle verdrängt für die stille Null
eines Nebels von gestern. Sie macht selbst die Erde bodenlos, mit
all ihren technischen Löchern, das sind gerade die Nullen, ebenso
die der Granaten wie der Bohrlöcher.
Dieser Schwebezustand aus Glaube und Technik verläßt die Ställe
Darwins mit Geruch und Geräuschen aus den maskierten Ärschen der
Teufel, wie sie auf gotischen Tafeln gemalt worden sind. Denn
tatsächlich blickt hier die Steißgeburt des Verstandes nach
rückwärts. Zuerst in die Gewissheiten der Materie, dann in die
künstliche Unnatur der Selbstbarbarei und schließlich auf die
Schlachtfelder der Gemeinheit als großes Regietheater der
Geschichte. Die Blicke werden gemessen, sie werden berechnet und
bilden so die schrittweise explodierenden Gewissheiten, gleichsam
die Artillerie der Verblödung. Indessen steht die verkommene
Aufklärung mit dem gesenkten Phallus als Fackel aus Gummi
kreischend daneben, als sei sie soeben vom Lautsprecherwagen einer
Love Parade geklettert, um dem Menschenzoo näher zu sein. -
PM
Das wohlgeformte Frauenbein gibt es nur aus besonderem Anlass. Allein die wahren Inhaberinnen des Fleisches haben nichts zu verbergen und zeigen, was sie haben, bis an die Grenze, an der es verschwimmt. In diesem Frühjahr schaffen es selbst die an Jahren fortgeschrittenen Frauen, dass ihre Beine sich wie schwarze Würmer aus den angesagten hemdartigen Bekleidungen zu Boden ringeln. Was das alles bedeuten mag? Man sollte sich notieren, in welchem Jahr man sich bewegt, wenigstens das, bevor alles in einem anderen Einerlei aufgeht, das, wie jedes Einerlei, nur die Notdurft über dem Vielerlei zeigt.
Die Frauen in den liberalen Gesellschaften werden dieses
Etikett noch gründlich verfluchen, wie es einige ja bereits
tun. Es räumt Widerstände dort weg, wo sie vielleicht dringend
gebraucht würden, um schreckliche Rückschläge zu vermeiden oder
auch nur, um dem klassischen Eignungsdilemma auszuweichen. Aber es
geht ihnen bloß wie der mobilen Gesellschaft mit dem wachsenden
Wald der Verbotsschilder: sie blockieren das Denken an Stellen, an
denen es sehr zu empfehlen wäre. Die beamteten Macher fürchten das
ewige Problematisieren, sie wünschen freie Fahrt. Das Wort
›wirtschaftsfeindlich‹, weniger gefragt zu einer Zeit, in der sich
die staatlichen Instanzen vor Willfährigkeit überschlagen, wirkt da
wie ein Menetekel: einer Macht, die alle Türen eindrückt, wird man
niemals Genüge leisten. Auch diese Macht ist nicht die Wirtschaft, sie versteckt sich in,
gelegentlich hinter ihr und möchte nicht genannt werden. Die Macht
des Wähnens ist herrenlos: eine Karte, die jeder zückt, der sie
zufällig in die Hand bekommt. Manche Hände halten sie auffällig
oft.
Eine interessierte Gesellschaft behandelt die Frauen in summa und sperrt sie damit nachhaltig ins Frauen-Ghetto, das gerade zu öffnen sie ihnen versichert. Das gibt eine schöne Empörung, die sich in Feuilletons und dem kritischen Buch der Saison zu entladen weiß. Und sie bleibt wahr, solange es keiner Stützungskäufe bedarf, um die Währung ›Frau‹ vor dem Absturz in die gefährlichen Regionen des Weiblichkeitswahn zu bewahren. Nicht ob die Frauen mit den Verhältnissen, wie sie sind, zurechtkommen, ist die Frage, sondern ob man sie zurechtkommen lässt. Alles Zurechtrücken von Frauenbildern erzeugt nur Mode und Maskenbildnerei, alles Unterschieben von Fördermitteln und Extragewinnen aus Geschlechteranteilen steht im Verdacht, einem Weltbild zu huldigen, das der Apollonius von Tyrland, ein Ritterroman des späten Mittelalters, bündig zusammenfasst: »Ain weyb ist ain halber man«. Auch damals ging es um Frauenförderung, gelegentlich wäre es an der Zeit, sich auf die Wurzeln zu besinnen.
Immer, wenn die Frauenfrage gerade entbrennt, trägt sie den neuesten Schick, und immer verabschiedet sie sich in den Gewändern der Suffragetten von anno dunnemal unter der Versicherung, darum gehe es nun wirklich nicht mehr und frau hätte andere Sorgen. Übrigens ist das nicht nur eine Angelegenheit wechselnder Zeiten, sondern auch wechselnder Gemüts‑ und Lebenslagen, was ohne weiteres einleuchtet, weil die sogenannte Frage, genau betrachtet, ebenso wenig existiert wie sie nicht existiert. So wenig sie einst durch die überfällige, ein Jahrhundert lang aufgeschobene rechtliche Gleichstellung abgetan werden konnte, so wenig bringt die administrative Frauenförderung sie einer abschließenden Lösung näher. Stattdessen bringt sie, neben Vorteilen für Schnellentschlossene, neue Stressmodelle zum Tragen und wirft Fragen auf, die unbedingt beantwortet werden müssen, falls man sie nicht gerade vergessen möchte, weil eine bestimmte Art zu fragen mehr an den Abgründen kratzt als konstruktive Potentiale entbindet. Eine ethische Dimension allerdings hat die Frauenfrage und vielleicht liegt in ihr die Frage der Frage selbst beschlossen. Man kann die Frauen nicht fragen, was ihnen frommt, um diesen etwas altväterlichen Ausdruck hier zu benützen. Natürlich kann man sie fragen, kreuz und quer, mit Häkchen und Kreuzchen und ja und nein und Präferenzen und ›weiß nicht‹, aber diese Antworten bleiben stumm, weil sie immer nur Auskunft darüber geben, wie es die anderen halten. Die Lage der Frauen ist so, dass ihr bloßes Frausein nirgendwo ihre Interessen begrenzt oder ›definiert‹: so weit, immerhin, sind die Dinge nun wirklich gediehen und niemand sollte Uhren willkürlich anhalten, am wenigsten Uhrmacher.
Wer die sogenannte Frauenliteratur ein dürftiges Zeug zu nennen
wagte, hätte sie alle gegen sich. Dennoch empfinden die meisten
Frauen so und geben es unumwunden im privaten Gespräch zu
Protokoll. Sie schütteln den Kopf über die Männer, die nichts zu
bemerken vorgeben, die, wie immer, positiv entflammt sind, und
wissen Bescheid. Kalt taxieren sie die Motive derer, die den großen
Wandel der weiblichen Lebensformen, das neue Selbstbewusstsein und
die ererbten Einstellungen, die darin fortwirken, zu erwünschten
Geschichten und angesagten Begriffsmustern verarbeiten. Warum das
so ist? Sie kennen das Schweigen, das im weiblichen Schreiben
fortdauert, zu gut, um sich über seine Ziele zu täuschen, während
die Männer diesem wie allem Schreiben eine Art von Hilflosigkeit
entgegensetzen, als müssten sie den Sinn darin gegen den Widersinn
der Subjekte ertrotzen. Zu den Asymmetrien der Kultur gehört, dass
Frauen die besseren Biographien schreiben, weil sie, anders als die
Männer, nicht immerfort werten und sich dadurch das Beste entgehen
lassen. Über das Schweigen ist viel geschrieben
worden, darin liegt ein kaum zu vermeidender Fehler. Es schweigt
sich schwer über etwas, dessen Auswirkungen man alle Tage erlebt.
Wäre es aufzulösen, so wäre es längst verflogen wie so mancher
Hautgoût, den man nicht wegzubekommen meinte. »Wer viel redet,
verschweigt viel« – das mag gelegentlich richtig sein, sollte aber
um die Anmerkung ergänzt werden, dass nicht alles, was jemand
verschweigt, privater Natur sein muss. Man verschweigt gern, aus
Diskretion und anderen Gründen, was das Geheimnis aller ist. Von
ihm handeln die guten Biographen unter dem Schleier des
Persönlichen. Die ›Bewegten‹ erklären die Person gern zum
Konstrukt, das heißt, sie sind drauf und dran, das Geheimnis
auszuplaudern, aber es gelingt ihnen nicht, denn es ist
unaussprechbar, die Sprache scheut vor diesem Punkt zurück. Person
oder gar nicht sein – die Alternative gilt vielleicht eingeschränkt
für die vielen gesichtslosen Funktionsträger, die vergeblich nach
Büroschluss ›nach Hause‹ streben, wohl wissend, dass sie dort
nichts erwartet. ›Frau‹ wird man so nicht.
Man kann sie nicht scharf genug trennen: ein ›freier Denker‹ ist, wer keine Rücksicht auf Konventionen nimmt, jedenfalls nicht im Denken, einer, der bei Bedarf auch die Konventionen aufs Korn nimmt (nicht um sie abzuschießen, sondern um die Kenntnis von ihnen zu schärfen), einer, der Denken nicht tugendhaft, sondern als Tugend betreibt … der Formeln sind viele, das Ergebnis bleibt stets dasselbe. Der freie Denker ist im Denken frei – er nimmt sich nicht frei, er hat nicht frei, er verdrückt sich nicht, weil ihm seine Freiheit lieb ist, er nötigt sich nicht auf, weil ihm die Freiheit der anderen wichtiger scheint als die eigene, er will das Gleichgewicht der Welt nicht verändern, er will es auch nicht erhalten, er will es nicht einmal wissen, denn auch der Wille zum Wissen scheint ihm allzu gebunden zu sein: er droht ihn zu fesseln. Das ungebundene Denken empfindet die selbst-fabrizierten Fesseln am stärksten und streift sie ab. – Jetzt aber der ›Freidenker‹: er dünkt sich nicht frei, er denkt sich frei, er denkt sich heraus aus der Unfreiheit, die ihn sehr beschäftigt, im Grunde weiß er sich nichts anderes. Er lehnt die Unfreiheit so sehr ab, dass sie ihn ganz erfüllt, er denkt, es muss einen Ausweg geben und sucht ihn verzweifelt oder voller Hoffnungen und resigniert, sobald er bemerkt, dass er doch wieder in den alten Bahnen wandelt, ja wandelt, ein ›Wandelstern‹ auf verschlungenen Wegen ums allzeit verschlossene Paradies, ein rekursives Postulat der Vernunft. Denke dich frei! Doch dazu musst du dich wandeln. »Du musst dein Denken ändern!« Daran denken Freidenker alle Tage, es verfolgt sie im Schlaf, es verfolgt sie wie eine nie mehr abzutragende Schuld, denn, unter Freidenkern, die Änderei, was hat sie bisher bewirkt? Was hätte sie bewirken sollen? »Ich denke jetzt anders darüber.« So reden Geschäftsleute, falls ein Geschäft sich überraschend als unvorteilhaft erweist. Das bedeutet: »Ich würde, nach dem, was ich heute weiß, im Nachhinein gern die Finger davon lassen, aber es ist nun einmal geschehen, also reden wir nicht mehr darüber.« So sieht es aus, das andere Denken. »Gestern glaubte ich dies, heute glaube ich jenes.« Neues Denken, neue Irrtümer. Doch in den neuen stecken die alten. Sie haben sich gut maskiert, aber irgendwann wird die Maskerade lästig und auch der letzte Mohikaner erkennt: So einfach ist das nicht. Zwischen den Polen ›Das geht doch ganz einfach‹ und ›So einfach ist das nicht‹ schwingt die Freidenkerei – hin und her, her und hin, die Schaukelei gefällt ihr, sie mag sie nicht missen, es nimmt sie ihr auch niemand weg.
Es handelt sich bei ihm um ein vollkommen anderes Wesen, als es
sein vermeintlicher Ursprung aus der neueren Vernunft vermuten
lässt. Der wahre Freigeist ist vom Schnee der Blindheit umhüllt,
ein empfindsamer Schneemann, der die treibenden Flocken des
Neuschnees als durchsichtige Gedanken empfängt und mit dem Kern
seiner erfrorenen Tiernatur zu verbinden weiß. Die rote Möhre, die
ihm die Kindsnatur seiner Verehrer in den riesigen weißen Kopf
stößt, macht ihn in der einfachsten Weise blumenhaft. Mehr
Schönheit duldet er nicht. Der Rauch der Feuer in den Kaminen ist
ihm zu seiner Zeit, wenn er sich draußen sehen lässt, lieber als
das Feuer selbst, denn auch sein ganzes Gemüt ist weiß wie Schnee
und entsprechend empfindlich gegen die Hitze. Die Freigeisterei
bestimmt ihn, kälter zu leben als andere Menschen, feuerfrei ist
für ihn keinen Flintenschuß wert, vielmehr horcht er an den
öffentlichen Türen, ob die törichten Freuden um den Kamin,
politisch gefärbt, die Geschichte entstellen. Die Übereinkunft der
Lügner macht ihn noch kälter. Seine kleinen Verehrer liefern ihm
die aufgeschnappten Tabus und lassen auch sie, mit dem Freigeist
gemeinsam, von Neuschnee bedecken. - PM
Umsetzungsauftrag der Geistesmusik, sowohl von Beethoven wie
Bruckner. Ein Kriegsbegriff der Erlösung wohnt ihm inne und selbst
Napoleon konnte nur auf diese Weise von Hegel als Weltgeist erkannt
werden.
Die schwarzen Sklaven sangen bei ihren Aufständen auf Haiti: »Grenadiers
à l’assaut! / Ça qui mouri zaffaire à yo!« »Wer stirbt, ist selber
schuld.« Eine gewaltige Erkenntnis zum wahren Freiheitsbegriff, der
vom Christentum weit entfernt ist. Vielleicht heute noch in Indien
begreifbar.
Der Grundzug dieses Erlösungsgedankes besteht wohl darin, das Magma
der Erde durch die Schächte der Finsternis empor zu drängen, um,
oben angelangt, die Äcker so fruchtbar zu machen, dass sie, mit
Weinbergen bedeckt, dem Brot noch den Wein hinzufügen können.
Vulkanismus hieß dieser dem Geist der Urmutter Gaia und dem Bacchus
entsprechende Fruchtbarkeitskult, der, trotz der strengen Sitten
der Römer, seit Scipio-Asiagenes als berechtigte Trunksucht im
Geiste vulkanischer Erdunterstützung geduldet wurde. Durch die
Nutzung der geweihten vesuvischen Erde wurde der heilige Wein an
den nachmaligen Hängen des Lacrima Christi von beiden Gottheiten
geschützt. Heilige Trunksucht und lateinischer Erdmagnetismus sind
hier eng und wohl auch dionysisch miteinander verknüpft. Selbst die
Gänse des Kapitol wurden seit jener Zeit mit Brotbrocken ernährt,
die zuvor in den köstlich braunen vesuvischen Rotwein getunkt
wurden.
Die bedeutenden Suffragetten Italiens waren bei ihrer Gründung 1878
noch so klug, die Kapitolinischen Gänse zu ihrem Wahrzeichen zu
wählen, und das altehrwürdige Ristorante Oca di Roma an der
Milvischen Pforte war bis 1923 ihr Vereinslokal.
Die Freiheit, für sich genommen, ist ohne Verfügung durch Götter
saturnisch-chaotisch und reine Kunst, die indessen bezeichnenderweise
und lange genug, bis zur Erfindung der Stahlfeder, von Gänsekielen
begleitet wurde. - PM
Wenn sich ein zaghaftes Professorenstimmchen aufs Feld der Politik verirrt, dann ›gibt es zu bedenken‹, es ›könnte sich vorstellen‹, es ›hielte für vernünftig‹. Kaum aber wird es angeschossen, reagiert es wie von der Tarantel gestochen und giftet zurück, es vergiftet sich ganz und gar an seinem Abscheu, der nichts weiter darstellt als eine auf die abschüssige Bahn geratene Scheu, teils vor dem Unbekannten, teils vor der Macht, die von ihm ausstrahlt, teils vor der schwer kontrollierbaren Gewalt, die von ihm ausgeht. Manche, die sich ansonsten ganz im Hintergrund halten, schießen gegen den geringfügig mutigeren Kollegen, sie fürchten, dass er das Gift in ihre Kreise hineinträgt und tragen es schon im Leib. Menschen, die nichts weiter haben als ihren Ruf und das gesicherte Auskommen, das er ihnen bereitet, müssen vorsichtig sein, dass er nicht durch Gebrauch Schaden nimmt, es könnte sein, dass er ihnen auskommt und chancendämpfend auf die Karriere zurückschlägt: die Welt soll ihnen offen stehen, vor allem die Posten, die darin verteilt werden. Alles andere wäre ein wirkliches Desaster.
Sie trieben das Buch über die Freitreppe hinauf und verfolgten es
in die hintersten Räume, wo sie es endlich stellten: so entsprang
hinter der Bibliotheca Laurentiana der St. Lorenzstrom der
Literatur, in dem es von Monstern wimmelt, vor denen sich jede
Haifischflosse verzieht. Das Ungeheure, zum Ereignis geworden,
diminuiert sich selbst und seine Umgebung, das bewirkt der
Schatten, den es wirft und in den es sich stellt, als sei er der
große Bruder und verfüge über alle Mittel, den Kampf zu beenden,
bevor er begann. Welchen Kampf? Das ist das Geheimnis aller
Piraten. Freischärler, Aufständische aller Art haben davon gekostet
und Blut geleckt, am Ende hat man sie totgeschlagen. Im Kampf der
Deutungen leben sie weiter, Blutsäufer auch als Schattenwesen, mit
Brille und Haarnadel, als kämen sie frisch vom Trödel. Nichts liegt
ihnen ferner, nur das Herabschreiten beherrschen sie, als ginge es
immer noch himmelwärts. Wo sie irgend Grund berühren, ergreift sie
die Wallung. Deshalb hält man sie hoch, so gut man kann. Über alle
Köpfe hinaus, über die Herzen: sie leben doch, die Guten.
»Meinen Großvater hat man erschossen, die Waffe über der Schulter, das rauchende Wild in der Hand – auf frischer Tat ertappt, wie es heißt. Gern würde ich mich an sein Gesicht erinnern, doch das ist ausgeschlossen, ich war nicht dabei. Vielleicht hat man ihn gar nicht erschossen? Vielleicht wurde er weggesperrt und die Familie will nichts davon wissen? Sie wäre die erste nicht. Ich gehöre zur Familie, ich bin ein Teil von ihr – warum sollte gerade ich wissen wollen? Nein, ich will es nicht. Erinnern will ich mich – wenn es sein muss, auf eigene Faust. Diese Faust … sie ist das einzige, was ich habe, sie will geschwungen sein, egal, wieviel Kraft in ihr wohnt. Der unbändige Wille zur Erinnerung treibt mich in die Wälder, ich habe mir eine Waffe besorgt, ganz legal. Woher kommt es, dass ich mich vogelfrei fühle? ›Vogelfrei‹ ist vielleicht nicht das richtige Wort, ich will mich keinem Vogel vergleichen, höchstens einem schrägen, manchmal trifft man einen im Walde. Aber meinesgleichen war nie dabei. Ich bin, der ich bin. Wem soll ich es sagen? Bin ich ein trotziges Kind? Wem will ich trotzen? Der Witterung? Das lässt sie kalt.«
Fremdgedanken sind heimliche Gedanken, also solche, von denen der Organismus unwillkürlich annimmt, dass sie sich einem Fremdgehen verdanken, und die er deshalb zu verheimlichen strebt. »Welcher Organismus«, fragt G., er scheint zerstreut zu wirken. Keine Ahnung, was ihn gerade beschäftigt. »Lieber G., du hörst mir nicht zu, sonst wüsstest du gleich, wovon ich rede. Wäre es anders, so wärest du nicht gerade jetzt mit anderem beschäftigt. So aber weißt du recht gut, dass deine eigensten Gedanken dir am fremdartigsten erscheinen. Was soll das schon heißen: dir? Wenn du das Tier darin nicht erkennen willst, ist dir nicht zu helfen. Warum auch? Wenn Gedanken sich in Tiere verwandeln, wenn sie eine fremde Witterung annehmen, wenn sie beschnuppert werden wollen, wenn ihre Anziehung mächtig ist, obgleich ihre gedankliche Potenz gering erscheint, dann deshalb, weil der Organismus mit ihnen etwas anfangen kann und folglich bereits angefangen hat. Welcher Organismus?« »Lieber A., du hörst mir nicht zu: gerade das war meine Frage. Aber da du sie nicht beantworten kannst, will ich es versuchen. Was du gedankliche Potenz nennst, ist nur das wundersame System aus sich gegenseitig stützenden Annahmen, in denen ein einzelner Gedanke steht wie im Garten Eden. Diese Annahmen sind viel zu komplex, um präsent zu sein, sie werden vertreten von etwas flächiger geratenen Vorstellungen, die man die liebgewonnenen nennt, doch das ist ein Thema für sich. Aber das einfache, starke Gefühl, das damit gemeint ist, wird durch deine Fremdgedanken Lügen gestraft. Sonst noch Fragen?« »Du meinst...?« »Jeder Fremdgedanke ist ein Abschied vom Paradies, er spricht dem Einverständnis Hohn, das zwischen den Beteiligten herrscht. Sei unbeteiligt! Nur so viel, dass der Abschied in dir eine leere Hülle findet.«
Zu Beginn und am Ende des Rennens überwiegen die Fremdheitsgefühle.
Wenn die verzerrten Gesichter zurücktreten, wenn die Schwelle höher
liegt als erwartet und die Distanz kurz erscheint, wenn die Leute,
an denen man vorbeizieht oder deren wortloses Gekeuche einen eine
Zeitlang begleitet, so belanglos und selbstversunken erscheinen,
dass es dich graust, wenn das Rennen ebenso entschieden wie nutzlos
zu wirken beginnt und die Strecke sich in lauter Nebenwege
verzweigt, während die aufgewirbelte Aschewolke einen zweiten,
künstlichen Horizont zeichnet, der jeden, der sich umblickt,
erschreckt, wenn plötzlich die Toten, ausgeruht, wie es scheint,
neben einem auftauchen und sich nicht um das angeschlagene Tempo zu
kümmern scheinen, wenn Leute, mit denen man früher das Ziel zu
teilen glaubte, aus ganz anderen Vergangenheiten hervorzuströmen
beginnen, dann verwandelt sich der Läufer in einen von jenen
Schachspielern, die fast menschengroße Figuren auf schwarzen und
weißen Flächen herumschleppen, immer in Angst, die Anordnung der Felder aus dem
Auge zu verlieren und sich an falschen Rändern in Illusionen über
das Spiel zu ergehen. Er verwandelt sich und läuft dabei weiter.
Wohin? Wenn er das wüsste, dann wäre ihm vielleicht wohler. Er weiß
es aber nicht, deshalb bleibt auch das bloß Vermutung.
Dischko, mit diesem unfassbar feinen Gehör begabt, regt an, als
PolitikerInnen nur zuzulassen, wer sein privates Dasein unmittelbar
in Politik zu überführen vermag. »Kosmos, Oikos, Phrenos« sagt er
mit einem leicht drohenden Unterton, man kann nicht unterscheiden,
ob er damit meint: ›Wie der Herr, so’s Gscherr‹, aber aufgrund
seiner nicht geschlechtergerechten Sprache scheidet der Spruch
ohnehin aus. Es gibt auch andere, die man zitieren könnte, doch
worum es dem Autor geht, ist die Vereinbarkeit. »Geht doch!« ist
seine Standardformel, wenn die Durchstechereien von Leuten ruchbar
werden, die behaupten, sie könnten ihre eigene Steuererklärung
nicht lesen. »Geht doch!«, wenn sich Leute nach einer Nacktstrecke
warm anziehen dürfen. »Geht doch!«, wenn die Ministerin eine
Pferdezucht und Kinder wie Orgelpfeifen vorweisen kann. »Geht
doch!«, wenn der Gesamtschullobbyist seine Kinder aufs Gymnasium
schickt, »Geht doch!«, wenn die Haushaltsexpertin nach einem
häuslichen Anruf unwillkürlich in die alte Rechtschreibung
verfällt, »Geht doch«, wenn die verunsicherte Hinterbänklerin ihre
illegale Putzfrau gegen eine Fortbildung tauscht, »Geht doch!«,
wenn der Herr Amtsanwärter mediengerecht die Klinken seiner Frauen
putzt, um zu zeigen, dass ein Mann nicht nur Nerven, sondern auch
Psyche besitzt, »Geht doch!«, wenn dem Eurokommissar die
Tabakkrümel vom Anzug rollen und das Geschwader
der CO2-Reduzierer seine Urlaubsmaschinen besteigt.
Was geht und was nicht geht, geht selten zusammen, allenfalls die
Treppe herunter, dann wird es sichtbar. Wie sie hinaufgekommen
sind, wer soll das wissen? Man wird PolitikerInnenkarrieren als ordentliche
Staatsgeheimnisse zu behandeln sich entschließen müssen, damit die
Ausgießung des Privaten in Form von Gesetzen und Verordnungen
ungehinderter vonstatten geht, als dies heute bereits der Fall ist.
Der Schein der Sichtbarkeit sollte die Ersten unter Ihresgleichen
umglänzen, nicht umwabern, wozu gäbe es sonst Reformen.
Sobald die performance beginnt und die angehübschten Interessenvertreter sich vor den Studio-Kameras das Wort aus dem Munde nehmen wie ein falsches Gebiss, versinken das Leid und das Elend der Welt und die Sorge um die gemeinsame Zukunft zeigt, was manch einer eine Fresse nennt.
»Der Frevel ist stets eines Steinmetzen Kappe gewesen.« So heißt es
in Christian Lodendorffs Schrift Über die Spitznamen des Teufels. Die
Kappe war ursprünglich die gebräuchliche Mütze der Steinmetze, der
›Mäzenes‹, bei der Arbeit auf hohen Türmen. Als Windmütze bestand
sie aus Leder und aufgenähen Plättchen aus Alabaster, gelegentlich
wohl auch aus Schiefer. Im Umkreis des Kölner Doms oder an
ähnlichen Plätzen in Straßburg, Ulm oder Speyer fand man sie
haufenweise sowohl aus Pergament wie aus Ziegenleder.
Neuerdings fand man sie auch bei Lützen und Magdeburg als billige
Sturmhauben ärmerer Landsknechte, wodurch ihr Name wohl erst in
Verruf geriet, denn diese wüteten (›frevelten‹) am ärgsten. -
PM
Kleine Schwester der Friedensdividende, die einstreicht, wer friedfertig und reinen Herzens ist. Die kleine Schwester trägt, wie so oft im Leben, Bosheit im Herzen und lächelt süßlich, sie hat den Frieden gepachtet, aber die Pacht läuft aus und keine Verlängerung ist zu erreichen. »Friede!«, säuselt sie unentwegt, »Friede, Friede, Friede!« Sie lässt sogar Plakate drucken, auf denen weiter nichts steht, nur das kleine Logo am unteren Rand weist darauf hin, dass es ihre Plakate sind und die Botschaft ihr gehört, ihr ganz allein. Das ist zwar gelogen, aber sie kann so bitterlich weinen, dass man nicht weiter darauf beharrt und ihr zur Aussöhnung einen Fuffziger schenkt. Das macht sie wieder froh und lässt ihre Äuglein glänzen.
»Friedhöfe – das Gedächtnis unserer Stadt.« Man muss den Satz zweimal lesen, um seine
Ungeheuerlichkeit zu begreifen. Beim dritten Mal
fällt einem ein, wieviel schlichtes Wissen um die menschlichen
Dinge beerdigt wird, sobald es einer Theorie beifällt, Gedenk- und
Gedächtnisorte so miteinander zu vermengen. Dabei sind selbst die
Gedächtnisorte ›im engeren Sinn‹ wie Bibliotheken, Archive, Museen
nicht ohne Tücke. Allzu oft vernebelt die Rede vom kulturellen
Gedächtnis den einfachen Tatbestand, dass Gedächtnis ohne
Bewusstsein nichts weiter ist als eine Schimäre. ›Da drinnen‹
findet es statt, nicht in reizvoller Innenstadtlage mit anhängigem
Cafébetrieb. Aber was heißt schon Bewusstsein angesichts von
Leuten, die einem mit starrem Blick versichern, das sei ihnen
durchaus bewusst. Sie haben es nicht besser gelernt; nichts anderes
besagt ja die Theorie, die sie instinktiv für richtig halten, weil
ihnen der theoretische Sinn abgeht, den sie ›im Betrieb‹ täglich
unter Beweis stellen müssen. Dass sich Unsinn tradiert, bedarf
keiner weiteren Erläuterung. Man muss nur die Inschriften auf den
Friedhöfen lesen, um zu wissen, wie im Erbfall gelogen wird.
Insofern sind die Gedächtnisse, immer hübsch im Plural, der
Friedhof der Vergangenheit. Kein Gedanke ist Vergangenheit – er ist
Gegenwart oder gar nicht, wie die Würmer, die ihre Bahn durch die
teuren Toten ziehen und dafür sorgen, dass nichts Nennenswertes von
ihnen erhalten bleibt außer ein paar Knochen, an denen jeder
Gedanke versagt.
Wer zur Fruchtbarkeit rät, der gerät rascher an sie, als ihm lieb ist. »Seid fruchtbar und mehret euch!« Das ist biblisch, aber den Bibelkundigen wächst es zu den Ohren heraus, vielleicht auch zur Nase, man sieht solche Leute nicht an, weil ihr Ansehen ohnedies groß ist. Mehrt sich die Menschheit, so mehren sich die Bedenken. Allerdings mehren sich die Bedenken nur in den zugewiesenen Arealen, also dort, wo die restliche Menschheit Niedergang ortet: Eure Probleme hätten wir gern! Wirklich? Oh nein, um nichts in der Welt. »Erlösung dem Erlöser« singt man bei Wagner, das juckt die Frommen, die sich längst selbst in die Erlöser-Pose geschwungen haben, weil es sie aus ihrer Ratlosigkeit zu holen verspricht. Europa importiert die Fruchtbarkeit, die ihm selbst abgeht, aus Gegenden, in denen sie wild wächst, weil es glaubt, es könne sie zu Arbeiten zähmen, auf die es nicht verzichten will, ohne sie auszuüben – und sei es nur, damit ihm die Renten pünktlich gezahlt werden. »Wer soll unsere Renten bezahlen?« murmeln die letzten Menschen, wissend, dass draußen Interessenten Schlange stehen, die auch an ihnen interessiert sind. So eine Rente ist schließlich das Letzte, was sich ein Mensch im Leben gönnt, außer dem Sterben, das später kommt und daher außer Betracht bleibt. Immer älter zu werden ist eine fixe Idee, die nach und nach alle anderen auffrisst, mit Haut und Haar, mit Knochen und Eingeweiden, sie entspringt der Ratlosigkeit, ohne sie je zu verlassen, sie dehnt und dehnt sie – man sollte denken, sie müsste irgendwann platzen, aber das wäre nicht ihre Art, sie kommt mit jeder Größenordnung zurecht. Am ratlosesten scheinen die jungen Frauen, sie ließen sich gern beraten, aber die Verantwortung wäre zu groß und deshalb findet sich niemand. Also warten sie ab und achten auf ihre Linie. Erst wenn guter Rat teuer ist, springen die Ratgeber aus den Ecken: auf diesen Moment haben sie gewartet, sie glauben an win-win-Situationen, die ihnen die Taschen füllen, während die Klienten viel von ihnen lernen dürfen.
Glauben Sie mir: die Wetterfühligkeit hat mich gemacht. Diese
Möglichkeit, alles, was einen bewegt, nach außen zu tragen, es dem
immer beweglichen Elementargeschehen anzuhängen, ist sehr bequem,
wenn man weiß, was man will. Zu wissen, was man will, kann
ausgesprochen hinderlich sein, weil man leicht dahin gerät, zu
stark zu wollen oder zu direkt oder auch nur zu wollen. Da macht
sich das Wetter verdient, es sorgt für Doppelungen,
Verschleifungen, Spiegelungen, Eintrübungen, Aufruhre, Aufschübe
und Verdämmerungen, es rührt den Schmerz hinein und die Lust am
Dasein, lauter Dinge, die dem, was einer will, eine Wirklichkeit
vor jeder Wirklichkeit anhängen, die dann auch nicht mehr vonnöten
ist, wie man sagt, obwohl sich daran die Geister scheiden. Ich für
meinen Teil spüre die Nötigung und sie leistet mir gute Dienste.
Andere mögen es anders halten. Warum miteinander rechten? Es ist
unnötig, sage ich ihnen, und mehrt die Notdurft.
Dieser Aal lebt in trüben Gewässern, dort, wo sich wenig bewegt. Er selbst erscheint immer bewegt, wenngleich die Geschwindigkeit, mit der er vorwärts gleitet, in den Augen derer, die ihn lieben, zu wünschen übriglässt. Aber wer liebt ihn schon? Leute, denen das Wasser im Munde zusammenläuft, wenn sie daran denken, dass sie ihn schlachten werden, sobald er dick und fett geworden ist. Bis dahin lassen sie ihn schwimmen, sie wissen ja, wo er steht.
Man kann alles zum Ismus machen, warum nicht ein Fundament? Freunde, das geht ganz einfach. Man klingelt die Hausbewohner zur Nachtzeit heraus und warnt sie, in der Stimme den blanken Terror: Das Fundament, das Fundament … ja was denn? Etwas Furchtbares braut sich zusammen. Am besten, man verteilt Handzettel, das erzeugt immer Eindruck und niemand liest schon genau, besonders in dieser prekären Lage. Da stehen sie jetzt im Nachtzeug herum, es ist kalt, ein Eishauch streicht übers Haar, die Frauen legen Kopftücher an und die Männer … ach die! Sie sprechen sich Mut zu, ein Rachenputzer käme nicht ungelegen, derweil überschlagen sie ihre Barschaft und was der Auszug sie kosten würde. Inzwischen rollen die Bagger an, die Hälfte des Hauses liegt bereits in Trümmern, die Nachbarschaft regt sich tierisch auf und die Polizei … wo bleibt die Polizei? Aaaah, da erscheint sie schon, gerade noch rechtzeitig, um den ersten Ausraster wegzufischen. Beim nächsten wird ihr das nicht mehr so leicht gelingen. Steigt der Aggressivitätspegel, so mutiert der Mensch zur Rotte. Wer zum Teufel hat behauptet, dass am Fundament etwas nicht stimmt? »Auf dieses Fundament war und ist Verlass, mehr als auf alles andere, wer es angreift, dessen Hand soll verdorren, dessen Name sei verflucht, sein Eigentum in alle Winde zerstreut. Wo steckt der Hund? Eben war er noch da. Keine Angst: wir werden ihn schnell genug finden, ihn und seine Sippe.« Unter Fundamentalisten: Wie konnte, was für die Ewigkeit gebaut schien, so rasch in Verruf geraten? Was nun? Wenn Fundamente wanken, dann purzelt der Mensch. Umgekehrt gilt: Das muss nicht sein.
Das ist meine Vision von Fundamentalkritik: die Post versichert, sie
wurde zugestellt, aber der Empfänger weiß nichts davon, er hat
nichts bemerkt und sie ist, zum Leidwesen ihres Verfassers, nirgendwo
aufzufinden – bis, Jahre später, die freundliche Nachbarin ein
verstaubtes Päckchen zum Vorschein bringt: Was ist das? Wo kommt es
her? Das wurde hier vergessen, aber von wem? Fundamentalkritik ist so
fundamental, dass derjenige, der sie ersinnt, nicht anders denken
kann, als dass die Fundamente, ihr ausgesetzt, unverzüglich zu
wanken beginnen. Sie wanken aber nicht, sie stehen fest wie zuvor.
Wenn das ein Angriff war, wo fand er statt? Die Kenner schwanken
noch, nicht, weil sie einen über den Durst getrunken haben, sondern
weil die Materie so überaus diffizil ist, dass man sich leicht die
Finger verbrennt oder ins Abseits gerät – eine bemerkenswerte
Alternative, kommt häufiger vor als man denkt. Was dem Denken keinen
guten Leumund ausstellt: warum denkt es nicht häufiger? Allerdings
ist es mit der Häufigkeit nicht getan, es muss noch etwas
hinzukommen, etwas, das die Alten Ich-weiß-nicht-was nannten, und
tatsächlich, sie wussten es ebenso wenig wie ein
Fundamentalkritiker, mit dem Unterschied, dass er das
Ich-weiß-nicht-was nicht kennt. Dabei weiß er so vieles nicht und
keiner bringt es ihm bei, denn er ist immer zu schnell und geht nur
auf die Fundamente. Das wurmt die Menschen, die meisten lassen auf
die Fundamente nichts kommen und ärgern sich bloß, wenn es zum Dach
hereinregnet oder wenn der Strom ausfällt. Das ist ein Fehler,
gewiss, aber deshalb gleich das ganze Haus abreißen? Wo kommt man da
hin?
Die rohen Kräfte des Denkens wollen entfesselt werden, sie kratzen
an den Käfigen, in die man sie gesteckt hat, zusammen mit den
feineren, die bei dieser Gelegenheit lernen, was das Leben von
ihnen fordert, zumindest sollten sie das, der Theorie nach. Was am
Ende herauskommt, davon erhält man selten einen Begriff. Warum
auch? Begriffe, als Umwege definiert, werden niedergerannt, wie es
nur geht und steht, die Vorgärten, einst blühende
Musterlandschaften, sind von Maulwurfsgängen unterminiert und
zeigen in der Draufsicht zarte Arabesken aus Trampelpfaden, die der
Blick aus der Nähe so nicht wiedererkennt. Aber was erkennt ein
Blick schon, dem es an Schärfe gebricht? Wenn es hochkommt, nicht
viel, und darunter – pah! Das ist schade, es stellt sich die Frage
nach dem Gebrechen selbst, dem Streublick, der dem Denken
vorangeht, als habe er es hinter sich. Er zwinkert, gleichsam im
Blicken, als wolle er sagen: Seht nur, was nachkommt, aber man
bemerkt nichts, nur diesen seltsamen Blick, der einem durch und
durch geht, so sehr ist er mit allem durch. Dieser Blick ist mit
dem rohen Denken ein Bündnis eingegangen, doch er ist nicht mit ihm
›im Bund‹, wie die Leute sagen, das ist, er macht sich nicht
gemein. Er macht sich überhaupt nicht gemein; wenn das ein Fehler
ist, steht er zu ihm. Nur grob darf man den Fehler nicht nennen,
das goutiert der Blick nicht, da wächst die Unnahbarkeit, da karrt
einer Eis in die Wüste. Das rohe Denken ist derweil so wüst nicht,
wie mancher denkt. Es misstraut nur den Köchen. Hat es darin nicht
recht? Leiden nicht alle unter den Köchen? Wer um den heißen Brei
schleicht, ist schon verständigt, er trägt das Mal und will kein
zweites.
Die zu blattlosen Ästen und Hecken zusammengefügten, tänzerisch
beseelten Umrisse Italo Garganellis entstanden zumeist mit großem
Schwung auf den Spiegeln gefrorener Seen, hoch in den Alpen. Hier
tanzte der Meister im Winter seinen ›grafiko al di sotto Alpine‹.
Bei seinem bisher letzten größeren Auftritt entstanden allerdings
zwei Blattdämonen, die den anwesenden Homomaris in Erstaunen und Schrecken versetzten.
Er sah in ihnen den Anfang einer Theateraufführung unter
abgefallenen deutsch-protestantischen und bekennenden
italienisch-katholischen Hexen zum Zweck der Beschädigung aller
männlichen Köpfe nach Goethe. Garganelli selber war ratlos und
legte seine an den Kufen mit kostbaren Bergkristallen besetzen
Schlittschuhe ab, um siebenTage später auf neu angefertigten
Schlittschuhen, mit seltenen schwarzen Korallen besetzt, von
Homomaris angeschoben, einen Gegenzauber zu tanzen. Über die
Auswirkungen dieser Bewegungen, bei welchen sogar die schwarzen
Korallen fast gänzlich abgenutzt wurden, ist nichts weiter bekannt
geworden.
In Kreisen der Kenner wartet man vorerst ein Urteil Garganellis ab.
Günstiges zeigte sich bisher nicht. Das Bild, das vom Gebirge herab
mit Ferngläsern betrachtet wurde, ergab eine vielleicht noch
schlimmere Hexengestalt, die neben den Spuren, die Garganelli
gezogen hatte, unerklärliche Linien bildete, welche jedoch von
übenden Dilettanten stammen konnten, die ja alle Künste des
Meisters bewundern und immer schon eifrige Nachahmer seiner Linien
waren. Aber niemand, der das Besondere des neueren Hexenwesens
kennt, er sei nun getäuschter Liebhaber, Ehemann oder Rechtsanwalt,
wird mit Vergesslichkeit oder Gnade der Hexen rechnen. Erst ein
älterer Malerplan von mehreren Metern Länge, aus einem Dachstuhl in
ferner Gegend herab gezogen, ergab endlich durch die Darstellung
eines Drachensturms von erbittertem Schwung eine neue Einsicht.
Ausgehend von der alten Erkenntnis, dass Drachen die Hexen hassen,
beschloss Garganelli, das matt gewordene Bild im nächsten Winter
durch Tanz zu erfrischen. Das Ergebnis gilt es dann abzuwarten. -
PM
Dass der Fortschritt so leicht verhöhnt werden kann, liegt auch an
der Sprache: man verlacht ihn gern und fürchtet die Progression.
Wohin geht die Reise? Fort, wohin sonst, nur fort! Da wissen die
Sesshaften, womit sie es zu tun haben, und halten sich heimlich den
Bauch vor Lachen. In zweihundert Jahren sieht man sich wieder. Die
Progression geht ihren stetigen Gang, sie ist das Salz der
Statistik, sie ist das, was man sieht und fühlt, alle
Teuerungsraten fließen am Ende zusammen in einer, der
Gattungsteuerung. So teuer wird sich die Gattung, dass sie die
Unkosten kaum mehr aufbringen kann und hinter sich blickt. Dieses
Gattungswesen, das im Einzelnen das Auge aufschlägt und nach
Statistiken Ausschau hält, die ihm das Gefühl geben zu sein,
progrediert, kein Zweifel, das Dunkel, aus dem es kommt, hat es wie
einen Mantel um sich geschlagen, wie man hört, geht es einer
ungewissen Zukunft entgegen, was einen im Stillen wundert, wo doch
die Gewissheiten auf dem Tisch liegen und darauf warten, dass einer
kommt, der sie durchblättert. Das muss wohl ein anderer sein,
Gattung II oder wie man
ihn nennen mag. Vielleicht ist Gattung das falsche Wort und es geht
nichts. Auch diese Auffassung hat ihre Liebhaber. Zu Beginn des
dritten Jahrtausends, inmitten einer, wie Herr Sloterdjik meint,
zweiten Achsenzeit, an der Schwelle zu einer neuen Menschheit tut
es gut, sich daran zu erinnern, dass schon die alte wenig mehr
darstellt als eine Schwierigkeit – des Denkens, des Empfindens, des
Glaubens, des Weiterkommens, im Grunde des Alphabets.
Das Wort abschneiden kann jeder, aber den Gaumen –! Dazu muss man
wissen, wozu der Mensch seinen Gaumen benötigt, wirklich benötigt, allzu
viel passiert dieses Organ, darunter Dinge, die niemals passieren dürften, unaussprechliche, und damit sind wir beim Thema. Unter Gaumenabschneidern gilt die Regel,
dass, wer nie um ein Wort verlegen ist, als Sicherheitsrisiko gehandelt wird und eine
Behandlung verdient. Ganz recht: Man muss sich ihre Behandlung
verdienen, sie kommen ungerufen, aber nicht ohne Vorlauf. Der Mensch
denkt, der Gaumenabschneider … lauert darauf, dass er es
ausspricht. Dann lauert er weiter, bis seine Stunde naht. Eigentlich
liegt ihm nichts an dem, was der andere denkt. Er steht auf Wörter,
allein auf Wörter. Wörter sind für ihn, wie für den Beichtvater,
Laien-Bekenntnisse: Was nicht im Beichtspiegel steht, ist ohne
Belang. Die Wortlisten der Gaumenabschneider sind lang, sie quellen aus den Hexenküchen von
Analphabeten, die vorurteilslos ihren Dienst am Wort verrichten, auf
dass ihrer aller Sprache sich rein erhalte. Ja, es ist ihre Sprache,
sie haben sie irgendwann gekapert und entführt. Auch
Gaumenabschneider bekommen sie nicht zu Gesicht, sie wissen gar
nicht, wovon sie reden, und schneiden, wie und wo es ihnen gefällt.
Als die Gebärratte hörte, dass sie ihr Soll nicht erfülle und daher versetzt werden sollte, rastete sie aus. »Was soll das heißen? Bin jetzt ich an allem schuld? Gestern die Klimaratte, heute ich. Das ist das Leben. Was für ein Leben? Danach fragt keiner. Ein Rattenleben vielleicht? Dass ich nicht lache. Nebenbei, was habt ihr nicht alles in die Klimaratte hineingesteckt. Bei mir hingegen – Fehlanzeige. Ihr wolltet nicht einmal sehen, dass es mich gibt. Nicht wahrhaben wolltet ihr mich, nicht wahr? Ihr Fehlhaber! Dabei bin ich nur die Relation. Eine klitzekleine Relation. Meinetwegen könnt ihr Nachwuchs bekommen, soviel ihr wollt. Ich bin die Relation. Ihr könnt auch sagen, ich bin eure Zukunft. Bestreitet es ruhig, das bin ich gewöhnt. Ich husche über die Bühne und ihr seid entsetzt. Wo kommt das Vieh her? Jagt das Vieh! So redet ihr, reichlich ungeniert, wie mir scheint, denn ich bin eine Zahl wie ihr selbst. Gleich geboren! Mit Rechten! Mit gleichen Rechten! Mit einem Unterschied: mich könnt ihr recherchieren. Was davon gehört? Ach ihr winkt ab. Das kenne ich, das kenne ich gut. Mich recherchiert man nicht, mich hat man im Blut. Oder im Urin. Oder im Speichel. Ihr Armen im Geiste! Armselige Windmacher, denen bei Wind die Puste ausgeht.«
Aber wenn es das Leben gilt, wo bleibt dann das Leben? Hält es sich
hinter den Leidgebirgen versteckt und lugt nur ein wenig hervor, um
im geeigneten Augenblick davon zu rennen? Die Menschen lieben doch
das Leben, sie besitzen eins, das sie um jeden Preis bewahren
wollen, sie stehen Schlange an jeder Kasse, die sich vor ihnen
auftut, und zahlen astronomische Summen – wofür? Zweifellos dafür,
leben zu dürfen. Sind sie denn Geiseln, die sich selbst auslösen
müssen? Oder sind sie unter die Wegelagerer gefallen und entledigen
sich nun, um irgend davonzukommen, nach und nach ihrer Barschaft
und ihrer Wertgegenstände? Mitnichten. Sie arbeiten ja, es strömt
ihnen zu, beidseitig, Sex und Geld, das ist wichtig zu wissen, um
nicht zu falschen Schlussfolgerungen zu gelangen. Nein, auslösen
wollen sie sich nicht, eher hineinbohren in etwas, was außer ihnen
niemand sieht. Es sind Maulwürfe, denen der Erdgeruch teuer ist,
und sie bewegen sich, wie der Instinkt es befiehlt. Aber bewegen
sie sich? Das ist die Frage. »Eher weniger«, sagt G. und schneuzt
sich. »Das ist es ja. Die Witterung trägt ihnen etwas zu.
Was sie ihnen zuträgt,
weiß keiner. Was immer der Instinkt ihnen befiehlt, er kann es
nicht richten.« Soll er das? Was ist das für ein Instinkt, der es
nicht richtet? Richtet er sich nicht selbst? Richtet er sich nicht
ununterbrochen? Sind sie nicht genau das: ein tägliches
Standgericht über sich selbst? Wenn sie aufstehen, worüber erheben
sie sich? Sie können nicht liegen bleiben, soviel ist sicher. Die
in den Betten bleiben und künstlich, wie es heißt, versorgt werden
müssen, sie sind im Leben angekommen. Sie haben es hinter sich,
sagen die Leute erleichtert, wenn die Geräte abgeschaltet sind und
die Betten in die Empfangslage zurückrollen. Woher die
Erleichterung? Woher der Neid auf die Toten, wenn alles lebt? Ist
das Leben des Bewusstseins Leben?
Tut dies zu meinem
Gedächtnis – einer muss kommen, der die Stunde ansagt,
vielleicht ein zweiter, ein dritter. Mehr dürfen es nicht werden,
dann ist Schluss. Es dürfen die Jünger kommen, die Streiter, die
Mitstreiter, die Gläubigen, die Ungläubigen und die Spätgeborenen,
die die sich nicht mehr entscheiden können, weil jede Entscheidung
so... so kontaminiert ist, weil jede Menge schlechtes Volk
durchgelaufen ist und man nicht mehr das Gefühl haben kann, sich
starken und reinen Menschen anzuschließen. Das Gedächtnis bewahrt
die Stunde, es bewahrt die Texte und Taten, es bewahrt auch die
Untaten, es bewahrt sie für die, die nicht anders können als zu
tun, was ihnen gesagt, und zu bewundern, wie es gesagt wurde. Den
anderen, den Gedächtnislosen, genügen zwei, drei Fetzen
Vergangenheit, um sich davonzumachen und einer neuen Weltstunde
entgegenzuleben. Wenn sie sich einen Helden erwählen, verkrallen
sie sich in seine Leiche, als müssten sie sie zu neuem Leben
erwecken, während sie doch nur versuchen, den letzten Tropfen Blut
aus ihm zu lecken. Nicht seinetwegen, bewahre, soweit will ihr
Fetischismus nicht gehen. »Hat gesagt«, sagen sie, »hat schon
gesagt!« Sie sagen es im Brustton der Überzeugung, als wollten sie
zu verstehen geben, sie selbst hätten alles schon vor fünfzig
Jahren gesagt, am besten vor ihrer Geburt. Haben sie nicht recht?
Haben nicht alle recht? Im Land der Rechthaber setzt das Gedächtnis
sich leicht ins Unrecht. Es wird schweifend und ungenau, weil es
den Punkt nicht findet, an dem es einstimmen kann. Alle sind
weiter, da will es nicht zurückbleiben und setzt sich lieber ein
schiefes Denkmal. »Sieh doch«, sagen die Leute. »Haben wir’s nicht
gesagt?«
Es gibt Theoriebezirke, denen man sich nicht nähern kann, ohne die Klingen zu kreuzen, d.h. sie erregen lebhaften Widerspruch an Stellen, von denen man vorher nicht wusste, dass man dort zu Überzeugungen neigt. Es sind auch nicht Überzeugungen, die sich zu Wort melden, sondern Argumente. Aber schaut man genauer hin, so zählt nicht das Argument, sondern die produktive Verfassung, in die man sich unversehens versetzt fühlt. Nein, man sieht sich nicht zum Mit-Denken aufgefordert, sondern zum Gegen-Denken, gelegentlich, wenn die Aufgabe größer erscheint, zum Dagegen-Andenken, einem Bergsteiger vergleichbar, der beim Anblick eines Massivs bereits damit beschäftigt ist, es irgendwann zu bezwingen, ohne dass ein expliziter Vorsatz vonnöten wäre, doch es sind auch kleinere, im Vorbeigehen erzielte Gewinne denkbar. Das Seltsame daran ist, dass die Verfassung nicht vorhanden sein muss, um die Theorie – durch Widerspruch! – sprechend zu machen, sondern durch die Berührung mit Theorie erzeugt wird. Aber vielleicht lässt nicht die Theorie selbst, sondern eine bestimmte Weise der Darstellung den Modus der Hervorbringung und des Hervorbringens sichtbarer werden, als dies im Allgemeinen geschieht. Produktiven Menschen ist es häufig ein Bedürfnis, neben dem Produkt auch, gleichsam im Beipackzettel, die produktive Verfassung zu dokumentieren, die es hervorgebracht hat. Subtiler wirkt es da, wenn das Produkt selbst so beschaffen ist, als setze es sich erst im Gehirn des Rezipienten zusammen – was einerseits immer richtig ist, andererseits eine nicht unerhebliche Unterstützung durch den Duktus des Vortrags erfährt. Wenn es unterschiedliche Weisen der Produktivität gibt, dann gibt es außer Nähe und Distanz auch so etwas wie natürliche Opposition, bei der der andere es einem schlechterdings nicht nur nicht recht machen kann, sondern es auch nicht darf, auf dass der Gedankenreibung kein Ende sei.
Die öffentliche Gedenkminute leidet ein wenig darunter, dass sie bereits vom Gedanken an sie konsumiert wird, jedenfalls beinahe, die eine oder andere Restsekunde wird schon noch abfallen. Aber wer weiß, vielleicht reicht der Gedanke ans Gedenken über die Zeit des Gedenkens weit hinaus. Das muss kein Unfall sein, keineswegs. Da niemand weiß, was während der Schweigeminute geschieht, wenn der Vorsatz, sich zu konzentrieren, alle Konzentration beansprucht, um sie (sich) zu verfehlen, bleibt es beim Schweigen und darauf kommt es schlussendlich an. Man ist beruhigt, es getan zu haben und beunruhigt darüber, nichts getan zu haben, stärker vielleicht als darüber, das innere Schweigen durch einen Gedanken verunreinigt zu haben, der nun wirklich nicht dahin gehört, weil er nur der Chauffeur ist, der vor der Tür warten sollte. Alle Gedanken, die das rituelle Gedenken betreffen, sind nur Chauffeursgedanken. So ist das rituelle Gedenken am Ende auch nur eine Chauffeurstätigkeit, bei der jeder sein eigener Fahrgast sein darf. Streichen wir also das dreifache ›nur‹ und ersetzen wir es durch das Wörtchen ›wirklich‹ und alles ist wirklich so, wie es ist.
Seid eingedenk der Zeiten, in denen man die Idee, Gedichte in
Büchern abzudrucken, als Notbehelf ansehen wird. Das geringe
Ansehen, das sie heute genießen, hat damit zu tun, dass sie
gedruckt werden. Sie sind kaum bedrucktes Papier. Bei der
allgemeinen Papierverschwendung richtet sich der Ärger gegen das
schwächste Glied.
Wann, bitte, ist jetzt? Soeben vergangen. Da war doch...? Um das zu
sehen, braucht keiner den Philosophen. Und wann, bitte, ist ein
Ende? Soeben vergangen? Ein vergangenes Ende, das ist so wie ... ein
gegebenes Versprechen, es wurde einem gegeben und jetzt hängt es im
Schrank, man kann es schließlich nicht jeden Tag herausholen und
betrachten. Jeder besitzt so einen Schrank, in dem er die Enden
aufbewahrt. Eines fehlt, die Sammlung wäre komplett in dem Moment,
in dem man es hätte. So sammelt man weiter, als mache die Sammlung
das eine, das noch aussteht, wahrscheinlicher. Vielleicht soll auch
die Fülle gesammelter Enden das Fehlen des einen vergessen machen.
In dem Fall handelte es sich um Plunder. Wie soll ich etwas
vergessen, an das mich alles erinnert? Das ist unmöglich,
jedenfalls nicht wahrscheinlich. Damit stünde man wieder am Anfang.
»Wahrscheinlich schon«, sagt einer, den man fragt, ob er weiß, dass
das Ende kommt, »wahrscheinlich schon«, und er lässt unentschieden,
ob sich die Rede aufs Wissen oder aufs Kommen bezieht. Darin ist er
wenigstens ehrlich, denn angenommen, er sagte »Mit Sicherheit!«,
dann wüsste man, dass sich seine Rede aufs Wissen und Kommen
bezieht und hielte ihn für einen Falschmünzer. Wie kann er so etwas
wissen? Der Fragende, nun, er weiß, er geht davon aus, denn er
wittert eine Trophäe für seine Sammlung. Aber der Gefragte...?
Warum sollte er sich im voraus enterben? Das ausstehende Ende ist
ihm kostbar, er kann warten, die Zeit rinnt ihm durch die Finger,
doch er kann warten, seine Geduld ist unendlich.
Sie stürmen voran mit wehendem Haar, sie sind, das »Nie wieder«
noch auf den Lippen, in Kriege verwickelt, für die ihnen neben der
Ausrüstung selbst die Wörter fehlen, aber das macht nichts, sie
werden folgen, wie sie immer gefolgt sind, schließlich bilden sie
die wahre Gefolgschaft. Um die Gefolgschaft der Wörter muss einem
nicht bang sein, sie gilt unbedingt und sie enthält alle Kautelen.
Was das bedeutet? Ach nichts. Wörter gibt es wie Sand am Meer,
manch einer lässt sie vor sich ausstreuen und wirft sie mit beiden
Händen in die Menge. Im Karneval schmecken die Wörter süß, danach
entsorgt man sie mit dem Kehrbesen, auch das ist leichter gesagt
als getan. Einer findet sich immer, der redet, wie ihm der Schnabel
gewachsen ist, und da sind sie: die Wörter. Ein loses Maul bedeutet
den Durchbruch; wer in der Sprache lebt, der opfert gern einen
kleinen Finger. »In welcher Welt lebst du eigentlich?«
fragt Garganelli oft. Er fragt es
gern, denn es interessiert ihn aufrichtig und die Antworten lassen ihn aufhorchen. Keiner
sagt: »In der oben links« oder »Raum einundvierzig«; alle werden
beredt. Wahre Gefolgschaft zeigt sich im Schweigen, derweil
behauptet die falsche das Feld. Böse Mäuler behaupten, es gäbe nur
falsche – sie haben sie gegen sich. Die Sprache ist eine
Lästergrube, wer in sie hineinfällt, beschmiert sich mit dem Kot
verwunschener Zeiten und wünscht sich mit der Zeit einen sauberen
Abgang.
Der angebliche Selbsthass der Deutschen: eine Form des Hochmuts, der Überhebung, wie andere vor ihm. Man lebt ›im Land der Verbrecher‹, man überlässt ihnen gern die Verbrechen, nur die Ungeheuerlichkeit konsumiert man selbst: in ihr erkennt sich das mit der Pest geschlagene Volk. Das aber heißt, es treibt mit sich Unzucht: in Gedanken, Worten undsoweiter. Ungeheuer ist viel, geteilt durch wenige, also noch immer viel, das Bewusstsein der Monstrosität wiegt schwer, aber es wiegt die Befriedigung nicht auf, es mit sich herumzutragen. Worin besteht dieses Bewusstsein? Es verdankt sich, wie bekannt, einem Akt der Bewusstmachung, genau betrachtet, einer Folge solcher Akte, d.h. dem Gefühl der Beengung, das durch sie ausgelöst wird. Diese Beengtheit ähnelt der Beklommenheit, mit der einer den Henker erwartet, aber sie gleicht ihr nicht, denn sie erwartet nichts. Sie wollen, dass es vorbeigeht. Aber das soll niemand wissen. Es weiß aber jeder, denn es ist nichts Besonderes. Daher die unaufhörlichen Beteuerungen, sie seien jetzt Menschen vom anderen Stern, Monster an Friedfertigkeit, die gerade erst lernen müssten, Seit’ an Seit’ mit den Freunden die Werte der freien Welt zu verfechten. Sie sind einer Wertegemeinschaft beigetreten und bestehen auf ihrem Beitrag, um das Gefühl, das sie loswerden wollen, in passender Form zu konservieren. Sie entrichten dieses Gefühl, um dabei zu sein, sie fragen überall nach der Kasse, um es in ihr zu versenken.
Zu jeder Krankheit gehört eine Gegenkrankheit, das ist doch klar. Nur über die Hintergründe streiten sich die Experten. Der Streit der Experten ist schön, besonders der über Krankheiten. Das liegt zum Teil an der Heftigkeit, mit der gestritten wird, zum Teil an den Mitteln, die dabei eingesetzt werden. Der Körper ist kein allgemeines Gut. Jeder hockt auf dem seinen und lauscht misstrauisch in ihn hinein: Steh auf, altes Kamel, und wandle! Wem der Appell erst fruchtlos verhallt, dem schlägt die Stunde der Wahrheit. Für die Rabiaten, die gleich in die Apotheke laufen oder ihren Arzt konsultieren, besitzt sie den Klang einer geborstenen Glocke. Jemand glaubt einen feinen hohen Ton zu vernehmen und er folgt ihm bedingungslos. Wohin? Nun, in die Gegenkrankheit. Sie ist die Krankheit all derer, die alles richtig machen wollen. Sie schlagen sich auf die Seite der Krankheit und horchen angestrengt in den Nebel, der ihr Körper ist: dort hinten, das mahlende Geräusch, kommt es näher? Nein, es entfernt sich... auch das ein nährendes Element der Unruhe, die ihr ganzes Wesen erfasst hat. Die Unruhe! Kennen Sie sie? In Worte übersetzt, könnte sie lauten: ›Du hast ja so recht, Krankheit! Es tut mir leid, dass ich dich herbitten musste, um zu begreifen, wie es um mich steht. Ich danke dir sehr und möchte dich gar nicht weiter bemühen. Jetzt, da ich endlich Bescheid weiß, komme ich sicher ganz gut alleine zurecht. Ja, ich bin in Sorge um meinen Körper, aber auch ein bisschen um dich, das wolltest du doch erreichen oder? Ich spüre, wie du abnimmst, das bereitet mir Angst, ich fürchte, du hast dich an mir überanstrengt, es bekommt dir nicht gut. Du solltest pausieren, verstehst du? Wir alle brauchen einen Moment der Nachdenklichkeit, in dem wir loslassen lernen, du vor allem, schließlich bist du nicht bei bester Gesundheit und wirst sie, schätze ich, in diesem Leben auch nicht mehr kennenlernen. Folge mir! Sei mein für die Dauer meines Daseins! Ich möchte dich füttern und meinen Freundinnen zeigen. Sie werden deine Kunststückchen zu schätzen wissen, dessen bin ich mir sicher. Wie, das genügt nicht? Was denn noch? Was denn noch!‹
Etwas verdanken und an etwas erkranken kommt aus einer Wurzel, man muss für jedes Übel dankbar sein, das einen heimsucht, denn es bleibt, wie immer man es betrachtet, eine Gabe. Es ergibt sich, sagen die Leute und sie verschweigen dabei das Meiste, sie verschweigen die Heimsuchung, sie verschweigen, wie alles sich fügt, im nachhinein, wie sie meinen, aber darin besteht ja die Überraschung: wie alles hineinpasst in das, was gerade noch mit sich selbst ausgefüllt schien und den Anschein erweckte, als stoße es, so wie es ist, in die Zukunft vor, um sie zu erobern. Stattdessen stößt, was gerade noch im Futur lag, zurück. Zukunft ist Heimsuchung, sie sucht dich dort auf, wo du zuhause bist, und während du darüber nachsinnst, ob dies dein Zuhause noch ist, haust du dich in ihm ein. Jede Zukunft kommt als Erkrankung, die in sich den Keim zur Genesung trägt. Man kann ihn zerstampfen, aber das sagt nichts über die Zukunft aus, nur über die Kräfte, die sie gestalten.
Wer das Gegenüber nicht kennt, lebt wie ein Hausbesitzer, der
niemals durchs Fenster geschaut hat, denn jede Stube medizinisch
durchforscht, beschriftet und instand gesetzt zu haben, bedeutet ja
nicht, von der großen Ferne jenseits des Hauses auch nur das
Geringste zu wissen. Lunge, Herz, Leber, Galle und Milz sind innere
Gegenstände, mag selbst die Psyche als durchforschbares
Kellergewölbe für solche Sachen hinzukommen.
Nur im wahren Gegenüber zeigt sich die Bühne der Dekoration für die
Kunstarbeit eines Hausbesitzers jenseits des ererbten inneren
Mobiliars. Man könnte sagen, ein teurer Spaß, denn alleine die
durchaus existierenden Beispiele unbeschreiblicher Vorbilder müssen
mit einem immerwährenden Aufwand an Zeit, mit einem empfindsamen
Herumlungern vor Heiligtümern in Museen, an Pilgerstätten und
selbst vor Büchern und Bildern bezahlt werden, und wenn es nur
Andachtsbildchen und Weihwasser wären. Denn was sind gewisse
Abteilungen selbst der größten Bibliotheken der Welt wohl anderes
als Schaubuden mit Reiseberichten aus dem Jenseits? So kostet die
Arbeit am farbigen Nebel immerhin leicht das ganze übrige
ordinäre Leben.
Für das andere, das gebildete oder eingebildete Leben – denn
angeboren ist in der zweiten Natur ja nichts – geht die Zeit mit
unendlichen Aussichten nur so im Fluge dahin. Offen gestanden,
welche andere Literatur als Legenden, Wunder und Heiligkeiten aller
Art könnte den Geist
eines Künstlers wohl höher beflügeln, etwa die Mathematik? Der
ordinären Seite der Existenz ist das natürlich nicht förderlich,
denn die alten Hüllen der vornehmen Armut haben sich vollständig
aufgelöst, alles ist öffentlich geworden. Es gehört inzwischen eine
höchst private Art von religiöser Technik dazu, den allerdings
unberechenbaren, aber zahlreichen, von den verschiedenen Mächten
des Gegenübers durchaus noch immer gestifteten Brücken und
Hilfsmittel blind zu vertrauen. Ja blind zu nutzen, denn zu den
echten Gebeten und Ritualen gehört der Mut, gegen die Schatten der
alles beherrschende Wirklichkeit standhaft zu bleiben und das
Unbekannte sich selbst zu erfinden und so auch zu nutzen. »Obwohl
es existiert, muss es dennoch erfunden werden«, sagt der große
Pompe funebre.
Allerdings gehören zum großen Gewinn eines solchen Aufbruchs nach
und nach eine magische Menschenkenntnis, ein bezwingender
Obskurantismus zur Täuschung der allgemeinen Gewissheiten und eine
ganz natürlich erscheinende Rhetorik, ja am Ende sogar eine schwer
zu deutende, aber erleuchtende Angst. Sie ist wahrscheinlich die
Eigenschaft des noch völlig neuen, heute noch nicht verstandenen
wahren Massenmenschen. Dies ist ein neuer Begriff für das, was man
früher Genie genannt hat. Der Menschenwissende ist nicht mehr der
schwebende Besitzer des elfenbeinernen Turms, sondern ein
Erdbewohner, der die Welt als Atmosphäre der Alchimie betrachten
kann. Feuer zu Feuer, Wasser zu Wasser, Menschen zur Luft, Freiheit
über dem Horizont, da wo noch Berge und Waldspitzen letzte feine
Zeichnungen bilden. Damit wird experimentiert.
Dies scheint am Ende sogar der Wunsch jenes fernen Theaters zu
sein, damit wir zur Entschuldigung der kolossalen
Schöpfungsirrtümer des Direktoriums wenigstens mitten zwischen uns
selber die Tiernatur überwinden. Dazu blickt die gesamte Natur
schon lange auf uns. Es ist sogar ziemlich sicher, dass die
Intuitionen und Phantasien, ja manchmal selbst Geld, nicht ganz
ohne Hintergedanken verteilt werden, indem die seltsamen Demiurgen
vermutlich einen unbekannten Obergott fürchten. So streuen sie auch
die Spuren des Schönen, um einzelne Seelen zu fangen, ganz wie in
Platens Gedicht, als kostbare Ahnungen aus und bannen ein solches
Gemüt für immer.
Natürlich erschüttert ein stilles Begreifen die schlichten Gemüter
der Eltern, Freunde und anderer Weltmenschen, wenn sie vom Wesen
solcher unvertilgbaren Schattenspiele etwas erfahren, und so
streift auch sie ein belehrender Hauch wider die allgemeine
Vernunft wie eine Aussaat des Unbegreiflichen und stiftet die
stille Wut in den Schulen des Lebens. Das zählt zu der schlimmen
Notwendigkeit zur Sichtbarmachung des Gegenübers, weil der Obergott
oder das Direktorium die sogenannte Schule des Lebens als Quelle
des Schreckens benutzt, den ahnenden Menschen rechtzeitig ins
Gegenüber und selbst ins Jenseits zu hetzen. Welche Mittel hätten
der Obergott oder das Direktorium denn sonst in dieser verpfuschten
Mechanik der Schöpfung? Was würden denn wir wohl tun, wenn wir der
Obergott wären....? Wer hier überhaupt noch das Wirken einer
menschlichen Vernunft vermutet, kann sich zum Tierreich der
pragmatischen Aufklärung zählen. - PM
»Lieber Freund! Hangle dich durch den Bücherwald zur Moderne und du hältst sie irgendwann für ein Hirngespinst notorischer Gegenwartsnörgler. Das Element der Kritik überwiegt und sie stimmt, schon in den Hauptpunkten, selten mit sich überein. Was feststeht an der Moderne, ist ihre Unumgänglichkeit, die sich doch wenig von der unterscheidet, die morgens das Aufstehen regelt und später den Gang an den Schreibtisch. Das tägliche Pensum will erfüllt sein und jeden Tag wird ein Stück Gegenwart zu Grabe getragen, nachdem es ›seine Zeit gehabt‹ hat: der letzte Ausdruck verrät viel, er verrät seine Zeit mittels Posen, denn die meisten Posen beziehen sich offenkundig aufs Haben, Gehabt-haben, Haben-werden, Haben-wollen und dergleichen, deshalb heißt es ja auch ›Gehabe‹. Einen Ausdruck wie ›Gehab dich wohl‹ unter solchen Gesichtspunkten zu untersuchen, besäße einen eigenen Reiz, er hilft dabei, das ältere ›Gott bewahre‹ zu vermeiden und darf daher als genuiner Ausdruck einer Moderne gelten, deren unerhörte Kunst letztlich darin aufgeht, das Unvermeidliche zu vermeiden. Moderne ist Kunstfertigkeit, wusstest du das nicht? – … Kunstfertigkeit, die mit allem fertig wird, indem sie den unvermeidlichen Rest in die Zukunft verschiebt, dorthin, wo alles sich löst, nur eben im Futur. Wir werden bald soweit sein. Menschen, die diese Steigerungstechnik beherrschen, gehen völlig entlastet zu Werk, sie haben aufgegeben, was sie bedrückt, und es reist ihnen voraus; sollten sie jemals ankommen, woran nicht zu zweifeln ist, dann wären sie spielend imstande, damit umzugehen, und alles, was sie jetzt zu überwältigen droht, erwiese sich als überaus leicht zu handhaben. Gerade deshalb gibt es so wenig moderne Menschen: die meisten sehen, es ist Gehabe, und gehaben sich wohl.«
Der Philosoph liest seine Zeitung und verschwindet danach im Gehäus: dort gelten nur Texte von seinesgleichen. Ein Philosoph will Kollege sein oder gar nicht. Das kann er haben, denkt sich das Gros der Zeitgenossen: Damit habe ich nichts am Hut. Da sie keine Hüte tragen, macht es ohnehin keinen Unterschied und seriöse Philosophie weiß das. Sie weiß eine Menge, aber sie kann es nicht teilen. In der Menge wird alles geteilt, bis zum Erbrechen, wenn’s sein muss, und darüber hinaus. Endemisch zum Beispiel ist der mangelnde Respekt vor dem Eigentum, der durch Gesetz und Polizei hergestellt werden muss, also durch den Respekt vor Gesetz und Polizei ersetzt wird. Die Menge, das ist das Reich der Ansteckung: Einer fängt sich etwas und schwupp! haben es die anderen auch. Dieses ›schwupp!‹ – wer hätte es nicht lange bestaunt und sich Theorien zurechtgelegt, wie es zustande kommt? Doch all diese Theorien, offen gesagt, sind nichts wert. Warum? Das einzige Gesetz, unter dem die Menge steht, ist das der Sichtbarkeit: ohne Ansteckung bliebe sie sich ewig verborgen, es gäbe sie gar nicht. Durch Ansteckung tritt sie zutage, durch Ansteckung konstituiert sie sich und ballt sich zur Masse, durch Ansteckung wissen alle, wie man’s macht, durch Ansteckung wälzt sie sich über Kontinente und Zeitalter, durch Ansteckung kommt sie in die Statistik und bringt ihre Statisten an die Macht. Der angesteckte Mensch, der Mensch der Menge, wälzt sich auf seinem Krankenlager und beschließt, sich künftig in Acht zu nehmen: kranke Gedanken, denen keinerlei Wirklichkeit zuwächst. Schon winkt der nächste Hype, die nächste Mission, die nächste Hausse, die nächste Wahl, der nächste ›Maidan‹ und schwupp! –
Die meisten Leute stellen sich das Geheimnis als Wolke vor. Ich hingegen (»Ach wie gut, dass niemand weiß...«) denke es mir als einen langsamen Fußgänger, schildkrötenartig, mit einem kraftvoll gezeichneten Panzer, damit jeder gleich weiß: darunter verbirgt sich etwas. Mancher kann sich schon denken, was sich darunter verbirgt. Natürlich wünscht jeder den Panzer zu knacken, auch wenn er weiß, dass er das Geheimnis dadurch zerstört. Dann wieder denke ich mir, vielleicht ist diese Vorstellung ganz falsch und das Geheimnis ist der Zenotische Pfeil, der, abgeschossen, sein Ziel erst in ewigen Zeiten erreicht. In diesem Fall wäre es der Träger einer Botschaft (Tod!) und der fortwährende Aufschub, der den Empfänger im Ungewissen lässt. Welch ein Empfänger! Nichts zu wissen und früh zu sterben, dazu braucht es Geistesgaben, die die Natur dem verweigert, der sich ihrer bedient. Doch was heißt schon Natur. Die dritte Vorstellung ist etwas fadenscheinig und befindet sich nicht ganz auf der Höhe der Frage: danach wäre das Geheimnis ein unbedrucktes Buch, also das Buch, das alle Bücher enthält. Nicht schon wieder, gähnt die Belesenheit. Ja, ich weiß, die Einbildungskraft ergänzt und ergänzt, sie kommt an kein Ende mit ihren Ergänzungen, sie hält dieses Buch für das kostbarste und seine Weisheit für unermesslich. Noch etwas? Aber sicher: das unbedruckte Buch, immerhin, es wurde gebunden, es ist ein Buch. Hingegen hat das Geheimnis beschlossen, die Buchförmigkeit zu meiden, es speist jetzt außerhalb. Da sinkt sie hin, die Welt der Bücher: man kann einen Sack um sie schlagen und ein Gewicht daran hängen, das Gewicht der Welt, es kommt nicht in sie hinein, aber es zieht sie in die Tiefe.
Die Bewegung des Geistes im Raum berührt die Gedanken, hierin
besteht seine einzig spürbare Wirkung. Einem unsichtbaren Vogel
vergleichbar, vielleicht der Taube des heiligen Geistes, streift
der Geist den Gedanken mit leichten Schwingen. Er macht ihn
seelisch, tierisch oder pflanzlich. Schon der Raum der Gedanken ist
unter diesen Bedingungen unterschiedlich. Denn die Seele des
Menschen gleicht einem grauen Salon, dessen Vorhänge, je nach
ästhetischer Auffassungskraft, Kopfschmerzen erwecken können.
Kopfschmerzen sind ein Zeichen der geistigen Anwesenheit in Nähe
des Seelensalons.
Im Tier lebt der Geist in Adern begrenzt, immer gleichsam in Blut
gebadet, zieht er als Fisch hinauf und hinunter, den Zeigern einer
Uhr aus Muskeln vergleichbar. Die Bedeutung des Blattschusses unter
den Jägern bezieht sich auf diesen Fisch, dessen Wohnung immer
wieder die gesuchte Stelle des Herzens ist.
In den Pflanzen lebt ein feiner Hauch des Novalis, er ist von der
menschlichen Seele zwar nicht wirklich erfassbar, aber doch ein
sympathetischer Hauch zu ihrem höchsten Vergnügen. Die Wurzel der
Romantik nährt sich von diesem Geist der stofflichen
Unberührbarkeit und er macht die Süße ihrer erdachter Blumen aus,
deren es zahllose gibt. In diesem Zusammenhang ist wohl kaum ein
schönerer Satz zu finden als der: »Seht die Lilien auf dem Felde,
sie spinnen nicht und sie weben nicht, doch Salomo, in all seiner
Pracht, war nicht gekleidet wie eine von ihnen.« - PM
»Na bitte«, spricht Garganelli und
streckt die Fühler aus, »Geist ist unberührbar. Solange die
Menschen gegen wilde Tiere kämpfen, den Hirsebrei stampfen, von
Hunger, Krankheit, Seuchen, meinetwegen Nachbarstämmen heimgesucht
werden, solange sie, nach dem gängigen Register, ihrer natürlichen
Umwelt ausgeliefert sind, legen sie großen Wert auf Unterschiede und nennen das, was sie trennt und verbindet, ›Geist‹. Wer mit
Geistern kämpft – oder sich ihrer Freundschaft rühmt –, ist von
anderem Kaliber als einer, der mit den Wölfen heult. Er ist selber
Geist, er ist ›geistigen Wesens‹. Er hat den Unterschied benannt,
der er ist, den er darstellt, den er vertritt. In einer Umwelt, die
vom Geist bestimmt wird, der nun nicht mehr so heißt, sondern
Organisation, Technik, Wissenschaft, kehren sich die Verhältnisse
um und Menschen, die der dauernden Lockung erliegen zu glauben, sie
seien Organisatoren, Techniker, Wissenschaftler, müssen sich mühsam
daran erinnern – oder werden schmerzhaft erinnert –, dass sie
Naturwesen sind und dass ihnen die Wölfe, die Graugänse oder die
Ratten am Ende mehr über sich verraten als das zur zweiten Natur,
zur künstlichen Umwelt gewordene Geistsein. Das ist übrigens eine
Frage der Gewichtung und kein Entweder-Oder. So gerät der Geist
unter die Räder und wird verächtlich. Aber« – Garganelli spuckt in
den Rinnstein – »dieser verdammte Geist hat den Vorteil, offen zu
sein – über alle Begriffe, über alle Verhältnisse, selbst die
ominöse ›Welt‹ hinaus, während die künstliche Umwelt jeden in einem
eisernen Klammergriff hält und ihm nirgends die Idee eines
Durchschlupfs gewährt, des aufrechten Gangs oder wie man das nennen
möchte. Man hat das natürlich gemerkt und die berühmte
›Veränderbarkeit‹ der Verhältnisse als eine Art Antwort in den Raum
gestellt. Da steht sie nun und kommt nicht von der Stelle. Die
Verhältnisse ändern sich unentwegt, leider bleibt, wer sie
verändern möchte, rascher hinter ihnen zurück als er denkt.« »Dann
denkt er zu langsam.« »Er denkt, wie er denkt. Aber gegen das, was
sich ein paar Milliarden Menschen von Tag zu Tag ausdenken, hat er
doch keine Chance.« »Du siehst das zu pessimistisch.« »Siehst du:
so reden sie alle. Und anschließend geht jeder seiner Wege. Das
bisschen Geist...«
»Spar dir den Geist« lautet die Devise derer, die im Ernst die Welt beherrschen oder jenen buckligen Zipfel, auf dem sie am Ende gebettet sein wollen. Was dabei ›Welt‹ heißt, möchte man gerne wissen, man erfährt es spät oder nie. Ähnlich steht es um den Ernst und um die Beherrschung. Nur der gesparte Geist klappert in seiner Büchse, als fielen Geister- und Autogrammstunde ineins: was Autogramm-Liebhaber schon immer vermuteten und -Jäger in vielen Stunden der Pirsch systematisch erkunden. Immerhin kann der gesparte Geist zu ungeheuren Summen anwachsen, die in keiner Büchse mehr Platz finden und als Regen über blühenden Landschaften niedergehen. Die Menschen fangen dann an zu lallen und sich seltsame Dinge zu wünschen, von denen sie nichts mehr wissen, wenn sie zu ihren gewohnten Tätigkeiten zurückgekehrt sind. Bloß ein leises Gefühl der Scham hält sich und der Wunsch, es sich nachzutun, sobald der Zeitplan das zulässt. Dabei hat es sich mit dem Sich-Nachtun, es ist ein eigen Ding und verlangt den Schöpfer oder, wie es im Schwäbischen heißt, das Kreative, das sich bei solchen Gelegenheiten tunlichst bedeckt hält. Da ist es leichter zu warten, bis die nächste Geistblase platzt, um noch etwas abzubekommen: einen blauen Fleck oder eine gebrochene Nase oder ein verbogenes Rückgrat oder einen Gehirnschaden, lauter Dinge, bei denen man sich etwas denken kann, wenn es einmal nichts zu denken gibt und der Westwind braust, als müsse ein Wüstenstaat kirre gemacht werden.
Wenn ich lese, der und der alte Knochen des Literaturbetriebs lehne es ab, im Internet zu lesen oder gar, wie es vornehm heißt, sich seiner ›zu bedienen‹, denke ich: Gut, dass du dir meine Lektüre ersparst.
Die Wahrheit ist konvulsivisch, sie bricht heraus, aber was da
herausbricht, formt sich zu keiner artikulierten Rede. Es bleibt
Gelächter, bleibt Ausdruck der Spannung zwischen dem, was so
bestimmt behauptet wird und dem, was im Akt des Behauptens anwesend
ist, aber sich entzieht. Sokrates wird geopfert und er opfert sich
selbst auf dem Altar des Rechts. Das macht ihn zum Begründer einer
Religion, einer Sekte. Das Denken wird geopfert und es opfert sich
selbst auf dem Altar der Gutwilligkeit, das macht aus ihm ein
Instrument des Lebens, also einer per se unfassbaren Instanz,
deren Objektivierung zu den unfasslichsten Entgleisungen
führt. Sokrates opfert sich, folgt man Platon, ›aus Prinzip‹, für
die gute Sache, die in diesem besonderen Fall gegen die Person
ausschlägt, was nichts oder beinahe nichts bedeutet. So zu reden
heißt, die Leute ein letztes Mal hinters Licht zu führen.
Wenn Aristophanes an Sokrates zum Verfolger wird, dann nicht
um der Sache willen und nicht aus Prinzip, sondern weil es nun
einmal geschehen muss. Der Philosoph in den Wolken ist aus einem dauerhafteren
Stoff als der sterbliche Mensch, unsterblich das Gelächter,
das hier und da aufbricht und, wenn schon nicht die Verhältnisse,
so doch das feste Meinen zum Tanzen bringt.
Diese Sorte Wesen ist nicht eindeutig zuzuordnen. Seine
unauffälligste Erscheinung ist, gesellschaftlich gesehen, der
gemeine Geldfresser. Im
Gegensatz zu König Minos stirbt er keineswegs den Hungertod. Das
liegt auch daran, dass moderne Währungen bekömmlicher sind als die
Methode, alles in Gold zu verwandeln, die ein erhebliches Problem
für die Beißwerkzeuge dieser Wesen darstellt, von Materialengpässen
einmal abgesehen.
Wie Forscher der Universität Meins nachweisen konnten, handelt es
sich um eine genuine Fortentwicklung des Dagobertismus, einer
Manie, die nach bisherigen Erkenntnissen durch die Lektüre bunter
Hefte in der Kindheit ausgelöst wird und die Befallenen dazu
veranlasst, alles für bare Münze zu nehmen und in ihr zu
baden.
Lange Zeit glaubte man, es handle sich beim Geldfresser um eine
Parallelerscheinung zum Stromfresser. Die Gier dieser Wesen hat
sich in den Jahrzehnten einer immer globaleren Wirtschaftsweise
jedoch verstärkt, so dass sie heute alle vergleichenden
Parameter sprengen und zu reinen und sogar wahren Geldfressern mutieren, zumal
der gesellschaftliche Bann, der auf dieser Art der Existenz lag, im
Schwinden begriffen ist und die Spezies sich wachsender mimetischer
Bewunderung erfreut.
An der Universität Rubljanka hat man im Rahmen der weltweiten
Ausschreibung von Exzellenzclustern ein Projekt aufgelegt, das sich
unter anderem der Erforschung der Spezies und ihrer
Lebensbedingungen widmen soll, da sie im dortigen Teil der Welt
extrem zugenommen hat. Eines der Ziele der internationalen
Forschungsgruppe, die sich hier zusammengefunden hat, besteht
darin, den immer noch geleugneten oder unterbewerteten Zusammenhang
zwischen dem Scheinmangel in gewissen Währungen und der
Zunahme der Geldfresserei in Zeiten globalen Börsengeschehens, das
fast ausschließlich mit virtuellen Mitteln operiert,
wissenschaftlich zu untermauern und empirisch zu belegen. Ein Ziel,
das den Notenbanken dieser Welt wie Musik in den Ohren klingen
müsste, könnte man davon ausgehen, das solche dort zu hören wäre.
Allerdings ist zu beobachten, dass die gesellschaftliche
Entwicklung in den Ländern des sogenannten Westens einen anderen
Weg geht. In demselben Maße, wie der Verzehr von Fast Food den Bratenduft verdrängt,
lässt sich ein Rückgang des Pfennigklangs bei gleichzeitiger
Zunahme der Geldfresserei verzeichnen.
»Der frisst das Geld roh!« – spontane Äußerung einer Freundin nach
der Begegnung mit einem Immobilienmakler, dessen legendäre
Kunstsammlung neben einigen kleineren Objekten mehrere Säcke mit
500-Euro-Scheinen enthält. - AC
Nichts härter als das Bild, das sich das Geld von der Welt bildet. Der Geldsinn, also der siebte, formt alle Sinne bis zur äußersten Fügsamkeit. Die Wahrnehmung folgt ihrem Herrn auf Schritt und Tritt, an der Schwelle zur letzten Kammer legt sie sich nieder und hält Wacht. Sei versichert: alles, was du für wahr nimmst, es zahlt sich aus. Wo nicht, schwindet die Wahrnehmung, als habe sie nie existiert, im Handumdrehen. Bleibt die entscheidende Frage: Für wen zahlt es sich... aus? Für dich oder für den anderen? Doch Hand aufs Herz: Wo genau liegt der Unterschied? Auf den anderen hast du lange gewartet, das ist wahr. Aber: Wie lange? Gerade so lange, wie dich der Unterschied plagt. So sieht es aus. Nebenbei: Plagt er dich noch oder hebt er dich schon? Da liegt des Pudels Kern. Der andere, erstmal erschienen, wird den Unterschied liquidieren. Zum Glück! Vielleicht. Oder zum Schrecken... Das hängt ganz vom Kontostand ab. Das Mysterium des anderen ist seine Brieftasche. ›Sei barmherzig!‹ Was immer von dir dort hinüberfließt, es fließt, tausendfältig erstattet, zu dir zurück. Der Zins spannt die Erwartungsdimension der Seele, sofern sie den anderen meint, als Zinseszins zeigt sich die Sünde nackt. Im Erstattungszwang, dem, außer dem verjährten, kein Geben entspricht, verdampft die Ressource Sinn. Das geduckte Leben wendet sich anderen Quellen zu, es erfindet Verhältnisse. In den Verhältnissen, die sind, wie sie sind, lässt sich das Unglück treiben. Es hat seine Ablenkung und sie haben Schuld. Schade nur, schade ‒ in jedem Verhältnis lauert der andere, um aufs Neue hervorzubrechen, die Hydra treibt ihre Köpfe. Die Mechanik des anderen bleibt eine harmlose Wissenschaft, solange Menschen sich weigern, die Kraft zu studieren, die in ihr wirkt. Nicht das Geld drückt den Menschen, der Mensch drückt und es kommt: Geld. Oder nichts.
Den Geigenkasten unter dem Arm, bestreitet man Olympiaden, die
keiner sieht, die keiner kennen will, Olympiaden des Herzens, des
metaphorischen Organs, das überall anwächst, mit größter
Leichtigkeit, ohne Unterlass. Wer uns so sieht, könnte meinen, die
Natur habe uns zu etwas bestimmt, zu irgendeinem abstrusen,
grausamen Zweck, einem Ritual, das wir nicht sehen, nicht riechen,
nicht schmecken, nicht bestimmen können, zu dem wir aber vorgesehen
und offenbar nötig sind. Wir lehnen diese Meinung nicht ab, wir
hören sie an, neigen das Ohr und das Kinn fällt ein wenig herab,
nicht viel, aber gerade genug, um eine kleine Erschlaffung
anzudeuten, denn eigentlich haben wir dergleichen genug gehört und
möchten nun weitermachen. Das Weitermachen wird viel beredet, in
Film und Fernsehen, man zeigt es einander und stimuliert sich so zu
Leistungen, die gestern noch als unvorstellbar galten. Dieses
Gelten ist unsere Spezialität, unser Trick, uns gerade hier aufzuhalten, wo es just
geschieht, uns in der Zeit zu halten, aus der wir sonst hemmungslos
herausfallen würden, denn welchen Grund sollte es geben, diese
Herzensplackerei fortzusetzen, unterbrochen und ergänzt durch die
Mühsal, Lebensmittel heranzuschaffen, die ohnehin nicht für alle
reichen? Aber was soeben in Geltung ist, glänzt über den Wassern,
und nur die harten klinischen Fälle können sich dem Anblick
entziehen. Hagere Philosophen, die sich mit Geltungsfragen
herumschlagen, behaupten gelegentlich, es käme aufs Begründen an,
doch damit zielen sie weit an der Sache vorbei. Auch Begründungen,
sofern sie denn stichhaltig sind und nicht ihrerseits einfach
gegriffen, müssen in den Bann- und Strahlkreis des Geltens treten,
bevor sie uns etwas sagen – es gibt vieles, das, gesagt, ungesagt
bleibt, weil es denen, die gerade das Sagen haben, nichts sagt. Das
Sagen ist immer gerade, gerade eben, aber vor allem gerade, es ist
eine ebene Straße, die geradewegs in die Zukunft hineinführt. Es
kann aber blitzschnell umschlagen in ein anderes Sagen, das
plötzlich ›an der Zeit‹ ist – ein schöner Euphemismus! – und seine
eigene Vorzeit mitbringt. Dann werden andere Gründe geltend
gemacht, als man sie vorher hörte, die Dinge stellen sich anders
dar und ein Narr ist, wer einen vergangenen Diskurs weiter pflegt.
Statt auf den Wankelmut der Zeitgenossen zu schimpfen, sollte man
ihn als Waffe begreifen, die es ihnen ermöglicht, tapfer die
Gegenwart zu bestehen, vor allem aber als – sagen wir, um etwas zu
sagen, Epiphanie des
Geltens und damit dessen, was es uns ermöglicht zu sein.
Nicht Institutionen bilden das starre Gehäuse der Gegenwart, aus
dem keiner herausfällt, es sei denn aufgrund eines organischen
Defekts – sie sind schnell ab- und umgebaut, wenn es sein muss –,
sondern die augenblickliche Geltung, von der niemand weiß, wie
lange sie anhält. Woher sie kommt, woraus sie entsteht – Fragen an
den Wind, der, wie ein Mystiker der Zerstörung wusste, stetig aus
der Vergangenheit weht. Man sollte hinzusetzen, dass kein
Vergangenes zählt, wenn es die Zukunft gilt, in der es sich ebenso
zahl- wie zahnlos wiederfindet.
Der Gedanke, die Nation als Erregungsgemeinschaft zu fassen, hat
Charme, verlangt aber Nachbesserung. Denn wie außer Frage steht,
dass es viele – und vielerlei – Erregungsgemeinschaften gibt, so
muss auch die Art der Erregung sorgfältig differenziert werden. Die
schöne Erregung, die das Bewusstsein der ideell unterfütterten Tat
in denen hervorbringt, die sie nicht ausgeführt, aber begleitet
haben, hat wenig gemein mit der Erregung, die aus Mittäterschaft
erwächst und dort am größten ist, wo es sich um gemeine Verbrechen
handelt. Oder doch? Erregung ist Erregung, wird sich der Denker
gedacht haben, ein Aushilfsdenker vielleicht, denn es ist ein
Aushilfsgedanke, den er da gedacht hat. So gibt es vor, neben und
hinter der Erregungsgemeinschaft die Gemeinschaftserregung – eine
Erregung, in der Gemeinschaft ›fühlbar‹, ›sichtbar‹, kurz, als
vorhanden erfahren wird. Das wäre nicht unbedingt die Nation und
diese nicht unbedingt. Es gehen mehr Menschen kalt an solchen
Gefühlen vorbei, als die auf Sichtbarkeit getrimmten Zeitgenossen
sich klar machen wollen. Gemeinschaftserregung setzt
Erregungsgemeinschaft nicht notwendig voraus. Doch scheinen
Erregungsgemeinschaften zu existieren, die das Thema der Nation
für sich gepachtet haben. Auch in der Art der Erregung finden sich
Unterschiede. In Deutschland zum Beispiel gehören dazu der lebhaft
gefühlte Groll und die Bereitschaft zum Umschlag, das berufsmäßige
Entsetzen und der unterschwellige Trotz. Andere Völker, andere
Erregungen. Wer erregt sich über Europa und wie? Das ist keine
kleine Frage, hier liegt eine Zukunft in Windeln und lässt sich
belächeln. ›Wir sind ein Volk‹? Fassen ließe es sich schon, zu
fassen ist es selten.
Der dritte Weltkrieg zu Lebzeiten derer, die jetzt langsam damit beginnen, ›Verantwortung abzugeben‹, der große Krieg der Geschlechter, kennt viele Ansichten, unter anderem die des grau gewordenen Landsers, der, Unruhe in der Stimme, fragt: »Geschlechterkrieg? Und wer soll daran teilgenommen haben? Wer waren denn die Parteien?« Das erinnert an Sätze aus der Generation der Väter, zum Beispiel: »Ich bin mit den Franzosen immer gut zurecht gekommen« oder, vielleicht eine Spur eindrucksvoller: »Der Russe an sich hatte nichts gegen uns.« Kostbare Souvenirs, gern herausgeholt, falls es im näheren Umfeld mit dem historischen Verständnis nicht recht vorangehen wollte. – Und dabei ist dieser Krieg längst nicht beendet, das Beste steht noch bevor. Der richtige Genderbiss wird unter der Haut getragen, Tätowierung hilft – nicht immer, nicht jedem, aber das ist keine neue Erkenntnis.
Weiblichkeit kann man verfügen, zum Beispiel
über die Zahl von Parlamentskandidaturen, die man ihr zuschustert,
doch herbeizaubern kann man sie nicht. Also vertrauen die Mächtigen
darauf, dass sich genügend Frauendarstellerinnen finden, um das
Thema in aller Munde zu halten. Und wirklich erkennt man
Frauendarstellerinnen daran, dass sie immer und überall die Rechte
der Frauen im Munde führen, teils, um denen nach dem Munde zu reden,
denen sie sich, zu Recht oder Unrecht, verpflichtet fühlen, teils,
weil sie sonst nicht wüssten, worüber sie reden sollten. Die
allermeisten Frauen langweilt dieses Gerede, obwohl sie überhaupt
nichts dagegen haben, dass jemand ihre Rechte verteidigt und mehr
davon fordert. Sie möchten nur gern von etwas anderem reden und
schätzen es nicht, wie sehr die Frauendarstellerinnen die Phantasie
der Männer beschäftigen. Daher legen sie eine auffällige
Genervtheit an den Tag, sobald ihre Vertreter*innen wieder in aller
Munde sind, so als wollten sie sagen: »Spuck’s aus!« Frauen haben
keine Lust darauf, sich bei den Männern vertreten zu lassen, und
unter Frauen möchten sie, offen gesagt, gern noch ein Wörtchen
mitreden. Frauendarstellerinnen hören das selten gern, sie haben
alle Weiblichkeit der Welt in sich aufgesogen und geben sie nicht
mehr her – schon gar nicht an die Hergelaufene dort in dem gelben
Kleid, die so redet, als wüsste sie ganz von allein, was sie von den
Problemen dieser Welt zu halten habe.
Die Nullität in allem, was von der eigenen Generation ausgeht, muss konstatiert werden. Man hat es lange gewusst, weil man die Selektionen sah, denen sich ihre Sprecher verdanken. Der ideologische Rausch der vorausgegangenen Jahrgänge hat über Angst und Abwehr die Auswahl bestimmt, die später das Sagen bekam – eine paradoxe Feststellung, da sie nichts zu sagen hatte und hat. Sie sind wie stumme Fische durch jede Schleuse geschwommen, die man ihnen geöffnet hat, und da treiben sie nun. Man hat ihnen Leitungsfunktionen übertragen und sie ›füllen‹ sie ›aus‹, bis man sie ihnen, überdrüssig der Vorstellung, wieder abnimmt, jedenfalls dort, wo das möglich ist. Das Beste, was man von ihnen sagen kann, ist, dass sie ›in die Jahre kommen‹, und es besteht Hoffnung, dass man sie nicht mehr herauslässt. Dabei fehlte es ihnen an nichts – außer, vielleicht, an Weggenossen, denen zuzuhören sich gelohnt hätte. Die Aufpasser waren stärker.
Wir haben es ungern existenziell. Das ist eine Generationsfrage, vielleicht Folge einer Frühvergiftung oder eines steckengebliebenen Gelächters. Vermutlich gehört es zu den Kennzeichen einer Generation von Langweilern. Wobei die lange Weile in beide Richtungen geht. Was sie wohl findet? Sind die Gedanken unnütz, sind es die Geräte nicht minder. In diesem ›nicht minder‹ steckt eine Kehrtwendung, der sich keiner entzieht. Die Generation ist eine Hängebrücke zwischen zwei Abgründen. Das freut die Rechner, wenn sie sich in die Netze einklinken. Warum so spöttisch? Das ist schwer zu sagen, solange niemand weiß, worauf der Spott zielt. Wer ist dieser Niemand? Vielleicht die Existenz in Frageform, unwillig, die Frage der Existenz anzuschneiden, solange zu befürchten steht, dass nur Käse heraustropft.
Dass Genese und Geltung so gern verwechselt werden, hat seinen Grund darin, dass sich nichts so leicht einrichten lässt wie die Genese einer Geltung. Jeder legt hier die Spur seines Interesses. Viele, vor allem die Hurtigeren, legen zusammen und bahnen einem Interesse die Gasse, das weder das ihre ist noch in ihrem läge, falls sie sich die Mühe machten, ein anderes als ihr Fortkommen im Gefilde des Allgemeinen ins Auge zu fassen. Die gefahrloseste Form der Verfolgung ist die Zurückverfolgung, am besten ins paläontologische Zwielicht, wo Zufallsfunde und Überinterpretationen einander allzu willig in die Hände spielen. ›Sprache‹, ›Schrift‹, ›Geschlecht‹, ›Gruppe‹ bilden die dritte Genesis der Gebildeten, die mit Gott so nichts anfangen können, aber das Konzept fortschreiben möchten, da im harten Atheismus, wie sich gezeigt hat, etwas zutiefst Unbefriedigendes und Amoralisches liegt. Genesen, das liegt schon im Wort, wollen sie alle. Was geworden ist, das wird schon wieder, man muss ihm nur Zeit lassen. Im Zeitlassenkönnen liegt die erste der Gnaden, der Grund zu allen, die folgen werden, dafür gedenkt man gern der heroischen Toten, die keine Zeit hatten und daher das Ziel knapp verfehlten. Welches Ziel? Nun, das Ziel, das im Werden liegt und deshalb ein wenig Aufschub benötigt, ein wenig nur, aber den unaufhörlich.
Landschaftsangst oder
timor regionum tritt immer
ohne eine deutlich erkennbare Ursache auf. Weder eine auffallende
Hässlichkeit in der Natur, falls es sie überhaupt geben kann, noch
technische Beifügungen von Menschenhand rufen diese
Gemütsverfassung hervor. Aber die einmal erlebten Empfindungen an
solchen Orten, es können auch Stadtteile sein, bleiben selbst nach
Jahrzehnten immer die gleichen. Der ungarische Maler Zoltan Doltai
empfand sie sogar des Nachts bei völliger Dunkelheit, wenn er mit
verbundenen Augen nach einigem Hin und Her von Freunden an solche
Stellen geführt wurde. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass ein
unbekannter Besitzer, besonders wenn er schon tot ist, hier seinen
Herrschaftbereich vor neugierigen oder forschenden Künstlerblicken
zu schützen weiß. So sind solche ästhetischen »Novimente« oder
Geisterhausflecken, wie sie damals Doltai genannt hat,
möglicherweise ausgedehnte unterirdische Matten oder Wurzelwerke,
in denen in vergangenen Zeiten die Geburtsstätten der Alraunen
vermutet wurden. Eine tief gehende Ahnung vom Schatzwesen im
Erdreich muss keineswegs mit verborgenen Dukaten zusammenhängen,
sondern kann auch durch ein lebhaft empfundenes Lichtschattenspiel
und durch Farben im blassen Vorbereich ihres völligen Auftauchens
entstehen. Die rätselhaften ›Vorfarben‹, die antecolori Vitruvs, die er durch
abgerichtete Eulen aufspüren ließ, mögen hier eine Rolle spielen,
denn Farben, besonders im Zustand ihres Entstehens, können
rauschhafte Empfindungen hervorrufen. Eine Bemerkung des
seinerzeitigen Irrenarztes Gachet lässt darauf schließen, dass van
Gogh die Farbe Gelb als verwirrend (»verwarring«) empfunden hat. -
PM
So manches sich resignativen oder misanthropischen Motiven verdankende dictionnaire gerät bei diesem Lemma ins Schwatzen. Nicht so das Alphazet, das sich in vornehmer Zurückhaltung übt und bloß auf die Autoren Deleuze und Guattari verweist, deren Buch Mille Plateaux wahrscheinlich die ausuferndste Apologie des 20. Jahrhunderts zu diesem Thema enthält – das bösartige Gerede einmal beiseitegelassen, in dem das Jahrhundert, wie alle anderen, sich eher schlagend zeigte.
Wer immer die Psyche frequentiert, findet etwas. Sie ist der große Stichwortgeber der erwachsen gewordenen Menschheit, die sich nach Kindheit sehnt. Diese Sehnsucht ist ein verwickeltes Ding, um tausend Ecken gebogen, die meisten davon verloren und vergessen im Schlund der Zeit. ›Sehnung‹ sollte man sie nennen, schon um ihre Nähe zur Biegung herauszustreichen. Was heißt schon Nähe? Sie ist an ihr befestigt, am besten an beiden Enden, wer zieht, zielt schon weiter. Wer immer zieht, der biegt jeden Sachverhalt, bis er ihn so hat, wie er ihn braucht. Man merkt das vor Gericht anlässlich jener Prozesse, die das Volk beschäftigen, weil sie wie ein umgekehrtes Fernglas auf die eigenen Verhältnisse gerichtet sind. Jeder sein eigener Richter, aber auch Staatsanwalt, Verteidiger, Zeuge, Sachverständiger, Gutachter, Bösachter, vor allem letzteres. Der Verdacht springt die Wörter an, als lebte er von ihrem Blut, Syntax ist ihm ein Fremdwort, das den Zusammenhang stört. Aber lassen wir den Verdacht, er ist alt und erzeugt ein Gähnen bei denen, die vom Leben mehr erwarten als alte Geschichten. Das Sehnen will keine Geschichten, es will den Auftritt. Dafür erzählt es Ihnen, was immer Sie wollen. Alles erlebt! Alles frei erfunden! Solange der Körper es hergibt, ist jede Geschichte recht, auch das Schweigen, diese beste aller Geschichten. Wer schweigt, kennt die Geschichten und weiß sich darin mit seinem Publikum einig. Das Publikum hat sich über ihm geschlossen und verdaut ihn bei lebendigem Leibe. Was immer noch kommen mag, er hat gelebt, denn er hat alles getan und nicht getan, er ist ein schmutziger Gott. Überlassen wir den Gerichten die Psyche! Dort hat sie es gut.
»Die Würde der Barbarei ist unantastbar, denn sie vertritt die
letzte natur-chaotische Einfalt jenseits der Bildung.« Die hier
dogmatisierte Bedeutung einer zu jeder Unregelmäßigkeit des Denkens
befähigten Sprache hätte der Kunst zwar viel zu bieten gehabt, aber
die lateinischen Bildungsklötze standen einer solchen Freiheit
durch die Unfähigkeit, sie gebührend zu würdigen oder ihrer gar zu
bedürfen, im Wege. Bei Hölderlin, Kleist und Novalis oder in den
Nachtwachen des
Bonaventura wird das hohe Rätsel dieser abgrundtiefen
Einsamkeit im glücklos verlassenen Volksbesitz der eigenen Barbarei
offenbar. Im Zarathustra
herrscht noch ein letztes Aufpauken wie bei den germanischen
Weibern, die im Kampf gegen Rom auf die ledernen Wagendächer
geschlagen haben. Nietzsche konnte den alten Gott, weil er ihn fast
als seinen protestantischen Ehemann ansah, nicht loswerden. Er war
kirchlich mit ihm verheiratet.
Sanft hingegen, allenfalls ein wenig spitz erklingt die Stimme
Thusneldas, der Geliebten eines Nachfahren des Varus und jetzigen
Besitzers eines Bordells an der Place de la Victoire in dem weithin
unbekannten ›Urteilswerk pro
Germanos‹ Hans in
Paris: »Nein mein Freund, die Taten der Barbarei sind
sprachlichen Ursprungs. Die Sprache wurde nie ernsthaft im Spiel
mit den Nachbarn gebraucht, das beweist sogar noch der zweite Teil
des Faust. Bis in die
Zwanziger Jahre lagen die Bücher bei Cotta herum. ( Leiser:) Ich
will ihnen etwas anvertrauen, es erscheint da in Deutschland soeben
das Alphazet, ein überaus bewegliches
und befremdliches Werk, das, lieber Freund...................« Hans
versucht ihr hastig zu antworten....................... Hier
fällt der Vorhang. Das erste Stück der neuesten germanischen
Literatur, zu Recht mit geheimem griechischem Titel, denn die
geheime deutsche Bildung athenisiert sich wie zu den Zeiten Roms,
wird vorläufig....................... unterbrochen. - PM
Wer die Geschlechter gegeneinander hetzt, zerschlägt das Bild der Welt. »Welches Bild?« fragen die Interessierten. »Ist nicht jedes Bild der Welt wert, dass man es zerschlägt? Ist nicht jedes Bild eine unzulässige Fixierung von etwas Fließendem? Und überhaupt, von welchen Bildern ist hier die Rede? Als wir jung waren, hielt man die Frauen praktisch in Käfigen. Wir haben sie befreit. Ist das keine Tat? Gott, ja. Einer musste es schließlich tun. Wir haben den Feminismus in beide Hände genommen. Was die Arbeiterbewegung versiebt hat, das haben wir gemacht. Das ist unsere Story. Das wird bleiben. Das hat auch mit Sex zu tun. Nein, der Feminismus ist nicht tot, das mag glauben, wer will. Eine Vision wurde Recht und Gesetz. Fiat lux. Das ist Latein. Endlich Sanktionen. Wir werden nicht zulassen, dass die Frauen jemals, sagen wir... wissen Sie… Schon klar. Keiner kehrt in die Geschichte zurück. Ihr gesellschaftlicher Ort – wie sagt man? – ist heute ein anderer. Und morgen? Junge Frau! Morgen mehr als heute. Sie lächeln? Lächeln Sie weiter. Heute sprechen wir über Erfolg ... messbaren Erfolg, wohlgemerkt, nicht über Wohlfühlkurven. Kurven, jawohl. Haben Sie ein Problem? Ich nicht. Die Frauen sind heute ein Wirtschaftsfaktor. Kinder übrigens auch. Das haben wir geschafft. Auch Sex, klar. Warum nicht. Haben Sie damit ein Problem? Also von Ihnen hätte ich das jetzt nicht gedacht. Aber reden wir doch übers Wohlgefühl. Heute finden wir junge, athletische Frauen in allen Berufen, in allen Positionen, und wir? Ach du liebes bisschen. Auch wir, also wir haben gelernt. Wir haben den Kapitalismus gezähmt, zu unserer Zeit, ist das nichts? Nicht der Rede wert. Bitte. Wir haben den Machismo auf die Bretter gepfeffert, Sieg durch K.o. Das ist doch was, oder? Lieber Junge, quatsch keine Oden. Und komm mal vorbei. Kein lautes Wort. Nein, wir sind nicht in die Frauenberufe gegangen. Nicht diese Falle. Sei vorsichtig, Junge. Gleicher Lohn, gleiche Arbeit. Nein, wir sind nicht zu Gebärern geworden. Das nun gerade nicht. Haben Sie ein Problem damit? Ich frage: Haben Sie ein Problem damit? Legen Sie ab, Madame. Kita für alle. Ach was. Erzieherinnen für alle. Geschlechtsneutral, ja. Naja. Ja, wir haben uns aus den Schulen zurückgezogen. Heißt das nicht Platz machen? Nein? Nicht überzeugend? Ja was denn dann? Was soll der Quatsch? Sie kriegen Ihre Quote und wir kriegen Sie ins Bett. Sie legen sichs zurecht und wir legen uns dazu. So läuft das. Solide Abmachung, ziehen wir durch. Ja ja ja. Wir werden nicht zulassen... dazu stehen wir... Apropos zulassen: Sei’s drum. Was ich sagen wollte... Der Kampf geht weiter. Welcher Kampf? Was ich sagen wollte... zuführen, was heißt zuführen... lehnen wir ab. Mädchenhandel? Scheiße, was. Wir, wer sind wir? Gute Frage. Gute Schule, nicht wahr? Wie? Ganz der alte...? Gute Nacht, ja... Habe die Ehre... Was soll...«
Wir haben im Dritten Weltkrieg gelebt und er ist ongoing, wie unsere amerikanischen Freunde sagen, die gewohnt sind, auf niedrigem Niveau Krieg zu führen. Wir, das sind ein paar Freunde, auch weitere Bekannte, darunter echte Penner, ferner, wenn man die Zeitungen liest, eine Reihe von Leuten auf unterschiedlichen Kontinenten, darunter Harmlose, Spinner, der Rechtschreibung Unkundige, auch Gewiefte, womöglich Bestien, vielleicht gibt es irgendwo Lager, in denen Skelette den Boden pflastern und Ausgemergelte sich die Hand an der Sonne verbrennen. Die Zahlen gehen in die Millionen, zig-, hunderte, was weiß ich. Nein, es scheint nicht vorbei zu sein, nur unser Part ist zu Ende gegangen, wir sind nicht mehr so gefragt und haben die Gelegenheit benützt, uns in die Büsche zu schlagen. Wir können nicht wirklich berichten, worum es in diesem Krieg geht, er geht über alle Grenzen, zu viele Parteien mischen in ihm mit, als dass jemand wissen könnte, worauf es hinausläuft. In solchen Kriegen erneuert sich die Welt, jedenfalls nimmt sie dieses Privileg in Anspruch, es ist aber nur ein Freibrief für Metzeleien. Der Geschlechterkrieg muss durch private Friedensschlüsse beendet werden, also kommt es darauf an, sie zu verhindern oder, wo irgend möglich, zu erschweren. Besser, man verkündet, das Ende der Privatheit sei gekommen, als dass man an dieser Stelle nachgäbe. Überhaupt kann man Ideologen gut an ihrem Hass aufs Private erkennen. Hier steckt ihr pathologischer Pferdefuß: die Hölle für alle braucht immer Nachschub und keiner, der sich voranbringen will, möchte hier zurückstehen.
Dem Emanzipationssexismus ist es gelungen, die vorletzte Fessel des Geschlechts in die Schrift zu verlegen und dort mit Sternchen und Pünktchen und Binnenmajuskeln und Ähnlichem zu fixieren. Ein glänzendes Kettchen mehr, geeignet, das gebundene Geschlecht zu markieren: Nehmt Rücksicht! Vielmehr: Lasst Vortritt! Gebt Raum! Aber bitte nicht zu sehr, das Geschlecht könnte straucheln und sich verletzen, daran seid ihr schuld. Der korrekte Mann gibt der Frau Halt. Und der unkorrekte? Er gibt Raum, den sie nicht braucht, er nimmt ihr Raum, den sie braucht, er verdoppelt ihre Last durch Abwesenheit und potenziert sie durch Gegenwart. Darauf noch ein Sternchen! Das Sternchen, das gute Sternchen ist das Likörchen derer, die stets in Berufung sind und ihren Beruf fühlen müssen, um ihn leben zu wollen. ›Belebt die Sinne, benebelt den Geist‹: Jedenfalls vertreibt es die Geister, die alles Frenetische wispernd umkreisen. Nicht wirklich, aber was wäre wirklich, solange es wirkt?
»Stil und Geschmack, das ist wichtig, das ist verletzt. In der Regel gilt: es gibt eine Gesellschaft, die Geschmacklosigkeiten ahndet. Wie weit kann, wie weit wird die Verrohung gehen?« Daran haben sich viele die Finger wundgeschrieben und alles, was sie zu verbreiten wussten, ist kraftlos geblieben. Ein Ethos ist kein Trend, den man umkehren könnte, und unser Ethos ist lausig. Ja sicher, dergleichen wird einmal beschrieben werden, aber nicht von den Verstrickten … solche Dinge kommen erst sehr spät zur Sprache. Heute gilt die Faustregel, dass der Einzelne sich nur gegen die Gesellschaft retten kann – schon den Zweiten dazu zu finden, fällt schwer und Sicherheit … Sicherheit ist nirgends. Dass die bezahlten Schwätzer der Gesellschaft jetzt ›das Böse‹ in ihr Inventar aufgenommen haben und jedem an die Backe reden, den sie nicht verstehen können und wollen, zeigt, dass sie aufs Ganze gehen. Eigentlich sollte es heute heißen: Die Gesellschaft ist das Böse, aber das verantwortete Denken scheut davor zurück, es weiß, was ein solcher Satz anrichten kann und will die Kirmes nicht um eine weitere Bude bereichern. So kann es nur heißen: Die Gesellschaft, zum Gott erkoren, führt sich Opfer zu, vielmehr: sie lässt sich Opfer zuführen, denn sie selbst ist wenig mehr als ein Konstrukt, eine Vorgabe aus der Trickkiste von Leuten, denen der Mund nach Macht wässrig ist. In deren Kalkül sind die Frauen, wie einst im Katholizismus (oder bei den Nazis), das entscheidende Element. Gehen sie von der Stange, bleiben die ›shades of gray‹, die Abgehängten des auf Fortpflanzung programmierten Paarungsbetriebs. Wer ihnen vorgaukelt, ihre Zeit sei gekommen, vor ihnen liege, nach langer Wüstenwanderung, das Land, in dem Milch und Honig fließen, hat sie alle auf der Stange und sorgt dafür, dass ihre Zahl stetig wächst. Wie lange? Die Frage ist nicht so wichtig, solange niemand weiß, wer danach an der Reihe sein wird. Und wenn schon – solange an Kandidaten kein Mangel herrscht, kann der Reigen weitergehen.
Ein Beispiel für die Verheerungen, die das Wort ›Kultur‹ über die
nützlichsten Erfindungen bringt: der Start
der professionellen Schreiber in die Segnungen des
web2, wie sie es nennen,
um anzuzeigen, womit man bereits wieder durch ist. Da hocken sie
wie Weltkrieg-II-Grenadiere in Erdlöchern aus schlechtem Design,
halten ihre Konterfeis hoch und wackeln mit ihnen, auf dass
jemand draufhält – aber
dalli und ohne Verzug. Sie wissen, dass sie
Kulturschaffende sind, wie es die Katze weiß, die sich
insgeheim doch für die Maus hält. Sie sind es leid, immer ins Leere
zu sprechen, und wünschen Kontakt, egal welchen. Ach, und wie
schnell sind sie desillusioniert. Nichts enttäuscht rascher als ein
Medium. Das wissen die Tischrücker schon länger. Aber niemand hört
ihnen zu, gesellschaftlich gesprochen, dort, wo man spricht, damit
die Lücke nicht spürbar wird. Welche Lücke? Es braucht Ideen, um
ins Leere zu sprechen. Lieber füllt man sie mit Gestalten. Sie
scheint wählerisch zu sein, die Leere. Soeben verließ sie den Raum.
Wenn es der Kultur eines Landes gefällt, mit der Dummheit zu
paradieren, weil es zu mehr als Geschwätz nicht reicht, dann ist
das die Lage und die klugen Leute gehen ihrer Wege. Man könnte
natürlich fragen, was für eine Kultur das sei und wer in ihr
das Sagen habe und wem damit gedient sei, solche Fragen könnte man
stellen und beantworten und vergessen, es bliebe sich gleich. Man
kann auch sagen, dass man in einem Land, für dessen Literatur man
sich schämen muss, nicht leben möchte. Wer zwingt einen, sich zu
schämen? Was zwingt einen hinzusehen? Und wer zwingt einen, nicht
auszuwandern? Etwas Besseres als den Tod findest du allemal. So ein
Land ist kaum mehr als ein Durchgangslager für Leute, die darin
nichts zu sagen haben. Irgendein Schwätzer greift sich irgendein
Anliegen, der Markt drückt es ihm auf, das allgegenwärtige
Fernsehen schleift es zurecht, ein kraftstrotzender Konkurrent
liefert die Maßstäbe, das Zeug wird gebraucht, geliefert,
konsumiert, es bleibt Zeug. Jeder weiß, dass es sich um Zeug
handelt, niemand wird darauf zurückkommen, für den Augenblick taugt es. Daneben liegen die
Themen, schwer, kantig, schartig von früheren, nie zu Ende
gebrachten Arbeiten, altes, verworfenes Zeug, wertlos, unabgeholt.
Sie liegen gut, sie liegen außer der Zeit. Das Land ist sich billig
geworden, na und? Die Leute haben Probleme, das Geld will angelegt
werden und die Renten, hört man, sind nicht sicher, man muss schon
was tun. Die Leute sind schnell durch mit dem, was sich ihnen
anbietet. Die bedeutsamen Dinge darf man nicht anbieten, sie liegen
wie Blei in den Senken des Bewusstseins, sie sind nicht Kultur, sie
sind kaum merklich.
Zu den Basiswörtern des digitalen Zeitalters gehört das Wort
›Geschwurbel‹. Schwirbeln oder schwurbeln
(meldet das Grimmsche Wörterbuch, das hier zwingend befragt werden
muss): alles eins, geht alles dahin, wo der Bartel den Most holt. Auf
diesem Weg, wer hätte anderes vermutet, begegnet ihm mancherlei,
Zustände vor allem, die der Mensch in der Regel zu vermeiden
trachtet – ›schwindlig im Kopfe werden‹, ›taumeln‹, ›in
Ohnmacht fallen‹, ›sich wirbelnd oder in verwirrter Menge
bewegen‹, ›dummes Zeug durcheinanderreden‹ – ein rechtes
Geschwurbel also, auf dem, wie der Pinienkern auf der Torte,
letztendlich die ultimative Bedeutung thront und misstrauisch
herunter äugt: ›verworrene Menge‹. Die Menge, das weiß jedes
Kind, das seine Märchenbücher studiert hat, ist per definitionem
verworren. Sie wäre sonst keine. Sie wäre Masse, Kampfeinheit oder
Publikum.
Publikum? Ganz recht. Im digitalen Netz entkleidet das
Publikum sich seiner primären Eigenschaft, der Passivität, und
schwadroniert zurück. Da zeigt sich, dass es, im innersten
Wesenskern, Menge geblieben ist, ein ungeordneter Haufen
unterschiedlichster Auffassungsarten, weit entfernt von allem ›reinen
Empfangen‹, wie die Kommunion es dem Christenmenschen abverlangt.
Warum ist das wichtig? Wenn es nur wichtig wäre! Nein, es ist viel
mehr, es ist … unfassbar, vor allem unfassbar bedeutungsvoll, da
dem Menschen der Menge nichts angelegener ist als die Denunziation
seiner Mitmenschen als … als … sagen Sie’s ruhig, jawohl, als:
verwirrte Menge.
Bravo. Hier, gerade an dieser Stelle, kommt
das moderne Geschwurbel ins Spiel: Was schreiben Sie da?
Geschwurbel! – Wem sich der Kopf dreht, der dreht zurück:
Geschwurbel! Mehr Zeichen als Wort bedeutet es: ›Ich steige aus.‹
Warum? Fährt jemand Karussell? Wie konnte das nur passieren? Wie kam
er hinein? Wollte er hinein? Nein? Es ergab sich so? Nun – ach nun! –, es kann schon vorkommen, dass einer sich in der Haustür verirrt
und erst im vierten Stock bemerkt, dass hier nicht Erna Hasenbrecht
zu Hause ist, sondern Egon Raffzahn der Ältere, der mit ihm noch
eine Rechnung offen hat und dem er um keinen Preis hier und jetzt
begegnen möchte. Oder jemand wandelt im Dunkeln am Ufer der Spree
und plötzlich – geht ihm ein Licht auf. Das sind schon verstörende
Momente.
Verstörend ist auch die, wie soll man es sagen, Patzigkeit,
die das Wort enthält. Man kann sich gar nicht vorstellen, dass es
auf milde oder einfach freundliche Weise gesagt werden könnte: »Ein
schönes Geschwurbel lassen Sie da ab!« Nein, diese Rede trieft von
Hohn, noch dazu der mühsamen Sorte, sie will verletzen und weiß
nicht wie. Sie hat den Kontakt zu dem, worüber sie sich ergehen
möchte, eingestellt und wirft … was wirft sie denn? Was würfe sie
denn? Schon diese Frage treibt ihr die Puterröte ins Antlitz, das
›würfe‹ überfordert sie total, sie vermag sich nicht
fassen bei soviel elitärem Ausdruck, sie will »Schwein« brüllen
und bellt »Geschwurbel«, aber mit eingekniffenem Schwanz. Denn bei
alledem ist sie gebremst. Das Gebremstsein gehört zum Geschwurbel
wie die Kehle zur Nachtigall. So erhebt sich die Frage, was eine
stolze Rede dermaßen zu bremsen vermag, dass sie mit einem gebellten
Scheinwort aussteigt – denn ›Geschwurbel‹ gehört in die Klasse
der Scheinwörter, bei denen der Verstand sein Lichtlein ausknipst
und sich zu Bett begibt, um einmal durchzuschlafen –, es ist ihr
›Adieu‹, sie will von nichts mehr wissen, sie will diese
Überforderung nicht weiter hinnehmen.
Am besten stellt man sich die sozialen Netze wie eine weite flache
Landschaft vor, in der nur einstöckige Bauten sich aneinander
reihen. Mancher, der hier zu Fuß unterwegs ist, kann nicht anders
als in jeden Hauseingang zu treten und seine Duftmarke zu
hinterlassen, sobald er merkt, dass dieser Ort nicht für ihn
bestimmt war. Er ist ein entfernter Nachfahre des Flaneurs, auf den
die Literaten einer vergangenen Zeit so große Stücke hielten, die
heutigen haben ihn am Hals. Gern wären sie ihn los, aber so einfach
läuft das nicht. Was schade ist, denn gerade seine Welt ist
einfach. Ihr Vorzug: sie geht nicht weg.
»Was für eine Gesellschaft!« Im Wort ›Gesellschaft‹ steckt das
Pejorative, das nicht weggeht. Die gute Gesellschaft, die feine Gesellschaft, das sind
Unterscheidungen, die den Makel der Trennung auf der Stirn tragen.
Aber auch die Gesamtgesellschaft ist nicht so unverdächtig, wie sie
erscheint. Dass sie an das ›Gesamtkunstwerk‹ seligen Angedenkens
erinnert, mag man ihr noch durchgehen lassen. Doch das Totalisieren
an sich ist ohne eine Tendenz nicht zu haben; die Begriffe sind
nicht so unschuldig, wie sie den anblicken, der sich nicht
vorsieht. Auch die Gesamtgesellschaft schließt aus: dass sie es
ablehnt, den Rest zu benennen, verheißt nichts Gutes. Kurioserweise
entstammt der Begriff dem Repertoire der Kritischen Theorie, die
sich selbst einem Rest zuzählte, der – wie man hoffte – nicht
weggeht. Zum Wir-Begriff wurde die Gesamtgesellschaft in dem Maß,
in dem die kritisch Bewegten sich in ihrer Mitte einzurichten
verstanden. Demnach zählt sie unter die eher komischen Exuberanzen
des Mit-der-Zeit-Gehens. Und wirklich hellen sich die Mienen der
Menschen auf, wenn der Ausdruck fällt – sie lassen ihn zwischen
sich durchfallen und sehen ihm nach bis auf ihre blankpolierten
Schuhspitzen, dann heben sie leise den Fuß und man hört es
knirschen. Aber das nebenbei. Im Grunde hat niemand ein solches
Wortungetüm nötig, das einfache ›Gesellschaft‹ genügt, und jeder,
der mit feineren Sinnen geschlagen ist, riecht den Braten. Wer sich
in Gesellschaft begibt, setzt die Freiheit, sich aus ihr zu
entfernen, voraus, er bedankt sich sehr, wenn man ihm bedeutet,
dass er außerhalb ihrer nichts bedeutet und dass er dort niemals
ankommen wird, so sehr er sich auch anstrengt und ›isoliert‹.
Dieses Wort gibt ihm zu denken. Isolation – was ist das? Eine
gesellschaftliche Verrichtung, eine Strafe, ein verhängter
Ausschluss und ein bekundeter Unwille, den sich aus eigenem Antrieb
Entfernenden zuzulassen. Gesellschaft ist ein Distanzbegriff; eine
Gesellschaft, die auf sich hält, thematisiert sich nicht als
›Gesellschaft‹, sie begreift sich als Raum, in dem man sich
aufhält – auf Zeit, wie in allen Räumen, die sich im Leben öffnen. In dieser Hinsicht
bezeugt eine Prägung wie ›Weltgesellschaft‹ keinen Begriff, sondern
das Grauen schlechthin. Alle empfinden es, alle gehen darüber
hinweg, so stark ist der gesellschaftliche Sog, der den Einzelnen
mindert und das stärkt, was keiner will und am Ende keinen
befriedigt.
Mersmannsche Kappe für den Hausgebrauch, mit Circumcisio, ohne
Brandmal, leicht vergilbt. Man kann sie gelegentlich ersteigern,
aber im Netz stehen genaue Anweisungen, nach denen es leicht
möglich sein sollte, sich eine neu zu verfertigen. Angst davor, dass es dieselbe Kappe irgendwo ein
zweites Mal gibt, muss keiner haben, die Bastelanleitung ist ebenso
locker gefasst, wie die Kappe anliegen sollte. Wer sich ihrer
bedient, will nicht als Parteigänger Beachtung finden, sondern als
Zeitgenosse. »Wer seine Zeit genießt, ist ihr Genoss, wer das nicht
weiß, fliegt in die Goss.« Solche derben Sprüche findet man überall
dort, wo man darauf gefasst sein sollte, mitten im Gewühl einer
Gesinnungsschlafmütze zu begegnen. Viele ihrer Träger sind
organisiert, manche darunter im Zeitlerorden, dem Orden der
unvermittelten Abbrüche und der gestreckten Lebensläufe. ›Wir haben
Urlaub‹ steht in den Unterlagen, die man zugeschickt erhält, wenn
man um Aufnahme bittet, womöglich vom Pförtner, der als einziger
noch die Stellung hält. Die Zeitler hält es wenig im Lande, sie
sind ›unterwegs‹. Wohin? Eigentlich reisen sie der Sonne entgegen,
sie stecken voller Begegnungen, von denen die Haut hier und da
Zeugnis ablegt. Wenigstens sie, immerhin ist sie das größte Organ
und kann sich sehen lassen.
Die Gestalt einer negativen Ewigkeit besteht aus der uns umgebenden Natur. Sie zu
bezweifeln, zu erneuern und zu durchstreifen ist die Aufgabe der Gespenstermaler. Seit alters besteht das Missverständnis des Naturalismus darin, die natürliche Außenseite der Dinge, selbst wenn sie ununterbrochen Erweiterungen erfährt, bereits für Teile eines Ganzen zu nehmen.
Darin besteht der Irrtum des sogenannten gesunden Blicks, der bloß am sinnlichen Mantel der Maja hängen bleibt. Sehlichte Täuschung der Nerven ist überhaupt das Prinzip der natürlichen Ewigkeit, sie füttert den Menschen, gleich einem Tier ohne Instinkt, mit den Luftblasen ungemalter Prinzipien, seit es über das plötzliche Einfahren der göttlichen Seele instinktlose Zweifel gibt. Aus diesen Gründen werden die Gespenstermaler unseren vernachlässigten Geistesaugen immer wichtiger, nicht nur im Traum.
Nichts gegen die Vermutung, der Mensch sei tatsächlich ein von Dämonen gequältes Tier, aber es sind dann immerhin Dämonen, die ihn heimsuchen und nicht die bilderlos aus sich selber wütenden Fehler der Krankheiten.
Solange die Ärzte sich nicht gelegentlich mit den neuen Gespenstermalern vereinigen können, um Krankheitsbilder auf riesige Deckengemälde zu malen, schwebt das Verhängnis der Bildlosigkeit über unseren einsam schlafenden Köpfen, die jenseits der Träume bloß mit Geschwätz und Zahlen gefüttert werden.
Immer wieder die Spritzen beiseite legend, sehe ich die malenden Ärzte und Künstler eines Tages auf hohen Gerüsten nebeneinander die neuen Gemälde dämonisch umwölkter Menschen prachtvoll ins Blau der Kuppelgewölbe malen. Auch die Organe sind endlich ornamentale Schleifen kühner Gewänder, so außen wie innen. - PM
a) Im Paradies der Billigen haben die Teuren Ausgang. Nur die Teuerste zieht ihre Kreise, als ginge sie das Ganze nichts an. Vielleicht hat sie recht und es ist nur ein böser Traum.
b) Der Allerwerteste greift sich den Schritt und bestreitet den Vorgang. Ein teurer Standpunkt: hier steht keiner, der vorher nicht fiel. Oder auffiel, was fallentechnisch die Sache erleichtert, aber kein gutes Echo hervorruft.
c) Wer auffällt, ist schon gefallen. Das Auffallen beschreibt eine Kurve, die steil gen Himmel strebt, um sich dem Schoß der Erde rapide zu nähern und mit ihm zu verschmelzen.
d) Das Abgreifen, eine egalitäre Tätigkeit: fällt auf, wenn der Griff schmerzt. Nicht was, sondern wo jemand abgreift, macht den Unterschied. Eine Sache im Griff haben heißt, auseinander zu reißen, was umso stärker zusammenwirkt.
e) Die ›Lust, niemandes Lust zu sein‹, ist ein altes Motiv und eines der stärksten. Das wissen Ermittler aller Couleurs, sie haben mit ihr manches Kind gezeugt und fürchten noch immer, sie müssten für die Folgen aufkommen.
f) Wir haben die Lust befreit und nun befreit sie sich. Das steht, als Kainszeichen, an den Türen der Erlesenen, die keine Lust haben, Opfer zu spielen.
g) Das Land aller Möglichkeiten ist das Land, in dem die Lust frei hat und jeder für sie haftet. Die Menschen leben hinter Sicherheitsanlagen und halten die Gewehre bereit.
h) Allem, was Recht ist, schlägt seine Stunde.
i) Simultan ist das alles, dass einem, erschüttert, das Kreuz bricht.
Eine Lehrerin betrügt den Mann, der sie vergöttert, mit dem Säufer,
der sie gnadenlos in den Dreck zieht. Ein Namenloser sprengt sich
täglich in Gedanken mit dem Präsidenten seines Landes in die Luft,
um das Schlimmste zu verhindern. Der Kommandant eines mit
Atomraketen bestückten U-Boots, den Befehl, es zu tun, auf dem
Bildschirm, lässt sein Boot an einem Riff zerschellen. Die
pummelige Kunststudentin, vertraut mit den Kniffen der Borgias,
liest Vergewaltigungsphantasien in den Augen ihres
Straßenbahnnachbarn und stößt ihm eine präparierte Nadel ins Herz.
Ein Spieler erhöht den Einsatz und begeht Selbstmord. Seine Frau
gewinnt. Spielen Sie mit, wägen Sie mit, urteilen Sie mit! Das
vertreibt Zeit und macht ein gutes Gewissen. Vor allem: Sie sind
dabei. Jedenfalls bis auf weiteres.
Wer ab und zu denkt, findet leicht, ein abgetaner Gedanke besitze die Kraft nicht mehr, sich zu behaupten – er beanspruche keine Geltung. Weit gefehlt. Was soll ein abgetaner Gedanke anderes beanspruchen als eben Geltung? Er hat frei, er hat Zeit, die Köpfe der Leute zu erobern, während der Gedanke, an dem noch gearbeitet wird, vor Ungeduld mit den Hufen scharrt. Leicht möglich, dass ein Jahrhundert die Obsessionen des vergangenen erbt, um sie zu realisieren – als wären sie das Neue, die neue Zeit, der neue Geist über den Wassern einer alten Gewitztheit. Die alte Gewitztheit kennt die Woge, die da heranrollt, sie gehört ganz zu ihr, aber als Oberfläche. Die tiefen Massen, die anders ziehen, halten sich anders bedeckt. Darin besteht ja das Neue.
Die Dichotomie von Glauben und Wissen beherrscht den Alltag, so dass selbst, wer glaubt, sich auf der sicheren Seite wähnt. Er weiß etwas, was die anderen nicht wissen, denn er glaubt und er hat die Wirkungen des Glaubens an sich erfahren. Er weiß also, was Glauben ist – nicht irgendeiner, sondern seiner, der richtige. Einen ›bloßen Glauben‹ lehnt auch er ab, das wäre Aberglaube und Vorurteil, kulturell gewachsen, aber durch Aufklärung und Wissenschaft durchschaubar und damit widerlegbar geworden. Da liegt der Hase im Pfeffer: der ›bloße Glaube‹ ist im Prinzip widerlegbar, auch wenn im Moment die Mittel dazu fehlen. Er ist schon überwunden, weil er als überwunden gilt. Was wäre das Wissen, wäre es nicht gerade das: Überwindung des bloßen Glaubens? Der reflektierte Glaube hat das Wissen in sich aufgenommen, er ist über den bloßen Glauben hinaus, er ist ein Exzess. Dieser Gläubige weiß um seine Situation, er hat sie lange erwogen und durchlebt und das hat ihn stark gemacht: stark wofür? Für das Besondere, das er repräsentiert. Unter der Ägide des Wissens zu glauben ist etwas Besonderes, eine Auszeichnung, ein Konzept, das Überlegenheit verleiht. Was wäre ich ohne meinen Glauben? Nicht viel. Was wüsste ich ohne meinen Glauben? Nichts Besonderes. Wo wäre ich ohne meinen Glauben? Auf jeden Fall weit dahinten, mit Nässe, Dunkelheit und Chancenlosigkeit kämpfend, abgeschlagen, eine armselige Existenz. So wie ich bin, bin ich reich.
sind besser. Sie sagen: »Unsere Jungs sind besser« oder »Frauen
sind besser« oder »Marmelade ist besser« und schon rennt die
Marmelade, den Auftrag zu erfüllen, der tief in ihrem Inneren
tickt: besser zu sein, besser als die anderen, besser als sie
selbst, besser als das Weltall, das, wie der Mond, ein faul’ Stück
Holz ist, vom Ich überglänzt seit altersher. Die Gimpelfänger
bleiben im toten Winkel, sie überblicken die Materie und halten die
Fäden in Händen, die selber Fäden gleichen. »Ich stehe mit allem in
Verbindung«, kann so einer sagen, sein Bauchansatz rundet sich
leicht, er ist es zufrieden. Gimpelfänger haben es leicht, sie sind
das Salz der Erde, die sich ihnen entgegenkrümmt, so sehr ist sie
aufs Lecken erpicht. Aber lassen wir die Erde Erde sein und halten
uns an die Fakten. Fakt ist, dass, wer einen Gimpel gefangen hat,
ihn auch wieder loswerden muss. Das klingt einfacher, als es sich
anlässt. Die Preise für Gimpel fallen, seit Mutter Natur
durchblicken lässt, in welcher Fülle sie sie bereithält – eine
Ressource, die nie versiegt. Was ein Gimpel wert ist, weiß keiner
so recht, es sei denn, er braucht gerade einen, um mit dem Fänger
zu rechten. Die Feinde der Fänger sind die wahren Freunde der
Gimpel. Sie tun ihnen nichts, auch wenn gerade das immer wieder
behauptet wird. Manchmal empfinden sie sogar Lust dabei, ihnen auf
die Finger zu sehen. Diese Lust vergraben sie tief, da sie
fürchten, dass man sie denunziert.
Dass mehr geglaubt als gewusst wird, ist kaum zu leugnen. Einmal,
weil die entrückte Historie wie die entrückte Hoffnung nur vom
Glauben gerufen werden können, sodann, weil überhaupt die innere
Art der Unendlichkeit nie mit dem Anteil des Gewussten zu füllen
ist. Das Gewusste schwebt immer daneben und nur das Geglaubte ist
dicht bei uns selber.
Es bleibt jedem überlassen, sich innerlich so zu verkürzen, dass er
die Menge des Geglaubten nicht fühlt und die Menge des Erhofften
nicht ahnt, aber sie spielen um uns herum und schneiden Gesichter,
die niemand vermutet. Nicht der Glaube, von dem abfällig gesagt
wird, er sei eine schwache Hilfe gegen die Angst vor den Realitäten, sondern das ohnmächtige
Wissen in der Realität verdient den dunklen Titel des
Selbstbetrugs, denn Realitäten werden nicht anders geglaubt als
mittels eines zweiten Glaubens, den an Tatsachen, dem ein dritter Glaube an
die vermeintliche Wirklichkeit zur Hilfe kommen muss.
Ich glaube, es wird alles zusammen geglaubt und man gelangt so
rasch auf das Gebiet der heiligen Dreifaltigkeit.
Wissen ist keine Macht zur technischen Einsicht in Realitäten,
sondern Betäubung der Hoffnung auf unbekannte Fernen. Denn
alle Angst hofft auf ferne
Erlösung, die kein Wissen erlangen wird. Der richtige Racker des
Agnostizismus ist ein Selbstmörder mit kräftigen Armen. Er stürzt
die Götzen der Visionen, über die nur der Einzelne verfügt, mit der
Wissensaxt der Kollektive und gerät wie ein ungeschickter
Holzfäller unter sich selbst. Das konnte dem heiligen Bonifazius
nicht passieren. Er glaubte nur einmal, die Germanen hingegen
mehrmals. Allerdings ist es gut, sich der Gestalt eines Gottes, was
dessen Wirkung betrifft, zweimal zu nähern. Einmal unter dem Aspekt
seiner Allgegenwärtigkeit, der ihn für den einzelnen Menschen
unerreichbar macht – denn für alle bedeutet für niemanden – oder
als Bruder des eigenen Ich, als eine Innenschöpfung der
Seele. Wer an die Seele in Hinsicht der persönlichen
Gottesbezogenheit nicht glauben kann, ist genauso ein Racker mit
kräftigen Armen – einer, der sich die eigenen Beine abhaut. Affe
kann er nicht mehr werden und Mensch will er nicht sein. - PM
Ist das Glauben zum Bedürfnis geworden, dann
stört das Unwahrscheinliche ebenso wenig wie das Sinnwidrige. Im
Gegenteil: ein lebhafter Glaube bedarf der Beunruhigung, manche
sagen, des Absurden, um sich zu erhalten und nicht in der
Gleichgültigkeit des wirklich und scheinbar ›Gewussten‹ zu versinken.
Nichts versetzt den Menschen so in Unruhe wie der Gedanke: »Und das
soll ich jetzt glauben?« Wer sich vom eigenen Glauben nicht hin und
wieder verschaukelt vorkommt, hat nie in den Spiegel geblickt,
geschweige denn in den Abgrund. Unter den religiösen Vorstellungen
steht die des Abgrunds an erster Stelle. Es muss einem die Füße
wegziehen, wenn man glauben soll, es muss einem die Füße weggezogen
haben, bevor man die Schwingen des Geistes spürt und die Gewissheit
sich einstellt: Und sie tragen doch! Wohin? Frage nicht,
grüble! Vielmehr: Grüble nicht, glaube! Glauben, solange die Füße
nicht den Boden verlassen haben, ist nichts weiter als Rechthaberei
auf falschem Grund.
Hochwürden, vom hohen Ross heruntergenötigt, bemüht sich neuerdings um den Titel
›Glaubwürden‹, doch er stößt auf Widerstände, wo er sie nicht
vermutet hätte. Hochwürden glaubte, genügend
Glaubwürdigkeitskapital in Reserve zu haben, um einen Neuanfang
wagen zu können. Aber etwas stockt. »Kommen Sie voran?«, fragen
ihn seine Glaubens-Mitstreiter, die sich Gutes davon erhoffen, sein
Auge blinkt, aber matt. Wo soll das hinführen? Mittlerweile fährt die
Konkurrenz, der es nicht an Märtyrern mangelt, Erfolge ein, die ihre
Gegner das Fürchten lehren, das Glaubensgeschäft blüht wie seit
mehreren saecula nicht mehr, bloß Hochwürden bleibt außen
vor. So ungerecht ist die Welt. Nein, es sind nicht nur verführte Knaben,
die gegen ihn zeugen, es ist auch der Widerwille gegen die
erfolgreiche Konkurrenz, der sich in den Gemütern der Ängstlichen
zum Schlachtruf ›Keine Religion!‹ verdichtet – ›Nur das nicht.‹
Denken Sie sich, Hochwürden ist zum Bauernopfer geworden – in
einer Schlacht, an der er nie im Traum teilnehmen wollte, selbst nicht
als Bauer!
G. spricht: Inzwischen sollte man aufhören, das, was seit fünfzig Jahren den Frauen passiert, pauschal Befreiung zu nennen. Zweckmäßiger wäre es, man kehrte zu einem Ausdruck der frühen Jahre zurück: reden wir von Vergesellschaftung. Frauen sind, in einem anderen Sinn als Männer, Gesellschaftswesen, sie bestehen auf Gesellschaft und die Männer finden ihren Vorteil dabei. Die Biologie mischt mit und sorgt dafür, dass alle von Zeit zu Zeit wieder nach Hause gehen. Nun, Vergesellschaftung zielt darauf, diesen ›Rest‹ zu vernichten und die Beute den großen Akteuren in die Hände zu spielen – von der Wirtschaft über die Medizin bis zur Psychiatrie und ihren leichteren therapeutischen Schwestern. Dazu bedarf es des Gesetzgebers und des Schwarms von Behörden, die umsetzen, was an der Zeit ist. Sie spielen den entscheidenden Part. Der formalen Gleichstellung der Geschlechter folgt, Jahrzehnt um Jahrzehnt, ihre informelle Ungleichstellung durch ›gezielte‹ Nachbesserung des Erreichten: ein Fass ohne Boden, eine Baustelle ohne Ende, eine nach oben offene Aufgabe, ein Beben, das niemals zur Ruhe kommt. Nichts davon bringt die Geschlechter der Gleichheit näher. Man kann auch nicht sagen, dass es sie voneinander entfernt. Nur die reale Ungleichheit setzt sich durch, auf jeder Stufe, auf jedem ›Stand‹, mit allen verfügbaren Mitteln, den neuesten wie den ältesten. Hier liegt das Ärgernis und mancher reißt sich lieber das Auge aus, als dass er zu dem stünde, was er sieht. Fazit: Wer den ἄνθρωπος abschafft oder seine Abschaffung simuliert oder den virtualiter abgeschafften anhand simulierter oder simulierender Forschungsergebnisse im Wochentakt ad absurdum führt, riskiert... seine laufende Wiedergeburt, mit allen Folgen und Folgefolgen, den rüden wie den subtilen. Was wären wir ohne die Folgen! Wer wären wir ohne die Folgen! Im besten Fall bekommen die Verfolgungsbehörden zu tun, im schlechtesten sind selbst ihnen die Hände gebunden und irgendwo tickt jemand aus. »Währenddessen nehmen die Menschen sich, was ihnen brauchbar erscheint. Das Mobiltelefon zum Beispiel und die Religion sind die gegenwärtigen Mittel der Frauen, sich im Dschungel der Gleichheiten zu bewegen, ohne sich ihnen auszuliefern. Entsprechend argwöhnisch werden sie beäugt.« Es gibt andere, subtilere, vielleicht mächtigere, aber zu diesen hier haben alle Zugang, sie sind barrierefrei: ›basic‹.
»Gleicher Mut für gleiches Entgelt!« Wer nicht einsieht, dass diese
Forderung nur gerecht ist, der hat das Wesen der Gerechtigkeit nicht
verstanden, für den bleibt Unwesen, was die Parteien treiben, vor
allem die Partei der Gerechtigkeit, die für sich recht zu haben
beansprucht, weil alles andere ungerecht wäre. Habe Mut! Das
Zitat geht noch weiter, doch die Partei kennt es nicht, sie will es
nicht kennen, sie ignoriert seine Kenntnis wissentlich. Es wurden
schon Mitglieder exhumiert und aus der Partei geworfen, die es vor
Zeiten den Genossen zur Kenntnis bringen wollten, denn es ist die
Parole aller, die das Denken noch nicht verlernt haben. »Habe Mut,
dich deines Verstandes zu bedienen!« – und flutsch! wieder
ein Parteimitglied weniger. Mit Gleichmut geben, mit Gleichmut
nehmen, vor allem das kleine Entgelt für die Portokasse – das ist
die Parole aller Parteien, die im Verstand die Wurzel allen Übels
verorten, solange nicht irgendeine Zentrale ihn steuert. Dann
natürlich wendet sich das Blatt und ein Verstand tritt
hervor, besessen bis zum Abwinken, bis zur kollektiven Besessenheit,
denn besser als ein gehabter wirkt ein besessener Verstand allemal.
Stimmt die Zuwendung, stimmt der Mut: Wer die Welt ändern will, der
braucht Geldgeber, damit am Ende die Richtung stimmt. Sie muss doch
stimmen, die Richtung, oder? »Die Richtung stimmt«, sagt der
Genosse Kassenwart, wenn die Kasse stimmt, er sagt es mit Nachdruck,
als Champion aller Klassen kennt er die Alternativen und taxiert sie
kühl.
Glotzästheten nennen wir jene Bewunderer des Ausgefallenen (oder dessen, was sie dafür halten), die den Objekten ihrer Leidenschaft mit dem Ausdruck ›Wow!‹ auf den Lippen gegenübertreten, um dann zu verstummen. Man könnte sie die fleischgewordene Weigerung nennen, ein Urteil – und gar ein ästhetisches! – zu fällen. Doch damit hätte man dem Glotzästhetentum bereits ganze Zweige der sogenannten Wissenschaften von der Kultur zugerechnet, Kunst und Literatur inbegriffen. Warum auch nicht? Wo der Sehbefehl des Marktes oder der Ideologiewächter endet, sehen sie nichts – sie sehen nichts, sie hören nichts und ihre himmlische Landesmutter ernährt sie doch.
Nicht über meine Leiche, sagt die Glücksfee, sie meint ›Nur über meine Leiche‹ und drückt sich etwas merkwürdig aus. Andererseits: die Leiche der Glücksfee – was soll das sein? Vielleicht ist es ja ein Glück, dass sich in diesen Regionen niemand zu Hause fühlt. Wenn einem die Glücksfee selbst den Weg versperrt, dann sollte man sich nicht zimperlich zeigen und ihr die Rechtsprachlichkeit erlassen. Das Glück der Wörter findet sich ohnehin anderswo.
Du kannst den Gedanken an eine persönliche Vorsehung kalkulieren,
du kannst ihn ablehnen, aber verhindern kannst du ihn nicht. Wie
immer du es anfängst, wie immer in dem Geduldspiel du die Begriffe
legst: sobald du es unternimmst, diese Sache, die dich verfolgt,
irgendwie a-persönlich zu denken, beginnt die Seinsschwafelei, die
dich nicht befriedigt. Sie kann dich nicht befriedigen. Das
erfingerte Nichts ist immer zu bunt – zu bunt und zu eintönig, um
die Phantasie und das Denken für längere Zeit ruhigzustellen. Wie
das? Schließlich nistet die Vorsehung im unruhigen Denken, in der
Unruhe selbst, die nur aus Verlegenheit vorwärts will, sie würde
genauso gern seitwärts ausbrechen und es gelingt ihr oft genug.
Natürlich lässt der Gedanke, das Vorgesehene sei auf dem Weg, die
Neugierde sinken, er ist, alles in allem, ein beruhigender Gedanke,
der auf der Stelle Metastasen treibt. Diese Nebengedanken sind
lästig, aber auch interessant, sie locken das Denken auf Abwege und
es bedarf schon des Hirten, um sie zurückzutreiben, des
guten Hirten... Hier
stockt die Rede, wie abwesend geht sie zurück in den Kreis des
Gebimmels, das vorwärts zieht, in die Ruhe der Leiber, die ihr
Schicksal miteinander teilen. Kaum sind wir autonom,
erinnert unser Körper an fatale Abhängigkeiten und vor allem
ans Ende, vor allem und jedem ans Ende, an jene Ruhe, auf welche
das Denken zueilt und vor der es erschrickt, mit welchem Vokabular
auch immer. Ja, auch das Denken selbst kann erschrecken, nicht nur
das Tier oder das liebe Gemüt. Sicherlich hat es dafür seine
Gründe, doch man erschrickt nicht aus Gründen, auch das Denken
erschrickt nicht aus Gründen, eher aus Abgründen, aber das ist bloß
Wortspielerei. Es schreckt zurück und man kann nicht wissen, ob es
ein Gedanke ist, vor dem es zurückschreckt, oder ein Nichtgedanke,
eine Lücke im Netz des Denkbaren. Solche Lücken gibt es ganz ohne
Zweifel, Denken bedarf der Bahnungen und wir können nicht wissen,
ob dort, wo heute die Lücke sich auftut, morgen eine Rennstrecke
liegt. Wir können es nicht wissen, aber etwas in uns sagt, dass
dies ein infinitesimaler Prozess ist und die Lücke nach innen immer
Raum hat.
Wenn das Denken erschrickt, gibt es keinen Ausweg, keine Therapie,
keinen Auslauf. Die
unerreichbare, stetig drohende Denkruhe ist etwas Seltsames und es
sieht aus, als sei so etwas wie die sprachanalytische Philosophie
eigens erfunden worden, um es zu bedecken, jedenfalls gibt sie dem
Denken zu tun wie einem Hund, den man apportieren lässt. Dieses
Erschrecken trägt einen altertümlichen Namen: Gnosis. G. heißt
Wissen, das weiß jeder, es ist sozusagen der Anfang des Wissens,
hinter den es kein Zurück gibt in die sokratische Attitüde. Doch,
ich weiß, ich weiß mancherlei, und es ist Unsinn zu behaupten, es
bedürfe einer Methode, um wirklich zu wissen – gerade diese
Behauptung liegt vollkommen außerhalb jeden Wissens, sie ist naiv.
Im Wissen weicht der Weltsinn vor der Brandung zurück und flüchtet
sich in Hieroglyphen, z. B. die der Wissenschaft, aber es gibt auch
andere. Es gibt immer andere und es ist immer Wissenschaft, sobald
und solange es angesagt, solange es an der Reihe ist. Leichtgläubige
pflegen über Leichtgläubige zu lachen, Ungläubige über Ungläubige.
Nicht der Glaube, der Unglaube enthält das Wissen, er enthält auch
den Glauben, er ist das Umfassende, aus dem das andere
hervortreibt. Deshalb nennen sie den gläubigen Menschen einen
Wiedergeborenen, anderenfalls einen Naiven. Naiv sein heißt, den
Akt des Glaubens nicht zu kennen, von dem der Gläubige weiß. Dieses Wissen, diese Gnosis ist
nie von dieser Welt, sie ist immer schon ›jenseits‹ und hat den
naiven Glauben preisgegeben, man könne weltgläubig wissen. Sie weiß
es besser.
Abwehrzauber, in vollendeter Putzigkeit auf Kathedralen montiert:
Dämonen, Engel, Schnellfeuerwaffen des Lächelns, auf einen Wink hin
imstande, ganze Landstriche mit Tod und Verderben zu überziehen.
Gnosis ist das Unterfangen, die Existenz ins Denken zurück zu
verlegen. Denken will Lösungen. Und so lautet die Lösung, vor der
allen graut: Gnosis. Nehmen wir den extramundanen Gott – er lässt
sich nicht anders als unpersönlich denken, gerade in dem Maß, in
dem er außerhalb steht. Und das ist die Wahrheit: Er lässt sich denken – so wie man
sagt: er lässt grüßen. Nenne ihn Prinzip und das Denken beginnt
wieder zu gleiten. Mit Prinzipien kennt es sich aus, mit ihnen kann
es umgehen, es bedarf ihrer zu jeder Stunde. Prinzipien sorgen
dafür, dass sich die Kammern mit Welterkenntnis füllen, mit
Mundanität, also mit dem, worin jener Gott nicht ist. Er steht also
außerhalb wie der Pflock, um den ein Hund seine Kreise zieht, bis
der Spielraum, den die Leine gibt, aufgebraucht ist. Es war ein
kesser Spruch, zu behaupten, er sei tot, aber ein kesserer, er sei
lebendig, denn wenn sich das Leben nach ihm verzehrt, dann wäre
sein Begehren nach sich so groß, dass es ihn erdrückte. Leben will leben, aber es will auch
tot sein, es will den Tod denken, es will ihn fühlen, es will ihn
antizipieren, es will den Tod im Leben und es will das Leben im
Tod. Das ist banal, aber nicht trivial, es ist das offenbare
Geheimnis, vor dem allen graut. Graut ihnen vor Gott? Das ist eine
dumme Redensart, es graut ihnen vor nichts, außer davor, dass es
immer weiter geht, dass jede Erfahrung bis in ihren letzten Winkel
aufgebraucht wird und dass dieser Prozess approximativ ist – nie
das Letzte erreichend, aber jeden Halt übersteigend. Es graut ihnen
auch vor dem, was sie hinter sich haben. Niemand, der seine Sinne
und seinen Verstand beisammen hat, möchte zurück. Ist das die Welt?
Ist das die Flucht? Und wie nennen wir die Stimme dessen, der von
›Verweltung‹ aller Begriffe schwätzt?
Die deutsche Literatur hat den Goebbelsschock nie überwunden, sie ist staatsaffin geblieben noch in ihren scheinbar staatsfernsten Äußerungen, selbst bis in die vorgeschriebenen Lebensläufe hinein, nur dass dieser Umstand von allen Seiten sorgfältig verborgen wird, denn ihr ›Image‹ besteht darin, unbestechlich und vor allem unbeirrbar zu sein, es sei denn, die Zeitläufe selbst verlangen die notwendigen Korrekturen. Und gewiss, sie verlangen sie. So hat die sogenannte ›Flüchtlingskrise‹ im Buch literarischer Botmäßigkeit ein ganz neues Kapitel aufgeschlagen: ›Migrantenliteratur‹, bis dato ein Genre unter anderem, unter ferner liefen, um genau zu sein, wurde augenblicklich Pflicht und jeder Schreibfinger, der weiterkommen und seine Miete bezahlen möchte, besitzt neuerdings einen religiös getupften Wanderungshintergrund, der sich gewaschen hat. Davor benötigte, wer ›reüssieren‹ wollte, die richtige Biographie Ost (oder die falsche, auch daran ließ sich ›lernen‹), davor das antifaschistische Elternhaus, das sich nicht selten als das faschistische erwies, aber es ging auch andersherum. Eine Ehrensache für alles, was bereits länger in diesem seltsamen Lande lebt und schreibt, waren und sind, jedenfalls im Westteil, die ’68er Anfänge – ohne sie ging lange Zeit gar nichts. Noch immer sitzen ihre Opfer – denn es handelt sich um Opfer, wirkliche Opfer einer biographischen Notwendigkeit – in endlosen Gesprächsrunden herum und verbreiten ihre seit jenen glorreichen Jahren gewonnenen Erkenntnisse. Leider haben sich nach und nach die Sachbuchautoren und schließlich der eitlere Teil der Professorenschaft aus den zeitgeistbewegten Fächern zwischen sie und das belehrungssüchtige Publikum gedrängt, so dass ihr Anteil am öffentlichen Gerede stark abgesunken ist; böse Zungen behaupten sogar, es tendiere gegen Null und das sei gut so, da sie ohnehin nichts zu sagen hätten. Was so einfach nicht stimmt. Sie hätten noch viel zu sagen, aber der Buchmarkt lässt es nicht zu und die Germanistik, die gute, interessiert sich, seit sie den Eigenwert von Symbolisierungsprozessen für sich entdeckt hat, für alles andere, nur nicht für sie. Was sie ›Gegenwartsliteratur‹ nennt, entnimmt sie, wie einst die Feuilletonschreiber, den im Netz aushängenden Waschzetteln der Verlage und jagt es durch die eigenen Verwertungsmaschinen wie Geologen irgendwelche Gesteinsproben, nur die Goldsuche ist ihr fremd. Staatstragend sind auch ihre Themen – bis in die Intimbereiche hinein, nur dass nicht sie den Staat tragen, sondern er sie, zumindest erträgt er die Ausgaben, die sie verursacht, leichter, seit er sie über die Vergabe von Drittmitteln kontrolliert. Ansonsten gilt die Devise: Listen führen, Listen abgleichen, Listen weiterführen … das entfernt sich weit von der List der Vernunft, aber es sorgt für ordentliche Gehälter und das ist gut so.
Der G., auch Suchmaschine genannt, ein enger Verwandter des Pfaus, weniger lethargisch allerdings, doch ebenso schillernd: eine Augenweide für alle, die’s bunt mögen und nicht kopfscheu werden, wenn tausend Augen auf sie zurückblicken, wobei ›tausend‹ eine wegen ihres Gemütswertes gegriffene Zahl ist, denn die wahre Blickzahl kennt keiner. Das ist auch nicht nötig, denn das Gefieder des G. entschädigt für alle Unbill. Welche Anmut in der Bewegung! Welch klug gezügelte Kraft! Welch redliche Weise, dem Dasein zu dienen! Dienst am Dasein – so ließe sich bezeichnen, was alle Welt G. nennt, als Zeichen der Vertrautheit, aus Freude am reinen Dasein, denn wer sich da nicht findet, der hat Grund, an dem seinen zu zweifeln. ›Gelöscht‹ ist eine Merkform des Abhandenseins, die sich dem sozialen Tod an die Seite stellt und ihn in mancher Hinsicht übertrifft, weil sie umfassender informiert. Sie kommt gleich nach der Kreuzigung, als Bauernopfer der Erlösung, die immerwährende Anwesenheit verspricht. Manche G.-Freunde verlangen selbst danach, gelöscht zu werden, ihr Durst danach, nicht erlöst zu werden, hat sich des Verlangens nach Erlösung bemächtigt und gibt es nicht wieder her. Solche Formen der Geiselhaft sind dem Soziologen kostbar, sie rechtfertigen es, dass er sich unter die Religionswissenschaftler rechnet und den Tag mit Kreuzworträtseln verbringt. Erlösung durch Nichterlösung zählt zu den Geheimwaffen autoritärer Regime. Welches wäre autoritärer als das des Egalitärs aller Inhalte? Eines fernen Tages – der vielleicht näher ist als erwartet, obwohl die Erwartung ihn schon tausendmal antizipiert hat – wird auch G. gelöscht sein, verschwunden das Gefieder, verschwunden der Ort seines Erscheinens, verschwunden die Fülle des Daseins, die sich durch diesen Kanal zwängte. Das wird der Tag einer anbrechenden Hoffnung sein: Warten auf G.
Die Frage, ob Gott existiert, ist bei weitem nicht so brisant, wie immer behauptet wird. Näher besehen, verschwindet sie in den Weiten des Universums, des existierenden wie des inexistenten. Wer mit inexistenten Universen rechnet, der rechnet mit allem, außer mit Gott. Mit Gott rechnen, das wäre so, als rechnete man mit allem. Mit allem rechnen heißt bekanntlich mit nichts zu rechnen, es darauf ankommen zu lassen, sich ins Ganze zu stellen. Mit Gott rechnet man nicht, mit Gott rechtet man. Was das heißt? Jeder Mensch feilscht um seine Rechte, vor allen anderen um das Recht, da zu sein, so zu sein, wie man ist, so angenommen zu sein, wie man ist. Dass dafür Gott zuständig ist, steht außer Frage, er tritt aus dem Feilschen hervor wie die Figur aus dem Schatten, den sonst keiner würfe, er ist aber schon geworfen. Der Mensch ist das Tier, das Gott hat. Eines Tages wird einer das Gottesgen finden, daran besteht kein Zweifel, kein vernünftiger jedenfalls, man findet für alles Gene, peu à peu, da mögen die Genleugner schreien, wie sie wollen. Überhaupt ist Schreien das einzige, was sie können, sie müssen übertönen, was doch, als Hauch, in der Welt ist. Das Geschrei zum Beispiel, dass Gott tot sei, rechtet damit, dass Gott lebt: einer schreit Er oder ich und schon ist es geschehen. Was ist geschehen? Das Wunder der Parodie. Niemand weiß, ob Gott lebt: Leben, Tod, was sind das für Zustände, wenn das Ganze zurücktritt? Ein echter Gottesleugner geht anders vor, er streut Ursachen, wo naive Gemüter Wirkungen sehen, und stellt die eine Ursache in Frage, weil er sie nicht braucht. Er verlegt Gott in die Fläche, weil er ihn für die Ursache hält, die große Ursache, die jeder Relativierung standhält. Hätte er sie im Sack, er wäre der Größte und der Wissenschaftsbetrieb umtanzte ihn wie das Goldene Kalb. Einer sagt: »Ich kann nicht glauben« und glaubt, was er sagt – auch eine Glaubensformel und nicht die schlechteste. Wer kann schon glauben? Können und Glauben schließen einander aus, geglaubt wird dort, wo das Können nicht hinreicht, es wartet nicht auf Erlaubnis, wenn alles Pulver verschossen ist, es ist schon am Ziel.
Dass der generationenprägende Satz »Gott ist tot« ein Zauberspruch war (und ›durchaus‹ so gemeint): wer wollte das bestreiten? Der Tod Gottes als ›epochales Ereignis‹ fällt ins Zeitalter der Massensuggestionen, manche sagen: der Massenhysterie, in eine Zeit technologiebefeuerter Überbietungen früherer Schauspiele auf diesem blutigen Sektor. Mit ihr sinkt er zurück in die Kulturgeschichte Europas. Denn soviel ist sicher: außerhalb dieses begrenzten Areals hat er niemals stattgefunden. Der alltägliche Atheismus der Leute beinhaltet wenig mehr als die Gottlosigkeit vergangener Zeiten – ein wenig Trotz, ein wenig Auflehnung, ein wenig Widerspruchsgeist und ein wenig Unglaube, hier und da unterfüttert mit den verjährten Banalitäten des ›wissenschaftlichen Weltbildes‹, allenfalls ein tentatives Moment, das sich dem Zuschauer-Dasein verdankt: Gotteshelden, negativ oder positiv, behalten immer etwas Pittoreskes, ihre Kämpfe bleiben Turniere, selbst wo sie schauderhaft entgleisen.
Das Rattenexperiment »Gesellschaft« nähert sich seinem kritischen Punkt, sobald die Empfindung der Leute, übertölpelt (›verarscht‹) zu werden, das Gefühl, durch Anreize verwöhnt zu werden und sich gern verwöhnen zu lassen, zu überwiegen beginnt. Wenn die großen Anreize ›geschaffen‹, das heißt vergeben sind, kommen die kleinen dran, nach den kleinen die speziellen, deren Nutzen der auserkorene Nutznießer schon mit der Lupe suchen muss, nach den speziellen die ganz speziellen, also diejenigen, die wieder abzuschaffen, sobald sie die Macht dazu hat, die Opposition bereits bei der Einführung versprochen hat. ›Aufwertung durch Polarisierung‹ heißt dieses Spiel, doch natürlich gelangt der Hauptzweck der Polarisierung erst darin zum Vorschein, dass sich durch sie systematisch Gefahren verdecken lassen, die vielleicht nur statistischer Natur, vielleicht auch bereits im Anmarsch sind und sich keineswegs nur auf Nullsummenspiele beschränken. Eine Gesellschaft, auf deren Stabilität siebzig oder neunzig Prozent der Befragten keinen Pfifferling geben, ist keine Gesellschaft, sondern ein Verein zur Erwartung der verdienten Strafe für unverdientes Nichtstun – unverdient deshalb, weil nach wie vor Leute an seiner Spitze stehen, die es sich als Verdienst anrechnen, ›Zukunftssicherung‹ zu betreiben, und zwar mit eben jenen Finessen, die oben beschrieben wurden. Das Nichtstun steht immer zwischen den Zeilen des Verdienstes, es hadert mit denen oben wie unten zu gleichen Teilen und ist bereits Teil der passiven Maßnahmen, die ergriffen werden, um sich nicht vor der Zeit verdummen zu lassen von dem, was kommen wird.
Père Grabbeau war kein hübscher Mann, er besaß nur ein menschliches
Ohr, das andere war ihm in Folge eines verbrecherischen Konzertes
abhanden gekommen. Seine Gestalt, ein wenig vorbestimmt durch
Gedichte von Trauerweiden, bot den Ausdruck pflanzlicher Weisheit.
So lag er denn oft gekrümmt und in grauer Farbe an Bächen. Seine
Sprache war leicht wie Aluminium, seine Worte wie Tiegel und
Pfannen, die man in China Hui oder Phui nennt, je nachdem sie
benutzt oder gesäubert wurden.
Sein Herz aber war so zäh wie Leder, denn das Leben liebte er nicht, noch die
Notdurft, noch die Sünde, noch das Leben der Tiere, wie es heute
geliebt wird, und sogar Sonne und Mond waren ihm beide vollkommen
gleich, denn gesunde und große Sinnestäuschungen waren ihm
angeboren von Jugend auf.
Das durch den spirituellen Archäologen Homomaris von Lichtel entdeckte Grabmal des
Demiurgen hat er übrigens niemals besucht, obwohl er es gekonnt
hätte, denn er wusste vom großen Murx dieser Welt durch
Wahlverwandtschaft. Der gescheiterten Macht, so nannte er seinen
Großonkel mütterlicherseits, nahm er die berühmten acht Tage nicht
weiter übel. »Wer weiß«, pflegte er bei theologischen Intimitäten
zu sagen, »wie dieser mindestens so wie ich zur Hälfte gehörlose
Gott eine solche Kritik verstehen soll. Auch ist er vermutlich tot,
und über Tote nur Gutes.« Grabbeau wußte damals noch nichts vom
Aufenthalt eines gleich Barbarossa aufs tiefste verdeutschten
Gottes, in einer gemalten Villa hoch im Albanergebirge. Ein Werk
Hans von Marées’. - PM
»Greif dir das Schöne« – eine Aufforderung, nicht ohne Hintersinn,
wo wäre das Schöne zu greifen oder nur greifbar? Wo es doch das
Ungreifbare schlechthin... Wenn man doch, wie einst Dürer, es
herausreißen könnte, dann wäre man sicher weiter. So reißt einer,
immerhin, das Blatt aus dem Notizbuch, knüllt es zusammen und
überantwortet es dem Papierkorb oder dem Fegefeuer, in der irrigen
– oder nur irren – Hoffnung, damit einen Prozess der Läuterung in
Gang zu setzen, an dessen Ende... was? In diesem Prozess ist das
Schöne stets weiter, es spiegelt ihn und verdoppelt damit den
Abstand, der es von seinem Verfolger trennt. (Die Metapher des
Spiegels, ausdeutbar ohne Ende wie das Meer oder die Bewegung des
Deutens, ist viel zu ehrwürdig, als dass man sie dem
Begriffspurismus opfern dürfte.) Nur im Stillstand verschwindet es
ganz von selbst. Es ist seine einzige autonome Tat.
Unglückseligerweise findet sich immer jemand, der weiter will. Das
ist ein alter Tick, ein Geburtsfehler der Gattung vielleicht,
jedenfalls ein Fehler, daran lässt sich nichts ändern. So starrt
einer auf einen Punkt an der Wand und gewahrt eine Passage, schon
keine Überfahrt mehr, sondern eine Folge... von Wörtern auf einem
Bildschirm, blau unterlegt. Das, immerhin, ist Reminiszenz. Wo
gleitet sie hin? Ins Remis? In die Remittentensammlung? Das
wäre doch was, in diesem Halbdunkel lässt es sich aushalten. Das
Schöne, jawohl, es hat einen Riss, ein geknicktes Blatt, eine
verdruckte Seite, eine falsche Bindung. Etwas wirkt immer verkehrt
an ihm, nicht verdreht (auch das kommt vor, aber seltener). Das
Schöne als Remittent, von unbekannter Hand zurückgegeben, mit der
Bitte, den Kaufpreis erstattet zu bekommen, vielleicht auch in
einem Anfall von Generosität an Leute gespendet, denen damit
geholfen ist – eine Vorstellung, die ›Hoffnung macht‹, auch wenn
sich kein geeigneter Abnehmer findet, nur der eine oder andere
Liebhaber des Absonderlichen, der still den Staub von der Kante
wischt und es wieder zurückstellt, denn höflich, wie er ist, möchte
er keinem Bedürftigen etwas vorenthalten.
Aufgabe: die Luhmannianer beobachten: immer, überall – wie sie sich
bewegen, sich darstellen, sich behaupten, sich in Sicherheit
wiegen: das Arsenal der Griffe. Die Reduktion auf vier oder fünf
Grundbegriffe und die Zufriedenheit, die sie bei der Menge
derjenigen erzeugt, die den Widerstand des Denkens nicht empfinden.
Begriffe als Waffen. Waffengleichheit. Waffenungleichheit. Was
daraus entsteht? Warum beobachtet man Sekten? Man sieht zu, wie sie
Positionen einnehmen, wie sie auf Positionen drängen, sich
vernetzen usw., man sieht ihr Machtstreben und will ihm rechtzeitig
einen Riegel vorschieben. Andererseits erregt der Angriff einer
Gruppierung, die sich im Wissen wähnt, Interesse: Man will den
Barbarenzug sehen, man will sehen, wie er sich totläuft. Als Filme
noch ›Streifen‹ hießen, ließ sich das einfacher benennen: Man will
den Streifen sehen, den Streifen Wirklichkeit, wie er sich zwischen
Jalousien abzeichnet.
Wo je die Sonne zu einer bedeutenden Wirkung gelangt ist, mussten
die Menschen einen Gral vermuten, denn Sonne und Gral sind enge
Verbündete, gleichsam Feuer und Kochtopf, aber natürlich auch
Stätten des Blutes, das in animalibus abstractis, durch Hitze
vergoldet, seinen Herrscher am Himmel preist.
Nicht nur ist das Kochen der Materie die erste gewaltsame und
sonnenhafte Leistung der Kunst gegenüber der rohen Natur, auch der
Topf, das Gefäß zur Sammlung künstlich vermischter Naturalien,
diente zugleich dem großen Opus der Freiheit vom Grasfressen und
dem rohen Zerreißen der wilden Tiere. Auf diesen Wegen bis hinauf
zu den ersten Symbolen gilt die Sonne als glühender Topf für Opfer,
Speise und Blut. Man kann beide Funktionen auch trennen, wenn in
Zurückführung ihrer Aufgaben sowohl die Sonne als Topf, als auch
ihr glühendes Gold als Blut begriffen wird. Insofern empfand sich
schließlich der aufrecht wandernde Mensch als Untertan einer
göttlichen Sonne, und zu Zeiten der Unkenntnis oder
Gleichgültigkeit gegen Oben und Unten, sogar als Sonnennachbar, wie
dies die Stämme der Ostraloiden unter dem Wendekreis des Steinbocks
behaupten, weil sie ohne Kenntnis des Zollstocks Entfernungen eben
nicht als messbar begreifen können. Über ihnen steht die Sonne
unmessbar weit oder ebenso unmesssbar nahe. Die Dogmen von Links
und Rechts, von Oben und Unten sind überhaupt durch Zurufe, als
Maßeinheiten, nicht zu entdecken gewesen, man denke dabei noch an
Täuschungen durch das Echo. Erst Augensprünge und aufgestellte
Stäbe am Horizont machen bis heute Entfernungen messbar. Das Auge
sei überhaupt die Wurzel des festgelegten Besitztums, schreibt
Ultimus Spezis, der erste Verfasser ländlicher Sinnesmessungen. In
Norwegen sagt man sogar bei falschen Eintragungen ins Grundbuch
sehr treffend, »du hast wohl zu lange Augen« oder »dein Stab war
wohl länger als der von Herrn X.«
In den Zeiten der Ritterschaft, ihrer Kämpfe und Opfer, überwölbte
der Himmel bereits die neue Natur und mit ihr das Blut. Und der
Speer mag hier und da auch der erste Zollstock geraubten Besitzes
gewesen sein. Viele einfache Gegenstände hatten sich vom
göttergeschenkten Nutzen zum Menschengeist absentiert, der Löffel,
ein Geschenk der Hera, ward so zum Schwert, die Gefäße der Venus
mutierten zu Helmen und schließlich sogar zu steinernen
Kathedralen, denn jeder Altar war letztenendes auch einmal ein
heiliger Ofen. Die Sonne aber wurde auf diese Weise als Gral
vergessen, weil sie und mit ihr der Gral, nunmehr als Wahrheiten
unseres eigenen Geistes gesucht, niemals zu finden sind. Man kann
sogar sagen, hierin bestünde das Opfer der menschlichen
Vergeistigung höherer Welten, hin zur Ratio einer erfolglosen
Metaphysik. - PM
Was bedeutet es, in der Grammatik der eigenen Sprache nicht ›firm‹ zu sein? Offenkundig etwas anderes als ›nicht zu Hause zu sein in der gedeuteten Welt‹. In der Grammatik liegt die Welt nicht gedeutet vor, sie ist deutungsoffen. Jenseits der Grammatik, d.h. eigentlich diesseits, denn es gibt kein sprachliches Jenseits der Grammatik, es sei denn, man nimmt die pure Logik des Denkens dafür, soweit sie sich in sprachlich neutralen Ausdrücken präsentieren lässt, – diesseits der Grammatik, so hoffen viele, schließt sich die gedeutete Welt wie eine Wunde. Es verschließt sich aber nur der Zugang zu ihr. Was übrigbleibt, ist die Trübheit des Meinens, das weder seine Herkunft kennt noch sein Schicksal, die Dissimulation. Wer es auflösen will, hat es gegen sich. Das wäre dann auch die kürzeste Definition aller Rechthaberei mit Wörtern.
Ab heute ist das Grandhotel Abgrund wieder bewohnt. Es hat einige
Besitzrangeleien gegeben, die rechtzeitig beigelegt werden konnten,
soweit sie nicht grundsätzlicher Natur sind und der Bearbeitung
durch künftige Gerichte harren, doch die streitenden Parteien haben
das Interesse an dem Fall soweit verloren, dass sie die Eröffnung
nicht länger blockieren. Das Haus selbst ist, sagen wir es offen,
verwahrlost, es bedarf einiger Anstrengungen, um es an die
gestiegenen Bedürfnisse anzupassen, doch manche Kundenwünsche haben
sich auch, wie man sagt, abgeschliffen und andere sind einfach
vergangen. Schon das Wort ›Kundschaft‹ hat seinen Klang vollkommen
verändert und mancher ist heute willkommen, der damals bereits auf
der Schwelle von Fremdheitsempfindungen heimgesucht und zur Umkehr
bewogen worden wäre. Insgesamt ist die Klientel vermutlich
geschrumpft, was dem Service keinen Abbruch tut, im Gegenteil. Aber
was heißt schon Klientel, wenn man gerade einmal dabei ist, die
Spinnweben zu entfernen und den Garten wieder begehbar zu machen?
Überhaupt steht das Begehbarmachen heute im Vordergrund. Die
Leitung des Hauses überlegt, ob sie nicht Seminare zum Thema
anbieten lassen soll. Es wäre eine hübsche Einnahmequelle.
Der Aufschneider hat in Deutschland eine lange Tradition, er trägt das Messer im Sack und träumt von der Nacht der langen Messer. Meist hat er sich daher geschnitten, ohne dass er es merkt. Blutet der Finger, so hebt er ihn hoch und sagt: »Seht!« Gewöhnlich haben es alle gesehen und zwinkern verständnisvoll, als wollten sie andeuten, dass Danzig zwar längst verloren ist, aber weiterhin Spaß macht. Das Volk liebt seine Aufschneider, nur sein täglich Brot schneidet es gern selbst.
Die wilden Kriegsnamen, wie Bandenführer sie lieben, klingen nach Donnergrollen oder sollen es doch. Der Schrecken, den sie aufbauen, wächst mit dem Maß der Entfernung zum Schauplatz. Im Zentrum des Geschehens, dort, wo sie am meisten wirken müssten, ist von ihnen nur mit einem Lächeln die Rede, als wisse man darüber Bescheid. Bekanntlich brauchen Bescheidwissen und Wildheit einander nicht. Bei reinen Tarnnamen allerdings liegen die Dinge anders. In diesem Milieu sind Nennen und Verschweigen eins und das Bescheidwissen übt sich in stolzer Bescheidenheit. Überhaupt der Stolz! Wer die Tarnung verlässt, ohne sie aufzugeben, tut dies im Namen des Stolzes, so, als sei dieser eine fremde Größe, der man von Zeit zu Zeit zu huldigen habe. Einer, der sich Grasteufel nennt, ist dazu bestimmt, als Armee wiedergeboren zu werden. Eine Armee von Grasteufeln mag ins Gras beißen, wo und wann sie will, aber auch sie ist dazu bestimmt wiederzukehren: Mit dem Schrei Yes we can stürzt sie sich über die Klippen und endet im Marmor, der gestern aus Zeitungspapier und heute aus Daten geschlagen wird, je mehr desto besser.
Ich kenne da einen Fall, so A., in dem ein Kritiker, fast schon im Jenseits, noch einmal zurückkommt und einem Filmemacher, den er vor fast zwanzig Jahren vernichtet hat, die Hoffnung auf ein Comeback zerschlägt, einfach so, aus einer Greisen-Halsstarrigkeit heraus, die sich nicht die geringste Mühe macht zu erkunden, worum es diesmal überhaupt geht. Ich habe mich gefragt, warum solche Dinge geschehen, und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass erst der zweite Schlag an den Tag bringt, worum es beim ersten Mal ging. Denn damals, beim ersten Mal, als noch beide Seiten im Rennen waren, gab es Gründe genug, sich zu verstellen, auch erzeugt jede Art von Beschäftigung, und sei sie noch so rudimentär, einen Schein von Objektivität. Jetzt, beim zweiten Mal, agiert die Erinnerung, aber blind und vor allem grundlos, es sei denn, man nimmt den alten Hass als Grund ernst und lernt ihn dadurch kennen. In seinem Fall ist es der des gewendeten Hitlerjungen auf einen, der es von Haus aus nicht nötig hatte, sich zu verdrehen, des Quirls auf den Kochlöffel, wenn Sie so wollen. Also hängt er ihm an, wovon er sich selbst nie so recht befreien konnte. Was eine Zeit lang Kritik hieß, stammt in den meisten Fällen aus Quellen wie dieser – unbrauchbar, ärgerlich und streckenweise verstörend. Gerade das wollten er und seinesgleichen sein: verstörend, sie wären jedem um den Hals gefallen, der es ihnen attestiert hätte. Verstört, wie sie waren, konnten sie nur ihresgleichen gelten lassen, es sei denn, eine patentierte Ideologie verlangte gebieterisch Durchgangsrechte oder etwa ein Popstar geruhte gnädigst, sie nicht zu bemerken, während er die Wogen der Aufmerksamkeit teilte. Nein, Jungs, das war nichts, damals nicht und in der Reprise erst recht nicht.
Die Grenzen der Kunst
verlieren sich im Unendlichen. Gefehlt: die Grenze der Kunst liegt
im Hier und Heute. Hic Rhodus,
hic salta. Das Hick und Hack bildet ein Heute von unerhörter
Gewalt, in dem die Schaumkrone des Erschauten, Erhörten und
Erlesenen sich immerfort aus den verwachsenen Untiefen des
Unerschauten, Unerhörten und Ungelesenen erneuert. Die Selektion
ist gütig, denn sie trennt das Gute vom Unguten. Die Selektion ist
grenzenlos, denn sie bezeichnet die Grenze. Sie ist nicht ohne
Fehler, wie sie unter der Hand einräumt, aber sie ist das
notwendige Jetzt. Als solches nimmt sie jede Gestalt an, um zu
überleben. Sie ist das übergängige Heute, das sich ins Morgen
ergießt wie ein Strom, bei dem niemand fragt, wieviel von ihm auf
jedem Wegabschnitt, über den er sich wälzt, versickert. Es ist auch
nicht wichtig, da alles, was versickert, an anderer Stelle zutage
tritt und in Flüssen rauscht, die vielleicht dem gleichen Strom
zufließen, der dann nicht mehr derselbe ist. Eine wässrige
Metapher, könnte es einem scheinen, der trockenen Fußes
hinüber will.
Die Politik der offenen Grenzen hat Grenzzäune in den Köpfen aufgerichtet, von denen man vorher nicht wusste, dass sie überhaupt existierten. Das offene Denken setzt Grenzen voraus, die sich nicht jedermann öffnen: die Regulation geschieht draußen, vor der eigenen Haustür, man kritisiert sie umso heftiger, je schärfer sie gehandhabt wird. Der Mensch ist eine Erfindung der Serenissimus-Welt, in die Eintritt fand, wer dem Souverän passte. Wer draußen blieb, der war ›Mensch‹: ein Lesebuch der Human-Natur. Der Kolonialismus erfand den Eingeborenen, ein Abfallprodukt des mobilen Bürgers, dem die Welt offenstand, sobald er eine Mission erfüllte. Das postkoloniale Menschenrecht dreht die Verhältnisse um: Bürger, denen die Welt weiterhin offensteht, sofern ihr Konto oder eine Spezialausbildung es hergibt, mutieren zu Eingeborenen, Staatsbürger, denen die Flucht einen Status verleiht, der so begehrt ist, dass er den nassen Tod aufwiegt, zu Weltbürgern. Wer gestern Mensch war, ist heute Flüchtling, wer heute Bürger ist, wird morgen Fremder im eigenen Land sein. Der Eingeborene, heißt das, bleibt der Fremde, immer und überall, er ist das Skandalon der Geschichte, ein Vorzeit-Relikt, dem das Niveau abgeht, auf dem man sich gegenwärtig bewegt. Wer diese Karte zieht, dem bleibt nur das bittere Lachen, ein kleiner Zynismus vielleicht und viel Gesinnung, die jeder beleidigen darf, der weiterzukommen wünscht. Die Erde ist eine Scheibe: darin besteht, wie immer, die Definition des Eingeborenen, der seine Mitte nicht aufgeben will. Wer darin Nationalismus wittert, hat die Nation nicht verstanden. Die Nation hebt den Eingeborenenstatus auf, immer und überall, doch nur in ihren eigenen Grenzen. Sie ist die erste Mobilisierung, der die zweite, grenzüberschreitende, überall auf dem Fuß folgt. Eine Politik der forcierten Grenzöffnung ›expropriiert‹ die Nation, sie schafft neue Klassen von Hörigen, denen die Obrigkeit vorschreibt, wie sie zu leben und zu denken haben. Wer die Definitionsmacht über die Grenzen verliert, innerhalb derer er zu leben gedenkt, hängt am Tropf eines Staates, den er ablehnt – innerlich, wie denn sonst. Wen wundert’s, wenn linke Systemkritik unverhofft mit dem Staat geht: er geht ihr nicht weit genug, aber die Richtung lässt man sich gefallen.
nannten die Straßenkehrer der Revolution die letzten Ausscheidungen
der Delinquenten, die auf der Place de Grève ihr Leben beendeten. Das Alter des
Ausdrucks ist schwer zu bestimmen. Was die Substanz oder Materie
angeht, auf die er verweist, so bleibt festzuhalten, dass darüber
die unterschiedlichsten Ansichten bei den Klassikern umlaufen.
Manche meinten, es handle sich dabei um die letzten auffindbaren
Manifestationen von religiösem Bewusstsein, doch scheint diese
Auffassung sich nicht gehalten zu haben. Andere tendierten dazu, in
ihr den Ausdruck reiner Menschlichkeit zu vermuten, doch gilt das
allgemein bis heute als ›zu polemisch‹. Den Anhängern der
Irrelevanzthese, die sich vor allem im zwanzigsten Jahrhundert
großer Beliebtheit erfreute, hielt Adamsen-Fritschalk (1987)
vermutlich zu Recht entgegen, dass sie nicht genug in die
Materie vertieft waren, um sich ein Urteil zu erlauben. Hier ein
Ausriss aus seiner Geschichte der
europäischen Säuberungen in der überarbeiteten Fassung von
1999: »Was immer die Hinterlassenschaft einer untergegangenen
Epoche, einer untergegangenen Welt bedeutet, sie ist es wert, mit
Leidenschaft erfasst und im Gedächtnis der Menschheit zu wirksamen
Pulvern zerrieben zu werden. Diese Menschen haben uns nicht
gekannt, wir sind ihnen nichts schuldig, aber sie schulden uns
Auskunft. Auskunft darüber, was wir können dürfen, ohne uns ins
Entsetzliche zu verlieren. Es wäre nicht schlecht, Riechlabors für
den Geschichtsunterricht einzurichten, in denen die Schüler, nicht
anders als im Fach Chemie, an den Folgen der von ihnen im
Gruppenversuch erprobten Gesinnungen zu schnuppern resp. zu
schnüffeln hätten. Für schwache Gemüter empföhle sich die
Beimengung einer geringen Menge Alkohol.« Anzumerken bleibt, dass
erste Versuche im Osten, das Konzept in Ansätzen zu realisieren, am
erbitterten Widerstand der Bevölkerung scheiterten, die sich ihre
Erinnerungen nicht nehmen lassen möchte. Über die notorische
Gleichgültigkeit des Westens (»Was soll der Scheiß?«) erübrigt sich
jede gesonderte Bemerkung.
Grexit* nennen wir eine mürbe, auf naive Gemüter schwammig wirkende Gesteins- und Denkungsart, die in gewissen Regionen des südlichen Europa anzutreffen ist. Eigentümlich ihre Fähigkeit, Vexierbilder im Betrachter zu erzeugen: was soeben zum Greifen nahe schien, entschwebt in die Ferne, was gerade noch fern lag, so dass es die Rede nicht lohnte, greift im nächsten Moment hart und scharfkantig nach Haut und Klamotten – kein Zuckerschlecken also für notorische Wanderer zwischen den Welten, stattdessen bester Stoff für Unterhaltungsartisten, die den Effekt zu ihren sicheren Einnahmequellen zählen. Aber was wäre schon sicher? Sicher war immer, der Grexit kommt, als relativ sicher gilt, dass er geht, sicher ist, dass nicht alles, was geht, schon deshalb im Kommen wäre. Wo kämen wir da hin? ›Mit dem Grexit gehen‹: die Parole war lange verpönt, ehe sie die Massen ergriff und zum Menetekel für Mitmenschen wurde, die freiwillig keinen Fuß vor die Tür setzen, es sei denn zum Zigarettenholen oder ins nächste Bistro. Nun streben sie ihm entgegen, Hand in Hand, die Sonne bräunt ihre Fesseln und lässt sie aparter erscheinen, sie treten fester auf, ist erst die Barschaft gerettet und die nächste Kamera auf sie gerichtet. In der Zeitung lesen sie: »Der Abbau des Grexit tritt in seine kritische Phase, die illegalen Steinbrüche nahmen überhand und neue Lizenzen sind, jedenfalls zur Zeit, nicht durchsetzbar. Der Unterschied zwischen Steinbruch und Landschaftsbild verdämmert, die Verantwortlichen propagieren den totalen Bruch, das Volk soll, wie immer, wenn jene versagt haben und ihre Unfähigkeit zur Nemesis verklären, die notwendige Entscheidung treffen. Wer wollte nicht, dass die Not sich wendet? Nun, wer den Braten riecht, kennt seine Bratenwender und murmelt im Stillen: Stimmt sie weg!«
*Dieser Artikel muss bei gegebenem Anlass überarbeitet werden.
Im kleinen Grimm
nachsehen: wunderbare Phrase! Und es kommt so oft vor, dass
man sich fragt, ob dies nicht das Nachschlagewerk schlechthin, das
wirkliche wahre und rechte Kompendium des menschlichen Wissens ist.
Denn wissen kann eigentlich jeder, er darf sich nur nicht dumm
anstellen. Zur Dummheit tritt die Scheu, die die Spreu vom Weizen
trennt. Kaum z. B. ist ein Preisträger gekürt, fallen die
wesentlichen Elemente der Scheu dahin und das Wissen fließt. Wohin,
das will keiner so genau wissen, vermutlich in die offenen Münder
der Zoobesucher, die der Prozedur schweigend und ergriffen
beiwohnen, doch was dann geschieht, entzieht sich der
Kenntnisnahme. So kommt es, dass der kleine Grimm zwar das
meistgelesene, aber auch verschwiegenste Handbuch des intelligenten
Zeitgenossen darstellt. Man bedient sich seiner und stellt es aufs
Bord zurück, ohne sich dessen recht bewusst zu werden. Der kleine
Grimm hat, anders als sein entfernter Verwandter, der große, der
ächte Grimm, ein Ende, das
unbemerkt herankommt – was bewirkt, dass keine Plätze nach ihm
benannt werden und keine Untersuchungen über ihn die Fachregale
füllen. ›Schlag nach im kleinen Grimm!‹ sollte es öfter heißen,
aber das wäre ebenso überflüssig wie nutzlos und, wie gesagt, die
Leute merken es ja nicht einmal, sie tun es nur trotzdem. Er ist
das Tor für mancherlei Einfälle aus dem All, für die kleinen grünen
Männchen, wie sie zu Zeiten hießen, als man es mit der
Zugehörigkeit nicht so genau nahm. Seit man peinlich darauf achtet,
scheinen sie auszubleiben, warum auch immer. Sie ist so possessiv,
die Zugehörigkeit, sie gibt nichts her. Doch das scheint bloß so,
unter der Oberfläche brodelt es weiter, die Start- und
Landetätigkeit ist beträchtlich. Nur publik soll es nicht werden.
›Achtung‹ steht an den Bretterzäunen, das Wort ist durchgestrichen
und es gelten die üblichen Schmierereien. Das Bewusstsein der Welt
ist eine Blume, wer sie pflückt, dem schlägt sie mitten ins
Gesicht.
hieß der kleine Erläuterer dessen, was konservative Gemüter die
Dekadenz der Gegenwart nennen. Ich bezweifle, dass er selbst ein
konservatives Gemüt besaß – zu vergnügt, zu genügsam sah er all
denen in seiner Umgebung auf die Finger, die ihre Nummer nicht
brachten, ganz wie er selbst, der nach Attitüde und unter der Hand
kundgegebenem Anspruch ein Großer sein wollte, nachdem der Name es
ihm nun einmal vorschrieb. Er war und blieb ein Schreiberling der
putzigen Sorte. Als solcher unterhielt er sein Publikum, er
unterhielt es gut, für eine lange Weile, in der er die Langeweile
vertreiben half, bis er eines Tages verschwand, ohne eine Lücke zu
hinterlassen. Vor allem letzteres ist eine Kunst, die Kunst der Höflichkeit,
selten geübt, seltener erkannt, daher von vielen gemieden, die um
jeden Preis erkannt sein möchten.
Wie anders lesen sich, aus verschiedenen Jahrzehnten
zusammengeklaubt und zwischen zwei Buchdeckel gesperrt, damit sie
nicht mehr auskommen können, die Artikel des Kunstkritikers, der,
stets mit von der Partie, wenn anstand, was seine jüngeren
Kollegen, die Englisch können, als ›Hype‹ bezeichnen, heute
der Bedenklichkeit dessen frönt, dem schwant, dass das Neue nicht
so neu und das Alte nicht so alt sei, weil Lebensgefühl und
Bedürfnislage es ihm so eingeben. Dieser war zu sehr Bewunderer der
Größe, als dass er dort hintanstehen wollte, wo sie gekürt wurde,
er stand zu sehr im Schatten der Kür, als dass er sich ein Urteil
angemaßt hätte, das nicht bereits im voraus vollstreckt war. Er,
der wahre Niemand, war groß, denn er war der Schatten, den das
Gängige warf, er vergrößerte ihn nach Kräften und sorgte mit dafür,
dass er überlebensgroß wirkte, bevor er verschwand. Einer, der
lähmte, wo Beweglichkeit alles bedeutet, ein Hasardeur der
Normalität.
Die Kleinen zwicken und die Großen kneten: das hat, neben der fiskalischen Wirkung, auch eine strategische Bedeutung. Man begegnet der Überwachheit der Großen dadurch, dass man sie einzulullen versucht, und will die Kleinen in irgendeine Form von Wachheit hineintreiben, in der sie die Scheu vor dem Handeln ablegen, um eine vermutete Ruhe wieder zu erlangen, mit der es dann ein für allemal vorbei ist. Dabei passieren mancherlei Unfälle, im Großen wie im Kleinen, und auch das Verhältnis von groß zu klein kann sich abrupt in sein Gegenteil verkehren, doch beginnt hier leicht die Sozialschwärmerei, von der sich ein Erwachsener fernhält. Die beste Art zu kneten behalten sich Staaten vor, sobald sie sich in der strategischen Vorhand wähnen. Zum Beispiel führen sie Kriege, von denen sie hoffen, dass die ganz Großen sie aus der Portokasse bezahlen, falls nur genügend dabei abfällt. Eine trügerische Hoffnung, die sich hoch in der Luft leicht ins Gegenteil verkehrt. Der Strahl, auf dem eine großmütige Nation zum Sieg reitet, ist dünn und er kann jederzeit abreißen, wenn gewisse Rechnungen nicht aufgehen oder das Publikum die Geduld verliert oder wenn Gewährsleute abhanden kommen und die Konkurrenz schneller am Ziel ist. Das wahre Großenkneten ruht daher sicher in der Provinz. Flach muss es sein, soll das Verhältnis stimmen, und wer die Einnahmen scheut, hat von den Ausgaben nichts zu gewärtigen, es sei denn die nächste Wiederwahl oder leere Kassen, zumeist beides. Nur die gezwickten Kleinen stürmen hinaus in die Metropolen, in denen jener Hunger nach Mehr herrscht, der sich an der Provinz stillt. Größe, die sich rechnet, geht in die Fläche.
Als das literarische System hierzulande auf die fatale Berufsschriftstellerei umgestellt wurde, erhob der Großkritiker seine Stimme und erklärte, er betrachte es als seine Aufgabe, einen erneuten Fall Kafka zu verhindern. Er meinte damit den Skandal, dass dieser Schriftsteller zu seiner Zeit nicht öffentlich wahrgenommen worden war. Auch Skandale unterliegen der Mode: seit jener Absichtserklärung hat sich kein Kafka zu Wort gemeldet. Nein, einen zweiten Fall Kafka hat es nicht gegeben, dafür wurde die Kritik zum Fall, bevor sie verfiel.
Zwischen Großlexikon und Kleinlexikon liegen fünf Stadien, das weiß
jedes Kind und gelegentlich auch ein Erwachsener. Ansonsten verhalten
sich Großlexikon und Kleinlexikon zueinander wie Großhirn und
Kleinhirn. Im Großlexikon sind die Schandtaten des Kleinlexikons
aufgelistet, während das Kleinlexikon sich darauf beschränkt, alle
Arten der Niedertracht festzuhalten, um gelegentlich darauf
zurückzukommen. Das sollte nicht zur Annahme verleiten, das
Kleinlexikon besitze einen geringen, gegenüber dem des Großlexikons
vernachlässigbaren Umfang. Die Arten der Niedertracht sind
unerschöpflich (»wie die Natur«). Das gilt sowohl für ihren inneren als
auch ihren äußeren Umfang. Sie docken aber an eine gewissermaßen
einfache, überall auffindbare Struktur an, was die Lektüre des
Kleinlexikons nicht unerheblich erleichtert. Dennoch bleibt es schwerer
zu lesen als das Großlexikon in seiner unüberbietbaren Fülle und
Vielfalt, bei dem die Lektüre überall und nirgends ansetzen kann, ohne
in ihrem Ertrag eingeschränkt zu werden. Die Autoren des Großlexikons
sind vom Kleinlexikon förmlich gebannt, sie überschwemmen seine schiere
Existenz mit einer Fülle unbeweisbarer und unvereinbarer Theorien.
Daneben wälzen sie seinen Wortbestand praktisch täglich um, um, wie sie
sagen, zu neuen Erkenntnissen zu gelangen; es bleiben jedoch, wenn man
genauer hinsieht, stets die alten. Dennoch ist diese Arbeit, wie die
Herrin des Landes den Mikrofonen immer aufs Neue versichert,
unverzichtbar, denn wie jeder weiß, geht es nicht um Erkenntnis,
sondern um Mobilisierung. Wer oder was soll damit mobilisiert werden?
Dumme Frage. Im Lande der neuen Erkenntnis ist die Mobilisierungsmasse
eine Funktion der Erregung E = Erkenntnis mal Zwietracht. Das
heißt, je absurder, manche sagen auch: je blödsinniger die Erkenntnis,
desto höher die Erregung und desto größer die Mobilisierungsmasse. Es
geht also darum, im Bedarfsfall – einem von der Regierung und ihren
Zuträgern sorgfältig festzulegenden Datum, ›Zeitfenster‹ genannt
– die Absurdität der laufenden Erkenntnisse hochzufahren, was am besten
gelingt, wenn man den für die Aufgabe jeweils auserkorenen
Wissenschaftlern gehörig Beine macht. – Das schließlich wirft die Frage
nach den fünf Stadien auf. Dabei handelt es sich nicht um das aus der
Antike geläufige Längenmaß, sondern um der Menschheitsentwicklung
inhärente Wandlungseinheiten. Der Ausdruck ›Wandlungseinheit‹ wird
übrigens allein im ersten Teil des Großlexikons an fünfundzwanzig
unterschiedlichen Stellen erläutert, jedes Mal mit einem anderen
Zungenschlag und einer anderen Akzentsetzung, so dass die
Auseinandersetzung um diesen Begriff nie an ein Ende gelangen dürfte,
es sei denn, man lässt sie ruhen.
»An den ersten Auftritt des Großen Rechners kann ich mich gut
erinnern. Ich ging damals noch zur Schule… Wissen Sie was? Nein,
so geht das nicht, so geht das nicht. Alle erwarteten irgendwie
Gott, vielleicht nicht ihn selbst, sondern ein Zeichen, irgendein
Zeichen, irgendeinen Gott, stattdessen bekamen sie den Großen
Rechner, eine Erscheinung wie andere, die vor ihr Besessenheit
produzierten, denn, sehen Sie, besessen sind wir von ihm, keine
Frage. Wie sich das auswirkt? Nun, er kostet uns viel, dieser große
Rechner, dieser umwerfend große Rechner. Er will gefüttert sein,
das ist wahr, und sein Datenfluss gilt als unerschöpflich, man
fragt sich, wo die vielen Eimer herkommen sollen, ihn wegzutragen.
Viele von uns besitzen so eine kleine Vertiefung und einen kleinen
Hohlraum darunter, das reduziert das Problem. Menscheneimer ... sie
schaffen vieles weg, nachdem sie es angeschafft haben. Jetzt, da
der Große Rechner unter ihnen weilt, stellen sich viele Fragen neu,
gleichsam zum ersten Mal, und die Antworten, die er gibt, sind
sensationell. Ausgesprochen sensationell. Man kann auch nicht
sagen, dass die Erwartung abstumpft, solange seine Kapazität noch
wächst. Zum Beispiel darf man sich fragen, wie wunderbar unser
Geschick es gefügt hat, dass er seit seinem Erscheinen die Welt auf
den Schultern trägt. Wie das gemeint ist? Schauen Sie hinaus:
Dieses Grünen und Blühen und Blauen, es wäre schon morgen erledigt,
wenn wir ihn nicht hätten. Er, er allein lehrt uns die Natur und
die Wege zu ihrer Erhaltung. Mit jedem Leistungszuwachs auf seiner
Seite erkennen wir genauer den Abgrund, an dem wir stehen: heute,
morgen, immerdar. Er allein lehrt uns, was zu tun ist. Opfer müssen
wir bringen, das ist wahr, aber besser heute als morgen, so kommen
wir billiger davon. Was sagten Sie? Nein, es ist nicht der Gott der
Azteken, was reden Sie, die sind erledigt, perdü, fahren Sie nach
Mexiko und studieren Sie die Reste, aber geben Sie Ruh’.«
»Übers Grünsein haben so viele die Feder gewetzt, dass die Gans stinkt, der zuliebe der Einfall zum Durchfall wurde, nicht des Gerupftseins wegen, das sie gewöhnt ist, sondern weil sie der Stallgeruch zusetzt, der aus den verschiedensten Lagern einströmt. Grünsein heißt, in allerlei Ruch zu stehen. Wer auf jede erdenkliche Frage die naturgegebene Antwort besitzt, über dem fällt das Kreuzworträtsel Zukunft zusammen, als sei es das Kartenhaus, das nebenan, am Biertisch der Ingenieure, schichtweise neu geschichtet wird.« Noch Fragen?
»Jetzt reden sie wieder vom Geist«: das Gesicht des Philosophen,
der grimmig entschlossen scheint, sich dem Unfug zu widersetzen,
zeigt diese Spur von Geistlosigkeit, die durch Zeitgenossenschaft
in den Rang eines Sigillums erhoben wird. Er kann es nicht lassen
und er kann es nicht tun. Er ist in diese Konkurrenz hineingeraten
wie in einen Tunnel, in dem jedes neue Fünkchen, das ihm für den
Ausgang steht, sich im Näherkommen als niedergebrannte Hoffnung
erweist. Kommt er denn näher? Bewegt er sich überhaupt? Ist nicht
die Ausstrahlung seiner Entschlossenheit so stark, dass die
Ergebnisse seiner Denkreise sich im Flug entfernen? Aber das hieße
ja, dass er sich immer diesseits des Aufbruchs befände, als den
sich sein Denken darstellt. Diesseits des Aufbruchs... jenseits der
Hoffnung... beiderseits des mit der Geburt des Individuums
aufscheinenden Gedankens und jeder Wahrnehmung entrückt – selbst
das Wort ist ihm suspekt, er backt kleine Brötchen daraus, die er
verhökert, um sie nicht kauen zu müssen, geschweige denn verdauen,
was wirklich das Letzte wäre und ihn im Weingenuss aufhielte.
Lieber ein Saufgelage als eine Lage: das ist, als Parole,
russisches Roulette rückwärts und also eigentlich unvorstellbar.
Nur so lässt es sich praktizieren.
Die Deutschen, die nach dem Krieg etwas geworden sind, erkennt man
daran, dass sie panisch darauf bedacht sind, nicht den Grundkonsens
zu verlassen. Nicht immer fällt es leicht, zu verstehen, was sie
damit meinen: mehr jedenfalls als die Tuchfühlung von Jahrgängen,
die durch eine Phase der Desorientierung hindurchmussten, eher den
geschmeidigen Schulterschluss von Leuten, die auch dabei nicht
ertappt werden möchten. Überhaupt spielt das Ertapptwerden in ihrem
mentalen Haushalt eine bedeutende Rolle. Die ’68er haben das
verstanden und kräftig ausgebeutet. Nach ihnen kamen die Medien,
die viel vom Stil jener Jahre lernten. Sie sorgten dafür, dass der
Grundkonsens überlebte. So sind die Deutschen, bei aller
›Auseinandersetzung‹, geblieben, was man ihnen einst vorwarf: das
akklamierende Volk. Wer die rote Linie überschreitet, wird nicht
ausgegrenzt, nein – er wird geächtet. Mancher richtet sich in
seinem Renegatentum ein, als gehe es in diesem Leben darum, Unrecht
zu behalten – als eine Art Ur-Recht dessen, der sich mit der
Duckmäuserei nicht abfinden will und deshalb den ersten Stein
wirft. Die Gesellschaft hält solche Leute auf Vorrat. Man nennt
sie, mit einem griechischen Ausdruck, ›Pharmakoi‹.
Der entscheidende Fehler unterlief dem biblischen Schöpfer am siebenten Tag, als er sah, dass alles gut war. Das war ein Missverständnis, das seither alles Sehen begleitet: es bleibt, wenn man so will, an der Oberfläche. Mag sein, dieses Missverständnis war gewollt und der Schöpfer, in seiner unendlichen Güte, schuf die Oberfläche nur zu dem Zweck, dass es hin und wieder den Anschein habe, als sei alles gut. Was, wie wir wissen, definitiv nicht der Fall ist. Aber vielleicht liegt es an den Definitionen. Wer definiert, der begrenzt, und wer begrenzt, der hebt Zusammenhänge auf, die vielleicht für das Verständnis des Ganzen wichtig wären. Natürlich schafft er auch Zusammenhänge, da Grenzen, wie jeder weiß, verbinden. Das Unheil, soviel weiß der Exeget, reitet schnelle, und es überschreitet jede Grenze. Das kann ein Virus sein oder eine Regentin, der in ihrem Regierungsbunker langweilig wird; der Möglichkeiten sind viele. Als Shakespeare den Rosenkranz schuf, gab er ihm den Guldenstern an die Seite. Die Symbolik ist mehrdeutig, die Botschaft hingegen völlig klar: »Wir werden von Naiven regiert, also haltet euer Geld zusammen.« Was nicht so einfach ist, gar nicht so einfach. Die Naiven sind in der moralischen Welt dasselbe wie die Oberfläche in der sinnlichen: gleisnerische Versicherungen, dass alles seine Richtigkeit habe, solange sie am Drücker sind. Man kann Naivität so wenig durchschauen wie die Oberfläche eines Eisbergs und doch glaubt jeder zu wissen, was sich darunter verbirgt. Wer vorgibt, Naivität zu durchschauen, der behauptet schon, sie sei gespielt. Nein, wer das Glück genießen darf, von Naiven regiert zu werden, der glaubt zu wissen oder er ist schon ein Staatsfeind. So groß ist die Macht der Naivität, dass sie ihre Gegner zwingt, zu denken wie sie – wenn schon nicht genauso, dann wenigstens so, wie sie sich ihre Gegner wünscht.
Die sogenannte
68er-Generation erlebt ihr Stalingrad mit 65. Ihr unaufhaltsam
scheinender Vormarsch aufs Altenteil kommt gerade hier zum
Erliegen, die Bewegung kehrt zu ihren Anfängen zurück, zum
Häuserkampf, Mann gegen Mann, Frau gegen Mann, Frau gegen Frau, und
die Zange schließt sich. Die hochfahrenden Pläne, kollektiv in die
Altenheime einzurücken und dort für das richtige Bewusstsein zu
sorgen, unter Zitterern, Nörglern und Alterspedanten die nötigen
Lernprozesse in Gang zu setzen, liegen nun auf Eis und es besteht
wenig Gefahr, dass sie noch einmal aufgelegt werden. So kämpft
jeder um das, was ihm zunächst liegt, mit einer Verbissenheit,
welche die gähnende Welt in Verwunderung versetzt, mit einem
Hochmut, der noch immer erstaunt, mit einer Selbstgerechtigkeit,
die unter den Gerechten Unruhe auszulösen vermöchte, wenn sie sie
zu bemerken geruhten. Sie sind in den Kessel geraten wie die, gegen
die sie antraten: unvermutet, beinahe hinterrücks, mit Reserven,
die sie jetzt nutzlos verpulvern. Dass die Frontlinie von Tag zu
Tag wechselt, dass sie nur Eingeweihten vertraut ist und auch denen
nur abschnittweise, dass es um nichts mehr geht als ein unmögliches
Durchkommen, versteht sich von selbst. So kommen sie endlich
heraus, im Blitzlichtgewitter, einzeln, die Hände mit Blumen
bekränzt, und betreten das Land der Zukunft, das heiß erträumte.
Europa hat sich im zwanzigsten Jahrhundert zweimal unter entsetzlichen Qualen gehäutet. Die dritte Häutung, deren Zeugen wir sind, kann nach Belieben geleugnet werden, und zwar, da sie zweifellos stattfindet und ebenso zweifellos registriert wird, in unterschiedlichen Richtungen und Sektoren. Eine gewisse Blindheit ist sogar erforderlich und, wer weiß, erwünscht, damit der eingetretene Prozess nicht ins Stocken kommt. Natürlich beschränkt er sich nicht auf Europa, er meint es nicht einmal, er zermalmt es wie alle emphatischen Einheiten, zum Beispiel die Menschheit – auch sie, jedenfalls dann, wenn man ihr eine, wie auch immer vage, Einheitsidee zugrunde legt wie die, von welcher etwa die UNO zeugt.
– War da eine Idee? Die Menschen sehen Bürokratien auf vorgeschobenem Posten, zu denen man sich verhalten kann oder auch nicht –
– im Bedarfsfall eher nicht, nur die Mandate, die sie mitunter verleihen, fordern den Betroffenen eine gewisse Aufmerksamkeit ab. Was hier ›sehen‹ heißt, ist eine bildgestützte Weise des Argwohns. Die Zahl der Menschen nimmt zu und sie verändert alles. Letztlich verfügt sie, was Menschen übereinander denken und unter welchen Verrenkungen sie übereinander herfallen, die eine Zahl, die alle anderen einschließt, den Zahlen-Dschungel, Big Data, aus dem kein Entrinnen denkbar ist und kein beiseite gesprochenes Wort erhört wird.
Fällt das Wort ›Halle‹, so sekundiert das Wörterbuch: ›größerer Raum‹
steht da und: ›weite Überdachung‹, doch die Erinnerung geht ihre
eigenen Wege. Anfang der Neunziger besuchte ich den härtesten Atheisten
von Halle, er wohnte am Marktplatz und schaute direkt auf die Kirche
Unserer Lieben Frauen, auch Marktkirche genannt. »Ihr Anblick war mir
stets teuer«, verriet er mit Blick auf die nunmehr vergangene Zeit und
schwieg geschlagene zwei Minuten. Früher hätte er auf die Uhr geklopft,
aber das ging jetzt auch nicht mehr. Dabei lebte er nicht schlecht in
seiner Fünfzimmerwohnung, vollgestopft mit bürgerlichen Erinnerungen.
Heute lebt er in meinen Erinnerungen und denen von einem Dutzend
anderer Menschen. Aber vielleicht sind auch die schon tot und er gehört
mir ganz allein. Andere damals gehörten in die Psychiatrie oder kamen
geradewegs daher. Schließlich wollten sie alle in den Westen und es gab
für jeden ein Auskommen. Ich erinnere mich an ein Pärchen aus Halle,
zusammengebracht durch den Fall der Mauer, dem es sich innerlich nicht
gewachsen fand. Zu zweit trauten sie sich hinaus und landeten, tief im
Feindesland, auf badischem Grund und Boden. Zu jener Zeit erschloss
sich mir der tiefe Sinn des Ausdrucks ›Baden gehen‹. Die Zöglinge des
alten Regimes waren baden gegangen und wen trafen sie: mich. Sie hätten
auch jemand anderen treffen können, doch mich trafen sie mitten
zwischen die Augen. Dann steckten sie die Köpfe zusammen, um
nachzusehen, wohin es dort ging. Auf diese Weise lernte ich zwei junge
Menschen kennen, in denen die Bescheidenheit maßlos geworden war und
auf Mord sann, weil die Tilgung nicht vom Fleck kam. Käme ich heute
nach Halle, ich würde gleich die Suche nach ihnen beginnen, am liebsten
mit Spürhunden. An welchem anderen Fleck der Welt sollten sie leben?
Sie wollten leben, aber ihren Fall wollte das Leben nicht. Der
dritte Fall spielt nicht in Halle, aber er lebt von Halle, er spielt
dort, wo die Freiheit noch grenzenlos ist. Im freien Fall vermischen
sich die Maßstäbe, sie bleiben nicht Ost-West, sie wechseln ins
Allgemeine. Das Freie kann zum Beispiel ein Studio sein, ganz sicher
ist es ein Studio, denn Studio ist alles, was der Fall ist. Sie können
in ein Studio hineinspazieren, sich dort beleidigen lassen, und
spazieren als gemachte Person wieder heraus. Sie können auch selbst
beleidigend werden, doch dann empfiehlt es sich, die Sache vorher mit
der Regie abzusprechen. Es gibt in solchen Studios promovierte
Märchenerzähler, die begnügen sich nicht damit, das Blaue vom Himmel zu
erzählen, sie erzählen es Ihnen auch gleich wieder hinauf. In einem
solchen Studio begegnete ich – nicht in persona, sondern auf dem
Bildschirm – einem politischen Hasenfuß, dem die Erinnerung an eine
fette Ente noch Jahre später das Schluchzen durch die allzu eng
geratene Kehle trieb: »So viel Aufklärung und es will nicht hell werden
im Lande.« Ihm gegenüber saß ein abgehalfterter Geheimdienstchef, er
bot ihm sein Taschentuch an, aber der Hasenfuß hielt es für den
berühmten Browning von ’33 und lehnte furchtsam ab. »Was soll mir das
Leben in diesem Lande, wenn es mit dem Globus zu Ende geht«, soll er
einmal einen Gast angeherrscht haben, um hinzuzusetzen: »In meinen
Augen sind Sie schuld an dem ganzen Schlamassel.« Das kommt davon, wenn
einer die Globuli einzuwerfen vergisst und mit einem Hühnerauge
davonkommen will.
Man sagt seinen Vers und geht. Wer hört schon Verse? Wer hört schon auf Verse? Wenige vermutlich, auch das ist nicht gewiss. Auch ist nicht gewiss, woher sie kommen sollen. Woher kommt, wer auf Verse zu hören gewillt ist? Aus dem Sprach-Untergrund? Aus der Zielgruppe der leicht Verführbaren? Die leicht Verführbaren sind längst verführt, bevor der erste Vers in ihrem Leben explodieren könnte, sie würden, was dir Explosion ist, nicht einmal bemerken. Die Gesellschaft hält stets stärkere Reize bereit, die Technik assistiert ihr dabei und nimmt sie mit. – Diese Verführung, subkutan, leise, schimmert unter den Verführungen durch, sie muss erst freigelegt werden, dafür spricht wenig. Du sagst deinen Vers und gehst. Du bist nicht darauf angewiesen, dass jemand dich hört. Viele könnten dich hören, doch dein Wort geht durch sie hindurch. Sie haben kein Organ dafür. Kümmert dich das? Kann dich das kümmern? Dein Wort sucht den freien Raum. Fröstelt dich? Laut hallt die Stimme dessen, der keine Stimme hat, weit.
Berufsbedingtes Abgleiten von Männern in den Hammerwahn erweist
sich allzuoft als ein Ausbruch degenerierter Stärke barbarischen
Ursprungs. Aber nicht nur das Wüten an Mauern, an eisernen
Gegenständen und manchmal sogar an Bäumen zeigt Züge dieses
elementar ausbrechenden Wahnsinns, sondern der als siegreich
empfundene Begriff zierte bereits vor dem ersten Weltkrieg
Landschaften und Industriegebiete, wie den bekannten Vorort in
Kiel. Allerdings gibt es auch alte götzendienerische Ursachen, wie
die Triebfeiern von Hammerfest, die der Wölobrunst zur
altgermanischen Erniedrigung von Spitzbergen gegolten haben.
Einmal im Jahr, wenn die Sonne drei Meter über dem Gipfel stand,
schlug Thor, umgeben von Wolkenschauern, seinen Hammer in den
Felsen und erniedrigte so für Sekunden den unsterblichen Zahn des
Malcentopfs, mit dessen Splittern die Berserker und selbst Karl der
Große ihren forensischen Met zur Gärung brachten.
Manche der Psychologen, die um die Jahrhundertwende bis in die
zwanziger Jahre eine national-alchimistische Richtung in Wien
vertraten, erwarben durch den Hausmeister der norwegischen
Botschaft, Wilbeke Stördesohn, die zweifellos echten, sehr weichen
und blauen Brocken der Felsenspitze, um daraus eine psychologische
Tinte zu pressen, die sie auch Sprachtinte nannten. Síe benutzten
síe für verschiedene, angeblich nordische Rezepturen, gegen eine
Sonderform der eingebildeten Schizophrenie, von der sie glaubten,
sie sei ebenfalls germanischen Ursprungs. Durch subtile
Aufzeichnungen der Patienten mit dieser Tinte, vornehmlich das
innere Hammerwerfen betreffend, sollte die Krankheit als Traum den
Hammer verschlingen.
Damals glaubte man noch, die vermeintlich unechte Schizophrenia germanica als rein
männliche Segensverwirrung eines neuen künftigen Berserkertums von
der echten unheilbaren, für weiblich gehaltenen Schizophrenia feminina trennen zu
können.
Erst als eine bekannte Dame der Wiener Gesellschaft mit einem
Hammer erschien und ihn als Corpus delicti des eigenen
Berserkertums gegen die Statue des Gründers der Nationalpsychologen
schleuderte und dessen Stirne zertrümmerte, wurde eine breitere
Öffentlichkeit auf die Hammerwahn-Psychologen aufmerksam. Der gegen
die Dame wegen Sachbeschädigung angestrengte Prozess endete mit
einem Freispruch, weil der Wurf über eine Distanz von zwanzig
Schritten als gültiger Beweis für das Berserkertum der Dame von den
Psychologen akzeptiert worden war. Mit diesem Eingeständnis löste
sich die Gesellschaft auf. - PM
Die Ur-Handlung der Kultur ist das Handauflegen. »Du bist es«, sagt sie, »du wirst es sein bis ans Ende deiner Tage.« Woher sie das hat? Schwer zu ergründen wie jedes Verfügen. Bei den Ausgezeichneten steht das Handauflegen hoch im Kurs, weil sie wissen: unter allem Zweifelhaften ist dies hier zweifellos das am wenigsten Strittige. Der Meister mag sich geirrt haben, das soll es geben, aber die Folgen seiner Handlung sind nun mal unübersehbar, sie sind, wie immer sie lauten, eingetragen ins Buch der Kultur, aus dem sich jeder herauslesen darf, was ihm unter die Augen kommt, gleichgültig, ob er es auch versteht. Suche die Hand! Kein kategorischer Imperativ, aber ein hilfreicher. Fragt sich: wobei? Viele glauben, sie könnten die Kiste ausräumen, bekämen sie sie nur auf. Das Gegenteil ist der Fall: kaum ist sie geöffnet und die ersten Fälle purzeln ihnen entgegen, erstarren sie schon vor Ehrfurcht und kommen aus der Bewunderung für die göttliche Fügung, die ihre Lieblinge so ersichtlich … zusammenfügt, nicht mehr heraus. Kein Wunder, dass die Mehrzahl der Forscher auch in dieser Beziehung von vorherein bescheidener tickt. Lass sie ticken. »Nur die besten«, murmelt der glorreiche Alte beim Festakt auf die etwas posthume Frage, an wen er sich von früh an gehalten habe, »nur die besten!« Die besten was? Ach Dummerchen! Es waren die Besten, die die Bestie zogen.
Es ist an der Zeit, über Handke zu sprechen. Kennen Sie Handke? Nein? Das habe ich mir gedacht. Ich stamme aus einer Zeit, in der jeder seinen Handke kannte, und jetzt erlebe ich das. Dabei ist klar, dass alle, die damals Handke zu kennen glaubten, sich im Irrtum befanden, denn niemand konnte ihn zu jener Zeit kennen. Man hat ihn erst kennengelernt, als man ihn ausstudiert hatte, da war es zu spät. Der späte Handke straft alle Lügen. Alle? Alle. Warum? Er weiß, dass Unterscheiden unnütz ist und im Kern verderblich. Also sind alle Unterscheidungen aufgehoben. Schlagen Sie eins seiner Bücher auf und Sie werden sehen: es macht keinen Unterschied, keinen einzigen, es weiß überhaupt nicht, wovon Sie lesen. Wissen Sie es denn? Das ist die Frage, ich muss sie stellen, denn danach sehen wir uns nicht wieder.
Die richtigen Leute erkennt man daran, dass sie die richtigen
Debatten an den richtigen Örtern führen. Im übrigen sind sie zu
sehr mit ihrer Urlaubsplanung beschäftigt, als dass sie sich ihre
Gedanken ausspannen ließen. Denn Gedanken haben sie, ohne Zweifel.
Sie produzieren sie immerfort; man ist erstaunt, wenn man einmal
einen von ihnen ohne Gedanken antrifft. »Wie«, spricht man, »Sie
gedankenlos? Hat man Sie bestohlen? Oder haben Sie sie verloren?
Vielleicht irgendwo vergessen? Das tut mir leid, Sie sollten
unbedingt zur Polizei gehen und Anzeige erstatten. Glauben Sie, Ihr
Fall ist weniger aussichtslos, als Sie denken. Schon mancher hat
sein Denken an der falschen Stelle eingestellt und die Polizei hat
es ihm prompt hinterhergetragen.« Schon sehen Sie diese jähe Blässe
in sein Gesicht steigen und Sie wissen, er beginnt wieder zu
denken. »Nein, es ist nicht, wie Sie meinen«, beruhigen Sie ihn,
»es ist nicht die Gedankenpolizei, bei der die Anzeigen eingehen.
Im Grunde bedarf es in Ihrem Fall gar keiner Anzeige, Sie haben ja
gegen keinen Paragraphen verstoßen und niemand könnte Sie zwingen,
gegen sich selbst Anzeige zu erstatten. Was haben Sie denn? Warum
so blass? Habe ich etwas gegen Ihre Karriere gesagt? Das habe ich nicht
gewollt, ich kenne sie ja gar nicht. Sie muss eine junge Karriere
sein, ich nehme an, Sie sind noch nicht lang zusammen. Sie fürchten
täglich, es könne ihr etwas zustoßen, so feindselig ist die Welt.
Wer versteht das nicht? So kommt es, wenn der alternde Mensch sich
etwas Junges ins Haus holt – er könnte vor Zartgefühl ausfällig
werden. Aber Sie sind ja nicht alt, Sie altern ja nicht einmal, Sie
sind ewig jung und meistern die Schwierigkeiten im Handumdrehen.
Glauben Sie mir, Ihre Karriere, die wird bald alt aussehen, wenn
Sie sich solche Sorgen machen.«
Wer von einer Harmlosigkeit zur nächsten fortschreitet, sollte
wissen, wohin das führt: kein Harm ist zu gering, um nicht in
ungeheure Dimensionen zu wachsen, sobald er sich vom Horror vacui
affiziert fühlt. Harmlos ist nichts, gerade diese Nähe steht für
eine innere Verwandtschaft, in der die Grenze zwischen etwas und
nichts sich aufhebt wie ein Vorhang, der eine Bühne freigeben soll,
aber stattdessen einen ungehinderten Durchblick auf die
dahinterliegende Straße gewährt. Verblüfft, was? So ein
Theatergänger ist überzeugt, dass ihm etwas geschieht, das ihn
nicht betrifft, und dass, was ihn daran betrifft, nicht wirklich
geschieht. Da hätte man bereits eine Definition der Harmlosigkeit,
mit allen Tücken und Widerhaken. Die Straße als Bühne hat eine
große Tradition, man verbindet Revolutionen mit ihr, zumindest den
Einsatz von Wasserwerfern, übersieht dabei aber, dass sie dem
Harmlosen jene innere Größe gibt, die es braucht, um zu wirken. Was
einmal als Masse galt, ist diese quadrierte Harmlosigkeit, die sich
verläuft, wenn ihr niemand Beachtung schenkt, aber niemals ankommt,
weil sie sich dauernd verläuft. Hin und hergeworfen zwischen den
verschiedensten Begierden, an- und loszukommen, gibt sie zu wüsten
Berechnungen Anlass, immer an der Grenze zwischen etwas und nichts,
zwischen Alltag und Umsturz, zwischen Einschnitt und Einschnitt,
ein Paradies des nachlassenden Schmerzes. Vorwärts, seid harmlos: eine Parole
gleich der, sein Los in die Hand zu nehmen. Da ruht es, bis gleich.
Wir wollen, sprach der Hase, den Grund unseres Daseins nicht künstlich verschönen, jeder sollte wissen, in welcher Pfanne er landet, aber – hier hob er seine ohnehin quiekige Stimme noch etwas an – wir wollen auch nicht zulassen, dass wir uns selbst nullifizieren. Wir sind da, wir haben gelebt, wir leben noch, das Leben bestückt uns mit Träumen und in unserer Brust schlägt ein Hasenherz. Ist das etwa nichts? Das ist viel, es ist vielleicht nicht gewaltig, aber es ist das, was wir haben. Dieses Haben, versteht mich recht, dieses Haben schließt alles ein, was es gibt, denn alles muss zusammenwirken, um so zu sein, wie es zu sein hat, damit auch wir etwas davon haben. Was wir an uns haben, das haben wir von allem. Wenn es uns so vorkommt, als sei das wenig, dann deshalb, weil wir uns für Hasen halten, also für Wesen, von denen wir instinktiv wenig halten, sei es aus angeborener Hasenherzigkeit, sei es aus theoretischer Überhebung. Wir sollten uns aber, als Hasen, nicht für Hasen halten, sondern für die Welt noch einmal, für Weltige, falls dieser Ausdruck hier gestattet ist. Als Weltige sind wir, weil wir sind, was wir sind, wodurch wir sind und womit wir sind, das Sein, das Werden und das Nichts zusammengenommen und ins Dasein gefasst, um mit den alten Menschen-Philosophen zu reden. Wir alten Hasen sehen zwar keinen Grund, warum wir das Menschheitserbe pflegen sollten, nachdem es von den Menschen selbst zu Plunder erklärt worden ist, vor allem, da ihr Verkehr mit uns etwas Unerquickliches hat, aber als gebildeten Leuten fällt uns immer wieder ein Stück davon ein. So wollen wir es halten.
schießt man am besten im Frühjahr, das ist prickelnd, das macht
sich gut, das macht sich ganz ausgezeichnet, und liegen sie erst
auf dem Tisch, dann ist man der Star der Runde. Wer nicht getroffen
hat, darf beim Essen aufholen, er muss nicht lange danach fragen,
welche barbarischen Handlungen einer begehen muss, um andere satt
zu machen, er darf sich verwöhnen lassen. »Ist ja nur eine Ente«,
ruft so einer lachend, »wer fragt danach, wer sie traf.« Aber im
Stillen wurmt es ihn doch, er wäre gern Meister aller Klassen und
ist nur vom Fach. »Welches Fach«, fragt ihn die Nachbarin zwischen
zwei Häppchen, »welches Fach, ich verstehe Sie nicht?« Was gibt es
da zu verstehen? Großspurig tritt er auf, der die Ente vom
Himmel geholt hat, man könnte meinen, er habe mit einer
Boden-Luft-Rakete den großen Weltbrand geschürt, der immer weiter
schwelt und hier und da ausschlägt. Dabei will er nur, dass alle
Welt weiß, er sei der und der und habe es satt, sich kujonieren zu
lassen. Auf eine Ente mehr oder weniger kommt es ihm nicht an, er
würde sie gern am Finger tragen wie Brillanten, jeden Tag eine
andere. Eigentlich hasst er den Teich, der sie nicht loslässt, in
den sie immer wieder zurückkehren, sobald sie die Krümel
aufgefressen haben, die er ihnen hinstreut. An ihm liegt es nicht,
er würde Fünf-Gänge-Menüs auffahren, wenn es für sie einen
Unterschied machte. So ruht er nicht, bis er eine von ihnen in der
Pfanne hat. Das nennt man: sein Mütchen zwischen zwei Buchdeckeln
kühlen.
Das Alphazet wäre unvollständig ohne dieses Wort. Aber entspricht ihm ein Begriff? Wenn ja, welcher? Dass Menschen einander hassen, ist betrüblich. Aber begreiflich? ›Das Gute lieben, das Schlechte hassen‹ – ganz recht, das ist alte Schule, ganz alte Schule, das ist der Ursprung aller gesitteteten Gesellschaft und kluge Leute haben Kluges zu der Frage beigesteuert, wie das alles einmal gemeint war, wer die Schlechten waren und wer die Guten, und wie sich das Gute langsam, ganz langsam aus den Guten herauswinden und eine ›Instanz‹ werden konnte, mit dem Schlechten als Gegenpart und Folie, als seinem Schatten, und wie das Schlechte langsam böse wurde, einen eigenen Willen bekam, einen bösen, und wie dieser böse Wille schließlich Person wurde, der Böse: ein hässlicher Hasser, ein hassenswerter Hasser, ein Träger des Hasses und ein Hassgeber und Hasseinflößer am Ende. Sind Hassprediger böse? Aber sicher. Stiften sie die ›Gemeinschaft der Bösen‹? Davor schreckt der analytische Verstand zurück, alle Gemeinschaft will schließlich das Gute, Gemeinschaft, vom Bösen gestiftet, ist keine, sie ist Gemeinschaftsgift, sie zerstört Gemeinschaft. Dennoch gibt es sie, die Gemeinsamkeit derer, die Böses wollen, die von ihm besessen sind und es um seiner selbst willen lieben. Das Böse lieben? Wie kann das sein? Doch nur dann, wenn man es für das Gute hält? Und die Guten hassen die Bösen, nicht wahr? Aber vielleicht gibt es, wie das Gute, nur ein Böses? Ist, wer das Böse kennt, im Besitz des Bösen? Oder doch des Guten? Ist er vom Bösen besessen? Oder vom Guten? Kann das Böse wollen, wer nicht von ihm besessen ist? Kann das Böse predigen, wer es nicht will? Angenommen, einer predigt den Hass auf die Guten – ausgeschlossen, dass er damit die Seinigen meint. Er meint die Anderen, wen denn sonst! Wer Hass predigt, predigt den Hass auf die Anderen, weil sie, wie er meint, die Schlechten sind, die Bösen, die Inkarnation oder die Verführten oder die Opfer des Bösen, jedenfalls seine Beute, vielleicht seine Krieger. Das ist so schlicht – und schlecht – gedacht, dass es einem graust und man gar nicht genau hinschauen möchte. Es ist primitive Stammeslogik, aufgerüstet mit Begriffen, die herzustellen sie selbst nicht in der Lage ist, einer Weltreligion nicht würdig, geschweige denn einer Moral: jeder Kundige weist es zurück. Und dennoch geschieht es alle Tage, geschieht es unter der Hand, weil die Diskreditierung des Gegners dem modernen Kampf vorausgeht, der die Vernichtung des Gegners zum Ziel hat. Wer Hass predigt, will Vernichtung. Wer zivilen Hass predigt, will die Vernichtung der Zivilität, ohne die keine Zivilgesellschaft gedeiht, er will den Bürgerkrieg als ›Bewegungsform‹ seiner Gesinnung. Man sollte ihn besser ›Vorsprecher‹ nennen, in jener mechanischen Bedeutung, die allem Vor- und Nachsprechen eignet – einen Gedankenaustreiber, denn das ›Böse‹, das ihm unentwegt im Sinn liegt, ist das Denken selbst. Es ist immer schon weiter, das will nicht in seinen Kopf. Denkhass gedeiht nur in der Pose falscher Überlegenheit – einer hustet und er bricht aus.
Solche Wörter werden nicht mehr in Europa erfunden, sie werden importiert, nur damit sie da sind. Der alte Kontinent besitzt nicht länger den Mumm, sich seiner Sprachen zu bedienen. Hat er deren zu viele? Gehen sie ihm deswegen aus? Wo ziehen sie hin? Wie sprachlos kann ein Kontinent werden, von dem einmal alles ausging, was den neuen noch immer anziehend macht, die schaffende Gewalt inklusive, der weichen musste, wer weich genug war. Ein Kontinent der Gewalt! So sieht er sich selbst, er streichelt sich übers Haar, er sieht die Gewalt ringsum und denkt: Ist das nicht furchtbar? Gerade so waren wir auch. Alle Gewalt geht vom Volke aus und das waren wir. Das letzte Mal, als ein paar von uns riefen: »Wir sind das Volk!«, zerbarst ein Imperium. Man muss es zerstreuen, das Volk, das gibt ein paar tausend Jahre … Ruhe, was sonst? Wir nehmen uns aus dem Spiel. Sollen die anderen damit zurechtkommen, wir haben kein Problem. »Hatespeech…? Soso. Na denn man druff. Man muss die Zensur im Brutkasten ansetzen, da sind sie noch formbar. Wer weiß, was danach auf sie einströmt.«
Dass sich gegen einen Heiligenschein schwer anschreiben lässt, hat die katholische Kirche früh gewusst. Die ästhetische Linke hat nicht lange gefackelt, nachdem sie gelernt hatte, es ihr nachzutun: seit damals reicht sie ihre eigenen Heiligen-Zitate herum wie der Priester die Oblaten, stopft hier ein Maul damit und lässt dort ein anderes offenstehen, ganz nach Belieben. Was sie damit vor allem beweist, ist ihr Abstand von der politischen Linken, soweit sich dort ein Veränderungsimpuls erhalten hat, der nicht in Andachts-Nischen verschwindet, um darin sein Geschäft zu verrichten. Die sonderbare Aura dieser neuen Heiligen bringt es mit sich, dass ihre Rettung auf Dauer gestellt ist – und zwar nicht nur vor den Feinden, sondern auch vor den Freunden, also dem Verehrerschwarm, der sich in Jahrzehnten in ihrer Namen versammelt und sie erst im Wortsinn gemacht hat: Narren sonder Zahl und Erbarmen, die den Clou der Texte offenbar niemals begriffen haben, sei es aus politischer, sei es aus ästhetischer, sei es aus männlicher, sei es aus medientheoretischer oder angeborener oder anderweitiger Blindheit. So trampelt eine Forschergeneration auf der anderen herum, als handle es sich um die eigene, und wirklich, besäße sie ein feineres Empfinden, sie würde ohne Unterlass über Phantomschmerzen in den einschlägigen Körperregionen klagen. Aber, wie die Pfälzerin sagt: Mer merke nix. Nun ist die Linke seit längerem die Linke nicht mehr, sondern ein diffuses Gefühl fürs Rechte, das sich fürs erste als Rechthaben äußert. Da verwandelt der Heiligenschein, um den eine bittende Hand sich krümmt, sich schnell in eine goldene Sichel, die ganze Theoriebüschel mühelos niedermäht, mit denen einer sonst seine liebe Mühe hätte, und manche Pforte zum Erfolg springt fast von allein auf, vermutlich, weil ihr vor der Berührung schaudert. Es ist jedoch nur der Weihnachtsmann, der hereinkommt und Naschereien an Kinder verteilt, wenn sie in die hergehaltene Hand versprechen, auch brav zu sein. Wer verspräche das nicht?
Ich habe mich für das Thema des Heiligen entschieden, weil dieses
Exklusionsverhältnis exklusiver als andere ist, weil es mehr
hermacht, weil – ach gehen Sie mit Ihren Begründungen. Hier braucht
es keine, hier ergeben sich alle Dinge licht und klar, sie
entsteigen den Gräbern, die für sie geschaufelt wurden, hier
herrscht Jüngster Tag. Und hier, der Jüngste von allen: ein kleiner
Heiliger, ein Heilchen, ein Nubbelchen, fertig, was soll einer
damit anfangen? Ein Heiliger, wissen Sie, ist ein Verzückter. Aber
das ist nicht wahr, es ist die Falschheit selbst, durch alle Poren
schleicht sie sich ein. Ein Heiliger ist gebrandmarkt, bis in alle
Ewigkeit, das wird es sein. Bis in alle Ewigleit. Aus der
Heiligkeit fällt keiner heraus, es sei denn, man verweigert ihm die
Ankunft. Und auch dann... Was ist eine verweigerte Ankunft gegen
einen Absturz, den einem keiner nachmacht? Oder doch? Doch gerade?
Im verborgenen Lilienthal treibt manche Leiche die entschiedensten
Blüten, nachgemacht alle, im Fluge gewonnen, im Zerstieben
gesammelt, wenn das kein Fest ist. Am Fest scheitern die grausamen
Sachwalter des Fortschritts, sie werden zu Hilfsgöttern, die keiner
kennt, und wenn schon, dann flüchtig... vorbei. »Das war doch –«
»Ja wer schon. Komm weiter, verlier keine Zeit.« In die Heiligkeit
gerät man hinein durch Blamage – na und? Bleibt sie aus, wenn man
ihr entsagt? Und macht sie sich nicht durch Entsagung? Wer der
Heiligkeit entsagt, wer es nötig hat, ihr zu entsagen, am besten
feierlich, wer sie am Ende bekämpft, das ist ein schöner Heiliger,
mit ihm können wir ohne weiteres leben.
Das Heiligfeld beginnt bei den Kopten im Tiglä lumi ›drei
Haselnussstecken entfernt von den Friedhöfen und über zweihundert
Ruten der gleichen Pflanze entfernt von den Tieren im Stall oder
auf dem Felde‹. Die sogenannten Arbeitsplätze der Seelen sind ihrer
hohen Antinatur entsprechend gottgesichert und luftreich oder
luftrein im Sinne der Überwelt. Regimenter dieser Region, oft auch
tiefere Wesenheiten des Lichtes in Gestalt von Punkten, stehen der
Weihe der Priester offen und fliegen vor ihnen her als Kieselsteine
des Himmels und ›geworfene‹ Vogelbrote, (bei Heidegger »in den
Glauben geworfene Sacrophanien oder Brote als Speise der
Mönche«.)
Viele koptische Schriften und Bilderrrollen, ebenfalls mit
Haselnussruten vermessen, mindestens aber von ihnen berührt, sind
den Regimentern der Punkte gewidmet, die man den Speisen durch
Segnungen zusetzt. Humboldt fand viele von ihnen »in Gold gefasst«,
also doch wohl als Ringe, da die Punkte materiell unsichtbar sind,
bei den Jabboniten der sogenannten Schablonenfelder am Unterlauf
des Rio Negro, viele tausend Haselnussstecken von Äthiopien
entfernt. Das Feld dieser Zustände ist eben viel größer als die
Erde, es beginnt am Wadi halrham nilabwärts und breitet sich danach
fächerförmig über Ägypten nach allen Himmelsrichtungen aus. Zenotus
schildert diese Bahnen als unbezwingbare Bretter aus Licht, von
Sonnenvögeln bewacht, die Steine trinken. Was immer dieses Trinken
bedeuten mag, es verbindet den Gedanken an die Vorzeit der Steine
als sonnenfarbene Kleckse mit ihrem wann auch immer bevorstehenden
Untergang als faule Früchte einer zum Schluss missratenen Ernte der
Erde. »In Gärung versetzt stirbt alles, was der irdischen
Festigkeit einmal entsprochen hat, ob Eisen, Granit oder Gold.
Alles wird früher oder später faul oder flüssig«, schreibt der
Atomverdichter und Stratosphärenvater Globalbus von Silenunt.
»Selbst die schon stinkenden Brillanten«, fügt er vorsorglich noch
hinzu.
Wir besitzen keinen Beweis für die ewige Ruhe oder den ewigen
Zerfall der wahrhaft wilden Materie, wenn der Mensch als Sauerteig
der Erde, der ja alles in Gärung versetzt, die Haselnussmeile
endgültig überschritten hat. Wäre das zu bedauern? - PM
Die wahren Helden, wir wissen es, werden in der Gosse geboren und sterben in ihr. Aber worin besteht ihre Ehre? Nun, wir wissen es: ihre Ehre besteht darin, vors Totengericht gezerrt und immerdar zitiert zu werden. Immerdar? Was ist das für ein Wort? Für den Immerdarbenden ist es die warme Dusche, die den Frühling anzeigt, wenn ringsum Eiszeit herrscht. Zeitgenossenschaft ist Hunger nach einem Wort. Man hat diesen Hunger als Hölle beschrieben, nur Dummköpfe erblicken darin einen Anlass zu schwelgen. Dem Helden der Stahlgewitter genügte am Ende ein Kanzlerbesuch auf dem grünen Rasen. Und er tat klug daran: das Unglück sprang auf den Kanzler über. Diese Stahlgewitter stehen über dem Scheitel des Schreibenden und er kann von Glück reden, wenn sie von außen über ihn kamen und nicht aus seinem Inneren heraufzogen. Wie dem auch sei, zwischen Blitz und Donner lebt es sich anders als im Bräunungsinstitut. Unter Tiefgebräunten erinnert der Gehäutete ein wenig ans Jenseits, auf alle Fälle ans Jenseits der Genüsse: so schicken sie ihn voraus, weil sie nicht wagen, ihn anzufassen. Sicher zu Recht, urteilt man unter Gesichtspunkten der Schmerzvermeidung, doch ebenso sicher zu Unrecht, weil der Schmerz universal und unstillbar ist. Am besten lässt man ihn schuld sein: am Weltlauf, am eigenen Unglück, an allem, was stört. Alles, was recht ist: so geht es nicht und eben deshalb geht es genau so.
Jede Herausforderung gilt einer Macht, jeder Abfall ist ein Abfall
von einer Macht. Wer sich in diesem Punkt täuscht, bleibt ein auf
ewig Getäuschter, ein in eine lose Ewigkeit Hineingetäuschter,
dessen erstaunter Blick sich dem Umstand verdankt, dass die Tür,
die gerade hinter ihm zuschlug, verschlossen bleibt und alles
Rütteln der Klinke vergebens – der Zug rollt, er entfernt sich
langsam, langsam, nimmt Fahrt auf, bald ist er weit. Ich fand
dieses Bild, nicht unweit dem Bahnhof, vom Regen gewellt auf dem
Pflaster, ein Schuh war darüber weggegangen und hatte das Gesicht
des Erstaunten um eine blinde Fläche bereichert, die gut zu ihm
passte und ihm etwas Bestimmtes gab, das er im Leben vielleicht
nicht hat.
Eine im Modus des Als-ob betriebene Wissenschaft ist keine. Auch
das methodische Nicht-wissen-Können setzt voraus, dass jemand nicht
in Beispielsätzen redet, sondern zur Sache. Anders als das
gediegene Urteil lässt sich Schlitzohrigkeit nicht stornieren. Sie
ist schon immer zur Stelle, eine gewiefte Hermeneutin, die
erreicht, was sie sich vorgenommen hat. Das ist ganz normal. Jede
Auslegungskunst, die ihren Namen verdient, weiß um soviel Gründe
des Nichtverstehens, dass sie in der Praxis einer Anleitung zum
Nichtverstehen gleichkommt. Seltsamerweise entwickeln nicht wenige
Menschen an dieser Stelle ein ›neues Verständnis‹. Was es damit auf
sich hat, ist nicht leicht zu ergründen. Das angelernte Bewusstsein
lebt in gekachelten Räumen, es führt sich ausschließlich
Lebensmittel zu, die ein amtliches Gütesiegel tragen, darüber
hinaus einen Vermerk der Organisation, der es angehört. Es lebt,
denkt, redet bewusst, das heißt unter Weglassung dessen, was
hier nicht zur Sache
gehört. Dieses Hier verwandelt die Sache ins Gehörige: Auslegware,
die man überall da zu Gesicht bekommt, wo man Auslagen vermutet
oder argwöhnt, verargt oder bestreitet. Ohne Zweifel ist das
Bestreiten von Auslagen eine primäre Kulturtätigkeit, sicher nicht
ohne Reiz, vor allem für Neulinge. Später stumpft sich die
Angelegenheit ab, sie bekommt einen Zug ins Läppische, sobald erst
die Schäfchen im Trockenen sind und die sensible Haut vom Balsam
der Jahre völlig versiegelt erscheint. Der Blick streicht über das
Ausgelegte und findet die Auslegung nutzlos. Was soll das Zeug?
Habt ihr nichts Besseres? Ein Regenguss und es läuft ein.
Erbärmliches Zeug, Standardware! Der Ausleger lächelt still, er
kennt seine Kundschaft und weiß auch ihre nutzlosen Launen zu
schätzen.
»Zwischen uns allen waltet der Heros, unwandelbar er selber, wir
aber im Verfall.« Diese Zeilen stehen am Anfang des Vorgesprächs
eines Zuckerbäckers mit seiner Muse. Sie antwortet ihm spöttisch:
»Ist der Heros in deinem Kuchen, so waltet er auch im Zucker. Ist
er in deinem Zucker, so waltet er auch im Mehl. Was geschieht aber
dann, wenn du den Kuchen in den Ofen geschoben hast? Gilt das nun
dem überall waltenden Heros oder alleine dem Kuchen?«
Der Zuckerbäcker als Doppelbild von Apollo und einer lebendigen
Aufführung des Lucullus galt als komödiantischer Zeuge alberner
Götter an den Hauswänden in Stabiae und später selbst noch in
Neapel. Es sind ›Stabiaducci‹ oder Spottverse, nach Tacitus: »res
divinas in ludibria vertere.« Sie findet Caspar von Weyenrauch, dem
wir die frühe Sammlung Hauswandverse der Alten lange vor
Georg Büchmann verdanken, überall an den Wänden lateinischer
Popularien oder Altbauwohnungen der Antike. Ebenso den Lockruf der
Bäcker, wie ihn die Reisenden noch heutzutage in Neapel hören
können : »Lucullus, Lucullus, dolce dolce«, wie die Warnung vor den
bisswütigen Knaben, die heimlich ins Brot beißen, wenn der Bäcker
mit einem Kunden verhandelt.
Dennoch, der wahre Heros nimmt dergleichen nicht übel, selbst wenn
er mit all seinen Kräften soeben im Brote weilte.
Er, der im Wesen der Dinge waltet, kennt die Natur des Spottes über
die Götter als den einfachsten Bruch der Metaphysik, wie sie den
Ungebildeten eigen ist, weshalb sie ja oft die lateinische Sprache
weniger sprechen als dreist immitieren, ohne auch nur den Sinn
davon zu verstehen. »Sie bellen antik«, sagten früher die
verständigen Leute, und der Heros lächelt dazu, weil er weiß, daß
auch nicht alle Heroen und Heroinen dieser Sprache mächtig sind.
Die Heroen sind überall und müssen vieles erdulden, auch im Wesen
der Analphabeten oder in Büchern gepresst. Ja, selbst die törichten
Strandbewohner des Nordens salzen die Heringe, ohne zu wissen wes
Geistes Kinder sie sind. Zwischen uns allen waltet der Heros,
seufzen die Fische, wenn auch vergebens. - PM
Wir sind die Herren der Erde... aber im Geheimen. Ganz innen, dort,
wo alles so verborgen ist, dass es sich vor sich selbst verbirgt
und selbst das Verborgensein sich nur als Schatten seiner selbst
durchsichtig wird, weiß sie, dass sie uns untertan und unsere
Herrschaft ungebrochen ist. Sie weiß, dass alles seinen Gang gehen
darf, weil uns nicht daran liegt, sie aus dem Rhythmus zu bringen,
wir im Gegenteil darauf drängen, dass sie sich gibt, wie sie ist.
Das irritiert sie, denn sie hegt den Verdacht, wir wollten sie
dadurch festlegen, und das missfällt ihr. Sie würde sich gern
verändern, aber wir lassen es nicht zu und sagen, die Planungen
stammten von uns und wir hätten beschlossen, sie nicht auszuführen.
Doch es gibt keine Planungen, nur dieses Verlangen nach
Veränderung, es nimmt zu mit den Jahren. Wir spüren ihr Unbehagen,
wir können ihr nichts abschlagen und setzen auf alte Verträge.
Man kann etwas herunterreden, das ist wahr, man kann es auch
hinaufreden, das ist ebenfalls wahr, man kann etwas dadurch
hinaufreden wollen, dass man es herunterredet, das kommt öfter vor
als man denkt, es ist, in gewisser Weise, das Gegebene. In ihm
äußert sich das Quentchen Beleidigtsein, das allem Kontakt mit der
Wirklichkeit innewohnt. Man ist enttäuscht von ihr, man ist
enttäuscht von der Rolle, die man in ihr spielt, man ist enttäuscht
von dem, was sie einem anbietet. Man hätte sie gern behalten und
man hätte sie gerne anders. Ganz anders das Herunterquatschen, das
jeden, auch den entferntesten Ballon aufs Pflaster bannt, um ihn zu
besteigen oder zu zerstechen, was in dem Albtraum, den man das
Leben nennt, häufiger zusammengeht als man denkt. Aber in der
Praxis lässt sich beides, das Herunterreden und das
Herunterquatschen, kaum auseinanderhalten. Dafür gibt es einen
pragmatischen Begriff: Kritik. Deshalb ist die Kritik der Hort der
Heuchelei. Man trifft in ihr immerfort mit Leuten zusammen, die
einem unerträglich sind, man trifft sich in einer kalten
Gemeinsamkeit, um der Sache willen, weil man das Unerträgliche
erträglich gestalten möchte, weil man das Forum will. Ganz gleich,
mit wem man dort Arm in Arm erscheint – man stellt das, was man
ohnehin getan hätte, als Aufgabe hin, die man erfüllt. Eine Art
Erfüllung ist das allemal.
Die großen Unfälle der Geschichte sind die, in denen das Geschehene aus ihr heraustritt und als Grauen pur überlebt. Niemand versteht, wie so etwas geschehen konnte und niemand will es verstehen. Nicht, weil die Erklärungen nichts taugten, sondern weil sie empörend sind: deswegen sollte das geschehen sein? Ein ungeheurer Hohn liegt in den Erklärungen und zwingt die Menschen, sie abzulehnen und anzunehmen, am besten in einem Atemzug, damit sie es hinter sich haben. Im Fall der Hexenverfolgungen wirken sie überdies lächerlich. Das Missverhältnis zu dem, was erklärt werden soll, wird nicht durch das Grauen diktiert, sondern durch den Eindruck von Beliebigkeit – solche Gründe finden sich immer, unter allen Verhältnissen, zu jeder Zeit. Andererseits gewinnen sie daraus ihre Stärke: Was jederzeit passieren kann, ist es nicht bereits subkutan unterwegs? Hat nicht jeder die Pflicht, ihm zu wehren – jetzt, unter allen Verhältnissen, zu jeder Zeit? So sammeln sich Hexensekten um ein lange erloschenes Feuer, darauf vertrauend, dass es sie wärmt. Das wahnhafte Begehren, immer neue Leben nachzuschütten, wo einmal die Hölle gebrannt hat, scheint unausrottbar wie die Hölle selbst.
»Der Himmel hört nirgendwo
auf, ein Satz, der mich schon als Kind zutiefst beeindruckt
hat«, sagte Frau Igel zum Hasen, als sie nach dem zehnten Rennen,
bei dem sie gewohnheitsmäßig in ihrer Laufrinne stehengeblieben
war, sich lediglich umgedreht hatte, den Hasen ausgeruht und
inzwischen ein wenig gelangweilt in Empfang genommen und sich an
seinem Einsatz – wie soll man sagen – erfreut hatte, vielleicht, wenn man es positiv sehen
will. Um welchen der vielen angebotenen Himmel es sich dabei
handelte, ist schwer auszumachen. Immerhin gibt es Modelle, die so
täuschend echt sind, dass sie sich von dem in Aussicht gestellten
Original kaum unterscheiden lassen. Das ist auch nicht vonnöten,
denn die Sorte Himmel, die eine Frau wie die Igelin einem Hasen zu
bieten hat, ist selbst für Fakire allerhöchstens als Notopfer zu
bewerten. 10 Cent pro Stück, der Rest ist Eigenanteil. Hasen haben
lange Ohren, die, würden sie in den Himmel reichen, so allerlei
läuten hören könnten. - AC
In den Kuppelfresken barocker Kirchen wird, je nach der Verehrung
eines Heiligen oder kühner christlicher Symbole, die emporstrebende
Kraft der frommen Figuren in Flammenwolken erkennbar. Sie streben
von unten nach oben, den jubelnden Frohlockungen des Himmels
entgegen. Allerdings wohl nicht, ohne des Jüngsten Gerichts zu
gedenken.
Andererseits hat im Dienste der schönen Künste niemals ein Sturm
des begierigen Himmels auf die Zauberwelt einer Kirche
stattgefunden und hätte dort mit glühenden Pinselblitzen erst den
Boden gesprengt, dann die Stützsäulen der Katakomben durchbrochen
und wäre gleich dem Sturz eines Sonnenkörpers von dankbar jubelnden
Künstlern gemalt worden. Aber die wahre Ursache der fehlenden Kunst
solcher Antikuppeln besteht wohl darin, dass sich früher aus
Gottesfurcht niemand ein solches Himmelstheater zu malen getraut
hätte und heute, wo diese Ängste geschwunden sind, nicht einmal ein
Surrealist aus Gleichgültigkeit sich gefunden hat, diese Antikuppel
zu malen. Gott würde dort um seine dramatischen Drohgebärden
gebracht, denen selbst Christus, der gekreuzigte Menschensohn und
Widersprecher Gottes, in der Sixtina mit gewaltiger Geste verfallen
ist, wenn er die geistig doch so überaus unschuldigen Touristen
bedroht. An ein Heraufwinken oder glückliches Niedersinken zu ihnen
herab ist gar nicht zu denken.
Man stelle sich im Boden einer surrealen Kirche, die heute zu bauen
nicht nur denkbar, sondern höchst wünschenswert wäre, ein derartig
prachtvoll gemaltes Antigewölbe vor, aus welchem Heilige uns
dankbar und sehnsüchtig zuwinken, Christus in leuchtender Tiefe den
dort wohl noch hausenden Teufel in einem liebreichen Morgenmahl
freundlich begrüßt und, alle dämonische Höllenangst in Sonne und Heiterkeit aufgelöst,
die Betrachter bittet, den Tod doch nicht allzusehr zu fürchten.
Ein schönes vergoldetes Gitter umgäbe, zum Schutz vor fröhlichem
Selbstmord, diesen prachtvollen Abgrund des Glücks.
Stattdessen aber wissen wir seit der Antike vom Homerischen
Gelächter der Götter. Da lachen sie über uns in Erkenntnis all der
verfehlten Hoffnungen, der gescheiterten Pläne samt ihrer
zweifellos wahnwitzigen Konstruktionen. Aber ist denn am Ende eine
solche Verhöhnung durch göttliche Übeltäter dem Jüngsten Gericht
wirklich vorzuziehen? Der, welcher brennen muss, will sich lieber
auslachen lassen, das ist wahr, aber Erlösung ist immerhin denkbar.
Doch dieses Gelächter selbst...? Homomaris aus Lichtel will wissen, dass nach
Erkenntnis bedeutender Inder, angesichts der
Unendlichkeit gescheiterter Hoffnungen, auch das Gelächter
unendlich sein müsse. Was aber sei schlimmer, immer lachen zu
müssen oder immer lächerlich zu sein? Waren die Hofnarren nicht
schon immer sehr kluge Beispiele? - PM
Das Wort ›Kohabitation‹ ist vor allem aus der französischen Politik vertraut, wo es eine Form des Regierens bezeichnet, in der Präsident und Kabinettchef verschiedenen Parteien angehören. Kein Wunder also, dass es in deutschen Landen nicht so recht heimisch werden will. Hier gehört es sich nicht, zwei Religionen zugleich zu dienen oder die andere für die eigenen Zwecke einspannen zu wollen, vor allem da der Glaube ohnehin perdü ist, denn wer soll sich da am Ende noch auskennen? Ganz einfach: am Ende muss niemand sich auskennen, die Parteien gehen auseinander, als sei nichts gewesen. Und, ehrlich gesagt: War etwas? Regiert werden muss immer, wer es nicht schafft, tritt ab oder holt sich Verstärkung oder tritt ab, um sich Verstärkung zu besorgen. Entweder es regiert das gemeinsame Interesse oder man macht gemeinsam dem Volk etwas vor. In hiesigen Koalitionen hat einer das Sagen und der Rest setzt sich durch. Das klingt chaotisch und, ehrlich gesagt: so ist es. Das deutsche Chaos ist mit Ordnungsvorstellungen so durchtränkt, dass es jederzeit den Eindruck zu vermitteln imstande ist, es könne nicht anders. Auf diesen Aspekt legt das Wahlvolk großen Wert. – Meine persönliche Kohabitation reicht weit zurück in die Zeit, in der ich es hilfreich fand, einen Wissenschaftler an meiner Seite zu wissen. Also wurde ich einer und keiner, ich gliederte mich gleichsam in mir aus und fragte mich selbst um Rat, wenn es nicht mehr weiter ging. Mit der Zeit wurde der Wissenschaftler mutiger und fragte mich, was ich glaubte und wie ich mit mir zurechtkäme. Als endlich die Dämme brachen und er wissen wollte, wie lange ich mir noch Zeit gäbe, warf ich ihn hinaus. Da liegt er nun mit gebrochenem Genick, ein Hilfreicher zuviel in lausiger Zeit.
Wir alle sind Menschen und haben unsere Hintergedanken. Manche davon sind fremd, befremdlich sogar und wir weigern uns, sie als die unseren anzuerkennen. Es kümmert sie nicht, sie umkreisen ihr Opfer und – ungesehen sitzen sie fest. Und, ehrlich gesagt, sie sind die treuesten: während alle anderen uns verlassen, so wie der Tag uns verlässt, um dem nächsten Platz zu machen, bleiben sie beharrlich, auch wenn der ihnen begegnende Blick schmerzlich zusammenzuckt. Sie sind es, die uns kontrollieren. Woher sie kommen? Sie sind da. Wenn sie nicht da sind, folgen wir ihnen am genauesten. Sie kennen ihren Pappenheimer und wissen, wann er leidlich funktioniert. Im größten Schmerz, in der größten Trauer melden sie sich am zuverlässigsten: Gefahr im Verzug! Es sind die Hintergedanken, die dafür sorgen, dass Menschen Menschen bleiben und keine Macht-Technologie der Welt sie in gelehrige Abziehbilder einer Idee, einer Konvention, eines Projekts verwandelt. Auch deshalb setzt das ›Projekt Moderne‹, dieses noch lange nicht abgesetzte Phantasma des zwanzigsten Jahrhunderts, der Heuchelei die Krone auf. Es sind die Hintergedanken, die dafür sorgen, dass jede Art von Sklaverei irgendwann ein Ende findet und nichts von alledem geschieht, wofür der ›befreite Mensch‹ einst stehen sollte.
Ein glückliches Naturell, das seine Form gefunden hat und nun fortproduziert, gerät leichter in einen Hinterhalt, als es sich vorzustellen vermag – allein schon deshalb, weil es überzeugt ist, sich stets aus allen Einwänden herauswinden zu können. Immer dieselben Denkfehler bei großer Wendigkeit im Detail: darin besteht das Rezept, den Erfolg zu forcieren und auf der Strecke zu bleiben.
Hirnstecher hat es immer gegeben, doch heute, bei unendlich gesteigerten Eingriffsmöglichkeiten, leistet die Zunft sich Böcke, die ihre Existenz ernsthaft in Frage stellen. So stellt, wer einen Stich hat, sich leicht quer, das ist bekannt und bildet gewissermaßen das Salz in der Suppe. Den Hirnstecher des 21. Jahrhunderts ficht das nicht an, er wandelt Stromlinie in Stromlinie, und zwar so, dass dem Behandlungsopfer der Stolz auf sein Querulantentum aus den Socken quillt. Querdenker, der Anpassungswerkstatt entlaufen, finden leicht ihr Auskommen, sie rennen förmlich den offenen Armen entgegen, denen ihr ganzer Hass gilt. Dieser Hass... Man sähe ihn gern auf der grünen Wiese, zwischen grasenden Kühen, einer geregelten Arbeit nachgehen, doch daraus wird so schnell nichts. Verausgabung durch Züngeln – so lautet das ihm auferlegte Gebot, sein Markenzeichen: die flackernde Zunge, lingua praeservata, die voreilend versorgte, sein Motto: sorglose Sorge (›cura sine cura‹). »Ins Hirn gehaun – halb? zu drei Vierteln?« schrieb einst der Dichter, eingeklemmt zwischen Hirn- und Herzstich-Spezialisten, um festzustellen: alles vergeblich. Alles läuft mit, alles läuft weiter, wer am Überlauf sitzt, dem läuft alles davon. – Als ›spin doctors‹ bezeichnet man die Herren und Damen Hirnstecher, sobald sie amtlich werden, vermutlich um anzudeuten, dass ohne eine gehörige Kopfverdrehung gar nichts läuft, also das Gegenteil dessen, was wirklich... – irgendeine Schweinerei großen Stils, bei der alle an dem verdienen, was sie bekommen, ein gestärktes Konto zum Beispiel oder eine blutige Mütze. Das Allgemeine ist das Spezielle – so oder ähnlich könnte so ein Hirnstecher die Welt interpretieren, wenn er es nicht vorzöge, sie zu verändern, nicht ohne Auftrag, nein, auftragslos nie.
Es war einmal... ach herrje, war es wirklich einmal? Wann war das denn? Es war einmal im Westen eines bis ins letzte Gehirn hinein gespaltenen Landes ein auffällig gefleckter Kater, von vielen geliebt und umschmeichelt, von der Konkurrenz mit Argwohn bedacht, weil er gern in Revieren streifte, für die er keine Kennmarke trug. Eines Tages brachte er von einem seiner gefürchteten Ausflüge einen Vogel mit, einen großen, prachtvoll gefiederten Vogel, nicht unähnlich einer Schnepfe, und dachte nach. Der Vogel ist zu groß, dachte er, ich muss meine Hausgenossen erst auf ihn vorbereiten, wer weiß, was sie davon halten, wenn ich blindlings mit diesem Trumm im Maul in der Tür vor ihnen stehe. Gesagt, getan, er biss ihm die linke Klaue ab und legte sie den Hausgenossen beim nächsten Meeting vor die Füße.
Habe ich es schon gesagt? Der König der grauen Mäuse ist mächtig und hat seine Späher in jeder Gesellschaft. Heute ist er alt und ein wenig wacklig im Kopf, aber zu jener Zeit verfügte er über eine kraftvolle Herrscherpersönlichkeit und leistete sich manches verwegene Ding. Kaum hatte er erfahren, was geschehen war, fasste er einen Plan. »Ach wie gut, dass niemand weiß«, pfiff er leise vor sich hin, »dass ich wirklich alles weiß.« Es war seine Leib- und Magenparole, sie hatte ihm auch bereits bei den jungen Mäusepionieren gute Dienste geleistet. In Blitzeseile ließ er ausstreuen, bei der Schnepfenklaue handle es sich um ein Stück aus dem Reliquiar des heiligen Nepomuk, aufbewahrt im rechten Brückenpfeiler der Wormser Rheinbrücke, das den sicheren Übergang über sämtliche Flüsse und Bäche des Landes gewährleiste, der jetzt praktisch nicht mehr gegeben sei. »Wer die Gefahr nicht erkennt«, pfiff und trommelte das Heer der grauen Mäuse, »macht sich schuldig, schuldig, schuldig.« Und »schuldig, schuldig, schuldig« grunzte, ächzte und schnarrte die gesamte Hausgenossenschaft, ausgenommen ein paar alte Samtpfötchen, die sich an der Wand entlangdrückten, um nicht erkannt zu werden.
»Und wie geht das Märchen aus?« Gut geht’s aus. Die tote Schnepfe, die keiner anschauen, geschweige denn kosten wollte, ist längst verdaut, hier und da erinnert die eine oder andere Feder an die Zeichnung ihres Gefieders, nur der gefleckte Kater, nun ja, wie soll ich es sagen... Auch er ist irgendwie verschwunden und kommt einmal die Rede auf ihn, beginnt mit Sicherheit eine graue Maus im Saal zu quieken, das ist ganz normal. Ach: einen schwarzen Kater, den man damals für einen Verwandten hielt, traf darüber der Schlag oder Schlimmeres.
Täglich das Volk ein wenig beschummeln, das Gift der guten Sache
unauffällig unter die Leute bringen, ein Wort wie ›Wärme‹ mit ein
wenig mehr Nachdruck versehen, als es der Satzsinn erforderlich
machte, eine Hitze irgendwo auf dem Globus immer ›zu groß‹ oder
›ungewöhnlich‹ ausfallen lassen, jeden Wirbelsturm drohend
hervorheben – was soll denn daran falsch sein? Wer Hunger hat,
sieht den Bäckerladen von weitem, er kommt ihm größer vor als die
umgebenden Häuser, bunter, bedeutsamer, das ist ganz natürlich. Es
ist ganz natürlich, dass man langsam den Verstand verliert, wenn
man immer auf einen Punkt starrt, es ist ganz natürlich, dass man
drangsaliert, was man bestimmen möchte, es ist natürlich, dass man
die Abzweigung übersieht, wenn man die Augen starr auf den Horizont
richtet, es ist natürlich, dass man sich zum Richter über gut und
böse aufschwingt, es ist natürlich, dass man weiß – lauter
Natürlichkeiten, die man natürlich bezweifeln könnte, wenn man
anders drauf wäre, wenn man nichts zu verlieren hätte, wenn nicht
satte Gewinne warteten, wenn nicht der Kampf längst entbrannt wäre
um – nennen wir es Ressourcen, nennen wir es Vorteil, nennen wir es
Macht, nennen wir es, wie wir wollen, solange wir nur ein Quentchen
Ehrlichkeit unser eigen nennen.
So musste es kommen:
Die Konsumgesellschaft hat nicht nur das absolut Böse, sie hat auch
die Höllenstrafen zurückbeordert, von denen das Laissezfaire, laissezparler der Lust sie einst zu
befreien versprach. Kein Konsum ohne Terror, und wenn einem der
Konsumterror ›jetzt nichts sagt‹, dann müssen eben klangvollere
Saiten aufgezogen werden. Das Böse heißt, wie eh und je,
›Selbstermächtigung‹ und das dazugehörige Bewusstsein, kapiert
zu haben, drückt sich in der Konjunktur des Wörtchens
›selbsternannt‹ aus, der Lieblingsvokabel aller Schreiberlinge,
in deren Gehirnen die Angst vor den Folgen grassiert – zu Recht,
denn die Folgen ihres Tuns sind fürchterlich. Die Höllenstrafen
hingegen sind ›menschengemacht‹, jedenfalls
besitzt ›der Mensch‹, jedenfalls der westliche, hinreichend
Anteil an ihnen, um ›schuld‹ zu sein. Nicht
schuldig, aber schuld: so ließe sich das Urteil in einem Prozess dem Volk
verklickern, der nicht nach juristischen Regeln geführt wird,
sondern einem Schuldverteilungsmechanismus gehorcht, dem die
Überzeugung zugrunde liegt, dass die Schuld existiert und mit jedem
Tag wächst – wer anders könnte sie schultern als ›der Mensch‹?
Die Schuld existiert, denn die Hölle kommt. Die Hölle wird
kommen, weil wir täglich Schuld auf uns laden – so
lautet das Credo derer, die nicht daran schuld sein wollen, wenn es
erst einmal so weit gekommen sein wird. Wahrscheinlich rechnen sie
auf den berühmten Extraplatz. Das klingt ein bisschen so, als ließen
die ›wirklich Schuldigen‹ die Schuld umverteilen, um weiter
ungestraft Schuld auf sich laden zu können: eine
Verschwörungstheorie, mit der die Höllenangst zur Angstbeißerei
mutiert. Sieht man sich die Hölle genauer an, so bemerkt man, sie
ist eine bewegliche Prognose, die sich mühelos an jede hypothetische
Verlaufskurve anpassen lässt. Am Ende ist es egal, ob die
Menschheit verbrennen, verdursten, erfrieren, ersticken oder
verhungern wird, nur dass wir schuld sein werden, das
wissen wir schon jetzt. Woher wissen ›wir‹ das
so genau? ›Wir‹ wissen es, weil das, was ›wir‹ wissen, keinen
anderen Schluss zulässt. Und was wissen ›wir‹? Heute dies,
morgen jenes. ›Wir‹ wissen noch nicht genug, nur die Folgen
zeichnen sich ab und sie werden fürchterlich sein. Also wissen ›wir‹
nicht genug? ›Wir‹ wissen genug, um zu wissen, dass wir mit jedem
Tag, der verstreicht, an der Zukunft schuldig werden. Aber es gibt
auch Fortschritte? Zu spärlich, zu spät, zu speziell. Was können
›wir‹ tun? ›Wir‹ müssen die Menschen aufrütteln. Zu welchem
Zweck? Sie sollen verstehen, was geschieht. Was geschieht dann? Sie
werden verstanden haben. Alles andere wird sich zeigen.
Hier, eine Geschichte: soll ich sie erzählen? – Bloß nicht! – Ein Richter, jung, ehrgeizig... – So beginnen viele Geschichten, ich glaube nicht, dass diese sich lohnt. Aber was lohnt sich schon. Also dieser hier... Was soll das jetzt? – Dieser Richter also, ganz Richter in seiner Zeit, vielleicht in einer neuen Beziehung stehend und an ihr arbeitend, wie man an ihnen zu arbeiten hat, denn eine Beziehung ist ein Werkstück und mancher kommt über sein Gesellenstück nicht hinaus, vielleicht gerade verlassen und voller Schuldgefühl, vielleicht einfach ein bisschen dämlich und denkfaul, vielleicht auch wahrnehmungsfaul, sowas soll vorkommen... – Und wo bleibt die Geschichte? – Aber das war die Geschichte, jedenfalls weitgehend. Vielleicht doch nicht ganz, das mag sein. So ein Richter entscheidet nichts, was nicht bereits entschieden ist, er weiß, was geht und was nicht geht, er will schön sein, unbedingt schön sein, und darin liegt schon das Strafmaß, vor allem in Zivilprozessen, in denen es um anderer Leute Nachkommenschaft geht – um ihr Wohl, wie es so schön heißt, in Wahrheit um die Hölle für Jedermann.
Ein beliebiger Narr erbeutet die Welt im Handumdrehen, er bedarf dazu keiner zweiten. – Warum muss er dann besitzen? – Um festzuhalten, Dummkopf, das weiß doch jeder. Aber, fragt Dummkopf, der sich gern schüttelt: Warum muss er festhalten, was er im Handumdrehen erbeuten kann? – Weil es ihm sonst zerrinnt, Dummkopf. – Und was, bitteschön, ist Besitz? – Besitz ist, was sich gehört. – Was sich gehört? – Besitz ist, was sich so (und nicht anders) gehört. Das Gehörige liegt in aller Gehör und geht auf keine Weise heraus. Es sei denn durch Gewalt, die sich hält. – Oder indem es zerrinnt. – Oder indem es zerrinnt. Jedenfalls gilt: Festhalten lässt sich, jedenfalls auf Dauer, nur das Gehörige. Klammern, das kein Gehör findet, bringt durcheinander. Mit der Unordnung kommt das Recht, mit Recht Ordnung, mit Ordnung Geltung, mit der Geltung das Geld. Geld ist das Gehör der Gehörlosen. Es reicht weit, aber irgendwo ist Schluss. Das Hörensagen des Geldes überwuchert die Welt. Die größten Vermögen sind Hörensagen vom Feinsten, die meisten irgendwie sagenhaft. Im Hörensagen dreht sich die Hand zweimal und ihr wird aufgetan. Vermögen erschließt, und zwar unbedingt. Darum lieben es die Philosophen. Dummkopf!
Eine Gesellschaft ist denkbar und sie wird kommen, in der unser Aderlass an Verkehrstoten und ‑krüppeln, an notdürftig wieder Zusammengeflickten und dauerhaft Geschädigten abscheulich und zutiefst unverständlich erscheint, ein scheußliches Ritual im Dienst eines beispiellosen Aberglaubens. Dieselbe Gesellschaft wird vollkommen gefühllos ihre eigenen Menschenopfer zelebrieren, sie wird ihre Angehörigen die fürchterlichsten Tode sterben lassen und nicht verstehen können, was daran falsch sein soll. Eine solche Aussage erscheint schlimm, sie ist jedoch nur analytisch. Wer weiß, was Gesellschaft bedeutet, weiß auch, dass es kein Entrinnen aus dieser Mechanik gibt. Aber es besteht Hoffnung. Die Gesellschaft fordert den Tod und sie gibt dafür Hoffnung – dafür, aus keinem anderen Grund. Deshalb ist Hoffnung immer ein Hoffen, es möge anders sein, auch sie, die Hoffnung, die fleißig dazu nickt.
Wenn Politiker holzen, verschließt sich der Wald und manch einer erinnert sich dunkel. Nur die Herzen der Buntspechte schlagen höher, sie holen heraus, was subkutan übrigblieb und erledigen so den Rest – kleine Kacker mit hoher Kopf-Schlagfrequenz, nichts kann sie erschüttern, es wundert den Betrachter, dass sie bei ihrem Tun nicht gehirnlich zu Schaden kommen.
Homomaris betritt die Bühne der Welt im Dunkeln. Wenn das Licht
angeht, sehen wir ihn damit beschäftigt, gewaltige Felsstücke in
Traufen und Trümmer in Türpfosten zu verwandeln. Aus dieser Zeit
stammt seine Vorliebe für das Haltbare. Kein Einsturz hat je seine
Bilder bedroht, eher schon die erbarmungslos vorrückende Zeit der
Enthaltung. »Gewaltig«, sagt Homomaris und räumt den Schutt
beiseite. Dieses Wort, wie es aus seinem Mund kommt, hat mich öfter
beschäftigt. Es steckt eine Anerkennung darin, die ohne Achtung
auskommt, aber der Verwechslung dessen, was für einen Menschen
erreichbar und was für ihn unerreichbar ist, keinen Raum gibt.
›Gewaltig‹ ist, was unerreichbar bleibt, obwohl es sich unter
unseren Augen vollzieht oder sich ihnen darbietet. Aber so gesagt,
unterstellt es eine Naivität, die dem Denker ganz fremd ist. Es
steckt ein ironischer Bezug darin, den man nicht übersehen darf,
ein Wissen, dass diese Taxierungen ›kulturell verankert‹ sind, nur
dass jemand vergessen hat, das Ankerseil zu befestigen, so dass
ihres Treibens kein Ende wird.
Homomaris sieht die Welt in Bildern. Das meint nicht, dass er die
Augen offen hat wie andere Leute oder sie aufhält wie ein bezahlter
Detektiv, es meint, dass er sie halb geschlossen hält und den
Bildern Raum gibt. Den Bildern Raum geben inmitten der Bilderflut
ist keine leichte Sache. Es sind nicht die inneren Bilder, die aus
dem Dunkel hervorkriechen, Wegelagerer, die in psychotischen Tiefen
auf ihre Chance lauern und einen hinterrücks überfallen, es sind
nicht die eingebrannten Abbilder einer verwerflichen Realität.
»Nein«, sagt Homomaris, »das wäre ja Zuckerwerk für Debile. Wer
den Geist ausschließt, den schließen die
Geister ein. Ich sehe sie, jedenfalls manchmal, warum, weiß ich
nicht. Ich denke, man muss sie bannen.« Er sagt das einfach, ohne
die Stimme zu heben, es ist sein ›Geschäft‹. Wäre es nicht das
seine, so wäre es das eines anderen. Aber zu sehen, was andere
unwissentlich glauben, ist keine kleine Sache.
Einer Generation, die für sich beansprucht, das Geschlecht neu
erfunden zu haben, traut man zu, auch den Tod neu zu erfinden. Aber gefehlt: die
den Tod neu erfinden, müssen im Leben von ihm besessen sein, sie
kommen nach denen, die das Leben für sich reklamierten. Da gerade
sie, allgemeiner Übereinkunft zufolge, nichts zu sagen haben,
bleibt er drin, der Tod, im geschlossenen Mund. So überschreibt die
Phalanx der Aktivisten am Ende auch ihn: mit Geschichten, wie sie
das Leben der Älteren hergibt. Gestorben wird immer, Krebs, Unfall,
Mord, dahinter das namenlose Entsetzliche, all das darf auf
darstellerische Begabungen hoffen. Darüber in kräftigen, der
Reklame entlehnten Lettern: DER UNSTERBLICHEN. Im Hühnergarten
herrschen die Regeln der Gesellschaft strikt. Dafür entfällt die
Geselligkeit – wer mit wem, das macht keinen Unterschied,
allenfalls in den Umständen und im Zeitpunkt. Auch das Ausscheiden
macht keine Schwierigkeit. Das Vertrauen in die Technik ist groß,
nur an den Rändern verläuft sie ins Ungewisse.
Kleine Blechmusik am Rande der großen Arena: der Klang lässt aufhorchen. Wo will er hin? Nicht weit. Ein paar Hüpfer und er hat sein Pensum erfüllt. Sein Pensum? Gewiss. Einer wie er denkt nicht daran, weiter zu denken, du kannst ihn aufziehen und wieder sind es die gleichen Hüpfer, solang der Grund eben ist. Eben! Hüppefips liebt die Ebene, jedenfalls bewegt er sich in ihr mit anerzogener Grandezza. Wird es bucklig, so fällt er um, zuckt noch ein paar Mal und verstummt. So allein und die Welt so groß. Dabei ist er viele, eine ganze Armee. Aber er weiß nichts davon, allein in seinem Blech, ohne Aussicht, es loszuwerden. Denn, unter uns, was käme darunter zum Vorschein? Ein paar Rädchen und Stängelchen, eine Feder und – nichts. Was jeder gern wäre, ist Hüppefips: eine ehrliche Haut.
Man führt die dampfenden Rösser der Intelligenz auf Felder, auf
denen sie sich bewähren dürfen. Man traut ihnen alles zu, aber man
traut ihnen nicht über den Weg. Man überträgt ihnen Aufgaben, denn
sie sind ›unser Kapital‹. Den mediokren unter den Intelligenten ist
es recht. Sie sehen sich auf der Habenseite des Daseins, sie sehen
es als ihr gutes Recht an, abzuschöpfen, was sich ihnen
bereitwillig darbietet. Dieses bereitwillige Universum ist eine
Fälschung. Sie täuscht gerade so lange, bis sich das
Spiegellabyrinth um die Ritter des Denksports geschlossen hat. Denn
niemand ist bereit, ihnen auch nur einen Millimeter nachzugeben –
in nichts, in allem. Dort, wo der Besitz es ernst meint, gilt
Intelligenz nichts. Also schlaumeiert sie am Ende wie andere
Besitzlose auch. Das böse Wort von den ›Freigelassenen‹ trifft sie
hinterrücks: die freigelassene Intelligenz fällt die Wände an, die
man vorsichtshalber eingezogen hat, bevor man die Ehre kappte, ein
vollständigerer Mensch zu sein.
Der Mensch, als Gerät der Armut, wird im Elend mit diesem Namen
bedeckt. Es gab im deutschen Handwerk, das so vieldeutig ist, eine
lange und dürre Beißzange dieses Namens. Es gibt allzu dünn
geratene Suppen, zu schmale und brüchige Bausteine, Latten und
Hölzer, ja sogar Schwerter und Degen, die ihrer Zerbrechlichkeit
wegen als Hungerleider bezeichnet wurden. Dies gilt selbst für die
schönen Altäre des Biedermeier aus Papiermaché. In Schmalkalden
gibt es ein Haus, es ist kein Gefängnis, das mit sechs Fenstern
übereinander bis heute im Voksmund ›das Hungerleidlein‹ genannt
wird.
Die traurige Bezeichnung gewöhnlicher und zerbrechlicher
Gegenstände mit diesem Namen, bis hin zu Häusern und Landschaften,
unterscheidet sich deutlich von ›Hungerkleidern‹, die von den
höheren Ständen seit der Zeit Karls V. am spanischen Hof und in
Österreich getragen wurden, wenn Gefahren im Anzug waren oder
überhaupt der gute Geschmack Bescheidenheit gebot. Ganz Wien trug
während der Belagerung durch die Türken klappernde Blechstücke an
Ärmeln und Hosenbeinen und ebenso bei der Beerdigung der Kaiserin
Theresia. In Totentänzen führten Skelette von Hungerleidern die
Päpste und Könige an, so dass Adolph von Zwirnbrück den Metzgern
den Verkauf von Suppenknochen verbot, hingegen die fetten Würste
von allen Steuern und Abgaben befreite. Er galt als Freidenker und
die Zwirnbrückner Speckseiten lange als Bargeld, jedenfalls so
lange, bis einige Bürgerinnen so umfangreich waren, dass man zwei
Seitentore der Stadt, fette Hennen genannt, erweitern musste. Erst
im Dreißigjährigen Krieg schwanden dergleichen Üppigkeitsgesetze,
die dem Ziel einer protestantischen Aufhebung des Hungerleidens per
Edikt gegolten hatten. Es ist wenig bekannt, dass die Sekte der
Sociaalmaatschapisten in den Niederlanden Bismarck bewogen haben
soll, in Preußen das Rentenrecht einzuführen. - PM
Die Hungerleiderei nach dem Unendlichen gerät ins Abseits, sobald
das körperliche Hungern keine existentielle Erfahrung mehr
bereitstellt. Doch so wenig Sattsein bedeutet, den
Hungermechanismus überwunden zu haben, so wenig verschwindet auch
der Unendlichkeitshunger. Er maskiert sich, das ist wahr, er wirkt
spielerisch, dilatorisch, nostalgisch, er vermittelt auf jede
erdenkliche Weise den Eindruck, dass es ›heute‹ im Ernst um andere
Dinge geht, er hält sich zurück wie jemand, dessen Kräfte nicht
ausreichen, um im Vordergrund, vor großem Publikum zu agieren.
Belächelt zu werden, ist seine Weise zu überleben, und er würde in
dieser Hinsicht weniger auf sich nehmen, wenn es ihm nicht ernst
wäre, wenn er über Alternativen verfügte. Eine unsichtbare Macht
drückt ihn gegen die Wand und er hält still, solange dieser für ihn
fatale Augenblick anhält.
Wer glaubt, ihn besiegt zu haben, täuscht sich, eine solche Macht
ist unbesiegbar.
Auf der Hungerleiter ist Platz für jeden, den es nach mehr dürstet. Vermutlich kommt im Leben eines jeden Menschen der Zeitpunkt, zu dem er sich sagen muss: »Es ist alles gesagt. Was noch kommt, ist Wiederholung, matter, löchriger vermutlich von Mal zu Mal. Am besten wäre es zu schweigen und anderen das Feld zu überlassen. Welches Feld? Welches Feld, frage ich Sie. Ja, ich frage Sie, da Sie gerade vor mir stehen und nicht daran denken, mir Platz zu machen. Woran denken Sie überhaupt? Mich hungert, mich dürstet nach Fortkommen und Sie stellen sich mir in den Weg. Sie glauben, ich hätte Zeit? Weniger als Sie denken. Könnte ich über Ihre Zeit verfügen, wäre ich froh und glücklich, meinetwegen dürften Sie hier stehen bleiben, bis Sie schwarz werden. Aber so ist es nicht. Mein Fortkommen ist nicht gesichert und Ihres... Schämen Sie sich nicht? Sehen Sie nicht die Hungerleiter, den Jakobsweg ins Weglose? Was sehen Sie überhaupt? Wozu wurden Ihnen zwei Augen in den Kopf gesetzt, abgesehen vom Rest, auf den es Ihnen offenbar ebenso wenig ankommt? Ankommen, ja, angekommen sein, das möchten Sie, doch ich verspreche Ihnen: Daraus wird nichts. Niemals und nimmer. Unter uns, es kommen immer neue Leute, sie wähnen, sie seien angekommen, machen Sie sich nichts vor, es sind Dummköpfe von gleichem Format wie Sie, aber immerhin, es sind Hungerleider, sie wollen erst satt werden, das haben sie Ihnen voraus. Sie hingegen glauben satt zu sein – wo hat man das jemals gehört? Wäre es an mir, Ihnen die gebührende Strafe aufzubrummen, ich ließe Sie die Hungerleiter auf- und abfahren, auf und nieder, kaum angekommen, müssten Sie umdrehen und wieder nach unten stürzen, schweißtriefend, voll Angst, unten etwas zu versäumen, wo Sie doch oben sind, hören Sie, oben! Der Oberen einer! Aber, wie gesagt, voll Angst, unten etwas zu versäumen.«
Hungernde Nationen verhalten sich anders als solche, die den Hunger
nicht kennen, sie hegen andere Gedanken. Das ist die unsichtbare
Linie, die den Westen von seiner Vergangenheit trennt, wobei, wie
die Statistiken sagen, im Kernland des Reichtums bereits wieder
kräftig gehungert wird. Es gibt einen Hochmut gegenüber den eigenen
Vorfahren, der sich nur mit gutem Essen erklären lässt. Diesseits
der Grenze ist alles Spiel, Muskelspiel inbegriffen, Posthistoire,
freies Spiel der Kräfte, Auswechselbarkeit der Führungsfiguren und
das, was man im Deutschen neuerdings Governance nennt, also
Verwaltung. Jenseits – die seltsamen, schwer verdaulichen Lektionen
der Geschichte, die Harakirizone der Gebildeten. Zerstört wird die
Grenze durch Gier und das Schnöseltum von Regierenden, die just
dann anfangen, sich sicher zu fühlen, wenn sie nachdenklich werden
sollten. Die Saturiertheit tötet sich, wie ein römischer Patrizier,
selbst. Über den Hunger kehrt die Geschichte nach Europa zurück,
sie hat ein bisserl pausiert, aber es geht schon wieder.
Wer ein Weltall kennt, kennt sie alle, wer einen Urknall zulässt, lässt viele zu – das ist schwer von der Hand zu weisen oder wäre es, wenn es nicht reines Analogiedenken bliebe. Das Zulassen ist eine Form des Ausgrenzens, weil das Gleichartige gleichgültig bleibt und vor allem: draußen. Das Universum ist schließlich das Universum. So dachte man über das Atom, solange man am Wort klebte und es für unteilbar hielt. Das Universum könnte sich – was? – mit anderen teilen? Undenkbar, ein Unsinn, ein wirklicher Unsinn. Das Universum ist das Universum, weil es alles umschließt, was wir zu erkennen vermögen. Aber sollte es sich um eine Sonderform handeln, in jenem Hyper-All, in dem die einzelnen Weltalls koexistieren, so könnten andere Formen so sehr von ihm differieren, dass ihre Interferenzen mit ihm unbemerkt blieben, weil ein einfaches Denkverbot sie annullierte. Man muss das All als singulär und umfassend konstruieren und kann es nicht, weil das Denken keinen Grund dafür bereitstellt außer der Magie überkommener Begriffe, die zu den gängigen Theorien passt wie ein Holzgriff zu einem Raumschiff. Das All ist All wie das Atom Atom ist. Ein Urknall für alles – das ist Monotheismus der Materie, eine Schöpfungslotterie, bei der, wer als Gewinner dasteht, schon bald als Verlierer enttarnt werden kann. – Nun, sagt A., warum sollte es in Raumschiffen keine Holzgriffe geben? Bestimmt gibt es sie, wer daran zweifelt, hat bald keinen Zweifel mehr übrig und muss zurück auf Position 12c.
Die Herrin des Yagir, nach einer erfolglos verlaufenen Sitzung des gemeinsamen Rates der Bruderländer vor die Kamera tretend und gefragt, wie sie ihre Position gegen den Widerstand aller Kollegen behaupten wolle, zeichnet in die klirrende Luft eine ansteigende Hyperbel: »Das ist ein Lernprozess. Lernprozesse pflegen nicht linear, sondern in geometrischer Progression zu verlaufen.« Katzbuckelnd entfernt sich der Fragesteller. Der Zuschauer, halb zusammengesunken vor seinem Bildschirm, begreift den festen Entschluss der Dame, lieber an dieser Wand aufzulaufen als zur Seite zu gehen, um den Weg fortzusetzen. Und er sinniert darüber, welcher Weg nun der rechte sei: der in den Abgrund, sofern er sich oben zeigt, oder der in den Rachen aller Lästermäuler, die immer schon wussten, dass kein Hals sich schöner dreht als ein Wendehals.
Es fällt auf, dass unter den Autoren des 20. Jahrhunderts, bei denen man mit einem ausgeprägten, vielleicht sollte man sagen: besonders hochgezüchteten Ich-Faktor rechnen muss, die Rede von der ›Pluralität‹ des Ich grassiert, von den vielen kleinen Ich-Maschinchen, die das eine Ich zum Kollektivsingular degradieren oder erhöhen oder allenfalls als Theatermaske bestehen lassen. Sicher, so kann man reden, auch wenn die Maschinen-Rede immer ein großes Fragezeichen verdient. Doch berührt das gar nicht die Frage der Bestimmbarkeit jenes seltsamen Ich, das aus allen Maschinen-Zuschreibungen gewissermaßen unberührt hervorgeht. Der Ich-Kern inmitten der Bestimmungen, in denen wir uns wiederfinden, bleibt plastisch, bildbar, Quellpunkt aller Bildungen; er geht in sie ein, ohne mit ihnen zu verschmelzen. Daraus folgt jedoch, dass jede Bestimmung, unter der ›wir‹ uns wiederfinden, dem Ich äußerlich bleibt – unter der Voraussetzung, dass diese Äußerlichkeit nicht-kontrastiv gedacht wird, dass sie dem Ich-Sagen nicht im Wege steht und extra durch Negation beiseite gebracht werden muss. Wer ›Ich‹ sagt, muss weit ausholen, zumindest dann, wenn er es reflexiv meint und sich nicht einfach seinen Weg durchs Leben bahnt. All jene Ich-Ecken und -Kanten, die meist geltend gemacht werden, um das Ich-Sprechen gegenüber der ›objektiven‹ Sicht der Dinge zu unterfüttern, erinnern ein wenig an die Nischengesellschaft der DDR, in der die Staatsmacht angeblich so weit weg und doch wiederum so erstaunlich nahe war, dass die vielen kleinen Nischen einander wie ein Ei dem anderen gleichen konnten. Wohl deshalb auch lässt sich dieses Ich so gut aus dem Katalog der Sehnsüchte (und der Warenhäuser) möblieren.
Das Ichsagen ist keine Passion, sondern ein Vorstoß. Ob er gelingt,
hängt von Faktoren ab, die sich nicht durchgängig kontrollieren
lassen. Einmal ist es die Stärke des Widerstandes, ein anderes Mal
die Widerstandslosigkeit, das Bodenlose, das ihn scheitern lässt.
Immer aber bleibt das begleitende Bewusstsein, sich auf einem
Gelände zu bewegen, das von geheimen Drohungen der Gegenseite
durchzogen ist. Man kann die Stadien der Moderne als Schübe
betrachten, in denen die Scheu vor dem Ichsagen mit immer neuen
Mitteln und unter jeweils anderen Vorwänden überwunden werden
sollte. Das kleine Ich großsagen, das ist eine Frechheit, auf
die keine Strafe folgen darf, wenn Moderne sein soll. Descartes’
›Ich denke‹ ist eine Weise, es großzusagen, das transzendentale
Subjekt Kants und das Ich Freuds wurden erfunden, um es gegen die
Unbill eines raffinierteren Denkens und die Anschläge seiner Feinde
abzusichern, was insofern misslang, als beide alsbald auf den
Altären der Wissenschaftslehre und der Gesellschaftstheorie
geopfert wurden. Am Ende überwiegt das Gefühl des Ungehörigen und
kassiert die Vorstöße, um die Erinnerung an sie zu bewahren, so wie
der Mythos die Schicksale der Iason und Niobe aufbewahrt.
Die Ideen sind krank, wer möchte sie beschützen? Die Frage erhebt sich am Rande eines schwarzen Lochs in einem mittleren Universum, das seine Erfolge einem ausgeklügelten Bildungssystem zuschreibt, denn es weiß sich arm an Rohstoffen. »Wir müssen unser Universum als Schicksalsgemeinschaft begreifen, bevor es zu spät ist.« So steht es in dem Papier, das die Teilnehmer der Konferenz am letzten Tag zu unterschreiben gedenken, denn sie wollen nach Hause und das Loch zu ihrer Rechten erweckt Unbehagen. Zu Recht! Die Ideendrift, die vor niemandem Halt macht, ist in vollem Gang und ihre Wirkungen müssten jeden aufmerksamen Beobachter auf der Stelle entgeistern. »Unscharf denken!« fordern Plakate, an denen vorbei die Delegierten ihre Plätze einnehmen, »nur so können wir dem Schicksal entrinnen.« Einige Delegierte, vom schiefen Adel gezeichnet, den die Geburt in einem begünstigten Sonnensystem verleiht, ahnen, dass es kein Zurück mehr geben wird, sie sehnen sich nach dem Dampfschiff und da ist nur der wolkenlose Azur.
Wettlauf der
Konstrukteure. - Konstruierst du mich, so konstruiere ich
dich – so läuft das Spiel. Keiner konstruiert seine ›persönliche
Identität‹, das Ich bleibt immer zurück oder außen vor. Es
separiert sich, es ›bedeutet‹ nichts, es lebt verschattet, es lebt
von Bedeutungen. Warum das wichtig ist? Weil es zertreten werden
kann und Theorie noch immer der Erste Zertreter ist.
Zum Teufel mit der Identität – irgendeine wird sich schon finden. Identität hat eine Geschichte und speist sich aus vielerlei Quellen. Das ist insofern bemerkenswert, als viele sagen: Identität ist Identität, als wollten sie sagen: ich bin ich. Sie wollen damit ja nicht ihr besonderes Ich zum Ausdruck bringen, die Kindheit, die es geformt hat, die zehn stärksten Erfahrungen auf den üblichen Feldern, von denen es zehrt, eher wenden sie sich gegen den Prägehammer, mit einer leicht bittenden, leicht trotzigen Gebärde. »Bitte präge mich nicht«, heißt diese Gebärde, »präge mich nicht immerfort weiter, ich bitte darum. Eigentlich möchte ich so, gerade so, wie ich jetzt bin, nur ein bisschen dahinleben, ein bisschen länger, wenns geht, als andere Leute, ein bisschen kürzer als jene, die schon zu lang leben, jedenfalls sagt mir das ihr Blick, auch wenn sie anschließend anders reden.« Es ist eine Frage der Berufung. Man wird berufen und abberufen, man versucht einem Ruf Folge zu leisten, einem Lockruf zum Beispiel oder einem Wink des Schicksals, dem man besser nicht nachgehen sollte, Schicksal hat etwas Gefährliches.
Aber man kann sich nicht immer fernhalten. Man will es auch nicht. Manche Winke stammen direkt aus den Ursprüngen der Identität. Es kommt nicht darauf an, wie man ist, sondern aufs Durchkommen. ›Durchwursteln‹ zum Beispiel ist so ein Wort: wo die Passage eng wird, formt sich der Mensch zur Wurst, er würde auch jede andere Form annehmen, je nach Durchlass. Dieses Wursthafte lässt sich gut an Menschen studieren, von denen die Mitwelt sagt, sie seien erfolgreich, das geht oft bis ins Detail der äußerlichen Erscheinung. Aber man täuscht sich schnell. Die geschmeidigsten Würstchen wirken alert und proper und die Menschen lieben sie. Das ist leicht zu erklären: wer täglich zu Brei verarbeitet wird, der wünscht sich nichts sehnlicher als eine Haut, in der viele Menschen gern stecken würden. Eine Haut, die jede Füllung lächelnd wegsteckt – den Schmutz der Seele, die Trostlosigkeit der Gedanken, die Gnadenlosigkeit der Organe und vor allem die nächste Verwurstung. Rette deine Haut: aber wie? Aber wann? Aber wo? Und ist sie die deine? Bist das, was dich zusammenhält, du? Wer bist denn du? Dich wollen wir haben, denkst du, während wir dich vergessen. Zustimmung ist ein Ausdruck des Vergessens, wusstest du das nicht? Du bist gut, geh deiner Wege. Wir beneiden dich, also geh. Und wenn du schon gehen musst, zieh bitte den Karren ein bisschen weiter. Wir leben hier im Schlamassel, davon verstehst du nichts, dreh deine Pirouetten, aber sei kein Klugscheißer.
›Idiotes‹ (ἰδιώτης) hieß in der Antike derjenige, der sich gegen die Gesellschaft abschließt und sein eigenes Maß lebt. Das hat sich umgekehrt. I. heißt die Insel, auf der die Gesellschaft Urlaub macht – Kultur inklusive. Wer sie googelt, dem fallen die Augen aus dem Kopf. Ab unter den Teppich! Das nennt man: betretene Blicke.
Die These ist vielleicht nicht zu gewagt: Mit der westlichen Idolisierung der
Frau ist es für die nächsten Jahrhunderte vorbei. Noch
schlagen die Wellen der Propaganda gleichmäßig an den Strand, doch
da sitzen keine notorischen Bräuner mehr, Bulldozer ziehen ihre
Spur durch den Sand und türmen Hügel auf, die ahnen lassen, dass im
nächsten Frühjahr andere Formen des Auslaufs zu gewärtigen sind.
Die Heiligsprechung des ›anderen‹ Geschlechts im Namen einer
antizipatorischen Ideologie war, wie die vorangegangener
historischer Fackelträger, ein Flop: soviel versteckte, soviel
›durchaus‹ aktiv betriebene allseitige Aushebelung von...
Gerechtigkeit hätte niemand erwartet. Niemand? Als ob hier nicht
alle Karten gezinkt wären – wo alle erwarten, sind automatisch alle
Erwartungen im Spiel und die lautlosen wollen den Vorteil pur. Der
Gedanke, dass jedes System seine Gewinner und seine Verlierer
besitzt, liegt nahe und wird deshalb von vielen ergriffen, weil sie
ihn für eine Waffe halten, mit der sich aufkommende Unruhe bändigen
lässt, aber eine Woge lässt sich so nicht aufhalten, sie geht über
die Köpfe hinweg, vor allem, wenn sie sich rechtzeitig ducken. Das
System... jedes System verfügt über seine geheimen Hebelchen, von
denen sich das approbierte Denken nicht träumen lässt, weil es die
Beobachtungsfähigkeit der Menschen aus systemischen Gründen
unterschätzt. Es gibt eine subkutane Wirksamkeit der passiven
Existenz, die sich nicht erst auf lange Sicht, sondern als Wand in
allen Verhältnissen bemerkbar macht: als Wand der abgeschnittenen
Möglichkeiten, der sich willkürlich begrenzenden Phantasie, der mit
Vorsatz missbrauchten Sprache und einer schweigend sich erhaltenden
und fortpflanzenden Alterität des Wollens und Wünschens. Diese
Wand, in Bewegung gedacht, ist die Woge, die durch alles
hindurchgeht. Man sieht sie nicht, man spürt sie nicht, aber man
nimmt sie wahr.
Die Old Europeans finden die New Europeans nicht sehr prinzipienfest, jedenfalls in Sachen politischer Kultur. Kaum mit den Institutionen der Freiheit gesegnet, suchen sie ihr Heil in der Freiheit von den Institutionen – des Brüsseler Molochs natürlich, soweit das finanzielle Füllhorn darunter nicht leidet. Die New Europeans sind eine Erfindung der neuen Welt, in Westeuropa nennt man sie etwas pauschalisierend Osteuropäer, während sie selbst Europas Mitte für sich beanspruchen. Recht haben sie, geographisch gesehen, ganz recht, aber viel nützt es ihnen nicht – West bleibt West und Ost bleibt Ost. Europa, das heißt der Teil Europas, der sich Europa nennt, ist das alte nicht mehr, es hat aber kein anderes und seine Bauchredner finden, die alten Zeiten würden überbewertet. Und die neuen? Im neuen Europa halten die alten Europäer verbissen Ausschau nach den neuen Europäern, die ihnen schmackhaft gemacht wurden, aber vorderhand nirgends in Sicht sind. In der Zwischenzeit strömt viel Volk zu, das nur Europas Bestes will, Geld, Arbeit, Konsum, die einen Geld, die anderen Arbeit, wieder andere den Konsum: eine erhabene Bürokratie nennt diese Menschen, Strandgut der Globalisierung, um die Verwirrung zu komplettieren: Neueuropäer. Alteuropäer kommen, zumindest in Europa, nur spärlich vor, die letzten hauchten, schenkt man den Schülern Kosellecks Glauben, im Gefolge der Französischen Revolution ihr kostbares Leben aus, das war 1789, also schon ein hübsches Weilchen her. Eine radikale Minderheit unter den Gemeineuropäern stellen die guten Europäer – sie sind die Vorhut Europas, wie es noch keines gab. Man könnte sie ruhig unbedeutend nennen, hielten sie nicht praktisch alle Posten besetzt, die der alte Kontinent, soweit gehegt, seinen Hütern zu bieten hat. Alle anderen sind so ungefähr, was sie schon immer waren – Franzosen, Belgier, Ungarn, Polen, Luxemburger, Vatikanstatisten, It-…, It-… – und wollen es, wie es scheint, durchaus bleiben, solange die Neueuropäer noch nicht die Regie übernommen haben. Vor letzteren haben alle ein wenig Bammel. Nicht wenige verstehen sich, zum Erschrecken derer, die, auch im Kopf, schon länger hier leben, so ganz und gar … anders, dass manche Gerichte lieber das Wort verbieten, als den Tatsachen Rechnung zu tragen. Zum Glück verstehen die meisten Menschen sich selber nicht, das hilft, sich mit dem Nachbarn zu verstehen, sogar in der Fremde. Denn mit dem Verbot eines Wortes ist es selten getan. Ein Wort gibt das andere und alle wollen verboten sein. Langsam gehen Europa die Worte aus, die alten aus Unkenntnis, die neuen aus dem berechtigten Bedenken, es könne an ihnen etwas dransein – igitt. »Igitt«, krächzte Rabe – es war nicht Odins Rabe, aber vom Alter her kam es aufs gleiche heraus –, er krächzte noch lange, während der Stumpf, auf dem er saß, langsam wegfaulte. Er war nicht blind, er war nicht einäugig, er konnte nur nicht nach unten schauen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, deshalb blickte er starr geradeaus und versuchte sich vorzustellen, er fliege.
Ildefondo war ein großer Held. Er betrieb eine Hundezucht für den
Hades und ließ sich zur Erprobung ihrer Wut an allen beseelten
Stellen seines Körpers beißen. Um den grässlichen Schmerzen
standzuhalten, pries er heulend die lange vergessenen Götter der
Unterwelt und lobte ihr Wissen um Schuld und Sühne. Dabei glichen
die hellen Töne der Transparenz eines Schmelzofens im Bereich der
Titanen, wenn das flüssige Gold sich rötet, in ihren Tiefen aber
den Feuersbrünsten in Akkon, als die christliche Ritterschaft,
neuen Gestirnen opfernd, den Tempel des Hephaistos-Stupidides in
Brand steckte. Ildefondo starb, von Wunden bedeckt, unter dem
Sternbild der Krone im Kynokephalus. - PM
Nichts verzeiht die Luhmann-Gesellschaft schwerer als unverstellte Äußerungen persönlicher Ruhmsucht: das trifft die Poeten unter den Schriftstellern, die nicht billig genug sind, das Geldverdienen als Quelle ihres Selbstwertbewusstseins gelten zu lassen, ins Mark. Ein wenig Menschheitssauce muss dabei sein, die Kämpfer-Attitüde sagt zunächst und vor allem, ich bin nicht allein, ich bin einer von euch, falls ihr die richtigen seid, was ich zu euren Gunsten einmal annehmen will. ›Nehmt mich, ich komme nicht weiter in Betracht, es ist ganz belanglos, was ich da schreibe, es sei denn, in euch wird es zur Waffe. Reden wir nicht von mir. Ich hatte eine schwere Kindheit, aber gegen eure gehalten ging es mir gut. Wenn ich von mir rede, dann nur euretwegen, in Wahrheit rede ich von euch, immer von euch.‹ Nein, es schickt sich nicht, das Selbstbewusstsein eines Aretino zur Schau zu stellen. Es wird hart geahndet, werʼs versucht, wandelt als Toter unter den Lebenden, schlimmer, als einer, der nie gelebt hat. Es nimmt daher nicht wunder, wenn einer, der es nicht lassen kann, zu der Überzeugung gelangt, er wandle Wasser zu Wein, während es sich doch gerade umgekehrt verhält und aller Wein, den er ausgeben könnte, als Wasser den Hügel herunterläuft. Die schärfste Waffe der Gesellschaft gegen ihre Ausreißer ist das Befremden – das willkürliche Schwernehmen dessen, was leicht gesagt ist, knochenharte Ironiefestigkeit und jenes fatale ›Was soll denn das?‹, an dem alle ungleiche Ambition zerschellt. Wer die Selbsterhöhung im Wissen um die Wirksamkeit dieser Mechanismen betreibt und geduldig zusieht, wie sein Leben verrinnt, muss ein Blinder sein oder ein Großer. Zumindest darf er sich selbst das alle Tage sagen, weniger deutlich allerdings mit dem Zusatz, dass die Frage, die daraus entsteht, unentscheidbar ist, jedenfalls für ihn selbst. Es bleibt ihm daher nichts anderes übrig, als sich als Medium entwerfen, den Blick auf eine kommende Menschheit gerichtet, deren Urteil freier, genauer und wissender sein wird als das der gegenwärtigen – also auf den Weltgeist, falls er zufällig Hegelianer ist oder eine alte Liebe zu diesen Formeln bewahrt hat. Aber nicht die Welt wird der Rufer in der Wüste für sein Dilemma verantwortlich machen, sondern das Kollektiv, um dessen Anerkennung er buhlt, also die Nation. Wäre die Nation frei, sie würde ihm freudig zustimmen. Da sie mit Blindheit geschlagen scheint, scheint es vernünftiger, sie in Ketten zu denken: versklavt, verdummt, kopf- und ideenlos, ihrer historischen Sendung ledig. Platons Höhlengleichnis spukt in diesem Modell, es zuckt hier und dort und reißt an den verhandelten Gegenständen, so dass sie einen Zug ins Skurrile bekommen, obwohl sie doch menschlich sind und sein sollen. Die Höhle lebt, weh dem, der Höhlen birgt, könnte man über diese Texte schreiben, doch der Autor kommt einem mit dem unvermeidlichen »Die ihr hier eintretet, lasset alle Hoffnung...« zuvor und ist schon fertig.
Eine besondere Art des →Dachschadens. Eine Impfung z.B., die
massenhaft Schäden verursacht, ist die Impfung mit Gedanken. Sie
müssen nicht falsch sein, diese Gedanken, es liegt an der
Wiederholschleife, wenn sie Schaden anrichten. Das Denken, begierig
nach Wiederholung, solange es nicht begriffen hat, reagiert
allergisch, wenn die Botschaft längst ankam. Es ist die
Dauerberieselung, die dann die Fragen aufwirft. Warum machen die das?
Was steckt dahinter? Wer sich solchen Fragen nicht stellt, wird
krank. Impfungen etwa, die keinerlei Nutzen abwerfen außer dem
Profit, aber massenhaft schaden, werfen Fragen auf. Werden sie
unterdrückt oder stigmatisiert, werfen sie Antworten auf, von
denen die Wohlmeinenden hofften, sie müssten nie gegeben werden,
weil sie so einfach sind und das gesellschaftliche Gewebe zerreißen.
Unter allen Formen der Tyrannei ist die des Profits die
fratzenhafteste, weil sie so unnötig ist und sich mit Sicherheit
selbst zerstört, während sie doch in alle Ewigkeit fortbesteht.
Kein Wort ist so in Verruf geraten wie dieses. Erstaunlich, denn
gebraucht wird es nach wie vor. Welchen Sinn machte sonst das
Außen? – Es hat es aber auch zu bunt getrieben, dafür wird es hart
hergenommen. Im Innern
vergraben – das ist so eine Phrase, vor der sich die Leute
fürchten, als müssten sie dort ihr eigenes Grab schaufeln und es
mangelte ihnen an allem, vor allem an Zustimmung zu einem solchen
Unterfangen. Auch wüssten sie nicht, wo beginnen. Wo soll es sein,
dieses Innen? Und wenn man es fände, läge man dann schon drinnen?
Der Satz, Hölderlin sei nun genügend interpretiert, interpretiert
sich selbst, aber auf überraschende Weise. Hölderlin, befragt,
wüsste dazu nichts zu sagen. Das Genug! des Interpreten gilt ja nicht
einem Autor, es gilt dem eigenen Wahn, der nun durch Augen und Mund
nach außen tritt, nachdem er lange den Weg durch die Poren nehmen
musste. Nie wieder schwitzen um eines Gehaltes willen, von dem die
Interpretierten, armseliges Gewürm, nur hätten träumen können. Als
Rentner des Geistes kann so einer den Stoff entbehren, den er lange
kneten musste; im Alter beginnt er, sich die Hände zu säubern.
Mani puliti! Nicht, dass
er sich jemals durch Auslegung hervorgetan hätte, das haben andere,
die sein Scheelblick verfolgte, nein, dass er die Gedanken der
anderen als die eigenen ausgeben musste, ganz Stand der Forschung,
das macht ihn jetzt, da er mit allem durch ist, zu einer Instanz.
Er hat erfahren, wie wenig an alledem dran ist, wie wenig es das
Gehirn zu Gedanken zu bewegen vermag und wie wenig den Menschen zu
Taten – er hat das Drama der Vermittlung durchlebt und hält es für
das Drama des Geistes. Alles sinnlos! Das Alter träumt von
Arbeitslagern für Wissensvermittler, vom harten Weltstoff, der die
Regale füllt, auf denen eben noch das Gewebe der Verse ein
schalkhaftes Eigenleben führte, es wüsste, wo es die Schlüssel in
dem großen, kühlen Büro verwahrte, ließe man es noch hinein, aber
es hat Vertrauen in die Nachwelt und hält sich durch Reisen
schadlos. Die gereinigten Hände... in Unschuld... sie beenden die
christliche Epoche, die in jenen anderen begann, zupfend:
vorsichtig, beim leichtesten Widerstand stockend, ausweichend,
weitergleitend. Gedankenverloren, das ist so ein Wort, ein
seltsames Wort, ein Wort für Seltsamkeiten, die sich wegheben. Der
anämische Versuch, die Bücher über einer Faszination zu schließen,
die realer ist als man selbst, gemahnt an die Idee, den
homo novus als
Tischvorlage ›durch‹ zu bekommen. Hauptsache durch!
Genrebild aus den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts: Die
Intellektuellen und die Gesellschaft, aufgeteilt auf verschiedene
Räume, zwischen beiden eine verspiegelte Scheibe, die den Durchblick
nur in eine Richtung gestattet, den Einwegblick; man sieht, seitens der
Gesellschaft, die Intellektuellen rauchend auf hohen Stühlen, Tafeln
schwenkend, die sie zuweilen mit gesetzgeberischer Miene gegen die
unsichtbare Gesellschaft emporrecken. Niemand kann diese Tafeln auf der
anderen Seite entziffern, wo man sich wie vor einem Schaufenster
drängelt, im lauten Buchstabieren übt und gegenseitig Brocken von
Gelesenem und Erratenem zuwirft, von Erratenem oder Geargwöhntem, um
genau zu sein. Manchmal brechen Rufe aus der Menge hervor – Hoch- oder
Drohrufe, das ist schwer zu entscheiden –, während die Intellektuellen,
sich offenbar gegenseitig mit Schmähungen tiefreichender Art
bedenkend, in immer rascherem Tempo die Zeichen auf den verschiedenen
Tafeln löschen und gegen andere auswechseln. Ein Vorgang, der sie
gleich Puppen mit mechanisch wirbelnden Gliedmaßen in eine Bewegtheit
versetzt, die den Bereich zweckhafter Abläufe weit hinter sich lässt,
so dass die Menge, deren Faszination zunächst zu wachsen scheint, sich
allmählich, zunächst unwillig, dann mehr und mehr gleichgültig, erst
grüppchenweise abwendet und schließlich ganz zerstreut. Nur ein paar
Kinder bleiben und drücken sich an den freigewordenen Fensterflächen
herum, sie haben einwärts gekehrte Blicke und bohren sich in den Nasen.
Der Intellektuelle ist der Mensch, der durchblickt – woraus bereits erhellt, dass es sich um eine ausgestorbene Spezies handelt. Der einzige mit Durchblick unter den Heutigen ist der Börsenjongleur, und der kann gewaltig danebenliegen. Alle anderen sind Narrativwütige, Narrativgläubige, Narrativgeschädigte – in dieser Reihenfolge, es geht aber auch andersherum. Der Abgang der Intellektuellen von der weltpolitischen Bühne vollzog sich mit einem Knall, gefolgt von einem Seufzer. Ein paar von ihnen wurden nach dem Ende des sogenannten Sowjetreichs mit Tschingderassa und edlen Worten außer Dienst gestellt, ein paar gemeuchelt, der Rest verp… sich, als habe es ihn nie gegeben. Was aus ihnen geworden ist? Gute Frage. Wir wissen nur, wer ihr Erbe antrat: die Journalisten. Im Rausch ihrer neuen Würde begingen sie nacheinander alle Fehler im Schnelldurchgang, denen die Intellektuellen im Lauf der Jahrhunderte erlegen waren – mit dem Ergebnis, dass die Stelle des Intellektuellen gegenwärtig wieder vakant ist. Bewerbungen gibt es genug, aber sie werden nicht angenommen. Warum? Also noch einmal von vorn. Was dem Intellektuellen den Durchblick verschaffte, war seine Abneigung gegen die hergebrachte Religion und der kühne Entwurf einer neuen, auf reiner Skepsis gegründeten: dieses Programm hat sich, soweit die Spuren des Christentums reichen, fürs erste erledigt. Die neuen Religionen leiden, wie bekannt, unter einem Verpuffungseffekt. Das war und ist, auf Dauer gesehen, schlecht für jeden, der sich in diesem Geschäft tummelt. Man könnte auch sagen: Wer sich allen Ernstes auf den Posten bewirbt, besitzt ein Intelligenzproblem. Und das ist ganz ganz schlecht – für ihn und für jeden, der seiner Rede einen Rest von Glauben schenken möchte. Was also tun? Der neue Intellektuelle, so es ihn geben könnte, müsste schweigen können. Er müsste so beredt schweigen können, dass sein Schweigen als Mitteilung alle anderen aufwöge, so dass man unwillkürlich auf ihn hörte. In einer Welt, in der alle von etwas anderem reden, erscheint das schwer, aber nicht ganz unmöglich. Sagen wir so: Wer immer gelernt hat, mit Worten zu schweigen, dem sollte das Schweigegitter, das über der Welt hängt, nicht ganz unvertraut sein.
»Man hält gewöhnlich für Intelligenz, was in Wirklichkeit nur
fruchtbare und brillante Dummheit ist.« Das schreibt der deutsche
Verlag auf den Schutzumschlag eines der Bücher
Alberto Savinios, des Bruders von
Giorgio de Chirico. Man kann
auf andere Weise mitteilen, was man von seinem Autor hält, aber so
geht es auch.
Die Nachwelt schuldet den Millionen ermordeter Kulaken eine
Interpretatio rustica der
Geschichte. Das ist nicht leichthin gesagt und es erschöpft sich
nicht im obligaten Aufarbeiten dessen, was einmal gewesen ist. Kein
Bauer hat je öffentlich die Schlüsse gezogen, die nötig gewesen
wären, um den bäuerlichen Verlauf der Geschichte zu skizzieren und
gegen die hochfahrenden Pläne der Mächtigen oder zur Macht
Gezogenen aufzurechnen, und sollte es einen gegeben haben, so gab
es selten jemanden, der ihm zugehört hätte. Dennoch klingt die
bäuerliche Stimme klar und vernehmbar durch die Schiffbrüche dessen
herüber, was man einst Weltgeschichte nannte und heute am besten
sprachlich verhüllt. Die Leute bekunden schnell Sympathie mit
entfernten Bauernaufständen. Dabei tritt ihnen ein Lächeln ins
Gesicht, das man aus der Kindererziehung kennt. Auch sah ich es
einst zu Heidelberg, wenn der Neckar über die Ufer trat und die
feinen Karossen den Schnupfen bekamen. Aus Kindern werden Leute,
aus Bauern Agrararbeiter und schließlich Landwirte, das ist der
Lauf der Welt. Dennoch tragen wir diesen Bauern, den es nicht mehr
gibt, in uns, und manch einer trägt ihn sogar in seinem Namen. Gibt
es ihn also oder gibt es ihn nicht? Das ist eine Frage der
Anerkennung, wer darauf pfeift, verliert leicht seinen Einsatz.
Im Geschlechterkrieg befinden sich alle Kriegsparteien auf ein und derselben Seite: nicht allein in puncto Ideologie (hier vielleicht am wenigsten), auch in der Lebensführung bis hinunter zum täglichen Kampf ums Überleben. Ob diese Besonderheit zum Alleinstellungsmerkmal taugt, mögen Kriegstheoretiker entscheiden, aber sie reicht für eine Reihe von Beobachtungen, die dem einfachen Beobachter erlauben, sich selbst als Partei zu etablieren – als Partei der ›Vernunft‹, des Helfersyndroms, des Zynismus, der Häme, der koketten Identifikation mit dem Opfer, der bigotten Entrüstung, der Verachtung der Zeitgenossen und so weiter. Diese sekundären, teilweise tertiären Parteien umlagern die ursprünglichen, sie schließen den Ring um sie, nicht etwa, um den Kampf anzuheizen oder sich an ihm zu ergötzen, sondern um durch ihn hindurch ihren eigenen Krieg zu führen, angefüllt mit Vergeltungsdrang und beseelt von dem Wunsch, keinen Frieden zu geben, koste es, was es wolle, und dauere es, bis die Medien sich eines fernen Tages eines anderen besinnen sollten. Woher die Erbitterung? Warum der Aufwand? Nichts liegt näher als die Vermutung, dass hier InvalidInnen des Geschlechterkriegs aufeinander einprügeln, solange noch ein Funken Vitalität aus ihnen schlägt. Der Geschlechterkrieg, so ließe sich folgern, zählt zu den extremen Kriegsformen, bei denen allein das Schlachtfeld eine gewisse Aussicht auf gelegentliche Entspannung bietet, während das zivile Hinterland unerbittlich in Brand und Aufruhr versinkt. – Und auf welche Seite schlagen sich die primären Gegner? – Das entscheidet sich an der vertrauten Frage: »Gehen wir heute zu dir oder zu mir?«
Solange wir den Druck nicht verstanden haben, unter dem Iokaste
sich entleibt, solange bleibt dieses Stück unvollständig – ein
Scherben, an dem man sich ritzt, während man das eine oder andere
zu sehen glaubt, aber die Sonneneinstrahlung ist zu stark und das
Aufblitzen der Ränder entschärft den Blick. Vielleicht ist diese
Figur zu stark für das, was wir zu sagen wünschen und redend
vertagen. Vielleicht sollten wir von anderem reden und uns ihr
hinterrücks nähern. Vielleicht sollten wir einfach anders zu reden
beginnen – wie Leute, die mit einer Sache durch sind und nicht mehr
viel Federlesens zu machen bereit sind. Soll sie doch vor die Hunde
gehen. Wer ist überhaupt diese Iokaste? Menschen, die nicht
aufhören können, gibt es zuhauf. Besitzen sie erst die Mittel,
ihrer Schwäche nachzugehen, bis ans Ende und darüber hinaus, dann
werden sie, ganz richtig, zur Pest. Höre Ödipus, wie sonst nur
Gläubige hörten: du hast die Pest im Haus, du hast sie am Leib, du
hast sie überall, aber du bist sie nicht und du bist nicht ihr
Erzeuger. Ausgelöst hast du sie und ein Hauch davon schlägt dir ins
Gesicht. – Er ist taub, der Gute: ein Tauber. Sich am Haar der
Iokaste schneiden, das ist, das ist ... kein Verhängnis, eher eine
Dummheit.
Der kleine Prophet ist ein Prophet wider Willen. Darin liegt seine
Größe. Es schmeckt ihm nicht, wie da einer über sein Leben verfügt,
aber die Hauptsache ist etwas anderes. Er selbst ist ja dieser
andere, der kommt und geht, während er zu bleiben verspricht,
unablässig, als ginge es um nichts anderes. Das Herausreißen liegt
ihm, es liegt in ihm, in diesem unzugänglichen Selbst, dem kein Ich
nachkommt, einer fremden Macht, sehr anonym, sehr beherrschend,
sehr unstet und sehr drängend. Die Truhe, das Haus, das Kind:
lauter Interpretationen, die zugleich Beruhigungen sind,
aufgebrochen, eingeäschert, gemordet oder entführt, das Los
gezinkt, bleibt der Wal. Wer den Wal begreift, begreift auch die
Empörung des Propheten darüber, dass der in ihm angefachte Zorn
sich in den Straßen der großen Stadt Ninive verläuft – spurlos,
sozusagen, auf wechselnden Sohlen. Leider ist dieses Begreifen
nicht zu haben, unter Ausgespieenen versteht es sich von selbst und
die Münder schweigen. Andererseits reden sie ununterbrochen davon,
jedenfalls bleibt es ihrer Rede beigemischt oder unterlegt wie ein
Malgrund, ein Homomaris-Weiß, ein Wasweißich, so
könnte man es zur Not nennen. Den Tod gewinnen scheint ein
seltsames Los. Auch ist es kein Gewinn, sondern ein Verlust. Darin
liegt der leise Tadel des Blätterfalls. Das letzte Blatt fällt auf
den, der den Schatten liebt. Es könnte ihn bequem erschlagen, aber
so geht es auch.
Die Ironie – gestern zu Gast, heute wieder unterwegs wie eh
und je: was will ich mehr? Ich freue mich, wenn sie kommt, ich
spüre dieses leise Bedauern, wenn sie scheidet, aber ich weiß, dass
ich sie nie ganz vermisse: da liegt sie zwischen zwei Buchdeckeln,
leicht aufzuschlagen, ein Vergnügen, das ich mir gönne, sobald ich
mich seiner erinnere. Erinnere ich mich? Werde ich nicht erinnert?
Aber wovon denn? Da huscht es hin, es ist nicht zu fassen. Das
nicht zu Fassende selbst, welch hoher Besuch. Ironie hingegen
ist fassbar, das Inbild dessen, was nicht zu fassen ist, die
Hostie, der sich alle Häupter entgegen neigen. Alle? Ach Gott...
Beim großen Ironiefest gehen immer einige Gäste mit durch, denen
man ansieht, dass sie sich den Eintritt durch eine schicke
Maskerade erschwindelt haben. Nirgends sind sie so willkommen wie
hier, man erblickt sie auf dem Höhepunkt des Festes zur Rechten des
Gastgebers, er küsst ihnen reihum das Händchen und präsentiert sie
der Menge. Das Wort ›Beifall‹ erinnert an dieses Zeremoniell, die
Anfälligen wissen, worum es geht.
Zu den Klängen des Liedes »Gehab dich wohl, du Volk der Irren« verabschiedet sich der scheidende Präsident von seinem Volk, das ihn voll Bierseligkeit umarmt und an seine breite Brust drückt. Stark! Der Präsident, verhakt in die Klunkern, die das Volk anlegt, wenn es sich an der bleichen Herbstsonne wärmt, rühmt die herzzerreißende Szene und winkt seinen bodygards, sie mögen ihn aus der misslichen Lage befreien. Schon sind sie Gefangene des Systems. Die vergessene Fontäne beschließt, das Ihrige beizusteuern und lässt es regnen über Gerechte und Ungerechte. Es sind die Gerechten, die sich beschweren, während die Ungerechten die Schuhe ausziehen und nackten Fußes ein Referendum herbeifordern. Zu welchem Zweck? Fällt der Abschied so schwer? Warum herbei? Warum nicht heraus? Der Präsident, noch im Amt, schwankt, doch der Abschied, einmal vollzogen, biegt seine Nerven nach rechts und links, aufrichtig ist nur der Wunsch zu entkommen. Das Referendum erscheint, wirft Sprengkörper in die Menge und erklimmt die Stufen der Akademie. Was will es dort? Die Menge jauchzt und bewaffnet sich. Ein paar Ausländer werden johlend erkannt und außer Landes gejagt. Erkenne, was vorgeht! Erkenne dich selbst! Genug ist nicht genug. Warum sagt einem das keiner? Was stehen die da herum? Sind sie schwer von Begriff? Was geht es die an, wenn das Volk den Ernst der Lage begreift? Der Präsident, der nichts begreift, wandelt sinnenden Hauptes hin und her, auf und ab. Er erwägt das Exil. Im Exil soll es warm sein. Ein warmer Regen. Ist das ein Witz oder Irrwitz? Die Minister, sieht er, sind schon gegangen. Jetzt geht das diplomatische Korps. Mit wem soll er fernerhin sprechen? Soviel versteht er: Das Land ist in keiner guten Verfassung. Den Leuten fehlt es am Glauben, dem Glauben fehlen die Leute. Er fehlt ihnen, sie hätten ihn gern zurück. Ganz ehrlich. Nur der Glaube verweigert sich. Einmal zerronnen, immer entzweit. So sieht es aus. Er wollte sie glauben machen – verschwendete Zeit! Und jetzt? Ein Liebesdienst für die Seele! Ein Glas Wasser für den Leib! Ein Schluck Whisky für den Glauben! Ein Abendmahl für den Verstand! Eine Initiative für alle, die reinen … wie hieß das gleich? Ein Anruf für den Präsidenten – da rauscht er hin.
Der militante Islam hat erreicht, wovon Sekten ansonsten nur träumen: das perfekte Freund-Feind-Verhältnis zur umgebenden Welt, in dem die vermittelnde Rede erstirbt, weil es nichts zu vermitteln gibt. Aber wer hat erreicht, dass es soweit kommen konnte? Der militante Islam muss mächtige Förderer haben – und keineswegs nur unter Muslimen. Recht besehen, ist sein erster Feind der nicht-militante, also der zivile Islam, der sich, um nicht ins Visier der Mörder zu geraten, ängstlich an seine Seite stellt, aber dabei um nichts in der Welt ertappt werden möchte. – Wer so redet, gerät leicht in den Verdacht der Islamophobie, einer Angst, die so furchtbar zu sein scheint, dass alle sich vor der Ansteckung fürchten. Kann man sich vor einer Angst fürchten? Welche Furcht drängt sich da zwischen mich und die Angst, die so groß ist, dass ihre schiere Größe mir Angst einjagt? Anders gesagt: Wieviel Angst muss einer schon haben, um sich so zu fürchten? Zuviel jedenfalls, viel zuviel. Merke: Wer dem anderen seine Angst zum Vorwurf macht, hätte gern keine. Aber es bleibt ihm verwehrt.
Im Hochland der Träume reitet, schläft,
darbt man auf eigene Kosten. Das alles darf, wer will, niemanden
kümmert’s, und neuerdings darf, wer darauf aus ist, auch töten. Das sind
nicht die Freifeuerzonen vergangener Zeiten, in denen die Freiheit
des Feuerns der Erledigung eingebildeter Gegner diente, sobald ein
Sergeant Lunte gerochen hatte. Inzwischen feuern die Kräfte wieder
gezielt, nach langer Pirsch, damit es sich lohnt. Auf die Pirsch
kommt es an. Man hat sich mit ihren Elementen beschäftigt
und sie ist nicht mehr dieselbe. Fast könnte jemand meinen, sie habe
das Geschlecht gewechselt – welches auch immer. Sie hat den fatalen
Ruch des Anschleichens völlig verloren, sie ist sozusagen klinisch
geworden und vollzieht sich am Bildschirm. Der Rest
wird erledigt, sobald man ohnehin in der Gegend zu tun hat. Ein Maschinchen
schwebt ein, vorbei, alles ist, wie es sein
muss, kaum ein Beteiligter riskiert einen Blick übers Ziel hinaus.
Blattschuss. So verlieren die langen Wege sich im Dunkel einer
Vergangenheit, wo einer am Gegner klebte, fast eins mit ihm wurde,
seine Lebensgewohnheiten in sich einfließen ließ wie einen zähen,
bitteren Saft, seine Schuhe anzog, wenn sie der andere in
grenzenloser Nachlässigkeit hinter sich warf, in erbitterten Fällen
seine Lebensgefährtin umwarb, was sie einem nicht selten durchgehen
ließ, schließlich, nach jahrelangem Bemühen, sorgsam die
unauffälligste Mordart wählte, so dass es heißen konnte, der andere
sei, wenn schon nicht eines natürlichen, so doch eines selbst
gewählten Todes gestorben. Heute nimmt man das Wort ›Sterben‹ kaum
mehr in den Mund, denn es lohnt nicht. Es gibt keinen Übergang. Mit
dem Übergang verschwand auch die Hoffnung, nicht aufs Überleben,
sondern aufs Jenseits. Auszulöschende hoffen nicht. Eher diffundieren
sie, ohne zu wissen, dass sie gejagt wurden, selbst diesen Triumph
hat man ihnen genommen. Wer heute, wo auch immer, gen Himmel starrend die Fäuste ballt und murmelt: »Ihr werdet mich nicht kriegen!«, ist
ein Fall für das Irrenhaus. Versuchen Sie’s.
Der eine Teil der Literatur besteht aus Andeutungen, der andere aus Dementis. Keine Aussage ist so unsinnig, dass sie nicht dementiert werden könnte. Der Unsinn der Literatur, er kann, er soll, er darf dementiert werden. ›Darf dementiert werden‹ – das klingt wie ein Aktenvermerk, nur die Akte wurde verlegt. Da passt es gut, dass die Literatur, richtig betrieben, nichts zu tun hat. So verfügt sie über alle Zeit der Welt, um – was? Um zu dementieren. Mit der Zahl der Dementis steigt ihre Bedeutung in geometrischer Progression. Wer viel verneint, ist der nicht ein großer Verneiner? Wer alles verneint – unertappt, hintereinander, in immer neuen Anläufen –, wäre der nicht der Größte? Ganz sicher. An derlei Größen herrscht kein Mangel, an ihnen arbeitet sich ab, wer noch mit dem Glauben ringt. Eine trächtige Klientel! Daher wächst das Verneinte mit – und an – seinen Verneinern. Jede neue Verneinung der Literatur fügt ihr, einmal mehr, alles hinzu, was sie jemals behauptete, und sie bleibt so richtig wie falsch wie ehedem. – Und dennoch und dennoch – es muss geklagt werden! – nimmt ihre Bedeutung ab. Wie kann das sein? Nun, die Erklärung ist einfach, fast zu einfach für einen, der im Bilde ist, vermutlich, weil er einst aufbrach, um Bildung zu erwerben: wo alles gesagt ist, fließt der Redestrom aufwärts, den Quellen zu. Keine entgegenkommende Welle kann ihn dauerhaft zur Umkehr bewegen, unbeirrt hält er Kurs auf das erste gekritzelte Zeichen, das große DA.
Es gibt den Jakob und es gibt den billigen Jakob. Das ist bekannt, jeder weiß es, dennoch haben wir Veranlassung, ein wenig dabei zu verweilen. ›Es gibt‹ – was zum Teufel heißt das? Oder, um den Teufel aus dem Spiel zu lassen, wo kommt das her? Wir meinen, das Gegebene braucht das Gebende, sonst wäre es nicht, was zu sein es behauptet. Behauptet es denn dergleichen? Was behauptet das Gegebene? Seinen Platz, ganz recht. Das Gegebene behauptet seinen Platz, sonst wäre es nicht das Gegebene. Es geht nicht weg, soll das heißen, nur weil jemand kommt und ruft: Platz da! Nein, da ist kein Platz, kein freier jedenfalls, denn da sitzt das Gegebene. Das Gebende wird sich etwas dabei gedacht haben, keine Gabe ohne Hintergedanken, das gilt vor allem in diesem Fall, in dem das Gebende im Hintergrund bleibt. Die Suche nach dem Gebenden scheitert am Gegebenen, es vertritt das Gebende, es ist, als sei dieses selbst anwesend, aber es ist nur das Gegebene. Ist es ein Stellvertreter? Das hieße allerdings, dass die Stelle, die es einnimmt, in Wahrheit dem Gebenden gebührte. Warum tritt es nicht hervor, um sie einzunehmen? Hindert es etwas daran? Gibt es ein Hindernis auf seinem Weg in die Wahrheit? Was wäre, gesetzt, es gäbe so etwas, in diesem Falle das Gebende? Das sind schwierige Fragen. Sie zu erörtern bedarf es der Luft und der Wärme, wie nur die Bewegung sie gibt, die langsame, zockelnde, hügelauf, hügelab sich entfaltende – ja, sie schlägt Falten, die Bewegung, solange sie sich nicht dem großen Ziel unterordnet, in dem das Geheimnis nistet, um zu erbrüten, was jeder Gedanke, gedacht oder ungedacht, umschließt wie die Faust die Ampulle.
Jedes Frühjahr werden die Bewohner der tiefergelegten Regionen der
Gesellschaft vom Jammer überrollt, das ist ganz natürlich, man
könnte es den ehernen Gang der Dinge nennen, aber man macht sich
schon ohnehin lächerlich. Was Linguisten dabei beschäftigt, ist der
Gedanke, dass ›überrollt‹ und ›unterspült‹ in diesem Fall ein und
dieselbe Bewegung meinen, gleichsam die Backen einer Zange, die so,
wie sie konstruiert ist, gar nicht anders kann. Für die Bewohner
ist das nicht unproblematisch. Während sie sich vor den
umherfliegenden Dachziegeln in Schutz zu bringen versuchen, sich
kaum mehr erinnernd, dass es die eigenen sind, drückt die
eigentliche Gefahr von unten gegen die Keller, die noch von der
letztjährigen Flut feucht sind, aber doch gerade in den letzten
Wochen hoffnungspendende trockene Flecken aufzuweisen begannen.
Hier zeigt sich, wie wenig hilfreich die Bauvorschriften in
Wahrheit sind, wie sehr sie, korrekt gehandhabt, die Flut in ihrem
Vorhaben unterstützen, der eine menschliche Absicht zu unterstellen
niemand wagt – das hieße ja die Sterne anbellen wie ein Hund, wo
käme man da hin. Und dennoch wurden die Vorschriften gegen die Flut
erlassen. Sie können nur nicht so schnell geändert werden, wie die
Flut ihr Aussehen wechselt. Jede Anpassung bekämpft die Schäden vom
Vorjahr und steigert die Tücken der diesjährigen. So speziell
fallen sie aus, dass bereits eine geringe Änderung der Stoßrichtung
genügt, um den nächsten Ansturm als eine Woge der Hoffnung
erscheinen zu lassen, die die Bewohner trägt und ihnen, schaukelnd
zwischen den Wipfeln der Parks, die für ihre Gemüter und ihre
Gesundheit angelegt wurden, die Illusion des aufrechten Ganges
beschert. Dafür nehmen sie vieles in Kauf. Vor allem missfallen
ihnen die Warner: unken, so meinen sie, können sie selbst. Die Unke
freut’s; sie hat frei und stirbt kummerlos in den Sielen.
Auch im Kicher-Universum der Bachtin-Jünger hält das Echte und
Wahre Abstand vom falschen Tand. Und wie so oft beeilt man sich,
das Echte außer Landes, bestenfalls in der Provinz anzusiedeln,
dort, wo man als Tourist das Gefühl hat, bereits fremdes Terrain zu
betreten. Der rheinische Karneval ist Kommerz, die allemannische
Fasnacht ist die aus der Zeitentiefe kommende Emanation des
Volkssinns, ein wahres Volksbegehren, aber man soll sich nicht
lustig machen. Die einfache Überlegung, dass das Saufen einerseits
eine lange Tradition besitzt, andererseits völlig traditionslos dem
Heute entspringt, genügt nicht, um die Ehrfurcht vor dem Herkommen
zu mindern. Wer die Maske herausholt, soll unter einem tieferen
Bann stehen: dem Bann einer ursprünglichen Freiheit, die mit der
Freiheit oder dem Zwang, sich zu amüsieren, zwar in einem losen
Zusammenhang steht, aber erst unter dem Zugriff der Interpreten und
der diese interpretierenden Tourismusführer in ihrer wahren
Dimension aufscheint. Dieses Aufscheinen hat mich oft beschäftigt,
es hat etwas zu tun mit der Murmel in der Hosentasche des
Banknachbarn in der frühen Schulzeit, die kostbarer war als die der
anderen und deshalb nie wirklich herausgeholt, sondern gleichsam
nur an die Oberkante der Hosentasche gehoben wurde, wo einige
wenige Erwählte sie kurz bewundern durften. Auch sie
sahen wenig und hätten sie gern in aller Ausführlichkeit
besichtigt, aber das wäre der Erwählung zuwidergelaufen und deshalb
begnügten sie sich damit, den Ruhm der Kugel und ihres Besitzers
weiter zu tragen.
Das konkrete Jenseits ist der praktisch unbegrenzte Kredit. Wer ihn genießt, ist vielleicht kein einzelner Mensch, aber etwas Menschliches: einer jener System-Anker, deren Funktion darin besteht, die Funktionalität des Systems zu garantieren. Diffundiert die Funktion, so diffundiert auch die Instanz, das heißt, das Kapital, jedenfalls auf lange Sicht. Kurz- und mittelfristig liegen die Dinge anders. Auch das Dysfunktionale nimmt Aufgaben wahr und kann dauern. Es kann sogar wachsen, jedenfalls für eine gewisse Zeit, so wie die Macht der Könige noch wuchs, als es objektiv mit ihnen bereits vorbei war. In jeder Macht, die sich überlebt hat, liegt etwas Seelenloses, das die Menschen mehr empört als der Missbrauch selbst: abhängig zu sein, wo kein Glaube mehr existiert, ist Pein. Besser, man hält sich seinen Glauben wie einen Hund – glauben zu glauben und glauben machen, Männchen machen und Pfötchen geben, stets die Leine in Griffweite, das hilft in die Ferne, aber den Nächsten verstimmt’s.
Das Jenseits, nicht der Jenseitsglaube, ist das Kernstück der Religion. Wie kann man an etwas glauben, das so bedrängt? Das Jenseits enthält keine Frage, es verträgt keine Frage, so wie es keine Antworten gibt. Ein Wort, ein Ant-Wort, ein Entleerer, weit radikaler als jedes Nichts, weil es auch die Negation verweigert, in der das Negierte durchscheint. Ja, es gibt Nichtse, und nicht zu knapp, die von einer Seite aus betrachtet einander gleichen wie eine Eidechse der anderen, von der anderen aus jedoch das ganze Spektrum der Kulturen aufreißen, deren sich die Menschheit als fähig erweist. Das Jenseits jedoch, in seiner schwebenden Unerreichbarkeit, streift spielend alle Modi der Entrückung ab, in denen die Menschen ihm zu begegnen wünschen (und zeitweise wirklich zu begegnen glauben), es bleibt jenseits – widerstandslos, wie seine Verlagerungen in die Zukunft zeigen: es steht bevor. Wer darin ein Zeitzeichen sieht, dem stehen große Zeiten bevor, er verfügt über die Lizenz, seine Mitmenschen über Gebühr zu quälen oder zu belästigen und nichts und niemand weist ihn zurück.
Ja, es gibt ein Jenseits nach dem Jenseits, so wie es eins davor gibt. Und natürlich gibt es nichts dergleichen. Wer aus dem Koma zurückkehrt und verkündet, er sei im Jenseits gewesen, dem hört man höflich zu – hört sich an, was er zu sagen hat, und geht seiner Wege. Es schickt sich nicht, einem sein Jenseits streitig zu machen. Das Jenseits ist jederzeit jedermanns Jenseits. Darum fällt es so leicht, sich darüber lustig zu machen. Ein so leichter Besitz zählt nicht... jedenfalls nicht dort, wo Besitztümer gezählt, gewogen, ausgeteilt oder einkassiert werden, gleichgültig, ob in Gedanken, in Worten oder in Taten. Das eigene Jenseits, nun, das ist eine andere Sache, darüber reden wir ein anderes Mal.
Als Säule des Spießertums erwies sich bei allem
Onkel Johannes, der bei uns blieb alle Tage, manche sagen: seit
Christi Geburt. »Jo, Hannes!«, sagen die Kölner, sie meinen ›Ja,
Hannes‹, aber eigentlich meinen sie, er solle endlich die Klappe
halten, damit nicht alle im Raum einen Schnupfen bekommen. Hannes
hält nichts davon, er schwadroniert, was das Zeug hält, und lässt
sich nicht von seinen Überzeugungen abbringen. Johannes steht nun
einmal für Überzeugungen, das ist sein Markenzeichen, dafür ist er
berühmt. Er hat die Apokalypse entdeckt, ganz allein, und packt
alles in sie hinein. Die Apokalypse ist ein tiefer Brunnen, auf
dessen Grund man es glucksen hört. Mehr weiß man nicht und mehr zu
wissen schickt sich auch nicht. Der Rest ist ein riesiges Maul, es
schiebt und mahlt, während es doch immer gleich offen für alles
bleibt, was fliegen will. Manche behaupten, die Apokalypse wurde
erfunden, um zu vernichten, was fliegen will. Doch Vernichten ist ein
großes Wort und nicht alles, was fliegen will, kann es auch. Manches
wandert ganz allein in Richtung Apokalypse. Vor allem aber ist sie
keine Erfindung, egal, was ihre Gegner behaupten. Sie wurde entdeckt
und da ist sie. Sie war schon immer da, vermutlich wurde sie viele
Male entdeckt, es bereitet ihr Freude, entdeckt zu werden, vermutlich
die einzige, sie sie kennt. Apokalypse ist freudlos. Das sah Papa
Freud genauso, was er als Todestrieb ansah, war nichts weiter als die
Anwesenheit der guten alten Apokalypse, die sich dagegen wehrte, im
Pandämonium der Lüste zu verschwinden. Als die natürlichen Feinde
der Apokalypse haben jene altertümlichen Frauen zu gelten, die
wollen, dass ihre Männer nach Hause kommen und sich um Kinder und
Abwasch kümmern: »Johannes!« Die Apokalypse erledigt alles in
einem Abwasch, aber es braucht seine Zeit. Erst wenn jene
altertümlichen Frauen von der Erde getilgt sind, ist sie da.
Als die Nicht-’68er unter den Post-’68ern, also diejenigen, die der Zeitgeist zwar berührt, aber nicht überzeugt hatte, nach dem Zusammenbruch des östlichen Systems die sogenannten Nischen besichtigen durften, in denen sich das dortige geistige Leben der Legende nach gegen die herrschende Zumutung zu behaupten gewusst hatte, fiel ihnen auf, dass die Schubladen leer waren und sie fühlten sich sicher und warm angesichts der langen Listen ihrer eigenen Publikationen. Heute, da der Beruf sie entlässt, stellen sie fest, dass just diese ihnen zum Ärgernis wurden, dass auch die eigenen Kammern leer sind, dass auch sie ihrer Zumutung erlegen waren, dass sie neu anfangen müssten, wollten sie wenigstens den Impuls ihrer Anfänge retten – warum? Weil sie den Einspruch, mit dem sie antraten, zugleich formuliert und nicht formuliert hatten, so dass er unsichtbar bleiben und von den herrschenden ›Lernprozessen‹ spielend aufgesogen werden konnte. Warum? Weil sie leben wollten, weil sie den Eintrittspreis entrichteten, weil nur wenige von ihnen in die Arena gelassen wurden, weil sie Vereinzelte waren, ohne Verbindung untereinander, aber unter ständiger Aufsicht seitens derjenigen, die da so gelassen-stolz vor ihnen her marschierten und die Richtung angaben, weil … weil … sie nicht durchfallen wollten. Nun sehen sie, dass sie Durchgefallene sind, denen niemand helfen kann und niemand helfen will, weil die Welt sich weitergedreht hat, sie glauben und hoffen noch, dass ihre Welt kommt, und müssen – bitterste Lektion – einsehen, dass ihre ›politischen‹ Altersgenossen, die weder Vorbehalte noch Skrupel kannten, dafür aber das Zeug zum Vollstrecker besaßen, im Recht waren – es war ihre Zeit, sie haben sie genützt und nehmen ihre ›Beziehungen‹ mit in den ›Unruhestand‹, als könne und dürfe niemals enden, wofür sie standen. Wofür sie standen? Für alles, was heute den Juckreiz der Welt erzeugt – sie will sich davon losreißen und reißt, wo sie beginnt, sich selbst die Haut ab. Ob es der Beginn einer Häutung ist oder einer langen Krankengeschichte, wer kann das wissen? Wer will das wissen?
Es ist glaubhaft, nichtsdestoweniger unwahr, daß sie es aus
Gerechtigkeitssinn getan hat. Auch war sie vorher keineswegs durch
übermäßigen Patriotismus aufgefallen. Allerdings verkehrte sie in
einschlägigen Kreisen, das sollte bedacht werden. Die Gründe, es zu
tun, lagen damals wohl auch auf der Hand. Beeindruckt war sie,
ehrlich gesagt, von ihnen nicht. Sie hatte keine, wenn Sie
verstehen. Sie war einfach zur Stelle, als es sich ergab. Sie ist
der Typ Mörder, dem man das Messer aus der Hand nehmen muss wie
einem Kind, damit es sich nicht schneidet. Wenn alle dann um sie
stehen und sie langsam aus dem verkrusteten Tuch das begehrte
Objekt des Hasses hervorzieht, sprachlos, versteht sich, wirkt sie
wie – nun, wie in Bronze gearbeitet, etwa. Nichts zu berichten, zu
rechtfertigen, zu bejubeln. Aber dieser Kopfschmerz lässt nach.
Mit dem Alter immer jünger werden: herbes Los für jemanden, der
stets jünger erscheinen wollte, als es ihm zukam, weil das
Herzstück der Empfindung, die Empfindungslosigkeit, ihn früh aus
der Zeit katapultierte. Es ist ja nicht so, dass so einer nichts
empfände. Im Gegenteil, sein Empfinden, der eigenen Schmalheit
bewusst, schafft sich Gefälle und Springbrunnen, in denen es
steigt, wenn ringsum die Horizontale herrscht. Das gelingt auf dem
Schlachtfeld wie in der Etappe. Den längsten Teil eines solchen
Lebens herrscht Nachkrieg: das Rekapitulieren der alten Schlachten,
die Nähe zu den Befehlshabern, die Regeln der Sub- und
Insubordination, fein gegeneinander aufgefahren, die bösen Träume
und die Glücksgefühle im Unglück, all das ist bedeutsam und muss
käfergleich untersucht und abgelegt werden, so dass zur
Empfindungslosigkeit die Verlangsamung tritt wie der Traum an die
Seite des Schlafes und der Schlaf neben den Tod, der das Leben
begleitet und abgrenzt, und wie der Tod neben das Summen des
Geistes, der in Schichten denkt. Warum das? Weil das unablässige
Einsinken der Gegenwart nichts anderes zu denken erlaubt. Wie tief
sind wir bereits gesunken? Wie viele Stockwerke türmen sich bereits
über uns? Und doch sind wir alle noch immer vorhanden und bewegen
uns umeinander herum, ausgenommen die Toten, die immer anwesend
sind und keiner weiteren Bewegung bedürftig. Die Entdeckung der
Zeitmauer kommt da gerade recht; sie erlaubt es, die Zeit der
Zerstreuung zu nützen. Im Wissen darum, nicht weiter gekommen zu
sein als bis hierher und darum alles Recht zu haben, hier zu sein
bis in alle Ewigkeit, verschmelzen die Generationen und Horizonte,
auch das Vergangene wird greifbarer denn je und das Wort
›Archäologie‹ mutiert zum Spaten in der Hand des Schreibers, den
jeder Federkiel freut. Jünger sein, jünger werden: wer es mag, dem
bekommt, was er bekommt, noch hinein ins Unbekömmliche.
Brav sind sie, brav, die Künstler. Des Rad des Ixion steht still,
es dreht sich nichts. Was sich gedreht hat, sind Publikumshass und
-gunst: Wer Kunst macht,
produziert für ein Achselzucken. Das ist viel wert, vergleicht man
es mit der lästigen Angewohnheit früherer Epochen, angesichts fader
Genüsse und alberner Großmannssucht in Gelächter auszubrechen oder
Verbalinjurien zu streuen. Andererseits sind beide Seiten gereift:
wenn irgendwo ein Scheckbuch gezückt wird, wissen sie, es hat
geklappt, und warten weiter. Die Erwartung hält stramm, sie hält
auch straff – wer wollte denn alt aussehen, wenn er endlich unter
dem Füllhorn steht? So bleibt die Kunst, was sie immer auch war:
ein Jungbrunnen für Leute, die keine Angst davor haben, hereinzufallen und um
eine Erfahrung ärmer wieder herauszuspazieren.
Wie sieht eigentlich die Welt aus, in der sich junge Frauen bewegen, deren Auftreten hundert sichtbare und unsichtbare Hebel in Bewegung setzt, um jedes Hindernis für ihr Weiterkommen aus dem Weg zu räumen, um die herum der geballte Einsatz von Studien, Berechnungen, Statistiken, Planungskommissionen und Fördereinrichtungen dem einen Zweck dient, Raum zu schaffen, Räume zu schaffen, in denen sie sich entfalten können, dürfen, sollen, müssen, unbedingt müssen, auf dass der Idee der Gerechtigkeit Genüge geschehe, die darin besteht, dass sie besser sind und Besseres verdient haben – z. B. als ihre Mütter, die auch schon Besseres verdient hatten als ihre Mütter, die wahrlich Besseres verdient gehabt hätten... hätten, wenn ihre Verstrickung in heillose Frauenbilder ihnen die Chance gelassen hätte, anders zu werden, als sie, Diktatur, Krieg, Wiederaufbau beiseite gesetzt, nun einmal wurden... Wie sieht sie wirklich aus, diese Welt, in der das Einfachste kompliziert, weil fast unmöglich geworden ist, in der das Sich-Gehenlassen, wie es nun einmal im Leben geht, als Unbotmäßigkeit bestraft wird und Gedanken an asoziales Verhalten weckt, in der im Leichten das Leichteste schwer wird, in der von der Mutter oder Großmutter nur die Tücke überleben darf, das untrügliche Zeichen einer großen Überforderung, die durch kleine Rachen und Winkelzüge lebbar gemacht wurde? Wie sieht diese Welt aus reinem Anspruch, Migräne, Leben pur und routiniertem Absturz in Zustände aus, zu denen nur Therapeuten halbwegs gesicherten Zugang erhalten? Seltsam muss sie aussehen, ohne Frage, gepflastert mit Sprüchen, deren grenzenlose Fadheit nicht weniger verpflichtet als irgendein heiliger Glaube, von dunklen Gesetzmäßigkeiten wie Drahtseilen durchzogen, an denen die Leichen künftiger Leben baumeln, die nicht gelebt werden dürfen, weil das zu einfach wäre, dem Dauer-Anspruch eines Dauer-Ich dienstbar, das sich an seinen Baustellen selten blicken lässt, es sei denn, es steht unter Strom und will irgendwie mehr, eine Akteurs-Welt aus lauter Beweisen, die niemandem imponieren außer jungen Männern, die bereits überzeugt sind und geduldig und unsicher das Feld zu überblicken versuchen, bevor sie aufgeben, was sie doch nicht halten könnten. Manche findet den kleinen Ausgang im Hintergrund links, den sie nicht verrät, höchstens in Andeutungen, die verräterisch sein dürfen, ohne dass sie mit gesellschaftlichem Liebesentzug bestraft würde. Bleibt, wie immer, der Konsum, dem ohnehin alles dient.
Die Politik des neuen Jahrtausends steht im Zeichen der Jungfrau: jenes strahlenden Wesens mit prächtiger Mähne, das endlich einmal auf allen Kanälen sagen darf, wie es sich seine Welt vorstellen könnte, so dass die alten Hengste gerührt zur Seite blicken und sich insgeheim fragen, ob darin wohl noch ein Plätzchen für ihresgleichen zu finden wäre. Sie sind bereit, etwas springen zu lassen, diese Vision wäre nach ihrem Herzen. Leider ist Anmut, auch unter Jungfrauen, ein rares Gut, und was die Visionen angeht, so überfällt selbst ein reines Herz gelegentlich der Verdacht, es könne missbraucht werden, wenn es sich nicht hütet. Doch auch die Hengste zeigen sich seltsam blockiert, sobald es an die Umsetzung ihrer lieblichen Eindrücke geht. Draußen herrscht ›Mutti‹, das Realitätsprinzip ohne Profil. Und nicht nur draußen. Sicher, man ist bewegt und will etwas bewegen. Recht betrachtet, bewegt sich schon viel und man selbst kämpft an der vordersten Front. Ein Schritt zuviel und man fiele. Wenn alle mitzögen, könnte man mehr tun, viel mehr, aber daran ist, nach Lage der Dinge, nicht zu denken. Junge Frau, Sie zeigen mir Ihre Welt und ich zeige Ihnen meine – abgemacht?
Angeblich eine im
Traum des Apelles erwähnte
Farbe von rötlichem Blau zum Schaden entehrter Künstler. Die Farbe
soll wohl im attischem Dialekt, etwa wie ›Lokopaitomon‹, ›Getränk
der Blinden‹ bedeuten und zur feierlichen Vergiftung geblendeter
Maler bestimmt gewesen sein, denen das Geld für eine Vergoldung
ihrer Maltafeln fehlte, was im alten Athen einer bösen Vorbedeutung
für den Auftraggeber gleichkam. Ebenso zögerte man zu den Zeiten
der schlimmen Tyrannen keinen Augenblick, einen Maler zu töten, zu
blenden oder zu verbannen, wenn er das hohe Versprechen, das Wort
›Römer‹ niemals – selbst nicht wegen der kostbaren
Roma-Büttenpapiere – in den Mund zu nehmen, brach. Nur den Ort
Fabriano erlaubte man gnädigst. Hinzu kommt, dass der Maler in
Zeiten hoher Tabus jedem Auftraggeber versprechen musste, im Namen
einer neuen Venus animalis
Purpur und derbes Gold aufzulegen. Wenn ihm dies aber durch
Genialität und Anspruch, gelegentlich wohl auch aus Not, nicht
möglich war, verstieß ihn der Zeitgeist und man zog aus der Reihe
gierig wartender Dilettanten einen genügend maskierten Lumpen zur
weiteren Übernahme des Werkes ans Licht. Dies gehört, im Gegensatz
zur falsch verdächtigten Knabenliebe, zum wahren Untergang
Griechenlands. Erst die Kultur, dann das Land. Es gab zuviel Mist.
Man merke sich das.
Aber es gibt auch eine andere Version der Bedeutung dieser
geheimnisvollen Farbe. Der im Traum sprechende Daimon wiederholte
mehrfach das Wort ›Thanatos‹ und warf verfaulte Strohhalme in ein
bläuliches Feuer. Dabei steht fest, dass kein irdisches Wesen Stroh
zu Gold spinnen kann und auch in Athen die Maler nur irdische Wesen
waren, wenngleich »von erhabenen Bärten und Locken köstlich
umwallt«. So entstand aus Frechheit der Dilettanten bereits zu
dieser Zeit ein Regietheater auf allen Ebenen der Kunst. Hätte es eine malbare
Gegenmacht mit brauchbaren Farben gegeben, so würden sich die
Künstler wohl schon damals zur Wehr gesetzt haben. Aber die
Sykophanten waren in der Überzahl und eine echte Farbe des
magischen Kampfes ließ sich heimlich weder auf der Agora noch
jenseits davon anreiben, geschweige denn mischen und öffentlich
vermalen. Die Spitzel lauerten überall. Erst heute, im
Schattenreich des Intrumentariums der Netzstricker, entsteht zum
Schutz der wenigen vergoldungsunfähig gebliebenen Künstler, im
Zeitstrom des Alphazet, ein
neuer Stiftungsaltar aus flimmernden Worten. Auf ihm wird die von
aller Bosheit gegen die wahren Künstler geläuterte Farbe
Kaioptaitomon als Gegenmittel zum Dilettantismus angerieben und
wortwörtlich unter die Speisen der Sprache gemischt. Auf der
Gebrauchsanweisung zur Nutzung des Stiftungsaltars heißt es: »Das
neue, das wahre Kaioptaitomon entsteht im Zeitstrom des Alphazet
unter dem Druck gesetzlich beförderter Barbarei, der man die Worte
erneuern und färben muss.« - PM
›Kakokratie‹ – wörtlich – mit ›Herrschaft der Schlechten‹ wiederzugeben, trägt einen Makel. Ähnlich verwandten Ausdrücken wie ›Herrschaft der Dummen‹ etc., nimmt es gerade diejenigen in Haftung, die, wie in Gesellschaft üblich, nichts dafür können, sei es, weil sie unfähig zu begreifen, sei es, weil sie unfähig sind, anders zu handeln. Abgesehen davon werden solche Zuschreibungen praktisch nur polemisch getätigt und reduzieren die Komplexität der Verhältnisse auf eine unangenehm berührende Weise. Besser wäre die Übersetzung ›Missherrschaft‹ in Analogie zum ›Misstönen‹ und zum ›Misserfolg‹, der zwar auch eine Art von Erfolg darstellt, aber gewiss nicht den, den man sich erwartete – stattdessen eine Art Durcheinander, in dem das Erhoffte, das Befürchtete und das Unerwartete gemeinsam einen Strudel bilden, aus dem sich nicht so leicht ausbrechen lässt. Aus diesem Grund glauben so viele Zeitgenossen bis kurz vor dem Schluss, sie seien Zeugen erfolgreichen Regierungshandelns, während sie doch nur das übliche Durcheinander erleben, in dem sich ein langer Abgang vollzieht.
So wird ja bekanntlich der leider nicht oft genug erleuchtete Kopf
im Volksmund, nicht ohne Bezug zu Elektrizität und Inspiration, am
Ende des neunzehnten Jahrhunderts abfällig als Birne bezeichnet. Er
ist eines besonderen, fast zärtlichen Schutzes bedürftig und gerade
der Name des Filzes, seit der Zeit des Herzogs Montefeltro von
Urbino, der, seinem Namen entsprechend, bedeutende Filzmühlen
gestiftet hat, wurde durch diesen bedeutenden Adelsnamen enorm
gesteigert. Er gilt bis heute als milder, weicher und
wetterbeständiger Stoff für alle Arten von ›Hauben des Hauptes‹.
Nur die Hutränder wechseln im Spiel der Kulturen, aber keineswegs
bloß auf Grund oberflächlicher Moden.
In früher Zeit waren die Hauben oft eng. Mitellae nannte man sie in Rom. Es
waren haubenförmige Kopfbinden mit Backenklappen, die unter dem
Kinn mit dem stringentis
zusammengebunden wurden. Man findet sie noch bei Dante als
carum caput, als ›theures
Haupt‹, den Kopf als Schatulle umspannend.
Dass die viel zeitlosere goldene Aura keinen äußeren Schutz bot,
liegt auf der Hand, sie ist aber auch aus Prunksucht niemals
allgemein tragbar gewesen, weil sie als christliches Original wohl
immer nur spirituell erkennbar zu bleiben hatte. Wobei man von dem
gescheiterten Unterfangen französischer Surrealisten absehen muss,
die sie als vergoldete, tafelförmige Kopfbedeckung in Paris unter
Künstlern einführen wollten. Chadron de Mitré, ein Freund Bretons,
trug sie nur in öffentlichen Badeanstalten für Männer, allerdings
noch zur Zeit der deutschen Besatzung, wie Villipere Placaton dem
nachmaligen Antiquitätenhändler Max Valentiner versichert
hat.
Übrigens sind ja auch schon die Kronen, als flache Auren tief in
die Stirne gedrückt, nach 1789 nur selten zur Mode geworden und vom
Kopfputz des Satanismus muss man nicht reden, da er bis heute
grundsätzlich nur den Haaren gegolten hat. Rote, zuckerverklebte
Stacheln, grasgüne Wellen, hochstehende Bündel sind keine Hüte,
sondern Kopien höllischer Überlieferung.
Ganz anders der Kalabreser, ihm war es gelungen, zur breitrandigen
Kopfbedeckung der Künster des neunzehnten Jahrhunderts zu werden.
Bei Toulouse-Lautrec, über dem Radmantel getragen, vervollständigt
er die Rückenansicht eines fliehenden Künstlers, vielleicht aus
einem Bordell, in dem ihm das Unheil kulturfreier Zeiten begegnet
sein mag. Bis heute ist dieser Gedanke insofern prophetisch, als
der inzwischen eng verschnittene Hut, mit knappem Rand, der
Beschränkung von Köpfen entspricht, die ihn bei jedem Auftritt in
der Öffentlichkeit als Requisit ihrers Angriffs auf offene Türen
benutzen. Entsprechend solchen Umständen wurde, nun umgekehrt, der
Kalabreser zum Bühnenschlapphut erniedrigt, der, wie die
Sonnenbrille auf deutschen Bühnen, zur Halbuniform einer in
verwilderten Irrenanstalten wütenden Geheimpolizei gehört.
Allein dem Kalabreser kann nachgesagt werden, er sei schon viel
früher zum letzten Schattenbegleiter der Künstler geworden. Auf
Amphoren gehört er den trauernden Schatten der Unterwelt an, die
auf Felsen hockend den Charonsnachen erwarten, nicht viel anders
als die französischen Damen die Barke, die sie zur Fahrt nach der
Insel Cythere bringen soll. Auch sie haben uns in kunstvoll
gerafften Roben, nicht grundlos, fast alle den Rücken zugekehrt. -
PM
Man darf den Kalauer nicht fürchten, er ist ein treuer Freund und fast immer zur Hand, wenn man ihn braucht. Leute, die keine Kalauer mögen, mögen auch anderes nicht, z.B. Erbsen, es bringt sie um den Verstand, wenn sie daran denken, wie viele Menschen täglich mit Erbsen traktiert werden; sie persönlich bevorzugen Blutwurst. Sind Kalauer billig? Wie kann einer das wissen, der keine Ahnung davon besitzt, dass es auch hier Börsen gibt, mit unterschiedlichen Notierungen, mit dem üblichen Auf und Ab, mit Überraschungscoups und Börsengängen, die von allen gefeiert werden, die sich hier ihre Heiterkeit verdienen. Nur eins mögen Kalauer nicht: die ordnende Hand.
Man muss gegen das Lächerliche den Kampf aufnehmen, auch wenn es
allmächtig erscheint und das Unterfangen in jeder Hinsicht
aussichtslos wirkt. Aus dem Lächerlichen entsteht das Ärgerliche,
aus dem Ärgerlichen das Furchtbare – früher oder später, durch
plötzliche Zufälle vermittelt oder durch den langsamen,
schleichenden Gang der Dinge. Komischerweise – es ist nicht die
einzige Komik dabei, aber vielleicht die seltsamste –
komischerweise erweckt das Lächerliche den Eindruck, die Zukunft
für sich zu haben. Ihm eignet dieser unwiderstehlichen Zug,
gestützt auf lauter Notwendigkeiten. Dabei scheint es bequem
fortzublasen: es liegt so leicht auf und die Menschen lachen, wenn
man darauf zeigt.
Die ersten Gestörten kommen, wenn die letzten gegangen sind. Eine klinische Aussage ist das nicht. Alles kommt, wie es kommen muss: schubweise. Darin liegt ja die Störung. Fiele sie aus, so wäre auf nichts mehr Verlass. Drum störe, wer den Beruf dazu fühlt, beizeiten. Es könnte leicht sein, er fühlte sich sonst: gestört. Nichts erheitert mehr als die Asynchronie der Störer. Der lange Darm der Gesellschaft verdaut sie so, wie er alles verdaut. Sind sie erst ausgeschieden, sind sie’s zufrieden und geben – nein, nicht Ruhe: sich zum Besten.
Das bewegliche Kapital entsteht an der Grenze zwischen zwei Religionen, genauer, zwei Auffassungen von Religion: dem Glauben als Kredit und dem Glauben ans gerechte Jenseits, in dem alle Schulden eingefordert werden. Dennoch wäre an dieser Grenze, so wie es lange Zeit auch der Fall war, nichts passiert, wäre nicht als drittes, treibendes Element irgendwann der Unglaube einer Herrschaftsschicht und ihr fester Wille dazwischengetreten, die entstandene Konstellation praktisch zu plündern. Ein polizeilich verordnetes Jenseits ist etwas völlig anderes als ein erträumtes oder ertrotztes. Verordnet aber musste es werden, nachdem der ökonomische Prozess einmal in Gang gekommen war: das und nichts anderes schuf aus dem Christentum die moderne Religion par excellence. Wer den Kredit braucht, um zu existieren, fürchtet nichts mehr als den Tag, an dem alle Rechnungen fällig werden. Also muss man ihn glauben machen, dass dieser Tag kommt, aber mit der ausbalancierten Mischung aus Verzweiflung und Hoffnung, die erst der Webersche Protestantismus ins Lot gebracht hat. Der Tag des Gerichts, Doomsday, The Day After: kein Tag wie dieser, doch jede Nacht ein Vor-Schein, eine Schein-Festung, deren Existenz dem Tages-Regime seine Festigkeit verleiht.
Hinter jeder Meinung steckt ein verkappter Führungsanspruch. In der Regel fragt einer nach der Meinung des anderen erst dann, wenn er nicht mehr weiter weiß. Solange er zu wissen glaubt, wie es weitergeht, darf der andere seine Meinung für sich behalten, er darf nicht nur, er soll tunlichst schweigen, denn seine Meinung stört, insofern sie abweicht, und belästigt, insofern sie in nichts weiter besteht als in Zustimmung. Nach diesem Modell soll stets eine Meinung herrschen, alles andere ergäbe Streit und Unfrieden, so etwas braucht keine Gemeinschaft, es ist ihr unbekömmlich. Einmütig sein, einmütig handeln: das ist ein hohes Gut und Mut und Meinung verschmelzen den meisten Menschen zu einer Einheit. Deshalb gibt der Klügere nach und verbirgt seine Meinung, bis sich die erwartete Ratlosigkeit einstellt. Selbst dann weiß er um die mit dem Hervortreten verbundene Gefahr: am giftigsten wirkt Einmütigkeit dort, wo sie nur noch als Illusion existiert oder als blanke Lüge. Überall findet man solche Gemeinschaften, sie sind zahllos wie der Sand am Meer und entstehen ohne weiteres Zutun, als träten sie aus der menschlichen Psyche selbst hinaus ins feindliche Leben. Wer sie ausrotten wollte, auf dass nur Gesellschaft sei, die freie Assoziation freier Meinungsträger, wäre ein wirklicher Feind der Menschheit. Ist der Liberalismus ein Feind der Menschheit? Keineswegs. Ein klug getakteter Liberalismus vertraut dem Gedanken, dass es Gemeinschaften nur im Plural gibt und das etablierte Recht eines jeden, aus ihnen auszutreten und sich anderen anzuschließen, ihnen bereits das gröbste Gift entzieht. Deshalb ist die Kardinalfrage an jede Gemeinschaft: Wie haltet ihr es mit den Abtrünnigen? Denn Abtrünnigkeit ist das geheime Grauen jeder Gemeinschaft, da in ihr jener freie Wille aufblitzt, den zu bändigen sie angetreten ist, und damit die Möglichkeit des Zerfalls. In der modernen Arbeitswelt geht, wer geht, weil er sich einen Vorteil verspricht oder weil er gehen muss – das ist gerechtfertigt und bedarf bloß einer angemessenen Rahmung, um akzeptiert zu werden. Die ›Gemeinschaft am Arbeitsplatz‹ ist per se Gemeinschaft auf Zeit, das strahlt auf andere Gemeinschaften aus und lässt sie, sofern sie nicht Bandencharakter annehmen, auf mittlere Sicht handlich erscheinen. Auf mittlere Sicht, aber auch auf längere? Das bleibt ungewiss. Eine Gemeinschaft von Abtrünnigen – so ließe sich der verschworene Kern der Liberalen bezeichnen, der in Gesellschaft darüber wacht, dass die Tendenz zur Vergemeinschaftung nicht überhand nimmt. Und damit beginnt das Reich der Paradoxien.
Das ist die übernatürliche Erbfolge von Glück und Unheil im Seelenzustand bis
über den Tod hinaus. Ihre furchtbare Gerechtigkeit zertrümmert
sowohl die hochfahrenden Pläne der Gerechten wie den Glauben
hoffnungsvoller Tyrannen in neuerer Zeit. Ja, selbst die Schicksale
einfacher Gegenstände wie Hämmer und Zangen, Sägen, selbst die
giftigen Speisen, die einst auf andere gute Speisen verderblich
gewirkt haben, unterliegen diesem Gesetz. Denn ohne Zweifel gibt es
auch die hilfreichen Zangen, die hilfreichen Nägel, die guten
Speisen, die einst voller Mitleid den schlechten Speisen geholfen
haben. Man denke an die Leinwandnägel der Bilder Poussins, an
Rembrandts Gemälde und Tizians Keilrahmen. Und sollte man hier
nicht glauben, sie stünden in einem unendlichen Gegensatz zu denen
am Kreuze Christi?
Denn die Wirkweise Karmas ist übermächtig und kennt keine Grenzen,
weder vor den Werken der Kunst noch der großen Natur. Auch
Meere, Wälder und Flüsse unterliegen der Erbfolge dieser Allmacht.
»Denn alles hat seine Freiwilligkeit« sagt Homomaris der Deuter, »und ist
somit den Folgen unterworfen.«
Szenen auf Bildern, die gehobene Faust des Kain, der Versuch eines
Dolchstoßes auf Tizians Tarquinius und Lucretia, alles hat
nicht nur über die Netzhaut jedes Betrachters, sondern im Bilde
selbst seine Folgen. Je sensibler der Restaurator, um so genauer
kennt er die Ursachen des Zerfalls eines Bildes. Rudolph II.
hinterließ durch Kuhlgräbers Notizen über zweihundertfünfzig innere
Ursachen des Zerfalls der Bilder »durch sich selbst«. Warum wohl
sonst sterben Wälder und trocknen die Meere aus? So Ochsen wie
Himmelskörper sind diesem Gesetz unterworfen. Aber gewaltiger noch:
der Himmel und seine Götter bewegen dieses Gesetz, stoßen es an,
sind ihm unterworfen. Der Tod Gottes ist das furchtbarste
Beispiel.
Die wenigen Folgenforscher wie Max von Englschall, Brotgerber oder
der große Engermann haben zumeist vergeblich die Ketten solcher
allmächtigen Anstöße zu deuten versucht. Brotgerber, der Gottes
Untergang an die Genesis-Homomaris zu binden sucht, weil allein
deren Beschreibung weder ein Vorwärts noch ein Rückwärts kennt,
scheitert bereits ein halbes Jahr später an den Erbsensuppen des
deutschen Miltärs contra russischen Kaviar, völlig hilflos und fast
verzweifelt. - PM
Man hört sie wohl, die gerupften Gänse des Kapitols, doch da
niemand sie sieht, ahnt man die üble Vorbedeutung, ohne sie zu
erkennen. Seit die Europäer sich das lose Maul per ›Karriere‹
verbieten, ist ihr Gedankenreichtum auf ein überschaubares Maß
zurückgegangen. Was auffällt, ist die Masse an Einfällen, die sich
von selbst erledigen, sobald jemand sich um sie kümmert, was nur
selten geschieht. Da gehen die jungen Menschen hin – die alten, das
beiseite, desgleichen – und haben es eilig, sie haben es so
ungeheuer eilig, dass es sie bei keiner Sache hält, denn sie wollen
durch sein, wenn es sie trifft, und treffen muss es sie: Erwählung
ist keine kleine Sache in einer Welt, in der die Erwählten sich
gegenseitig auf die Hacken treten und einander den Ton abdrehen, um
nicht die Gurgel suchen zu müssen. ›Zu den Sachen‹ – das klingt,
das riecht nach Entfremdung, wenn man ›Menschen mag‹, wenn man
Botschafter werden möchte und schon einstweilen den Sekt kalt
stellt. Diese groteske Botschaft des irgendwie grotesken, irgendwie
befreiten, irgendwie leeren und irgendwie illusionären Kraft-Ich,
das nichts weiter als Seife und Duschstrahl braucht, um seinen
täglichen Schweiß abzunehmen, eingewickelt in ein Kack-Wort aus
einer Kack-Welt ... wir wollen nicht fragen, ob sie die richtige
sei, denn das kann nicht sein, das darf nicht sein, das müssten wir
wissen ... wissen? ›Durch die Hecken‹, da geht es doppelt so gut. Gut
zu wissen, dass nichts dazu kommt, außer, einer trägt auf, da muss
man die Aufträge annehmen, wie sie hereinkommen. Fette
Auftragsbücher, daran erstickt keiner, daran kann man sich
abarbeiten, lebenslänglich und darüber hinaus. Gutes Wissen für gutes Geld: das muss
irgendein Pakt sein, den die erwachsene Gesellschaft ihren Gliedern
anträgt. Aber wer nur Gutes weiß, was weiß der schon? Nichts
Besonderes, könnte man meinen, falls Meinen hier in Betracht käme.
Man erforscht die Produktion von Wissen, wie man die Produktion von
Gülle erforscht – mit zugehaltenen Nasen und einer durch Ekel
gesteigerten Lust an dem, was da auf einen zukommt.
Diese sorgfältig konstruierten Fälle, diese akribischen Tüfteleien,
das Auf-Messers-Schneide-Wägen, das Um-die-Entscheidungen-Wissen,
diese jahrtausendlange Arbeit der Moralisten, das
Auf-den-Stand-Bringen eines Gesprächs, das ohne Anfang scheint und
unaufhörlich die Gemüter fortreißt, Illustriertengeschichten und
Bettlektüren – währenddessen gehen die Metzeleien ihren Gang,
entzücken imperiale Gebärden die verschwiegenen Herzen der
Friedfertigen, gehört Genozid zur Statistik. Realität und Moral
spielen, wie allgemein bekannt, in verschiedenen Räumen.
Schuldphantasien, das Sich-Hineinträumen in die großen
Entscheidungen der Vergangenheit, das imaginäre Soll und Haben der
Menschheit berührt Moralisten weit stärker als die
Zwangsläufigkeiten ihres unausweichlichen Tuns. Leicht, nahezu ohne
Bodenhaftung, erfechten sie ihre Siege, verzeichnen sie ihre
Niederlagen. In welcher Handlung geht ihre Gleichung auf? Gibt es
Anhaltspunkte, um sich zu orientieren? Der Zyniker nebenan weiß es
besser, kann es aber nicht äußern. Und das ist auch nicht schlecht.
Nach einem soliden Saufabend in der Provinz lässt sich beobachten,
was jeder weiß: auch Kategorien unterliegen der Artenwahl. Manche
setzen sich durch und dominieren den Sex, währenddessen andere ab- und
ausfallen und verheerende Rätselschneisen in die Wahrnehmung
fräsen. Zu den notorischen Säufern zählt auch die Öffentlichkeit,
der heute diese, morgen jene Kategorie abhanden kommt, ohne dass
sie sich das anders erklären könnte als durch einen Lernprozess.
Dinge, die gestern noch mit Leichtigkeit zu verstehen waren, liegen
ihr heute schwer im Magen und erfordern diätetische Maßnahmen, vor
denen einem im Privatleben graust, aber sie geht darüber mit
Leichtigkeit weg und erklärt sie für ›unverzichtbar‹. Das Wort
lässt sich bequem als Anzeige eines eingetretenen
Kategorienschwunds lesen. Wann immer etwas unversehens als
unverzichtbar gilt, kann man fast sicher sein, es handelt sich um eine
Zumutung für den Verstand. Er soll beschäftigt werden,
damit er den Verlust an Mitteln nicht bemerkt oder wenigstens nicht
dazu kommt, sich zu beklagen. Ach was, stolz soll er sein auf die
kolossalen Aufgaben, die seiner warten, und Stein und Bein
schwören, dass er endlich ›an den richtigen Fragen‹ arbeitet,
während ihm die Zauberfee sanft über den Scheitel fährt und ihn
unbemerkt an den Busen drückt, dass ihm Hören und Sehen vergeht. So
sah man einst biedere Literaturwissenschaftler in die black box des
öffentlichen Bewusstseins hineinwandeln und grimmige
Universalgrammatiker wieder herauskommen. Seit die Genforschung
boomt, gehen viele gern über Leichen und behaupten, es sei die
Evolution, die sie zu solchem Tun animiert. Warum nicht?
Das Frausein zum Beispiel will mittels einfacher
Versuchsanordnungen gelernt sein, während es sich im Privatleben
ungerührt fortschreibt, so dünkt sich jeder der öffentlichen Rede
überlegen und lernt, sie durch zweckmäßige Anwendung auszubeuten,
nach einem Motto, das man einst im Badischen auf einer
Elternversammlung vernahm: »Gelle, des kenne mer aa!« Sie können es,
sie können es.
Weissagung aus Spiegelbildern, eine in unseren Breiten seit dem
Ende des letzten Krieges mit ungeheurer Leidenschaft Woche für
Woche ausgeübte Form der weißen Magie, die zum Teil recht paradoxe
Ergebnisse zeitigt – nicht immer zum Wohle ihrer Betreiber. Für
Gesprächsstoff ist in jedem Falle gesorgt. In heißen Zeiten
erzeugte diese Form der Weltverspiegelung bereits Klimawandel, die
es in sich hatten und dem von 2007 in nichts nachstanden.
War der Spiegel schon immer ein Gerät mit reflektierender
Oberfläche, das der Selbstschau diente, so gilt die ruhige
Wasseroberfläche als ältester Spiegel. Ein erster Fall von
Katoptromantie findet sich in der griechischen Sage. Narziss
erblickt sich selbst in einer Quelle, verliebt sich in sein
Spiegelbild und wird darüber in die nach ihm benannte Blume
verwandelt.
Spiegel sollen – wie andere eng mit ihm verbundene Gegenstände –
Charaktereigenschaften ihres Besitzers aufnehmen und sie bei
Wechsel des Besitzers auf den Nachfolger übertragen. Agrippa von
Nettesheim schrieb dazu: »Man sagt, dass Personen, welche das Kleid
oder Hemd einer Hure anziehen oder den Spiegel, in dem sie sich
täglich beschaute, bei sich tragen, frech, furchtlos, unverschämt
und unzüchtig werden.« Demgegenüber ist anzunehmen, dass es sich
bei der Form der Katoptromantie, die heutzutage praktiziert wird,
eher um eine Art frei flottierender, zu Zwecken der
Volksaufklärung magisch verbrämter Nabelschau handelt.
Alle Versuche der Obrigkeit, sich des Phänomens zu entledigen,
sind kläglich gescheitert. So hat die Regierung der
Volksrepublik Greisenau auf ihrer vorerst letzten gemeinsamen
Sitzung endgültig beschlossen, die Katoptromantie für ihre Zwecke
zu nutzen. Ähnliche Versuche kennt die Forschung bisher nur von der
altrömischen Augurenschau. Von daher ist man gespannt auf die
Ergebnisse einer Feldstudie über die gesellschaftlichen
Auswirkungen dieser Entscheidung, die 2011 zum Abschluss kommen
soll, zumal in den letzten Jahren im öffentlich-rechtlichen Bereich
eine Reihe von Änderungen und Entscheidungen zu verzeichnen waren,
die im Ganzen eher als Rückkehr zu Adam und Eva zu bewerten
sind. – Frage eines bayerischen Abgeordneten: »Habt’s ös jetzt a
aan Spiegel?« - AC
Wem, bitte, genügt schon, was er hier sieht? Nicht jedem, das kann
gar nicht anders sein. Die Katze hingegen, dem Allerheiligsten
gegenüber, kennt keine Scheu und sie scheut kein Genügen. Sie
sieht, was sie sieht, und es genügt ihr. Daher lässt ihr Anblick
die Tränen im Entstehen trocknen, die er hervorruft. »Wie süß«,
rufen Menschen aus, denen es graut. Das süße Grauen stolziert über
Tisch und Bänke oder zwischen ihnen hindurch, als kenne es den
Unterschied, sei aber nicht gewillt, ihn zu respektieren. ›Für ein
Linsengericht‹, könnte es den Menschen, den Denker von Lichtel
zitierend, zurufen, ›für ein Linsengericht habt ihr dieses Vorrecht
aufgegeben. Nun seht, wie ihr zurechtkommt.‹ Das erklärt manches,
darunter den Aberglauben, Katzen seien stolz. Nichts liegt ihnen
ferner. Wer das Stolzieren beherrscht, lässt sich von keinem Stolz
beherrschen. Der Stolz liegt den Menschen schwer auf, so dass viele
versuchen, unter ihm durchzuschlüpfen – ein vergebliches
Unterfangen, wie jeder weiß. Die Katze hingegen, im Entweichen
geübt, scheint immer gerade dem Tabernakel zu entsteigen, das
hinter ihr zuklappt wie ein ausgelesenes Buch. Da steht sie, ein
Bewusstseinstier, man könnte ihr Hörner andichten und sie, die
ernste, würde sie fortlächeln durch Gegenwart. ›DB‹ lauten ihre
Initialen – DU BIST.
Ich habe mein Wort gesagt und erinnerungslos gehe ich darüber weg.
Heißt das: immer wieder leben? Oder: den Tod versäumt haben? Oder:
einer Täuschung erlegen sein? Oder: noch nicht durch sein? Vor welchen Instanzen?
Kann es hier Instanzen geben? Sprechen sie von jenseits des Stroms
oder sind sie ein Echo des Geräusches, das ich bin, ohne es zu
bemerken? Das Totengericht inmitten von Zimmerpflanzen, bei
laufendem Geschirrspüler wirkt fremdartig, unwirklich, komisch. Es
erscheint den Leuten ›kafkaesk‹. Das Kafkaeske ist der
Kehrichtbesen der Munteren, er putzt jede ernsthafte Erwägung weg.
In den Kernbereichen der Gesellschaft werkeln Menschen mit einem ernsthaften Mangel an Phantasie: verlässliche Leute, denen es nichts ausmacht, Jahr um Jahr die gleichen Handgriffe und Redensarten zu wiederholen und dabei, wie sie sagen oder zu sagen behaupten, ununterbrochen zu lernen: sie sind die Vor-Macher und Vor-Lerner der anderen und dürfen sich keine unvermuteten oder unvorbereiteten Schritte erlauben – zum Beispiel aus Ungeduld oder weil eine Laune sie anwandelt oder, auch das wäre immerhin denkbar, weil sie einem Gedanken nachgehen wollen, der unvermittelt in ihnen aufleuchtet. Spitzenwissenschaftler, Spitzenpolitiker, Spitzenpolitiker, sie sind alle vom gleichen Schlag. Jeder von ihnen ist ›gut in‹: eine frühe Eingebung brachte sie auf den Weg und ihn laufen sie sich abspulend, weg. Der weggelaufene Weg oder der vergebene Fortschritt: mittlerweile läuft ihre Zeit ab. »Das haben wir gemacht«, bekunden diese Handlanger des Wirklichen, »dazu stehen wir!« Sie sagen es, wie sie es meinen. Am Ende stehen sie als Götzen einer untergegangenen Zeit in der Landschaft, mit einem heimlichen Gruseln bedacht, denn jeder sieht doch: sie meinten es gut. – »Das hat schon was gebracht, damals, das waren andere Zeiten.« So lautet die freundliche Variante, die feindselige klingt anders, aber die lassen wir weg. Verlässlichkeit ist die Tugend der kleinen und großen Leute. Sie ist die Eigenschaft, die sie verbindet und zusammenhält. Schritt halten ist das Geheimnis aller sozialen Erfolge. Es gibt andere, aber die überlässt man gern Menschen, denen Misserfolg nichts ausmacht, weil sie ihn kaum bemerken, und wenn doch, mit einem Lächeln quittieren, da ihnen der Unterschied zu gering vorkommt, um davon Aufhebens zu machen.
Niemanden in Europa schreckt die jahrhundertelange fromme
Überformung des antiken Weltwissens, niemanden dessen Verwandlung
in etwas anderes nach seiner triumphalen Wiedereinführung,
niemanden das Versinken des ›christlichen Weltbildes‹ in den
Strudeln einer Begrifflichkeit, die, zwischen ein paar stabile
Henkel gefasst, eine Dauer genießt, die konstant gegen Null
tendiert, aber durch die Trägheit der gesellschaftlichen Akteure
eine Art Nachleben zu Lebzeiten führt: Hülsen nachgeschleifter
Ideen, die im voraus jedem halbwegs aktuellen Gedanken ein feuchtes
Grab im gutmütigen oder beißenden Spott der Nachgeborenen
versprechen.
Niemanden schreckt dergleichen, weil die Alternative
dazu nicht sichtbar ist. Nicht wenige wären über Nacht bereit, sie
zu ergreifen, aber der Griff ginge ins Leere. Stattdessen wissen
wir notorisch Bescheid, wissen, was wir ›vom Menschen‹ zu halten
haben (nichts), von der Gesellschaft (alles), vom Körper (das
meiste). Wenn wir zum Therapeuten gehen, dann weiß auch er
Bescheid. Er hat seine Theorien gelernt und benützt ihre Begriffe,
wobei er durch die Finger sieht oder blinzelt: erst das Blinzeln
erlaubt ihm den Abgleich. Er ist stolz darauf und nennt es
Erfahrung oder Intuition, aber es ist nichts weiter als
Gutmütigkeit: gutmütig lässt er die Begriffe gelten und den
Patienten, nebeneinander, durcheinander, außer einander und
miteinander. Nicht anders der Student, der dem Professor die Wörter
vom Mund abliest und bereits andere formt, den Widerspruch formt,
bevor ein einziger Grund sichtbar geworden wäre, der es ihm in der
Sache geböte.
Geht doch –
das gilt, weil es gilt, weil die Geltung nicht an der Richtigkeit
einer Sache hängt, sondern an der Art von Beharrungsvermögen, die
unter Menschen Erfolg genannt wird. Der Aufforderung ›Mach dich
nicht lächerlich‹ ist die Lächerlichkeit eingebrannt, sie enthält
den Wunsch, der andere möge das Lächerliche aus sich heraussetzen,
aber nicht jetzt, nicht hier, nicht unter uns. »Warte, bis ich die
Tür hinter mir geschlossen habe, dann hast du frei, dann darfst du
tun, was du nicht lassen kannst.« Unverständlich werden Theorien,
sobald der Erfolg sie verlassen hat, sobald ihre Leichen den
Hermeneuten anheimfallen, welche die Frage, warum just diese hier
oder jene dort so lange geglaubt wurden, niemals schlüssig
beantworten können, weil sie schon zu ihrem Kern nicht mehr
vorstoßen können. Jeder gesichtete Kern ist ein anderer, das
verbindet ihn mit dem Ich der Verbrecher und der Poeten. Seine
traurigen Tänze vor versammelter Kennerschaft erinnern entfernt an
– ja was? Kerndiener, seid wachsam, ihr werdet gebraucht! Es macht
nichts, wenn euch die Systemdiener gegenwärtig den Rang ablaufen,
ihr kommt wieder, daran besteht kein ernsthafter Zweifel.
Die Kernschmelze beginnt in den Gehirnen und breitet sich von dort fächerförmig aus. Fragt man die Leute: »Wollt ihr den totalen GAU?«, dann zeigen sie sich interessiert, schließlich wäre es einmal etwas Neues und so schlimm wird es schon nicht kommen. Sie reagieren also, wie Menschen so reagieren, teils-teils, das Restrisiko kennen sie und die Mehrzahl nimmt es billigend in Kauf, weil sie weiß, dass es im Ernstfall den anderen trifft, man selbst wird es schon zu vermeiden wissen. Das Leben ist risikobehaftet und wenn man dem Risiko eine angenehme Seite abgewinnen kann, dann hat man ihm ein Schnippchen geschlagen. Das ist nichts Geringes, verglichen mit den endlosen Möglichkeiten des Darbens und Frierens, des Abgehängt- und Verlorenseins. Der Mensch braucht eine Perspektive und die treibt ihn an die Spitze des Zuges. Wenn endlich die Bilder vom Unglück der anderen eintreffen, dann reagieren die Gehirne menschlich, das heißt, sie wollen nicht, dass sie selbst so etwas trifft, sie wollen es um keinen Preis. Diese Phrase hat etwas, das selbst in der Katastrophe erheitert, weil es besagt, dass sie, schreckverloren, wie sie nun einmal sind, gar keinen Preis zu zahlen bereit sind, weder diesen noch jenen, geschweige denn alle beide. Führer aus der Not, Anführer der Verwirrten oder Filou der Stunde ist gerade der, der ihnen versichert, dass das Abschalten folgenlos bleibt. Aber das wäre ja... Wer zum Teufel hat uns da hineingeritten, wenn ein Fingerschnipsen genügt und der Spuk ist vorbei? Warum schnipst denn keiner? Warum versteinern ringsum die Gesichter, wenn die Hand zum Ausschalter tastet? Warum trägt das Eigeninteresse so unbeeindruckte Züge, wenn es in Gestalt des Anderen entgegentritt? Ein Glück, dass es wenigstens in den Medien wütet und stürmt.
»Kinder, schämt ihr euch nicht?« Nein, sie schämen sich nicht, die lieben Kleinen, und sollten sie wider Erwarten sich einmal schämen, dann kichern sie dazu töricht und finden sich Spitze. Wider Erwarten? So sollte das Wort nichts gelten? Das Wort, auf das alles ankommt? Wer besitzt so wenig Schamgefühl, mit Wörtern zu spielen, die doch das Wichtigste ausdrücken sollen? Wer tunkt sie in den Putzeimer, in dem diese schmutzige Brühe steht?
Die Männer sind gut beraten, sich ihrer Kinder ein für alle Mal zu
entschlagen, sobald die Mütter illoyal werden. Das sind die neuen
Gegebenheiten, die so neu nicht sind, aber von denen, die sie
zuerst betrafen, systematisch verschwiegen wurden – Stoff für
Therapeuten und Richter, die die Misere seit langem kennen und als
individuelles Elend verwalten. Nichts daran ist individuell als die
Umstände; alles andere ist dem Krieg gegen die Väter geschuldet,
der vor vierzig Jahren entfesselt wurde und in den Kindern noch
längst nicht zu Ende gegangen ist. Es wird immer nachgelegt.
Wortführer nennen es Zukunftsfähigkeit und das blanke Gegenteil
wächst heran: eine neue Generation ›Geschädigter‹, die ihre
Obsessionen weiter tragen wird. – Was sind das für Menschen, die
ungerührt das Elend der anderen verdoppeln? Öffentliche Heuchler,
ideologische Hochstapler und Klinkenputzer vergangener Schrecken,
die glauben, privat davonzukommen. Ein Irrglauben, so recht
geschaffen für die Kirche der Hartköpfigen und Hartherzigen, deren
Gehirn nicht mehr als einen Gedanken zu fassen vermag. Dieser,
durch einen historischen Zufall in sie hineingeraten, hat
Prägestempel aus ihnen gemacht: ungestalt selbst, ungenießbar für
die Erfahrung, die sich früh abwandte.
gewöhnlich um die Lebensmitte herum einsetzend, galoppierende
Spätfolge eines betont asymmetrischen Kindschaftsverhältnisses
(unglaublich, dieses Wort), in dem die Mutter alles, der Vater
nichts oder weniger als nichts ist, das Negativ, die Folie, vor der
alles ins Positive geredet und gewendet wird, was so geht oder gar
nicht geht oder längst daneben gegangen ist. Übrigens nicht auf
Väter und ihren irren Spät-Stolz auf die Töchter beschränkt.
Weniger bemerkt, aber nicht weniger aufschlussreich die Neigung von
Frauen, sich ein zweites Mal an ihre Kinder zu verlieren, die
erwachsenen Kinder erneut auszutragen. Dazu gehört nicht besonders
viel, es reicht doch, die Welt erneut in eine Innenwelt zu
verwandeln, sich als schützenden Mantel zwischen die jungen oder
nicht mehr jungen Leute und das zu stellen, was andere Generationen
›existentielle Erfahrungen‹ nannten. Schwer zu entscheiden, wer da
wem etwas antut und wo die Entgleisung beginnt, schließlich weiß
niemand, wohin die Reise geht. Ein inverser Generationenkonflikt
tut sich hier auf; die ältere Generation kämpft ihn mit sich selbst
aus, bis zur bitteren Neige, und bittet die Kinder inständig, sich
da herauszuhalten, die Opferrolle nicht aufzugeben, in der man sie
nun einmal sieht und behalten möchte – um jeden Preis, auf
absehbare Zeit oder Unzeit.
Ich habe ein Kind, verstehen Sie, ich habe ein Kind, das klingt ziemlich
possessiv, ganz schlecht, besser hätte ich für ein Bankkonto sorgen
müssen, für unzweifelhaften Besitz. Aber das ist nicht richtig,
denn ich habe zwei Beine, zweifellos auch ein Possessivverhältnis,
doch auch eine – Leibeigenschaft, wäre das Wort genehm? Also eine
Leibeigenschaft. Ganz so weit möchte ich doch nicht gehen, sobald
es sich um eine Grippe oder den Grauen Star handelt, das wäre auch
ein Possessivverhältnis, aber ein abstoßendes, jedenfalls wäre ich
die beiden gern los, was nicht so einfach ist, sie benehmen sich
wie eine Verwandtschaft, die nicht weiß, wann es Zeit ist zu gehen
etc. Nun, ich habe ein Kind, das nicht weiß... aber was? Man hat es
mir abspenstig gemacht, so heißt das, man hat es, in täglicher
zäher Kleinarbeit, darauf dressiert, keinen Vater zu haben, was ist
daran merkwürdig? Aber ja, ich kann es Ihnen sagen: Vordergründig
arbeitet da diese Person, zu der ich einmal eine Beziehung hatte,
vordergründig arbeitet da immer eine Person, es gibt viele solcher
Personen, zu viele, denn hinter ihnen steht etwas, das Druck macht,
etwas, das manche Leute Gesellschaft nennen, die Gesellschaft, so wie man sagt:
der Oberförster, und alles
ist geklärt.
Die Gesellschaft also stünde hinter jener
Entfremdungsarbeit, dieser Entfernungsarbeit, da ist etwas dran,
sie redet leise, sie redet laut, sie redet in eine Richtung, das
ist es: Sie redet durcheinander, aber in eine Richtung. Mag sein,
ich täusche mich und das alles ist längst vergangen. Manchmal höre
ich die Stimme meines Kindes, aber wie aus weiter Ferne, dann
steckt es sich wieder, denn es ist fast schon erwachsen, den Knebel
in den Mund und die gewohnte Sprachlosigkeit beherrscht das Feld.
Beherrscht das Feld. Manche sprechen da von Therapie. Aber wie
therapieren, wenn es um Übergriffe geht, um wirkliche, nicht
endende Übergriffe? Wenn sie doch aufhörte, diese Gesellschaft.
Vielleicht ist sie ja längst nach Hause gegangen, vielleicht sitzt
in dieser Maschine, die auf unseren Feldern fortrattert, einem
Traktor nicht unähnlich, nur noch ein Automat, programmiert von
Leuten, die ruhig im Altenheim sitzen und Gott Alzheimer eine Socke
weihen.
Gehen Sie, nein, gehen Sie nicht, wer weiß, wo Sie in diesem
Zustand sonst ankommen, ungestraft tut das keiner, wenigstens auf
längere Zeit. Also hören Sie, ich bin Ihr Beichtvater, ich könnte
Ihnen Ihre Sünden erlassen, sie bräuchten sie mir nicht einmal
anvertrauen, ich bin über Sie im Bilde. Woher ich das weiß? Fragen
Sie mich lieber, warum ich mit Ihnen rede. Gehen Sie, auch diese
Frage sei Ihnen erlassen, ich erkläre es Ihnen später. Wir beide,
Sie und ich, sind aus demselben Stoff, ja? Wir beide also... Ich
möchte Ihnen eine Geschichte erzählen, obwohl... Ich fürchte... Was
fürchten Sie denn? Nur heraus mit der Sprache. Doch nicht etwa...?
Genau das? Sehen Sie, ich bin nicht gekommen, um Ihre Befürchtungen
zu zerstreuen, das gerade nicht, und wie es sich nun anhört,
scheinen Sie ja... Habe ich Sie falsch verstanden? Habe ich Sie
falsch verstanden? Nun, ab jetzt sollten wir uns richtig verstehen,
bevor ich Sie wieder hinausschicke, denn verstehen Sie, die
Situation kann nicht ewig so weiter gehen, sie muss doch einmal zu
einem Ende kommen. Alles hat einmal ein Ende, sagen Sie? Das ist
einer von diesen Sprüchen, die mich ärgern, soweit ich zurückdenken
kann. Wenn ich so etwas sage, geht das in Ordnung, es gehört zu
meinen Berufspflichten. Bei Ihnen ist es eine überschießende
Bemerkung, die Sie disqualifiziert. Merken Sie nicht, dass Sie sich
disqualifizieren? Nein? Sie merken nichts? Auch gut, das trage ich
mir ein. Dafür benutze ich eine Kladde. Was mir das einträgt? Was
mir das einträgt? Das fragen Sie? Gut, fragen Sie. Sie haben ein
Recht, also fragen Sie. Aber lassen Sie sich nicht zuviel Zeit, es
könnte sein, dass wir in den Regen kommen. Wie ich das wieder
meine? Ganz einfach. Vergessen Sie also den Regen, es wird Ihnen
ohnehin nichts nützen, ich sehe erst jetzt, dass Sie völlig
durchnässt sind. Wie konnte das geschehen? Völlig durchnässt! An
einem solchen Tag. Sind Sie eigentlich bei Trost? Nein? Deshalb...
der Aufwand hier? Den hätten Sie sich schenken können, ich warne
meine Klientel immer, bei mir gibt es nichts zu holen, Sie müssen
schon alles mitbringen. Habe ich etwa einen Bauchladen? Eigentlich
müssen Sie mehr mitbringen, das ist ein Geheimnis, das ich für
gewöhnlich aufhebe. Da, ich schenke es Ihnen.
»Ein Kirchentag«, erklärt Adler, »ist die Nacht, in der alle Katzen grau sind, noch einmal, aber bei hellem Tage.« »Wie kann das sein?« erkundigt sich Eule, sichtlich bewegt von dem Gedanken, verstanden zu haben und doch nichts zu verstehen. – »Es kann sein«, erklärt Adler etwas gestelzt, denn er setzt sich ungern Fragen aus, deren Sinn er nur schwer ausloten kann. »Wäre es anders, so gäbe es keine Kirchentage, sondern nur Kirchennächte. Das wäre zwar kein Verlust, aber wer weiß, welche Konflikte solch ein Wort, dem in Wirklichkeit nichts entspricht, am Ende auslösen könnte.« »Am Ende«, zischt Eule, »an welchem Ende?« – nicht wissend, dass Adler mit seinem Kirchenlatein am Ende ist und sich gern zurückziehen würde. Nun fühlt er sich gestört und hackt nach den Kleinen.
»An welchem Ende? Wer das wüsste… Am Ende der Schlange, an diesem wie an irgendeinem anderen, stehen aufgereiht die stolzen alten Wörter, die einen gedrückt, die anderen gebeugt, die dritten genötigt, hinfällig alle, und kein A im U kann ihnen helfen.«
»O«, zirbelt E, »das versteht sich dann aber von selbst.«
Der einzige Zustand, in welchem sich göttliche Wesen anrufbar und
in der Süße beschaulicher Zuckerwolken erhalten haben, ist der
Kitsch. Besonders die Geduld der Venus in Mode und Parfümerie, aber
auch die Milde der anderen Götter, erlaubt diesen letzten und
echten Ausdruck der Religiosität, seit sich die Kunst, in Unterwerfung unter die große
Vernunft, zur reinen Wahrheit der Photographie entschlossen hat.
Dieser üble Zustand vertritt die Härte der gnadenlosen
Selbstbespiegelung, die zunächst den Teufel als unbekanntes Wesen
zum Teufel gejagt hat, um dann ahnungslos zum schlechteren Teufel
zu werden.
Es darf in diesem Zusammenhang gesagt werden, daß die Pietà Michelangelos, angesichts der
zahllosen Unfälle der Menschheit, niemals auch nur eine einzige
Träne vergossen hat, und selbst wenn es geschehen wäre, hätte es
niemand geglaubt. Nur süßlich bemalter Kitsch hat je um die
Menschen geweint.
Da aber jeder nachdenkliche Kunstfreund die Wirkungen der Dämonen,
ihre Anwesenheit im kleinsten Gegenstand unter dem Tisch und im
Zimmer bemerken kann, vorausgesetzt, dass er noch nicht prophetisch
erblindet ist, bleibt die Sichtbarkeit ihres geheimnisvollen Wesen
dem frommen Kitsch und den Obskuranten überlassen.
Der Surrealismus, dessen Instinkte dies immer bewahrt haben, trägt
deshalb offen oder heimlich das Brandzeichen seiner aufgeklärten
Verächter, wie es das unaussprechbar gewordene Spätwerk Chiricos
beweist. Um aber alle die zahllosen geheimnisvollen Träger des
Lebens, die sich unablässig im Unbekannten verwandeln, nicht zum
Schaden der Spekulationskraft des menschlichen Geistes zu
vergessen, stiftet die Gnade der fernen Mächte, nicht allein nur
für arme Leute, wie die petit
raison so gerne behauptet, den frommen Kitsch. Er befördert
jede phantastische Lüge, den ornamentalen Schmuck jedes schönen
Gedankens, und sogar den berühmten ›immerwährenden Genuß der
Erdbeeren‹ als kaiserlich gesegnete Süßspeisen des Gemütes, ohne
Bedrängung durch Fakten, nach Bosch. Und schließlich, da der
Sauberkeit und Ordnung durch ungeschickt geschwungene Putzlappen
nicht nur Hekatomben köstlicher Porzellane und alter Gläser zum
Opfer gefallen sind, duldet der Surrealismus des Kitsches sogar den
Staub und das Spinngewebe, die selbstverständlich zur überladenen
Kirche des Kitsches gehören. Homomaris behauptet, die
Wartezimmer der Ärzte beschädigten die Phantasie eines Menschen für
sieben bis vierundzwanzig Stunden. - PM
Es zerrt an den Nerven, zu sehen, wie sich die Kleinen bekriegen,
während die Großen, verzaubert durch ein Kalkül, das jeder kennt,
fest an der Kette liegen. Sie müssen fest sein, die Großen, eine
Mischung aus Sphinx und Gipfel. Es genügt, dass einer von ihnen ein
wenig Geröll ablässt, um ganze Landschaften zu verheeren – äußere
wie innere, daran kommt keiner vorbei. Oder doch? Woher der Wunsch,
den Spalt aufzuspüren, der den Durchstieg ermöglicht? Sind die
unteren Gletscher nicht gefährlich genug? Woher diese Sportsucht
nach dem extremen Kitzel? So sollten die Beruhigten gerade nicht
fragen, solange sie wissen, was sie so grandios beruhigt hat. Es
ist ihr Spiel, das sie der Welt überließen, weil sie es mussten,
und das jetzt andere spielen. Nach der Geschichte ist vor der
Geschichte – das wäre eine alte Geschichte, oft erzählt und
nichts Besonderes insofern, als das Besondere daran nur die
Verteilung der Rollen betrifft. Auch da kann man sich täuschen. So
mancher spricht von ›kommenden Mächten‹ und unterdrückt das Jucken
in der Hand, das ihn peinigt. Geschichte ist offen. Fragt sich, für
was.
Im Yagir liest man die Klassiker nicht, man ist natürlich weiter als sie und blickt sinnend in die Ferne, wenn einer aus ihnen zitiert. Dennoch behält man sie bei, das Wort Klassiker kommt von Klasse und meint alles, was Schulklassen langweilt, so dass sie fürs Leben genug davon haben. Das ist ganz normal und wäre keinerlei Aufhebens wert, wenn nicht von Zeit zu Zeit etwas passierte, was die Leute klassisch nennen, weil es ihnen vorkommt, als hätten sie dergleichen schon öfter gesehen, ohne dass sie sich gleich daran erinnern können. Man müsste mehr alte Filme sehen, seufzen sie dann, denn sie kennen, wenn es hart auf hart kommt, nur Filmklassiker und auch da nur diejenigen, die auf die Leinwand kamen, solange sie jung waren. Überhaupt ist die Jugend ihr ewiger Klassiker, vermutlich, weil sie darin die Hauptrolle spielen. So muss es sein, so ist es überhaupt richtig und deshalb wirken all die Profis verschoben, die aus Gründen den Gelderwerbs den Jungen ihre künftigen Klassiker streitig machen, indem sie alles, was ihnen unterkommt, praktisch ohne Schamfrist klassisch nennen, nur weil sie später ohnehin tot sind und nichts mehr zu sagen haben. Klassisch ist das Versagen der Älteren angesichts der Aufgabe, die das ewige Jungsein ihnen stellt, ein Thema, immerhin, der ältesten Klassiker, die ihre Versager auch schon von innen kannten. Homer zum Beispiel – sehen Sie, ein Alters-Ausreißer, wenn Sie mehr davon wollen, lesen Sie das Feuilleton oder, besser, die Blogs der abgehalfterten Feuilletonisten. Schon grinsen sie, Homer Simpson im gefletschten Gebiss (eine schwachsinnige Maskerade, die für tausend andere steht), sie haben die Kurve gerade noch bekommen und schleudern in halsbrecherischer Manier auf die nächste zu. Sagen Sie nur ›Dioskuren‹ und ein paar erbleichen bereits, weil sie den Comic noch nicht kennen. Überhaupt kann man nicht alles kennen, das meiste lohnt den Aufwand nicht, ›klassisch‹ kommt von ›klasse‹ und klasse ist, was praktisch nicht vorkommt. Ein klassisches Argument, das leider den Sinn des Daseins verfehlt, der lautet: Sei klassisch! Lebe im Jetzt! In meiner Umgebung lasse ich nur Klassiker zu, sie sollen sich anstrengen, die Hunde, sonst sende ich sie in den Orkus. ›Ent-sende‹...?
Wir haben, liebe Kinder, die Sprache der Gesellschaft gelernt,
jetzt lernen wir die der Kultur. Schwer ist das nicht, es geht fast
von selbst. Gesellschaft, wann war das? Wir wollten etwas
erreichen, etwas durchsetzen, und nun ist es
durchgesetzt und durchsetzt von etwas, das nicht gemeint war und
nicht gemeint sein konnte, denn es ist irgendwie... gemein, man
könnte fast meinen, es sei die Gemeinheit selbst, die sich an die
Spitze des Zugs gesetzt, die sich durchgesetzt hat und nun, in die
anspruchsvollsten Gesinnungen gewandet, einherschreitet. Und hat
sie nicht recht? Man fertigt sie ab, mit höhnischen Worten, und
bedient sich ihrer, ohne mit der Wimper zu zucken, ohne viel
Federlesens, ohne ein Aufheben davon zu machen, da liegt vielleicht
der Fehler. Man hat vergessen, die Gemeinheit aufzuheben, per
Dekret, im Mondschein. Die Gemeinheit ist nicht so gemein, wie es
scheint, sie ist riesengroß und überaus differenziert, überdies
anhänglich, sie kommt überall mit hin. Das irritiert die
aufgeräumten Gemüter, sie halten sie für einen Fleck und wischen
sie weg, aber sie ist immer noch da. Zwischen Kultur und Gemeinheit
besteht ein reger Verkehr, sie tauschen sich aus – über die Köpfe
all derer hinweg, die wissen, wohin der Zug geht. Die Kultur ist
das Organon der Gemeinheit, wer sich weigert, sie zu buchstabieren,
findet leichter in den Klatsch als ans Ziel.
Beppo Kleiberlín, Grundstücksmakler aus Kleie, einst Sorgenkind seiner Mutter, jetzt großer Maxe, steht vor dem Aus. Welchem Aus? Amtsgericht? Sitte? Steuer? Häusliche Gewalt? Keine Spur. Er steht vor dem Weltgericht. Wie kommt er denn dahin? Nichts leichter als das. Fragen Sie Beppo! Nein, besser nicht. Beppo redet sowieso schon zuviel. Beppo weiß alles besser. Hören Sie nicht auf ihn. Hören Sie auf das Weltgericht. Es allein weiß, wie es soweit kam, und jeder begreift, was es sagt. Scheiß auf Beppo! Beppo genießt seine Rolle, er füllt sie aus.
Welt-Bösewicht! Aus Kleie! Wie geil ist das denn? Ziemlich geil, wenn Sie mich fragen. Warum fragen Sie dann…? Nein, ich ziehe die Frage zurück. – Sie stehen ja mauloffen in der Landschaft. So kommen Sie dem Phänomen nicht… Sie kommen von Beppo nicht los? Sie kleben fest? Aber das will er doch. Den Rattenfänger aus Kleie, so nennen sie ihn und: zu Recht! Alles zu Recht. Hat er denn keine Gegner? Was? Viel zu viele? Er wächst an ihnen? Er steckt sie alle in den…? Sprechen Sie Ihre Sätze zu Ende und kratzen Sie sich nicht so ordinär. Was weiß so einer schon von der Welt? Was, sagen Sie, eine ganze Menge? Sind Sie von Sinnen? Warum hilft uns keiner? Aber nein, so laufen die Dinge nicht. Beppo ist eine Marke für sich. Things went wrong. Wo hat er bloß dieses Kauderwelsch her? Von ganz oben? Von ganz unten? Wie man’s nimmt? Aber so nehmen Sie doch…
Stoppt ihn jetzt, das Weltgericht Fragt euch nach den Gründen nicht. So spricht sie, Volkes Seele, mit ein bisschen Nachhilfe aus den Medien. #BeppoRaus. Altes Volksgut, frisch wieder aufgelegt. Und wie es stimmt. Das Weltgericht will keine Gründe wissen, über Gründe verfügt es im Überfluss. Hier öffnet sich ein Abfluss und es schüttet hinein, was es hat. Es will den Abgrund stopfen, der sich unter den Füßen auftat. Wie darf ein solcher…? Wie kommt ein Kleiberlín dazu, Abgrund spielen? Was hat ihn dazu befugt? Ist dieser Abgrund echt oder spielt er ihn nur? Ist er echt, wie kommt Kleiberlín dazu ihn mimen? Ist er nicht echt, was regt man sich auf? Ein Clown, eine Megafaust für den Clown! Ist es das, was Angst macht? Warum wird plötzlich ein Clown so reich? Eine Rotznase, ungeputzt. Wer hat den Clown so reich gemacht, dass er, der Umwege müde, nur eines will: Unlimited power? Warum? Ist er kein Einprozenter? Vielleicht ist er nicht so reich, wie die Leute denken. Ist er ein Einprozenter? Falls nicht, sieht es schlimm aus.
Ein Dahergelaufener könnte behaupten: Der
größte Mensch ist der kleinlichste. Aber das wäre
kleinlich und würde der Größe der Größen nicht gerecht. Großtun
mit Kleinigkeiten ist eine Politikergeste. Mein
Politiker zum Beispiel (jeder hat einen, zufällig habe ich
diesen) schlägt sein Twitter auf wie der Priester
sein Brevier. Er greift in die Tasten und schon hat er sich blamiert.
Die Gemeinde verzeiht nichts, Vergebung wirkt nur im
Verborgenen. »Verzeihen Sie«, fragt da ein Unbedarfter, »habe
ich mich in der Adresse geirrt? Das glaube ich jetzt nicht. Nie und
nimmer sind Sie der große K.«
»Ich
bin’s«, ext der große Mann zurück, »ich bin es wirklich!«
»Aber sind Sie echt?«
»Das erfahren Sie an der
Urne.«
Mein Politiker lässt keine Ausschusssitzung aus, solange es Twitter-Empfang gibt. Anschließend steht er auf und vertritt seine Füße. Warum seine
Füße? Haben sie ihn gewählt? Warum nicht mich, der ich ihn gewählt habe? »Kleinerlei«, werde ich ihm eines
Tages sagen, »Sie sind ein Dummkopf. Während Sie auf Stimmenfang
gehen, wächst der Chor der Verstimmten. Hören Sie nichts? Sie
meinen, das wäre der Chor der Hasser? Eine Mistgabel ist keine
Stimmgabel. Merken Sie sich das. Sie kennen den Unterschied nicht? Ja
dann… lassen Sie mir keine Wahl.«
Alles in allem ist mein Politiker ein Mann von Welt. Einmal
aufgestellt, kennt man ihn wie sie alle. Neuerdings schmückt er sich
mit allerlei Gender*Sternchen, als sei er der soundsovielte Staat der
USA. So erklärt sich auch der Satz: Das Parlament ist wieder
sternhagelvoll.
»Das intellektuelle Klima ... ist flau.«
Aber sehen Sie denn nicht, dass es keine Intellektuellen mehr gibt? In welcher Zeit leben Sie? Lesen Sie noch immer die alten Kampfbroschüren und strahlen, wenn es so richtig zur Sache geht? Sie Narr! Sie guter alter Narr! Aber bleiben Sie ruhig, Sie werden immer ein Dach über dem Kopf finden, während andere unter der Traufe stehen und schlucken müssen. Selber schuld? Sag’ ich doch. Jeder ist seines Schwachsinns Schmied. Ihrer ist endemisch, es braucht nicht mehr als die Einladung zu einer Podiumsdiskussion, schon stellt er sich ein. Entspannung! Aber vielleicht finden Sie, was Sie da konsumieren, ›ganz schön anstrengend‹. Das wäre ein Affekt, dem Sie unbedingt nachgeben sollten. Fahren Sie weg, verreisen Sie! Es gibt soviel zu sehen. Was ist hier schon los? Sie versäumen nichts, gar nichts, sage ich Ihnen. Ein Land ohne Perspektive. Verreisen Sie! Es vermisst Sie auch niemand, warum zögern Sie? Kurz treten? Finanzen? In welcher Welt leben Sie denn? Alter? Gesundheit? Also sehen Sie: das Klima...
Wer hätte gedacht, dass das Rennen nach der ersten Weltkirche, die
diese Bezeichnung verdient, von den Klimaforschern gewonnen würde? Dabei war immer klar, dass sie unter den Favoriten einen Extraplatz
beanspruchen durften. Dieser Extraplatz hat sie lange gefesselt, er
hat verhindert, dass sie stracks an die Spitze gingen – zu durchsichtig schienen ihre Spiele und das bisschen Donner und Vogelflug konnte
den Ehrgeiz systematischer Theologen ebensowenig befriedigen
wie die gedanklichen Bedürfnisse, die in der philosophischen
Spekulation ihren Auslauf fanden. Erst der Erfindung leistungsstarker
Computer und die Entwicklung von Programmen, deren hervorstechende
Eigenschaft darin besteht, dass sie Laien vollkommen undurchsichtig bleiben und jeden erbarmungslos zum Laien zu degradieren, der sich
ihnen nicht mit Haut und Haaren verschreibt, war es vergönnt, das
Blatt zu wenden. Seit die Scientific Community zum
Sterntaler-Märchen schrumpfte und verschrumpelte, triumphiert die Klimaforschung, sie hat den organischen Zusammenhang mit den Disziplinen der Wissenschaft längst verlassen und wächst, dank
gesellschaftlicher Angst-Alimentierung, zum über die Maßen vitalen
Krebsgeschwür heran.
Nachtrag;
So sah es eine Zeitlang aus. Mittlerweile scheint die Zahl der Katecheten weiter zu wachsen, während die Laienschar der Gläubigen schrumpft und schrumpft. Dafür ist der Klima-Hype in den Ländern, die sich mit Haut und Haar der Bekämpfung des Klimawandels verschrieben haben, so eindeutig zum Herrschaftsmittel mutiert, dass man sich unweigerlich an die Formel cuius regio eius religio erinnert fühlt. Die Verbindung von Thron und Altar hat ihre Zeit, bevor andere Bewusstseinsformen sie ablösen. Was ökonomisch als Verschwendung erscheint, dient den sogenannten Eliten als sprudelnde Einnahmequelle … ein Modell auf Zeit, wie alle wissen, diejenigen, die sich die Taschen vollstopfen und diejenigen, deren Taschen dafür geleert werden.
Nun also haben sich alle geeinigt: Unser Klima muss schöner werden.
Das klingt einleuchtend, nachdem die notwendigen Einkäufe getätigt
und die Börsen befriedigt sind. Ein schöner Schub wird das werden,
ein schöner Schub. Nur die Klimaforscher sind nicht zufrieden, sie
spüren, dass die Entwicklung sich gegen sie wendet, und wirklich
ist nicht ganz einzusehen, wozu sie noch forschen sollen, wo jetzt
doch alles so klar ist. Natürlich ist nicht alles klar und die
Arbeit wird ihnen so schnell nicht ausgehen, aber tief drinnen,
dort, wo die Forscherseele ihr warmes Plätzchen besitzt, fließen
plötzlich die Tränen: Was wäre, wenn...? Wenn alles ganz anders
wäre, gleichgültig darum, was alles kommen mag? Die Freiheit der
Datenmanipulation ist unendlich, doch nichts gegen die Freiheit,
alle Modelle umzuwerfen und völlig neu anzufangen, mit neuen
Prämissen und neuen Methoden. Und auch diese Freiheit bedeutet
wenig gegen die Freiheit des Findens, vor allem wenn es um neue
Gedanken geht, das ist wie neues Gebäck, aber größer, universeller.
Im Netz der Politik kommt man nicht heute mit neuen Gedanken, wenn
man morgen für die alten bezahlt wird. Aber wer spricht vom Geld.
Der Rechtsradikalismus ist die Kloake der Gesellschaft; jeder ist
aufgefordert, sich hier all dessen zu entledigen, wovon er nichts
wissen zu wollen behauptet – jedenfalls solange andere in
Sichtweite sind. Wer hineinfällt, stirbt den elendesten aller Tode.
Man sagt, es wimmle darin von gefährlichen Elementen. Man muss tief
blicken, um solche Einsichten zu gewinnen, man muss tief in sich
selbst hineingeblickt haben; Exorzisten wissen, wovon sie sprechen.
Aber im Ernst: dass Gesellschaft einen solchen Ort nötig hat, dass
sie ihn unterhält und stets aufs Neue bestückt, zeigt das
Gottähnliche, das ihr noch immer innewohnt – sie erweist sich am
Anderen ihrer selbst und muss es ›unter Kontrolle halten‹. Das
erinnert daran, dass sie auch die Familien kontrolliert, aus denen
sie sich erneuert und die sie nicht völlig unter Kontrolle bekommt.
Der Hinweis mag schräg klingen, aber welche Rede ist nicht
›schräg‹, welche ist nicht abschüssig, sobald man sich diesen
Dingen nähert? Die Familie, der Klan, sie müssen in die
Gesellschaft aufgelöst werden und leben nicht zur Gänze aufgelöst
in ihr fort. In der Gespenstergesellschaft wird jedes ›Vorkommnis‹
zum Menetekel: Man treibt miteinander Entsetzen, so wie man sein
Spiel mit einer Vergangenheit treibt, die keinem gehört.
Der Aufruhr hat eine seltsame Macht, sich selbst im Wege zu stehen. Das liegt größtenteils an dem Hochgefühl, das er in seinen Teilnehmern erzeugt. So ein Aufruhr, denken viele, auch in Ländern, in denen der Mehrheitswille das Sagen hat, ist schon etwas, er ist besser als nichts, denn er schafft Bewusstsein. Der Anfang einer Zufriedenheit ist schon gelegt, bevor es ›der Sache nach‹ Grund gibt, sich zufrieden zu geben, und das ›Bewusstsein‹, so wichtig es sein mag, ist stets gezinkt. Was sich zusammenrottet, muss irgendwann wieder auseinanderlaufen: diese Binsenweisheit verleiht allen Ordnungskräften der Welt ein natürliches Übergewicht, sie müssen nur klug eingesetzt werden und das Momentum nützen, sobald die Zentrifugalkräfte wachsen. »Und was hat’s gebracht?« fragen die Sympathisanten, die abseits blieben, sei es aus Ängstlichkeit, sei es aus Befremden, sei es aus Überzeugung, dass so nichts zu erreichen sei, sei es aus gut versteckter Komplizenschaft mit dem Bekämpften, weil man irgendein Geschäft am Laufen hat und den Gewinn noch einzustreichen gedenkt, bevor alles den Bach runtergeht. »Und was hat’s gebracht?« fragt die politische Konkurrenz, die anderen Handlungsmodellen den Vorzug gibt. Und »was hat’s gebracht?« fragen die Systemfreunde, erleichtert, dass alles so bleibt, wie es ist. »Wie lässt sich so etwas in Zukunft verhindern?« fragen die staatlichen Planer, und da liegt der Knackpunkt. Man muss die Maßnahmen wollen, die von der Staatsmacht ergriffen werden, um für die Zukunft die gleiche Art Aufruhr zu verhindern. Versteht man im voraus, welche das sein werden? Begreift man, was sie, aufs Ganze gesehen, bewirken werden? Will man die Wirkungen? Falls ja, war der Einsatz, er mag ausgehen, wie er will, ein Erfolg. Will man sie aber ›um keinen Preis‹, dann ist es bestenfalls dumm gelaufen, im schlimmsten Fall ein Desaster für alle – oder ein Vorteil für Kommende, je nachdem.
Knödelfabrikant ist, wer Knödel fabriziert. Das klingt einfach
und ist es wohl auch. Wissen Sie, was mich daran stört? Das ›wer‹.
Wer fabriziert schon Knödel? Ich kenne niemanden. Kennen Sie
jemanden? Sie meinen, ich solle im Telefonbuch nachsehen? Oder auf
den Packungen, aus denen die Hausfrau oder der Hausmann Knödel
bereitet? Sie verstehen mich nicht. Ich weiß, dass es dort
draußen Knödelfabrikanten gibt. Ich kenne nur keinen und würde
schwören, es geht Ihnen genauso. Kennen Sie einen? Nein? Davon ging
ich aus. Ich gehe in den Supermarkt und besorge mir eine Packung
Knödel. Nie und nimmer denke ich mir: Wer fabriziert diese Knödel
eigentlich? Wie sieht er aus, wie groß ist er, hat er einen an der
Waffel? Ich meine, wie verrückt muss einer sein, um Knödel zu
fabrizieren? Würden Sie so etwas tun? Sehen Sie, das meine ich. Es
liegt mir fern, einem Knödelfabrikanten zu nahe zu treten, ich kenne
nur keinen. Das mag an mir liegen, kann sein. Dort draußen müssen
sie existieren, denke ich mir, nicht einer, viele, eine ganze Rotte.
Treffen sie sich auf Kongressen? Was reden sie dort? Reden sie über
Knödel? Speisen sie Knödel? In welcher Sprache verständigen sie
sich? Mit wem gehen sie zu Bett? Das sind wichtige Fragen, jedenfalls
wenn ich mir vorstellen soll, wer … nun ja, wer Knödel produziert.
So lautete doch die Definition. Oder nicht? Sie haben sie nicht
vergessen? ›Knödelfabrikant ist…‹ Wissen Sie was? Wer Knödel
fabriziert, der fabriziert auch… Mir fällt im Augenblick nichts
Gescheites ein, aber ich werde darauf zurückkommen. Die
Fabrikanten haben die Knödel nur verschieden fabriziert, es kommt
aber darauf an, sie zu … essen? Sehen Sie, der erste, der das
zu sagen wagte, ist mein Mann. Was…? Eine Frau? Was Sie nicht
sagen. Die erste, die zu sagen wagte, ein Knödelfabrikant sei
nichts anderes als… Wissen Sie was? Die hätte ich kennenlernen
wollen. Sicher gibt es einen Film über sie. Knödelfabrikanten
fabrizieren Fabrikantenknödel, Fabrikantenknödel knödeln
Knödelfabrikanten, Fabri… Ich aber sage euch: Du sollst
nicht knödeln. Wo das steht? Ich hab’s fabriziert. Schimpfe
ich mich deshalb einen Knödelfabrikanten? Nicht, dass ich wüsste.
Was nichts zu sagen hat. Gern wüsste ich zum Beispiel, wer
Knödel fabriziert. Ich meine jetzt nicht dieses Definitions-Wer, das
mehr Fragen aufwirft, als ein Knödelfabrikant allein beantworten
kann, ich meine auch nicht meinen persönlichen Knödelfabrikanten um
die Ecke, dem ich praktisch täglich begegne, ich meine die ganz
besondere Einstellung zum Leben, die einer mitbringen muss, um Knödel … Sie
wissen schon. In dieser Frage stehen wir alle nackt da. Man kann auch
niemanden fragen, zumindest niemanden, der kompetent wäre. Die
kompetenten Leute halten sich alle bedeckt, wahrscheinlich, weil sie
sonst auch nackt dastünden, so wie sie und ich. Niemand weiß es und
ich weiß es auch. Sie blicken erstaunt hoch? Merken Sie etwas? Nein,
doch nicht? Sie merken nichts? Nicht den Knödel im Hals? Bricht
Ihnen nichts aus? Haben Sie nichts vergessen? Wann haben Sie das
letzte Mal Knödel gegessen? Sie wissen ja gar nicht, wie diese
Thematik mich anödet.
Die schärfsten Knüppelschwinger im Yagir sind gut gekleidet und kommen gerade vom Essen mit Freunden. Sie wollen zeigen, dass sie es draufhaben und zu Recht als Erwählte gelten. Woran alle Welt zweifelt, das nageln sie dem Nächstbesten an die Stirn und verkünden: So ergeht es jedem, der Zweifel sät. Zweifel sät man nicht, man verbeißt ihn. Mag sein, sie halten jeden, dessen Stirn bereits blutet, für einen blutigen Anfänger, den man einweisen sollte. Das Niederknüppeln überlassen sie ihren Lakaien, sie knüppeln auf. Ihre Vorliebe für den Nächstbesten wird durch keinen Hass übertroffen, sie regelt sich in Prozenten. Ein Prozent hier, ein Prozent da, so denken sie und der Knüppel saust. Ginge es ums Geld, man könnte sie verstehen, aber es geht um Prozente. Verstehe das, wer will! Im Prozent liegt Macht. Ein Prozent mehr oder weniger und die Macht sucht sich einen neuen Patron. Wer will das denn? Bereits der Gedanke an den Übergang ängstigt. Und dann: der Neue! So weiß man, was man hat. Wenn Macht versteinert, bekommt sie Löcher. Darin lässt sich hausen. Unter Niveau, aber: bequem.
Einer, der von sich sagt: »Ich säe aus!«, kann nicht erwarten, dass die Welt sich ihm beugt. Er muss warten, bis die Saat wächst, ein Landmann ohne Weg und Steg, ein Mensch der Fläche. Nein, kein Wegbereiter, auch wenn er sich manchmal so sieht. Eher lässt er Wege verschwinden: Wächst die Saat, so werden die vorhandenen unbetretbar. Wo er geht, soll sein Weizen blühen – wehe dem, der da hintritt! Doch er ist eitel. Sein größter Wunsch wäre, dass einer hinter ihm geht und seine Wege protokolliert, das Ohr so nah seiner Lippe, dass er, ohne sich umzuwenden, Erklärungen abgeben könnte. Wie die Dinge stehen, läuft er Gefahr, Erklärungen abzugeben, und keiner ist da, sie aufzunehmen, so dass er allmählich, ohne es recht zu bemerken, sie auszusäen beginnt und darüber das Saatgut vergisst. So kommt’s, dass es ihm leise aus der Tasche rieselt und seine Spur markiert: Hier ging einer, der hätte es gekonnt. Was hätte er gekonnt? Das Säen? Aber er hat es nicht gekonnt. Wie unsinnig ist das alles: der Anspruch, die Eitelkeit, ihn zu erfüllen, die Unfähigkeit, ihn zu erfüllen, die Unfähigkeit zu sehen, dass er nicht erfüllt wurde, und die Erfüllung. »Es erfüllt ihn mit Genugtuung«: so reden die Leute. Sie gönnen es ihm, jedenfalls in der Regel, aber es ist seine und nicht die ihre und im Grunde ist sie ihnen egal. Wo der eine wogende Felder sieht, sieht der andere einen Bauplatz. Da kann es leicht passieren, dass die Genugtuung wie eine Blase platzt und all das Gift ausschüttet, das auch in ihm steckte, und nun ist es heraus.
Der Körper geht immer dem Tod voraus, aber dieser schlichte
Gedanke, der auch umgekehrt leicht zu beweisen wäre, empfängt
gerade hierdurch die Weihen des Geistes. Denn wenn man sagen würde,
der Körper folge dem Tode nach, so würde sich an der Wirkung des
ersten Gedankens nicht das allergeringste ändern. Ob uns der Tod,
von welcher Seite auch immer, antritt, seine und des Körpers
Schicksale ändern sich hierdurch nicht im geringsten. Der Tod
bekommt den Körper, auf welche Weise auch immer, in seine
Gewalt.
Folgten wir etwa dem Tode nach, so brauchte er nur ein wenig
langsamer zu gehen, unmerklich vielleicht, was bestenfalls das
Alter des Körpers verlängern würde. Aber dennoch würde er in jedem
Fall das gleiche Gesetz seines dunklen Auftrags an ihm vollziehen.
Gelangte der alte ermüdete Leib endlich in seine Nähe, so drehte
der Tod sich mit einem Mal um und legte seine mächtige Hand endlich
doch auf das Herz des Verfolgers. Ascoli von Savona, der Tyrann der
Stadt, glaubte auf den Zinnen seiner Festung an der Spitze seiner
Soldaten durch eine Art Gleichschritt den Tod zu betrügen, er
stolperte nur ein einziges Mal und verlor den Zeittakt. Von
diesem Augenblick an war
der Abstand beschädigt, er konnte marschieren lassen, so langsam er
wollte, da war nichts mehr zu machen, er starb schneller, als er
langsam zu sein vermochte.
Der Philosoph und Kanoniker Marsilio Ficino hatte diese Berechnung
bereits fünfzig Jahre zuvor in seinem Traktat zur Platonischen
Philosophie aufgestellt: Bewegung
= Ziel = Ende. Ebenso später Wittgenstein: »Man stirbt immer
zu rasch oder zu langsam, dennoch ist Geschwindigkeit niemals ein
Mittel, den Tod zu überlisten.«
Eine andere, noch höhere Erkenntnis lehrt, dass Körper und Tod in
einander verliebt sind. Sie sind das einzige Liebespaar, das von
Anfang an zusammengehört, denn mehrfache Liebesverbindungen mit dem
Tode sind ausgeschlossen. Deshalb sind auch die Krankheiten,
nach Homomaris,
nichts anderes als Liebesabenteuer oder Seitensprünge innerhalb
einer unlösbaren Verbindung. Nur der Selbstmord steht in der Mitte.
Hier müsste die Mathematik, falls sie je einen geistigen Anspruch
besäße, der Metaphysik zur Hilfe kommen. Dass hier Brücken zu
schaffen sind, wird bei Dante und Manganelli hinreichend bewiesen.
Dante sucht am Ende des »Geometers Bogen«, Manganelli maschiert auf
der Straße der zehnten Legion, mit Augen an den Knöcheln, über sich
selbst hinweg. Was ja nichts anderes bedeuten kann, als dass er
noch im Inferno versucht hat, im Liegen den Tod zu unterwandern.
Homomaris lehrt die Anwesenheit des Todes in jeder Region, die der
menschlichen Seele zugänglich ist. - PM
Jede Generation lebt mit Geräten zusammen, die tief in die sogenannte Psyche hineinwirken und sie, wer weiß, erst ein Stück weit hervortreiben. So hat die Generation, auf die wir jetzt zurückblicken, sich dem Fernseher verbunden und wird zusammen mit ihm verdämmern. In gewisser Weise hat sie ihn sich erschaffen, auf alle Fälle haben ihre Bedürfnisse ihn erobert, sie lebt dieseits und jenseits der Mattscheibe und das Leben, durch das sie nicht mitten hindurchgeht, dünkt sie matt. So gibt es keine Anmut, keine Würde, keine Geltung und keinen Ruhm, es sei denn durch dieses Medium, wie es nicht ohne Witz genannt wird, weil es die Mitte markiert und, mehr als das, wirklich ausfüllt. Dabei ist es seit langem im Sinken. Nichts bringt es hervor, was nicht die Brandzeichen des Betrugs und der Dummheit trüge, und nichts kommt hinein, was nicht von Grund auf gleichgültig und lächerlich wäre. Es stimmt, man kann dort einen Teil der Leute besichtigen, die uns, auf die eine oder andere Weise, regieren, vielleicht auch nur herumscheuchen, was immer Aufschluss verspricht. Man kann, wenn man will, die meisten wollen gar nicht und schalten weiter. Nein, in Betracht kommt allein die Scheibe, die den einen Teil der Menschheit vom anderen trennt und mitten durch jedes einzelne Exemplar der Gattung hindurchgeht, sie ist sogar bedenkenswert und sollte verstanden werden. Nicht das Virtuelle der Bilder, damit kann man Leute ablenken, die sich um nichts den Kopf zerbrechen, Mystiker des Wortes und der Verstellung, sondern der absolute Schnitt zwischen zwei Wirklichkeiten, einer saugenden und einer sich rapide entleerenden: was die Leute Gesellschaft nennen, ist eine denkbare Interpretation dieser Anordnung unter vielen, vielleicht nicht die schlechteste. Man muss, will man Dinge bedeutend machen, ihnen eine Dimension entwenden, was unter Menschen nicht so leicht zu bewerkstelligen ist. Die Scheibe suggeriert einen Mangel, der in Wirklichkeit so nicht existiert, aber auf Ausgleich drängt. Wer immer davor sitzt, gibt von dem Seinigen hinzu, bis zur völligen Leere. Witz, Temperament, Verstand, Lebenszeit, Freiheit, sich zu gesellen, Durchsetzungskraft und natürliche Autorität, nichts davon behält diese träge graue Masse, die starrt und starrt, bevor der Schlaf sie überkommt und gnädig vom Rest-Ich erlöst, das mangels Substanz beim Träger verbleibt. Es gibt kein richtiges Leben im falschen, außer man sieht sich im Fernsehen – mit diesem Saisonschlager des alten Westens hob die Epoche an, sie könnte enden mit den bedeutenden Worten, dass, wo nichts ist, der Konsument das Recht verloren hat, sich bei lebendigem Leib zu verdrücken.
Einer Generation angehört zu haben, die eisern das Maul hielt, und das mitten in Freiheit und Prosperität, umrahmt von Leitbildern, die ebenso eisern das freie Wort bis in Zerstörung und Tod festzuhalten wussten und sich nicht darum drückten, ihm die Treue zu halten, weil sie verstanden, dass ohne es alles nichts ist – herbes Los. Dabei hat sie Bibliotheken zusammengeschrieben, wahrscheinlich mehr als jede andere vor ihr, sich im öffentlichen Redemarathon verausgabt, zu dem es vor ihr weder Technik noch Gelegenheit gab, vom Recht auf Hochmut Gebrauch gemacht, wann immer es ihr angebracht schien, – sie hat nichts ausgelassen und es ist alles nichts. Ihre Wegmarken haben andere gesetzt und sie ist diese Wege gegangen ohne auszubrechen, sie hat jeden Ausbruchsversuch Einzelner auf der Stelle geahndet – mit Aufmerksamkeits-, mit Laufbahn-, mit Ehrentzug, mit Reputationsverlust, mit Tabuisierung und Verhässlichung –, und es hat, wundersamerweise, geklappt. Jetzt marschiert sie im Entenmarsch in den Tod, den Arsch zusammengekniffen, bereit zu den schwierigsten Eingriffen, um noch ein paar Wochen oder Monate aus dem wohlpräparierten Körper herauszuschinden, mit denen sie nichts weiter anfangen wird als den nächsten Urlaub zu planen, den letzten vielleicht, das wird ein schönes Erlebnis werden und ihr mit schönen Erlebnissen überreich beglücktes Leben bereichern. Sie hat allen Grund, dankbar zu sein. Niemand hat Grund, ihr dankbar zu sein, da tut es gut, sich nicht auch selbst im Stich gelassen zu haben. Dabei lagen die Ansätze zu einer anderen Wahrnehmung der eigenen Rechte und Pflichten vor aller Augen. Wenn sie geht, wird sie das Land, vielleicht den Kontinent ruiniert haben – durch Unterwerfung, durch Unterlassung, durch Unterdrückung aller Gedanken, deren es bedurft hätte, um die eigene Realität zu begreifen und jene Steuerungskompetenz zu entfalten, von der sie unentwegt redet. Und ich werde mitten unter ihr sein, ich werde mit ihr gehen, im Kohortenschritt, wie denn sonst.
Eigentlich befinde ich mich in der komfortablen Lage eines
Selbstmörders, der weiß, dass alles, was seine Mitwelt zu seinen
Gunsten (und denen seines Weiterlebens) vorbringt, gezinkt ist:
Ausdruck des Bemühens, ihn im Leben zu halten, gleichgültig, mit
welchen Mittel. Er weiß, dass man ihn nicht für voll nimmt, während
man ganz und gar auf ihn eingeht, dass man seine Reden nach allem
Denkbaren absucht, nur nicht auf die Möglichkeit hin, ihm recht zu
geben, während man gerade das mit größter Bereitwilligkeit tut. Er
weiß also, dass er nicht viel zu sagen hat außer dem einen, auf das
sich seine Rede für die anderen ohnehin verkürzt. Was tut man in
einem solchen Fall? Was mache ich, wenn ich weiß, dass dieses
gespannte Lauschen Ausdruck eines Unwillens ist, der den Akt
verhindern will, der das zu Erlauschende in die Welt schleudert?
Denn es geht nicht um Meinungen, es geht nicht um Überzeugungen,
wer das glaubt, tappt so sehr im Dunkeln, dass er den Strick, den
er sich um den Hals legt, für eine Laterne hält, geradewegs auf die
Zukunft zu. Worum es geht? Wer das wüsste. Die Weigerung,
auszuführen, was andere erdacht haben, es in irgendeiner Weise
weiter zu tragen, als sei es das eigene, während das Selbst mit
allen Fasern dagegen rebelliert – das ist der Kern dieser
Angelegenheit, die erst ein Ende findet, wenn es mit mir zu Ende
geht. Bin ich deswegen ein Rebell? Aber die Rebellen sind doch die
anderen, sie sind stolz auf ein Rebellentum, von dem sie reden, als
reiche es in biblische Zeiten zurück, von denen sich die heutigen
in gerader Linie herschreiben. Ich habe sie doch gesehen, ich habe
den Riss wahrgenommen, der zwischen ihrer Selbstdeutung und dem
lag, was für sie die Verhältnisse waren – diesen Riss, der mit der
Zeit zu einer schwarzen Wand angewachsen ist, über die man nicht
reden darf, bei Strafe des wirksam verhängten Schweigens, während
das Reden munter weiter geht. Ich könnte mich unter die Dichter
mischen und Endzeitmonologe verfassen, aber ich will das nicht. Es
sind schlechte Dichter, es sind schlechte Texte, die einem da
zugemutet werden. Sie paktieren mit dem Schweigen und sie
vermehren, was keiner zu sehen vorgibt. Man nimmt sie nicht ernst,
man hängt den Verfassern Preise um und sie beklagen sich darüber.
Aber sie haben keinen Grund, sich zu beklagen, sie sind im Grunde
ganz zufrieden und nennen es Klagen auf hohem Niveau. Das Niveau
möchte man sehen, aber man sieht nur, dass sie gebettet sind. Soll
ich also gehen, ohne bezeugt zu haben, was ich sah? Wer will dieses
Zeugnis sehen? Wer will es wahrhaben? Wer will, dass es existiert?
Und wozu wäre es gut?
Im Komma erscheint die volle List des Schreibens noch einmal,
deshalb setzen es manche Leute erst später, gleichsam bei vollem
Blatt. Sie erspähen die leeren Stellen zwischen den Wörtern, die
verborgenen Orte, vorherbestimmt, das verschwiegene Zeichen in sich
aufzunehmen, das die anderen redend macht. Oder fast: denn reden
können sie schon, sie reden von sich ohne Unterlass, wären sie
nicht redend, dann schwiegen sie vielleicht und das Zeichen
verschwände. Es machte kehrt – auf dem Absatz, so könnte man sagen,
denn sprechend wird es von sich aus nur vor vollem Haus. So aber,
der Plappersucht der anderen gegenwärtig, lässt es sich geduldig
hin- und herschieben, bis die leichte Vertiefung gefunden ist, in
der es zur Ruhe kommt, weil sie ihm vorbestimmt ist. Das zu
ertasten kostet Geduld. Es gibt Sprachen, so sagt man, die keines
Kommas bedürfen. Das ist nicht wahr, oder nur beinahe, denn wer das
Komma kennt, erkennt es auch dort, wo es nicht gesetzt ist, sondern
nur gedacht oder auch nicht gedacht, vielleicht gefühlt oder, wer
weiß, gesehen. Ein solcher Gedanke erfreut das mit Widerhaken wie
mit Sternzeichen besetzte Gemüt und schafft einen Ausgleich für die
Unbill, die ihm täglich begegnet.
Der törichte Mensch zieht das Drama der Wiedergeburt in einen Akt
zusammen, der Weise zieht es auseinander und gibt sich
lebenslänglich. Na und? Wie einer sich gibt, so kommt er zur Welt.
Also gib dich, du Ochs. Ohne Schauspielerei ist in den Gefilden der
Seligen nichts auszurichten, sie sind scharf auf jeden neuen
Darsteller, der ihnen Gesellschaft leistet. Erwähltheit ist wie ein
Pulli, den einer überzieht: was nach innen wärmt, soll nach außen
Eindruck machen. Und das ist wenig gesagt. Wer mehr wissen will,
muss wissen, dass im Kino der Gefühle das Herauskommen jede andere
Bewegung schlägt. Komm ans
Licht! Der erste Leib darf den zweiten darstellen, der sich
nach dem perfekten ersten verzehrt. Die Erwählten spielen
Erwählung, sie spielen den Anderen vor, was im Leben der Meisten zu
viele Umstände machen würde. Erst so bleibt Erwählung Erwählung:
eine ernste und ganz schön schwierige Sache, die man denen
überlässt, die sich damit auskennen. Den Spezialisten des
Erwähltseins schlägt jede Stunde doppelt. So sehr sind sie sich
ihrer Bedeutung bewusst, dass sie sich von ihr bedienen lassen. Wer
so von Bedeutung strotzt, dass sie ihm den Kaffee und die
Morgenzeitung ans Bett bringt, der hat es geschafft. Das werte
Selbst hält die Klamotten und das listige Ich schlüpft hinein.
Demütig kann es sein, denn es weiß, was es am Anderen hat. Das
Selbst zum Arbeiten bringen: dieser innere Rassismus macht staunen.
In Wahrheit – ich stelle mir vor, wie die Ameisen an dieser Stelle
zu wimmeln beginnen –, in
Wahrheit ist doch nichts geklärt, was uns berechtigte, das
Bewusstsein als eine abzuleitende Größe zu handeln. Wer einen Draht
zerschneidet, unterbindet unter Umständen eine Botschaft – na und?
Hält man ihn deshalb für einen intimen Kenner der
Familienverhältnisse derer, die sich da untereinander verständigen?
Wer weiß, welche Stoffe und Bahnen beteiligt sind, wenn
Empfindungen entstehen und Worte sich formen, kennt der deshalb den
Sinn der Wörter oder den Grund, aus dem sie zum Einsatz kommen?
Natürlich kennt er ihn – weil er ihn kennt. Wäre es anders, so
bliebe ihm nicht nur der Sinn seines Forschens dunkel, sondern der
Forscherdrang selbst hätte sich erledigt. Er will also wissen, was
er schon weiß, methodisch kontrolliert, aber vor allem: in einem
anderen Stoff. Man könnte ihn wegen versuchten Kompetenzdiebstahls
vor Gericht zerren, aber das würde ihn keine Sekunde lang
anfechten. Auch dafür gibt es einen leicht erkennbaren Grund:
Prestige. Man las schon Narren, die das Bewusstsein zur subjektiven
Täuschung erklärten: Hut ab! Vielleicht auch mehr.
Wir wollen die Jahrtausende alte Tradition der Skepsis nicht durch Zweifel beschädigen, das wäre dumm. Alles bedenkend strebt der Mensch vorwärts, ein ergötzlicher Anblick. Das All zu bezweifeln ist schon eine persönliche Niederlage, an diesem Punkt wird es schwer. Der bezweifelte Kosmos ist eine Münze, die in den Rinnstein rollt, abrupt ihre Bahn verändert, sich kurz um die eigene Achse dreht und im Gully verschwindet. Im Gully? Ein schmutziges Wort, von dem die Partikel sich lösen, als bestünde es nur aus Staub. Durch und durch schmutzig, das wollten Sie sagen. Was wollte ich sagen? Ach ja, die Skepsis. Confiteor. Die Sprache gibt das ›Ich glaube‹, ich glaube, am ehesten könnte man es vielleicht der Kopula vergleichen, es bindet die Menschen zusammen wie Ruten, vermutlich, weil es so schlagend ist und so wenig Aufwand erfordert. ›Ich glaube, die Skepsis ist unser kostbarstes Teil, das es zu verteidigen gilt.‹ Wer Teil sagt, muss auch Ganzes sagen, und das Ganze ist immer das Unser. Ein Teil des Unser ist also die Skepsis, da hätten wir schon das notwendige Stück Gewissheit. Wo kommen wir damit hin? In die Menschlichkeit natürlich, du Hasenfuß. Damit hätten wir ihrer drei: die Menschlichkeit, die Natürlichkeit und die Hasenhaftigkeit. Denken Sie einmal darüber nach. Ich für mein (!) Teil dächte, Sie hätten fürs erste genug. Nein? Das bringt uns jetzt nicht weiter. Nichts ist bekanntlich gewisser als die Gewissheit über die Ungewissheit, sie überdauert im Ungewissen. Es ist ihr Elixier. Nicht darüber wollte ich reden. Reden wollte ich vielmehr... Lassen wir das. Behalten Sie ihren kühlen Kopf, den hitzigen lassen Sie wohlmeinend zu Hause. Überzeugungsarbeit ist hart. Diese Leute dort wollen wir haben, die setzen wir durch. Bei den Menschen ankommen, wenn Mars lockt, das ist das Wunder der Geschichte, vor dem die Sterne erblassen. Sterben Sie süß.
Am Ende ist aller Konstruktivismus unkonstruktiv: er trägt nichts bei, er vergrößert nur die Zahl der Gedanken- und Weltdinge sowie der Beschäftigungen.
Im Umkreis der Postmoderne zählt Kondylis’ Begriff der
›massendemokratischen Postmoderne‹ zu den prägnanteren Prägungen.
Der Ausdruck ›Postmoderne‹ wird allerdings überflüssig, hat man
erst einmal begriffen, dass es sich um eine Binnendifferenz handelt
und keineswegs um eine Massenflucht aus der Moderne. Reden wir also
von der massendemokratischen Konsummoderne. Sie ist ein Ergebnis
der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Weltwirtschaftsordnung
und verwandelt sich unter der Hand in etwas, für das die
Bezeichnung noch fehlt, weil das, was sich hier ankündigt, erst als
Schatten oder Schemen – nicht sichtbar, eher fühl- oder spürbar
wird. Die Massen herrschen und konsumieren, sie herrschen mittels
Konsum, kein Zweifel, auch lässt sich nicht sagen, sie verführen
darin mit nachlassender Energie. Allenfalls fehlt ihrer Herrschaft
der Geschmack, selbst der an guten Worten, man könnte meinen, sie
führen sich öfter über die Stirn, um die trüben Gedanken zu
vertreiben – ein langweiliger Zeitvertreib, weil es mit dem Denken
bei ihnen nie weit her war. Die trüben Gedanken sind einfach und
eigentlich nur ein einziger: die Widersacher sind unterwegs. Jeder
Weltzustand hat seine erbitterten Gegner, von denen ein Teil
öffentlich zu Feinden deklariert und bekämpft wird, während die
restlichen, aus welchen Gründen auch immer, einen diffusen Schutz
genießen – künftige Opfer vielleicht oder Garanten einer Zukunft,
in der die Verhältnisse sich wandeln und man sich dringend neu
arrangieren muss. Der Konsumzwang ist immer auf Verachtung
gestoßen, die Verwandlung der Ökobewegung in eine Geschäftsidee hat
andersartige, noch wenig erforschte Widerstandslinien in die
Gesellschaft eingezogen. Sie bringt Leuten das Sagen bei, die, so
oder so, den Obszönitäten des Geldes weitgehend gleichgültig
gegenüberstehen. Auch diese Leute hat es immer gegeben, ihre
Einstellungen sind nichts Neues, bemerkenswert ist allenfalls, dass
ihre Mitanwesenheit als latente Drohung verstanden wird, als
potentieller Unruhefaktor, sie könnten ja auf Gedanken kommen.
Welche das sein mögen? Die Journalisten stehen unter dem Druck der
Konstellation, sie recherchieren per Mausklick, sie klopfen an
Foren, ob nicht ein Einfall, ein winziger nur, herausfallen möge,
sie machen ein Gewese, sobald sie etwas an etwas erinnert, das sie
schon kennen. Ansonsten üben sie sich in Spott. Der Gedanke der
Machtlosigkeit hat in Ländern mit christlichem Herkommen eine große
Macht. Deshalb liebt man in ihnen auch das Gerede, man trägt es auf
Knien.
Was für den Kontext gilt, das gilt im Grunde für alle Redensarten: zuviel davon ist ungesund, es behindert die freie Bewegung und erschließt selten Neues. Deshalb sind gute Köpfe in der Regel Kontextverschmäher. Sie wissen schon und haben nur vergessen, den Hut zu ziehen. Man nennt das produktives Vergessen, eine Art Alzheimer in puncto gesellschaftlichen Pflichtbewusstseins. Denn letzteres, man mache sich da nichts vor, bedeutet wenig mehr als ein gemessenes oder hechelndes Ausschreiten der Kontexte. ›Produktiv‹ wird es erst genannt, sobald die Produktivität erlischt und etwas an ihre Stelle tritt, das, sofern es ›gut‹ ist, als Hyper-Aufmerksamkeit bezeichnet werden kann, als Hyper-hyper-Aufmerksamkeit, sofern es die normale Hyper-Aufmerksamkeit der berufsmäßig flinken Federn zu toppen versteht. Wo andere wahrnehmen, schreibe ich, wenn andere sich gerade einmal ein Urteil bilden, lasse ich drucken, wenn andere in die Tasten greifen, um ihr Urteil kundzutun, dürfen sie – mich rezensieren: das ist der Rhythmus des Hyper-hyper-Aufmerksamen, dem kein Kontext zuviel wird, solange er selbst dergleichen unermüdlich herbeischleift, an Nasen, Ohren, Hals und Arm –. Verrenkt und bittend stehen sie in der Landschaft, sie begehren keinen Einlass, weil sie schon wissen, dass nur die augenblickliche Verrenkung ein wenig Aufmerksamkeit auf sie lenkt. Der Herbeischaffer ist durchgebrettert, er ist nicht zu fassen, sie aber wissen auch: gnadenlos – wie? nein, nein, so war das nicht gemeint! – wird er auf sie zurückkommen, sobald Bedarf an neuen Posen aufkommt. Und das wird bald sein.
Auch der Gedanke der Kontextualisierung der Kritik verdient es,
kontextualisiert zu werden. Denn er ist vor allem Kritik: die
Kritik von Verhältnissen, insofern sie sind, soll nicht
statthaft sein. Erlaubt ist die Kritik von Verhältnissen,
wie sie sind. Das ist
viel, das ist – vielleicht – in praktischer Hinsicht genug. Aber es
lässt unerörtert und unreflektiert, was in aller Kritik
vorausgesetzt ist: die Existenz eines denkenden Wesens in einer
Welt, die seiner offenbar nicht bedarf, um in sich zu ruhen und zu
realisieren, was offenbar das Ziel aller immanenten Kritik ist:
Verhältnisse, in denen sich jede weitere Kritik erübrigt. Gegen
dieses Ziel wird heftig in ihrem Namen polemisiert, aber das gehört
zum Geschäft, weil man kein anderes Ziel benennen will. Wir
betreiben mit Löwenmut das Geschäft der Kühe; der Verstand in all
diesen Dingen ist klein. Die Konzentration auf das Denken selbst
dekontextualisiert die Kritik, macht sie zum Perpetuum mobile einer
Selbstverständigung, die nicht in den Verhältnissen aufgehen will,
die eher die Verhältnisse in sich aufgehen lassen möchte – ein
unmögliches Ziel, aber ein realistisches. Ein Verhältnis zu den
Verhältnissen haben und ein Verhältnis zu diesem Verhältnis, das
bringt auf keinen Beobachter- oder Beraterposten, sondern ins
Bodenlose. Das ist der Boden der Tatsachen.
Du hast dich mit jemandem vom anderen Geschlecht zusammengetan,
dieser andere hat, aus einer Laune oder einem tiefsitzenden
Bedürfnis heraus, dir die Loyalität aufgekündigt, und du hast ihn
verlassen. Du bist bereit zu glauben, diese Erfahrung habe dich
verändert, und es widerfährt dir ein weiteres Mal. Diese beiden,
Todfeinde selbst, verbinden sich, um dich zu töten. Sie töten dich
stückweise, Organ für Organ. Sie machen auch vor den Kindern nicht
Halt, sie benützen sie und zögern nicht, sie zu zerstören, wenn sie
dich damit treffen. Was ist das? Eine Reise um die Welt? Um den
›inneren Kontinent‹? Ein Stück Gesellschaft? Ein archaischer Ritus?
Nein, es ist etwas anderes, sagst du. Es liegt nicht innen, es
liegt nicht außen, und dazwischen gibt es nichts. Woran liegt es
also? Sie stoßen auf keine Grenze und also gehen sie weiter. Warum
stoßen sie auf keine Grenze? Das ist eine Frage, die du dir stellen
musst. Du kannst sie nicht beantworten, denn die Antwort ist
aufgeschoben. Du selbst hast sie aufgeschoben, weil du mit ihr
allein stündest. Du willst aber nicht allein stehen, nicht in einer
Frage, in der die andere Seite niemals allein steht. Ihre Macht,
nach Belieben Verbündete zu gewinnen, schreckt dich. Sie schreckt
dich als Problem. Du wärst bereit, jede Herausforderung anzunehmen,
aber gegen das da kommst du nicht an. Es ist zu dumm. Wie stündest
du da, wenn du deinem Zorn folgtest? Und wohin kämst du da? Nicht
sehr weit vermutlich, selbst dein Zorn leidet an dieser Lähmung.
Vielleicht ist es ein Problem deiner Gruppe, Jahrgang, Bildung
etc., aber sicher weißt du das nicht. Vielleicht wirst du es nie
erfahren. Sicher weißt du nur eins: wohin auch immer du es
verschiebst, es bringt keine Entlastung. Wolltest du das? Wolltest
du Entlastung? Aber wovon? Entlastung wovon? Wie, bitte, willst du
dich von einem Druck entlasten, in dem du auf der anderen Seite
stehst? Im Lager deiner Feinde, bereit, dich anzugreifen, wann
immer sich eine Gelegenheit bietet, blickst du auf dich wie auf
einen Fremden. Dieser Fremde, findest du, ist hässlich. Er ist dir
fremd, fremd und vertraut, vertraut wie eine Sache, die man nicht
mehr anrühren möchte. Du möchtest dich nicht mehr anrühren, du
findest, es lohnt den Einsatz nicht, denn die Sache ist, wie sie
steht, verloren. Es ist aber keine Sache, das ist der Punkt. Du
kannst nicht abwehren und du kannst nicht annehmen, was da
geschieht. Vielleicht überlebst du noch eine Weile oder nicht.
Vielleicht behandeln sie dich wie einen Toten, das wäre immerhin
ein Glück unter vielen.
Alltagswörter, die durch ein einziges Ereignis aufgeladen werden, um auf
immerdar, zumindest für lange Zeit, von diesem Ereignis Kunde zu geben, sind
selten, aber gar so selten auch wieder nicht, denn hin und wieder ereignet sich
etwas, worüber das Reden nicht verstummen will – es will nicht, da mögen die
Herrschenden wollen, was sie wollen, sie können es auch versuchen, aber
vollenden können sie’s nicht. Macht ein Wort, z.B. ›Kontrollverlust‹, erst die
Runde, dann kommt die Kontrolle, obgleich auch sie kein Ende kennt, leicht ins
Trudeln. Das eben heißt unter Fliegern Kontrollverlust: Einer will steuern und
steuert ja auch, er steuert gegen das Übel an, dass es eine Lust wäre, ihm dabei
zuzusehen, aber in solchen Momenten schlägt die Einsamkeit über ihm zusammen und
alles andere folgt der Parole: Rette sich wer kann! Wer kann sich noch
retten, sobald die Maschine erst ins Trudeln geraten ist? Darüber streiten sich
viele, die Ratschläge übertrumpfen einander, die meisten überschlagen das Ende
und sprechen vom Neuanfang. Nichts beschäftigt die Leute im Kontrollverlust mehr
als der Neuanfang: Sie stellen ihn sich paradiesisch vor, mit Meeresrauschen im
Hintergrund, kristallklar strömen die Bäche ins Tal, umrahmt von lieblichem
Mischwald, in dem Fuchs und Hase, Schaf und Springbock einträchtig neben Wolf
und Wölfin die vegane Großmutter fressen. Wogegen man immer tritt: kerngesund!
Selbst das Klima erliegt dem Zauber und zeigt sich von seiner besten Seite:
wohltemperiert, nicht hier, nicht dort, sondern global und umfassend, ein
Sommermärchen vom Feinsten. Wo sonst bekommt man solche Gedanken, wenn nicht im
Trudeln? Auch die menschlichen Verhältnisse mögen da nicht zurückstecken und
erfreuen sich, am besten in staatlicher Hand, der allerbesten Gesundheit.
Gerechtigkeit! Nach ihr dürstet, wer gelernt hat, dass seinem Kontostand nicht
zu trauen ist, zum Beispiel auf Grund unkontrollierbarer Schmelzprozesse oder
anderer Absturzindikatoren. »Das ist nicht gerecht«, murmelt so einer und
schließt sich einer verbalen Scharfschützenbande an, die Löcher in die Hülle des
Fliegers schießt, des allgemeinen Druckabfalls wegen und damit alles schneller
geht. Die Gerechtigkeit ist ein scharfer Hund, sie hält sich im Hintergrund,
solange Ruhe an Bord herrscht, und spielt am Drücker, wenn alles drunter und
drüber geht. Am Ende rächt sich alles auf Erden, selbst die Gerechtigkeit, denn
Gerächtsein ist alles, man weiß nur nicht, wer wen.
Niemand verdreht den Kopf ohne Not. Also muss man die Not erkennen, die hinter der Kopfverdrehung steckt, will man verstehen, was vorgeht. Eine junge Frau geht vorbei und alle Köpfe drehen sich mit: Der Grund ist klar, er liegt offen zutage, das muss man nicht analysieren. Was dann? Es gibt linksdrehende Gesellschaften, so wie es rechtsdrehende gibt. Wer das analysieren will, begibt sich auf vermintes Gelände, denn er erklärt, qua Tun, die Kopfverdrehung für unnütz, ja schädlich oder lächerlich, da sie zwar Gegenstand der Analyse, nicht aber ihre Methode sein kann. Alle Verdrehten hassen die Analyse oder halten sie für die Applikation eines Schemas: »Liefere mir die Analyse und ich liefere dir den Kopf dazu.« Das Kopflieferantentum gehört zur Kopfverdrehung wie die Bücherverbrennung zu Verehrung des Buchs und das Autodafé zum feurigen Schulterschluss. Köpfe lassen sich leicht auf Kommando verdrehen, wen kümmert’s, ob das leise Knirschen, das die Reihen durchläuft, von Nackenwirbeln oder von den Zähnen der Ausgerichteten herrührt? Niemanden. Man nehme die Verpflichtung zum Wehrdienst aus einer Gesellschaft heraus und augenblicklich gebärdet sich jedermann wehrhaft: aus Kraftmeierei, aus Impotenz, aus dem beschämenden Gefühl heraus, ausgeliefert zu sein, sobald das Fernsehen ihm den Anblick von Kämpfern liefert. – Zahnlose Angstbeißer: so darf man Öffentlichkeitsarbeiter nennen, die notorisch Einsätze in fernen Krisengebieten fordern. Denn was ist die Krise? Ein Anlass zur Kopfverdrehung. Etwas läuft schief und alle sehen hin. Ein Schwindelgefühl, dem vielleicht ein wirklicher Schwindel zugrunde liegt: das reicht, als Not, für ein Dutzend falscher Entschlüsse.
Was ästhetisch weniger anspruchsvolle Zeitgenossen als ›Stuhlgang‹ bezeichnen würden, das beäugt der Korinthenkacker mit wacher Erwartung. Entfernt den Auguren des alten Rom verwandt, liest er anderer Leute Zukunft aus seinen Eingeweiden. Doch was heißt schon ›entfernt‹? Genau besehen trägt er seine K… den anderen nach und behauptet, es sei die ihre, sie mögen es abstreiten, wie sie wollen. Da er auf Streitsuche ist, freut er sich darüber, wenn andere ihn … finden. Unter Abstreitern ist er in seinem Element – »Doch, doch, das hast du behauptet, gerade eben, ich hab’s gehört« – und bewegt sich darin mit der Gelassenheit eines… Keine Tiervergleiche! Tiervergleiche lehnt er als unerhört ab. Erhörung dem Erhörten! Der Korinthenkacker verteidigt die Unschuld der Tiere – notfalls mit blanker Faust –, und lässt keine Gelegenheit aus, ihren minderen rechtlichen Status zu beklagen, als handle es sich um den eigenen. Passend dazu sucht er sein Recht stets bei anderen, einzig allein zu dem Zweck, es ihnen, sagen wir, abspenstig zu machen, denn in Wahrheit ist es das seine, nur unter falscher Flagge. Über diesem Unrecht wird er zum Freibeuter. Sage ihm keiner, er sei rechthaberisch! Das Gegenteil ist der Fall. Nirgends weiß er sich im Besitz des Rechts, das ihm zusteht. »Da, mein Recht!« zischt er zwischen geschlossenen Lippen und fällt den Rechthaber an, der nicht weiß, wie ihm geschieht. Wer hat Recht? Und wenn, welches? Nie fiele dem Korinthenkacker ein, sich sein Recht vor Gericht zu erstreiten. Warum? Weil er überzeugt davon wäre, dass es dort nicht anliegt. Ein Gericht, das ihm sein Recht zuspräche, hätte ja recht. Das darf nicht sein, denn, klein oder groß geschrieben, es ist das seine. Das Gericht ist der größte Rechthaber und damit sein größter Feind. Rechthaber und Korinthenkacker, man sieht sie gelegentlich gemeinsam vor den Pforten des Paradieses, man hält, was sie gegeneinander treibt, für eine letzte Umarmung, denn nur getrennt fänden sie Einlass, doch die Trennung will nicht gelingen. Gut so! Was wäre die Welt ohne dieses Paar? A safer place? Fragt sich, für wen.
Weniger in der Größe einer städtischen Schüssel, vielmehr als
Inhalt eines großen bäuerlichen Napfes fand die Obstküche des
unermesslichen Himmels ihr Symbol im Kompott. Er hat die
chinesische Landkultur mit dem Himmel vereint und so zur Vollendung
gebracht. Das zur Herbstzeit in Kreidekreisen gesammelte Fallobst
ist die Grundsubstanz der kosmischen Berechnung der Felder. Die
bäuerliche Zweiteilung der Ernte von Fallobst und Baumobst, das von
den Alten vom Boden oder von jungen Mädchen von den Zweigen
gepflückt werden muss, entspricht insofern den beiden Symbolen Yin
und Yang, als das gefallene Obst den Greisen und das gewachsene
Obst am Zweig zur Reife der Jugendblüte gehört. Jeder Zweig mit
hängenden Früchten gleicht demnach dem spendenden Arm der Jugend,
davon vielleicht Hölderlin in einem seiner letzten Gedichten
gesprochen haben mag, wenn es dort heißt: »Die Früchte aber sind
sehr schön gedrängt«.
Ob also oben am Baum, unten im Gras oder später im bäuerlichen Napf
die Früchte gedrängt erscheinen mögen, unterliegt allein dem
Prinzip der Gestaltung, die nach unten zur Erde oder nach oben zum
Kosmos ausgerichtet ist. Verspeist wird der Kosmos-Kompott von
Bauern und Priestern gemeinsam im Herbst, unter dem Kreis der
Gestirne. So werden alle erhoben und die Landwirtschaft blüht. -
PM
Dass einem alles, wovon man kostet, in Rechnung gestellt wird, ist
ein bekannter Mechanismus. So kostet ein gewisser Kardinal öffentlich vom Begriff der
Entartung, als handle es sich um eine besonders süße Frucht am
Baum der Erkenntnis, in der Hoffnung, die prompt servierte Rechnung
vom Tisch peitschen zu können. Etwas, nun ja, in der Art las man schon früher: eine
Erkenntnis, die in der Art bliebe, eine artige Erkenntnis wäre es wohl, das Prinzip
der Freiheit zu verraten und im Lippenbekenntnis, das nichts
kostet, einen artigen Biologismus zu fordern, in dem der Apfel erst
gar nicht vom Stamm fällt, sondern an Ort und Stelle verfault. – Man
könnte das degenerierende Denken gleich Denken nennen und es dann
lassen, man kann es auch gleich lassen, um artig zu degenieren. Es
liefe beides auf dasselbe hinaus. Der klerikale Biologismus hält
die Unzucht, in der er sich auskennt, huld- und zuchtvoll in den
eigenen Reihen. Umso komischer wirkt es, wenn an dieser Stelle die
Politik sich eindrängt, um daran zu erinnern, dass sie in ihren
schwärzesten Stunden sich ebenfalls in dieser Sparte versuchte. Die
laikalen Dilettanten können nicht begreifen, dass das, was sie sich
eingedenk des Entsetzlichen nicht herauszunehmen wagen, von einer
halbwegs denkenden Instanz aus dem Spiel genommen werden muss, soll
sich kein Spieler daran vergreifen. Dass Politik sich nicht
herausnehmen darf, was sich Kirchen herausnehmen, hat gute Gründe,
einsehbar unter dem Stichwort ›Fundamentalismus‹, leicht abzurufen
für jedermann. Provinzielle Politik macht daraus ein verbales Tabu,
Wegweiser des Unheils. Das heißt man wohl: mit dem Latein durch
sein.
In Krafträumen sammelt die Menschheit Kraft, das weiß doch jeder. Wie sie das macht? Durch sinnlose Tätigkeit, von manchen ›sinnfrei‹ genannt, weil sich das besser anhört und eine höhere Sinnausbeute verspricht. Sinnlose Tätigkeit gilt als Sinnspender, weil sie den Körper kräftigt, was immer sinnvoll ist, denn ein starker Körper kann sich wehren, gegen seinesgleichen, in den gleichen Räumen erstarkt, aber auch gegen anderes, zum Beispiel Schwermut, wie sie vorzugsweise in schwachen Organismen ruht und davon träumt, sie zu verlassen. Ein starker Körper will nicht verlassen werden. Er hält die Psyche fest und sie ihn, es besteht ein erotisches Band zwischen ihnen, stark und elastisch. Das interessiert die Frauen, die aus den Schönheitsräumen strömen, in denen sie vergleichbar, wenngleich mit anderen Mitteln und anderen Ergebnissen, behandelt wurden. Auch sie haben Sinn getankt, sie kommen bis obenhin abgefüllt mit diesem Stoff auf die Straße und wundern sich, dass die Leute nicht Schlange stehen, um ihnen eine Pappbecher-Füllung abzukaufen. Gern wären sie Sinnverkäuferinnen, stattdessen füllen sie die Regale im Supermarkt auf und vergnügen sich an der Kasse, wo ihr Augenaufschlag gefragt ist, vor allem bei den Absolventen der Kraftmaschinen und ihren schwächlichen Cousins, die sich nicht trauen. Der Sinn sitzt in der Psyche, das denken alle, die Psyche sitzt im Körper, ein bisschen wackelig, aber im allgemeinen verlässlich. Wer sich mit dem eigenen Körper beschäftigt, der betätigt einen Duschhebel und irgendwo regnet es Sinn. Der Philosoph macht daraus die Gleichung: Sinn ist Kraft. Das hört der Schwächling und denkt, dass die größten Dummheiten die größte Masse erreichen, also denkt er sich dumm, das heißt, er beginnt zu trainieren. Die gefährlichsten Kraftmaschinen sind dort aufgestellt, wo für die Masse gedacht wird, also wirklich. Die Kraft, die aus ihnen quillt, flutet die Räume, in denen der Mensch sich verausgabt, sie zieht ihnen Kraftlinien ein, an denen die Leute sich orientieren. Sie haben etwas läuten hören und sind verständigt. Dieses Verständigtsein … ist der Kraftsinn, an sein Ende verfolgt, dorthin, wo er kenntlich wird. »Hau drauf«, sagt dieser Sinn, »hau drauf, wann immer du nicht verstehst, wovon doch die Rede ist.« Dieses ›doch‹ ist wichtig, es lehrt die Furchtlosen das Fürchten und brennt den Verständigten ein Loch in die Hose, dort, wo ihr Blick nicht hinreicht.
Einem, der unter Kraftverdacht steht, winken herrliche Zeiten. »O
welche Kraft«, zirpt die Banane, »was mag daraus entstehen?« Sie
zirpt, als Banane, nicht wirklich, eher mental. Seit den letzten
großen Willensbekundungen des Volkes und dem darauf erfolgten Umbau
der Gesellschaft gilt sie als Persönlichkeit, nun, vielleicht mehr
als Personality, da eine
Persönlichkeit eher konservativen Personen attestiert wird und man
sie für historisch anrüchig hält. Eine Personality hingegen,
das kann ein Auto sein oder eine Marke, im Grunde alles, was steht
und rennt und geht – ob über den Ladentisch oder davor, spielt da
keine Rolle. Seit die Banane als Personality durchgeht und die
Werbeflächen füllt, wenn es nichts zu werben gibt, ist sie eine
gesellschaftliche Instanz und steht für Kraftverdacht. Sie darf ihn
äußern, wann immer und wo sie will. Dem oder der Kräftigen – oder
als kräftig Verdächtigten – öffnet es alle Verschläge und Nischen
der Gesellschaft. Zum Dank trägt er oder sie eine Banane am Revers
oder an vergleichbar zugänglichen Stellen. Zugänglich sein – dies
ist die hauptsächliche Aufgabe aller, die unter Kraftverdacht
stehen, und sie kommen ihr in umfassender Weise nach.
Dafür dürfen sie sich ein wenig bereichern.
Wer den Ausdruck schon kennt, bekommt 12 Cent auf die Hand, der Rest folgt später. Im Vertrauen auf seine Blutwerte verfolgt der Nasenbluter die Apfelweisheit, bis sie sich dankbar entfernt. Wohin? Ins Gebiss, auf gewundenen Pfaden, die locker versprechen, was sie nicht halten, und Unterstrom binden. Versuche zu folgen! Dies eine Mal noch – bis zum Sturz ins Gelächter. Ab mit Gewinn! Träume sind Niespulver, herausgestäubt auf dem letzten Parameter, der Weistümer kotzt. »Welche mehr?« frage ich. Dabei geht der Herd vor die Hunde, die winselnd ins Gras beißen, frisch von der Leber und pudelwohlauf. Zinnoberburg, breitwangig: ein Koloss im Verborgenen, der sich da auftut. Lass laufen, was tut’s. Wer läuft, läuft Gefahr, das gilt selbst für Nasen. Denk an den Stüber, den Schnepfenfreund, der nichts für sich abbeißt und überall nachwächst. Ein Herzensstüber, ein Schnepfenkröpfer, ein Plattmaul vom Lande, ein Dreifachbesaiteter ganz ohne Furunkel (den spart er aus). Aus-, nicht ansparen heißt die Devise, ein Wortlaut nimmt’s wörtlich und setzt sich in Front. Krakeele, wer will, an heißen Tagen gibt’s einen Abzug. Verstanden? Wohl kaum.
»Auf Krawall gebürstet« – wer das nicht versteht, dem nützt keine Spitzhacke für den gefrorenen See in seinem Inneren, der benötigt schweres Bohrgerät, um in dieser Hinsicht voranzukommen: »Wo kommen wir denn da hin?« Ja wohin denn? Das Unkontrollierbare kontrollieren, diese famose soziale Fertigkeit, die nirgends gelehrt wird und ihre unsichtbaren Meister besitzt wie irgendein östlicher Kampfsport, charakterisiert den öffentlichen Menschen, bei dem die Substanz hinter der Maske verschwindet, sofern ... sie überhaupt existiert. Dem Krawalleristen dient die Maske als Boot, mit dem er die Zubringer des oberen Orinoco befährt – soll heißen, er trägt sie ganzjährig (nicht auf dem Gesicht, sondern unterm Arsch, dort, wo es wehtut, wenn die Fahrt unruhig wird und entsprechend Kleinholz anfällt). Für ihn, wie für manchen anderen, ist die Welt Bühne, auf die er sich Zutritt verschafft, wann immer es ihm passt und den Schauspielern nicht. Die Regie, die alles überblickende, lässt ihn gewähren, denn sie weiß, er dirigiert die drei misslichen M hinter jeder Aufführung – Misstrauen, Missvergnügen, Mordgeschrei –, schleift sie, wenn’s sein muss, an den Haaren herbei, so dass es aussieht, als gehörten sie zum Stück, das gerade gegeben wird. Ein grober Irrtum des Publikums, aber ein beliebter. Nicht das Stück juckt, sondern die pompöse Rolle des Störers, die in jedes noch so kleine Geschehen hineinpasst, auf dass es ein bisschen größer dastehe. Dabei hält er große Stücke auf sich und lässt sie fallen, teils, weil die Kräfte nicht reichen, teils, weil er nichts versteht und herausfinden will, was dahinter steckt. Jedenfalls behauptet er das, willens, keine Ruhe zu geben, bis auch dem Dümmsten klar wird: dahinter steckt er. Er und kein anderer. Soviel Gestörtheit muss sein.
Apropos: solche Leute kann man mieten.
Während man jedes Stäubchen Macht einer Zweifelsbetrachtung unterzieht, wird jedes Stück Glauben für bare Münze genommen. Was fehlt, ist eine Kritik des Glaubens, der Glaubensbereitschaft ohne System und ohne Punkt und Komma, der alltäglichen informellen Gläubigkeit, ohne die der Mensch nicht auskommt und die den hartnäckigsten Leugner im Handumdrehen überrollt. Man hat geglaubt, den Glauben zu kritisieren, indem man die religiösen Glaubenssysteme kritisierte. Ein großer Irrtum und ein verheerender dazu. Man hat eine Hülle gesprengt und den Stoff in alle Winde zerstreut. Man hat sich für den Glauben das Glauben eingehandelt und alle sind jetzt believers. Jedes Wissen ist heute ein ›geglaubtes‹. Wer etwas anderes sagt, lügt oder glaubt, er sage die Wahrheit, was in der Sache auf dasselbe hinausläuft. Die Wahrheit muss geglaubt werden, sie ist das, was man ›zu wissen glaubt‹, das allein macht sie kenntlich, und woran man nicht glaubt, daran muss man augenscheinlich auch nicht... glauben, was sonst? Es gibt keine Wahrheit, sagt der herrschende Glaube, der alleinseligmachende, der alles weiß. Nein, es gibt keine Wahrheit, das liegt am Es und seiner mangelnden Bereitschaft zu geben. Und selbst wenn es gäbe, glaubten wir ihm kein Wort. Nur der Unglaube ist schöner als alles Glauben, er ist hartnäckiger, zäher und frisst jeden Glaubensartikel auf, während er die allgegenwärtige, allbereite Glaubensbereitschaft anheizt. Der Unglaube ist der Treibsatz hinter dem Glauben, sein Panier. ›Ich glaube nicht‹ – so beginnen viele Sätze, vielleicht, wenn man in sie hineinhört, die meisten. ›Ich glaube ja eher...‹ Etwas anderes zu glauben wäre entschieden naiv, das lehnt jeder ab, der zu glauben gelernt hat. Was hat er da gelernt? Vielleicht das: Kredit zu geben. Ist es das? Kredit? Kann ich mir das leisten? Kann ich mir gerade das leisten? Nein, ich kann es nicht. Und selbst wenn ich es könnte, warum sollte ich? Sprechen wir es aus: leistete ich es mir, so würde es über mich verfügen, vielleicht nur über ein kleines Stück von mir, aber dieser Gedanke wäre mir unerträglich, er ist es jetzt schon, und fort ist der Kredit. Nein, kein Kredit. Stehe ich denn fest? Worauf? Nein, es ist die Planke, nach der ich mich strecke, sie schwimmt soeben vorbei und könnte mich forttragen, ein Stück weit, nicht sehr viel, denn die See ist mit Planken übersät und ich habe, wohin ich greife, die Wahl. Das Wirkliche will ergriffen werden, nur so wird es wirklich. Wirklich glauben also, darauf läuft es hinaus. Ein unwirklicher Glaube trägt, aber nicht wirklich. Was ich wirklich glaube, das entscheide ich, wenn es soweit ist. Das heißt, ich entscheide es nicht, sondern ich glaube einfach, was mir sinnvoll erscheint, zu seiner Zeit, zu keiner anderen. Sinnvoll also muss etwas erscheinen, damit ich mich dafür entscheide: es scheint und ich glaube. Ohne den Schein des Sinns geht nichts. Aber was ist der Schein des Sinns? Das Aufscheinen des Glaubens? Sinn und Glauben gehen zusammen, sie gehen durch jeden Spalt. Diesen Unsinn sollte ich glauben? Das gerade bleibt ausgeschlossen. Wenn sich der Sinn verwirrt, geht der Glaube baden. Worin er badet? Das weiß doch jeder. Der Unglaube ist der Jungbrunnen des Glaubens. Hier sammelt er seine Kräfte, von hier kehrt er erfrischt in die Arena zurück.
Der europäische Adel besaß so lange unbegrenzten Kredit, bis man ihn aufzuhängen begann, das heißt, bis die Gesellschaft im Ganzen begriffen hatte, was Kredit bedeutet und wie sich’s von ihm lebt. Nicht der Adel benötigte lange Zeit den Kredit (oder doch erst in zweiter Linie, nachdem Gewaltbereitschaft nicht mehr unter allen Umständen der Mode entsprach), der Kredit benötigte den Adel als konditionierende Instanz, die bereit war, für Überzeugungen ins Feuer zu gehen, ohne die zwar Reichtum möglich, aber Armut garantiert war: als unaufhebbarer Mangel an Mitteln. Der auf Pump lebende Adel repräsentiert das funktionalisierte Jenseits, in dem es jedem gut geht, sofern er nur unbegrenzten Kredit genießt. Ein Erkenntnisgewinn, was denn sonst. Dorthin also geht die Reise, wir werden in Palästen wohnen und Heerscharen von Engeln werden uns aufwarten. Zahlen wir fürs erste, was immer wir schulden, ohne zu murren. Diese da haben Kredit, sie sind im Besitz des Zieles. Das Ziel ist der Gral oder das Tischleindeckdich. Erlösung dem Erlöser – was soll das heißen, wenn nicht: Wer gibt, dem wird gegeben? Vielleicht noch eins. Wer sich abspeisen lässt, trägt Schuld. Wer seine Schulden pünktlich bezahlt, gilt als Hoffnungsträger, allerdings ist die Zukunft weit. Dafür pilgert jeder gern nach Bayreuth.
Die wirkliche Ausgelassenheit des Künstlers gründet im Ausgelassensein, im Ausgelassen-werden, in seiner sozialen Nichtexistenz, die sich als dauerhaft sich erneuernder Ausschluss erweist. Nein, er ist es nicht – selbst dann nicht, wenn alle Waffen der Kritik auf ihn deuten: gerade dann nicht, gerade dann murmelt es in ihm und er will es nicht sein, er fühlt, er passt nicht hinein ins Gehäuse, in den warmen Aufenthalt, den man ihm bereitet. Wie im Leben, so in der Kunst: die Klassiker brauchen den Neuling nicht, sie schauen ihn nicht einmal an, selbst wenn er ihnen zu nahe tritt, sie schließen den Ring und schließen ihn aus. Die Turnmeister glänzen in der Manege, er blickt in die Gesichter der Menge, er findet Bekannte darunter, selbst Freunde; gerade sie, gerade die engsten Freunde findet er hier, er findet sie über die Maßen einverstanden mit dem, was geboten wird, sie zücken den Applaus wie eine Börse, ja, sie sind bereit zu bezahlen, so nimmt es sie mit, sie zahlen fürs Taxi, obwohl sie es nicht bestellt haben, sie wollen nicht wissen, wo es sie absetzt, sie fühlen sich überaus vornehm kutschiert und dafür bezahlen sie. Das kränkt den Künstler, es kränkt ihn über Gebühr, er fühlt sich erzürnt und möchte ihnen die Freundschaft kündigen, alle Freundschaft der Welt, denn alle Freundschaft, das weiß er jetzt, bleibt im Grunde schal. Was hilft die Freundschaft, scheint er zu denken, wenn sie nicht hilft? Nein, sie hilft nicht wirklich, sie hilft nur durchs Leben und das Leben ist schal. Das Leben ist die Kunst und das Leben neben der Kunst ist schal. Wie kann ich, scheint er zu denken, neben der Kunst leben? Wie können sie neben meiner Kunst leben? Sie können es, sie leben gut neben meiner Kunst, legt man sie ihnen in den Weg, so laufen sie so bequem darüber weg, als handelte es sich um einen Zebrastreifen, den eine fürsorgliche Verwaltung auf den Asphalt malen ließ, damit einer halbwegs unangefochten über die Straße kommt. Unangefochten, das möchten sie sein und, o Wunder, sie schaffen es. Ja, sie schaffen es, in diesem Leben und in einem anderen. Nein, alle Freundschaft ist Täuschung, jedenfalls in Künstlerkreisen, man täuscht sich über die Gleichgültigkeit des anderen, indem man mit ihm ins Kino geht oder in einen Vortrag. Wenn nichts anliegt, gut, dann pflegt man halt das Gespräch. Man pflegt ja auch seinen Hund.
Dies sind die Wege der Kür und wir sind sie nicht gegangen, teils,
weil die Pflicht uns rief, teils, weil wir anders unterwegs waren.
Ein Fehler? Das wollen wir nicht hoffen, das wäre ja, als müsse man
sich vergiften, bevor man sich in den Brunnen stürzt, um ernst
genommen zu werden. Andererseits – was wäre daran schon Besonderes?
Das Besondere an der Kür liegt, das wissen alle, die schon immer
dabei waren, im Moment der Wahl. Der, auf den sie fällt, darf sich
verbeugen, das lastet ihn aus und erfüllt ihn womit? Ein Segen,
dass er es nicht weiß, denn das Hochgefühl, das er empfindet, ist
vor allem eins: ein geschickter Stellvertreter. Sein Körper hat ihn
hastig gezimmert, ein paar Bretter und Nägel, alles was recht war
im Augenblick der Not, so
umsichtig reagieren Körper, wenn sie gefragt werden. Sie werden es
eher selten, dafür trainieren sie viel vor blinden Spiegeln. Am
Ende gelingt ihnen ein Gefühl und ihr Auftritt ist eine Wucht.
Hinter dem Hochgefühl, an seiner Rückseite, wo die Spanndrähte
laufen, nagen die Zweifel, die unbedacht blieben. Sie sind nicht
gefragt, sie gehören nicht zur Erfüllung. Die Erfüllung selbst
bleibt leer, eine Breitseite, wie man unter angeheuerten Landratten
sagt, aus der nichts folgt. Das ist auch, alles in allem, besser
so. Wie selbstlos muss einer sein, um mit bloßem Finger den
Nachteil herauszufischen, der im Vortreten liegt. Ein Stiefel,
wer’s kann.
Mit schönen Menschen in den Ring steigen ist ein Privileg der
Dummheit.
Der Kulturbereich ist die Bereicherungszone der Kultur. Da als Kultur alles bezeichnet wird, was in die Hose gehen kann, wurde er eingerichtet, damit Menschen sich kulturell bereichert fühlen. Damit Menschen sich bereichert fühlen, muss es Gewinner geben: Menschen, die davon leben – und nicht zu knapp –, dass andere sich bereichert fühlen. Nun sind die Kulturetats riesig, doch die Erlöse knapp, woraus folgt, dass nur wenige durch Kultur erlöst werden können. Das wäre schade, ginge es im Bereich der Kultur um Erlösung – Gott sei Dank ist das nicht der Fall. Doch gibt es einen schmalen Bereich, in dem sich das Wunder ereignet: die Saison. Da sie immer neu zu sein pflegt, verspricht sie Erlösung von dem, was uns alle in der letzten bereicherte. Getrübt wird das Vergnügen durch Wiedergänger. Man kennt sie schon, man hatte sie schon, und pünktlich springen sie aus der Kulisse: Sie sind wieder da. Aber, wie gesagt, Kultur dient nicht der Erlösung, man könnte behaupten, sie diene den Wiedergängern, die damit ihren Lebensunterhalt bestreiten. Doch das wäre ein Zynismus, gerichtet gegen die Bestreiter unter ihnen, die alles bestreiten, selbst ihren Lebensunterhalt. Das Leben braucht, neben dem Wechsel, seine Konstanten. So betrachtet, ist Kultur auch nur Leben. Es lässt sich ausrechnen, wie viele Wiedergänger eine Kultur verträgt. Sie stirbt, sobald es ihrer zu viele werden, sie mästet sich an ihren Todesfällen, sie gleicht einem immer währenden Autodafé, das von Voyeuren entfacht, von Selbstverzehrern gesäumt, mit Leistungsfreudigen bestückt und von Ausgabeunwilligen eingehegt wird. Nur die Sammler ziehen davon, ihnen reicht das Objekt und sie erhalten dafür einen Wisch, auf dem steht: wertvoll.
Als die Kunde, es gebe ein kulturelles Gedächtnis, sich wie ein Lauffeuer in alle Himmelsrichtungen ausbreitete, standen in einiger Entfernung die Löschkommandos, bereit einzugreifen, aber der Einsatzbefehl blieb aus. Warum? Die Zeit, in der ein Einzelner ein Gedächtnis hatte, mit Macken und Lücken, neigte sich dem Ende zu, mit dem Einzelnen erstarb auch sein Gedächtnis und die bunten Bilder, die man ab jetzt im Kopf trug, ließen sich jederzeit nachregulieren. Sie waren also genauer, überdies zahlreicher als alles, was dem Einzelnen in seiner Epoche zur Verfügung gestanden hatte, und sie deckten den unebenen Boden der Zeit vollständig ab – man kann auch sagen, sie pflasterten jeden Schritt, der ab jetzt noch zu gehen war. Und sie vermochten mehr, je nach Bedarf z.B. erglühten sie hier oder dort, mit dem Erfolg, dass sich die Schritte der Leute unwillkürlich an den entstehenden Wärmelinien ausrichteten: kalt: schlecht; warm: gut; heiß: Vorsicht! Das ließ die gute alte Repression schwach aussehen und sie verabschiedete sich hastig mit einem schlecht artikulierten »Wir sehen uns wieder!« in die Randzonen des allgemein verbindlichen Gedächtnisraumes, dorthin, wo der Krieg der Gedächtnismaschinen dem Bildverbot täglich neue Renegaten zuführt. Das alles ist lange her, ein Märchen, von dem nur die Aufteilung der Menschheitsgeschichte in eine schwarzweiße und eine farbige Epoche übrigblieb. In letzterer leben wir, den Kabelgöttern sei Dank, noch immer.
Hier entsteht ein Werk, beinahe selbsttätig, es erblüht
gedankenreich unter den Händen, den emsig über die Tasten
gleitenden Fingern, und draußen steht einer und sagt »hoho« und
»nana« und »soso« und spricht vom trügerischen Werkbegriff und vom
nichtexistenten Autor, mit einer Stimme, nur leise und seltsam
undeutlich im Rattern und Summen der Druckmaschinen vernehmbar, die
seine Gedanken unters Gelehrtenvolk bringen. »Da bin ich wohl in
die Kulturfalle geraten«, denkt der, dem das gerade passiert, »aber
warum? Sollte es nicht so sein, dass dieser da und ich Verbündete
sind? Aber in welchem Fall? Und in welcher Sache? Es gibt wenig
Gemeinsamkeit in der Welt, das ist wahr. Auch die Gedanken müssen
sich auseinanderlegen, um da zu sein, am besten so weit, dass sie
links und rechts herunterfallen und aufgehoben werden müssen, denn
das Aufgehobensein ist ihre Weise zu überleben. Aber der da, was
denkt so einer überhaupt? Denkt er überhaupt? Er zieht andere bei
den Ohren, während er sich am Ohrläppchen zupft, das macht Eindruck
auf alle Ohrläppchen, so möchten sie auch verwöhnt werden.« Wer so
denkt, wird es schwer haben, sich durchzusetzen, denn er wird nicht
einsehen, dass er dem da zu Willen sein muss und wenn schon nicht
ihm, dann all denen, die nicht aufhören können, die Sprüche dessen
da nachzubeten, besser gesagt, herunterzuleiern, als stünde der
Jüngste Tag dicht bevor und als gelte es, bis dahin unbedingt
durchzuhalten. Der da, ein Standbild seiner selbst, steht bereits
entrückt, ein paar Wolken sind um ihn aufgezogen, bald wird er
Blitze schleudern, so ehern steht’s um sein Kinn.
Eines Tages aber, der Gefoppte ward alt und weise inzwischen, ist
die Luft rein und der da fort. Was ist geschehen? Ist das Papier
ausgegangen? Hat sich der Äther empört? Wurde das Erz eingezogen?
Nichts dergleichen, natürlich. Nichts ist geschehen. Dass nichts
geschieht, dass es immer wieder geschieht und alles, was nicht
geschieht, mit allem, was geschehen ist und geschehen hätte können,
zusammen entsorgt, das ist, gelinde gesagt, der Skandal der Kultur,
aller Kultur, ihr inhärentes Maß.
Dass Kultur gut sei, ist eine Behauptung wie all jene, die sie für sämtliche Übel des Erdballs verantwortlich machen, angeblich, weil sie die Menschen gegeneinander in Stellung bringt. Kultur ist Aufwand und aller Aufwand schafft Unterschiede zwischen den Menschen – sowohl vertikal als auch horizontal. Der Gedanke, ein Aufwand, weltweit getrieben, sei imstande, die Unterschiede zum Verschwinden zu bringen, ist weniger utopisch als illusorisch, da er die Widerstände falsch taxiert, die sich diesem wie jedem Unternehmen in den Weg stellen. So wenig wie sich Partikularität aus der Vernunft herausrechnen lässt, so wenig lassen sich Widerstände zum Verschwinden bringen, die zum Grundcharakter des Wirklichen zählen. Man kann die Wirklichkeit nicht vor den Karren eines Projekts spannen und möge es noch so verlockend klingen – daran scheitert die Weltgesellschaft, die doch, projektbereinigt, bereits existiert und täglich ein wenig anders. Wer sonst könnte das Projekt, stünde es anders darum, bewirtschaften? Europa, das seit Jahrtausenden existiert, will Europa werden. Gut, aber was besagt das? Wer sich auf die Suche nach Europa begibt, wird in jedem Jahrhundert anders fündig, manchmal in jedem Jahrzehnt – was ist weniger Europa, was mehr? Gibt es hier ein Mehr oder Weniger? »Wir schaffen Europa« – so ein Politiker-Humbug hetzt Leute gegeneinander, die sonst ohne Probleme ihr Bier miteinander trinken würden. Jetzt sind sie ›Europäer‹ und ›Nationalisten‹. Genau besehen sind sie weder das eine noch das andere. Die ›Europäer‹ verstehen nichts von Europa und die ›Nationalisten‹, falls das Etikett stimmt, nichts von der Nation. Sie wollen Europa schaffen und schaffen ›Kulturgüter‹: eine Fahne hier, ein Parlamentsgebäude da, ein Archiv, eine Sammlung von Verträgen, Verordnungen und Absichtserklärungen, von flammenden Reden und nüchternen Einreden, manch einer rechnet den Eurostecker ebenso dazu wie die berühmte Kurvenberechnung der europäischen Standardgurke. All diese Güter stehen neben, nicht über dem, was Europa auch ist, für Liebhaber des alten Europa oder der europäischen Provinz weit unter ihm, das mag manchen gleichgültig lassen, aber ohne sie ist Europa nichts. Wer die Welt unter Kulturgesichtspunkten bereist, der genießt die Unterschiede, gelegentlich bis zum Erbrechen, weil der Mensch nur begrenzt Unterschiede erträgt. Wer sich einigelt in seiner ›Kultur‹, hat den Gedanken der Kultur nicht verstanden, er hat auch seine Kultur nicht verstanden. Kultur ist Neugier, gepaart mit Benehmen, sie ist das Neue im Alten und das Alte im Neuen. Planbar ist sie nicht und schon gar nicht erzwingbar: wer eine Kultur ordert, um eine Ordnung zu erzwingen, wer die Bulldozer ruft, um sie beiseitezuschieben, weil er meint, er brauche den Bauplatz für eine Plattensiedlung oder ein Weltheim, der ruft Kräfte auf den Plan, die geeignet sind, jeden zunichte zu machen. Am Ende wird jede Kultur furchtbar.
Die notleidendste aller Marken ist die Kulturmarke. Oft genug steht sie im Gelände wie ein gerupfter Hase – und das ist gütig gesagt. Das Wort ›Vogelscheuche‹ geistert im Raum, seit es Kulturmarken gibt, vor allem im ländlichen. Dabei hat man sie hier bitter nötig. Sie unterbrechen die Monotonie der Landschaft, in der wachsen darf, was zur Ernte drängt. Das Gespräch der Agrikultur mit der Landschaft scheint ewig und wirkt daher endlos, dabei ist es, wie Fachleute wissen, fragil und flüchtig. Die Kulturmarke fliegt vorbei, der Tourist muss ein Auge drauf haben, damit er sie nicht übersieht. Deshalb genießt sie den Vorteil des köstlichen Moments, der Unterbrechung um der Unterbrechung willen, die dem rhythmischen Bedürfnis des Menschen entgegenkommt, er könnte auch austreten, aber so geht es auch. Ein Netz von Kulturmarken, sorgsam geknüpft, überzieht das Land, in dem der Weizen blüht und Kartoffeln geerntet werden. An ihnen hangelt sich weiter, wer ausflog, um es kennen und lieben zu lernen. »1723« murmelt der Ausflügler und tritt zurück, die Stirn von der Anstrengung des Ablesens gezeichnet. Kicherte jetzt eine Stimme: »Damals waren wir jung«, er stöbe in alle Richtungen auseinander und sammelte sich nur mühselig wieder ein. Daher geschieht es selten oder nie, die Geister der Vergangenheit wissen, was sie der Gemeinde schulden, und schweigen hartnäckig dem, der sie bemüht.
In Deutschland erwürgt man die Literatur in den Windeln, indem man
von ihr Taten verlangt, statt ihr zuzuhören. Das erging der
Romantik nicht anders als dem lebensphilosophisch motivierten
Aufbruch vor dem Ersten Weltkrieg. Die Weimarer Literaten waren
bereits verständigt und ›ethisch‹ motiviert bis in die
Staatszerstörung hinein. Lauter abgebrochene, autoritativ
ruhiggestellte, im schlimmeren Fall als Kanonenfutter verheizte
oder von Mordbuben gehetzte Bewegungen, unter denen der Romantik
die zweifelhafte Ehre widerfuhr, als dauerhafter ›Ausdruck‹ der
deutschen Seele in Spiritus gestellt und gelegentlich zu
Demonstrationszwecken aus dem Regal geholt zu werden – auch und
gerade von Leuten, denen bei ihrem Anblick das Messer im Sack
aufzugehen pflegt. Mit dem Ausdrücken ist das so eine Sache, es
beginnt bei den Jugendpickeln und endet bei den mechanischen
Kopierern, die selten imstande sind, mehr als ein vergröbertes
Abbild zu liefern, angesichts dessen man erst eine Weile überlegen
muss, wo oben und unten ist und wie die Seiten zusammengehören.
Diese schlechten Kopien bilden zusammen das, was eine
Mehrheitsüberzeugung von Leuten, die weiß Gott anderes zu tun
haben, Kultur nennt, am besten lebendige. ›Unsere reiche Kultur‹
kann es sich leisten, den armen Schluckern vom Überfluss abzugeben.
Man sitzt am Tisch der Kultur, als handle es sich darum zu prassen.
Währenddessen studiert man die Unterlagen, Dossiers, die dies und
jenes Interessante verzeichnen, Schlafgewohnheiten, sexuelle
Neigungen, verdächtige Äußerungen von Leuten, die lange tot sind
und von anderen Leuten geplagt wurden, die schon genauso verfuhren.
Man nennt es ›aufmerksam sein‹.
Wie jeder Anschluss hat auch dieser binnen kurzem Wüste erzeugt. Nichts gegen die Wüste, doch diese hier hätte vermieden werden können, sie musste nicht sein, oder doch? Wer verfügt Wüsten aus blühenden Landschaften, so dass man nicht unterscheiden kann, wo das eine aufhört und das andere anfängt? Oder sind beide eins? Im Yagir herrscht die Auffassung, dass durch die Wüste hindurch muss, wer das Gelobte Land erreichen will. Sie nennen das, nicht ohne Hohn in der Stimme, ›unsere kulturelle Option‹. Manchmal liest man die Buchstabenfolge UKO an einer Fabrikwand, da und dort findet sie sich auch an Wohnhäusern, häufig mit einem Punkt im O, der wie ein Abschluss wirkt. Wenn man ihn genauer betrachtet, dann sieht er aus, als habe sich der Schreiber durch ihn hindurch aus dem Bild entfernt. Wohin? Durch die Wand? Durch die Wand zu wollen gilt im Yagir als kulturelle Option, vor allem, wenn es mit dem Kopf geschieht, doch sind noch mehr Organe im Einsatz. Dieser Fall hingegen liegt anders. Wer mit dem Kopf durch die Wand will, wünscht sich nicht zu entfernen, er will die volle Gegenwart, das kann bitter werden. Im Grunde seines Herzens liebt er die Bitterkeit und macht ihr ein Angebot. Dieser hier hat, wie es scheint, nichts mit ihr zu schaffen. Schon der Schwung seines U ist bewundernswert und stößt an die Wolken. Aber göttlich ist das zum Trichter ausgebildete O, das Organ des Verschwindens, es saugt den Schreibenden ein und stößt ihn vorwärts, während er vorstößt oder vielmehr die Bewegung des Schreibens, in die er hineingeriet wie in einen Orkan, ihn hinreißt und versiegelt in einem. Versiegelt, ja, so sollte man die Stelle nennen, die ihn auf irgendeine Weise noch immer enthält, wenngleich nur von ferne. Bleibt das K zu erläutern, das die Schreibbewegung durchläuft, durchlaufen muss, möchte man sagen, das notwendige Mittelstück aller Bewegung, ihr Ausweis, ohne den sie nicht existierte. Ein K kommt selten allein, es sind ihrer viele, wie schon das Wort Kakophonie bezeugt, eines der Hauptwörter der Bewegung. »K« sagt der Yagirit und seine Stimme bebt von Bedeutung, er erscheint innerlich bewegt und muss sich stützen. Rasch ist ein K herbeigeschafft, es besitzt die Form einer Krücke. Dieses Wort ist verpönt, es ist außer Dienst gestellt wie viele Personen im Yagir, die weiter arbeiten, als sei nichts geschehen. Man bezahlt sie trotzdem und alle sind zufrieden. Nur das Krisen-K tanzt aus der Reihe und verlangt Aufmerksamkeit, ein seltenes Gut, das vielleicht keines ist, sondern ein Aussatz. Raumgreifend nennt man eine Bewegung, die Aufmerksamkeit erheischt, doch da liegt vielleicht das Missverständnis.
Kultur gehört zu den knappen Gütern. Deshalb ist es in
Spannungszeiten erlaubt, sie zu rationieren und von Amts wegen
zuzuteilen, damit keiner zu kurz kommt. Die schwere und
verantwortungsvolle Aufgabe des Austeilens fällt an die Literaten,
die sich ihrer häufig mit großer Bravour entledigen. Das stellt ein
umso größeres Verdienst dar, als sie dafür Sorge zu tragen haben,
dass der überwiegende Teil bei ihnen verbleibt. Je größer das
Virtuosentum, desto leichter gelingt die Aufgabe der wunderbaren
Kulturvermehrung hüben und drüben, so dass an ihnen das Wort
zuschanden wird: Geben ist
seliger denn Nehmen. Autoren wie Rudolf Borchardt in
Deutschland oder Alberto Savinio
in Italien haben es in dieser Klasse zur Meisterschaft gebracht.
Auf ihre Prosa trifft vielleicht das Wort zu, das von Brecht auf
eine ganz andere Handschrift gemünzt wurde: Der preußische Adler / Den Kleinen hackt er /
Das Futter ins Mäulchen. Wobei Savinio zugute gehalten
werden muss, dass er für seine Nation immer eine Extraration unter
dem Ladentisch bereithält. Als überzeugter Internationalist muss er
dagegen streng sein. Ihre Hoheit, die mediterrane Kultur, gibt
sich nicht aus, sie teilt nur aus, und wehe denen, die diese edle
Form der Zuwendung nicht zu schätzen wissen. Der Ahnherr aller
Kulturzuteiler hingegen stammt aus Sachsen: ein Adler zwar, aber
ein ängstlicher, wie sein mutiger Biograph zu Recht vermutete.
Diese angeborene Lehrer-Ängstlichkeit verpasste dem tradierten
Europa einen Großteil seiner Noten – ein überwältigender Erfolg, allein
wenn man bedenkt, wie schamlos das Bewertungsschema von
aller Welt übernommen und nach Bedarf modifiziert wurde. Ein
schöner Nebenzug verdient ebenfalls bemerkt zu werden: Was
immer Nietzsche über
andere schrieb, es wurde irgendwann auch über ihn geschrieben. So
ist die Bildung zwar der Spiegel der Gebildeten, aber sie gibt
eilig zurück, was sie empfängt. Warum nur?
Man hat den Aristokratismus aus der Kunst hinausgeworfen; man
wird ihn wieder in sie einführen müssen. Man hat mit Rorty und
anderen geglaubt, man müsse oder könne die Kunst demokratisieren,
aber man hat sich nur den Hochmut von Leuten eingefangen, von denen
nichts erwartet werden darf als die soziale Tugend des Drückens,
und die selbst nichts von ihr erwarten als Karrieren. Man hat die
Kunst sinnloserweise an das soziale Spiel ausgeliefert, ohne ein
paar Mindestanforderungen zu formulieren. Man hat sie einem
Menschentypus ausgeliefert, der mit ein paar Handgriffen dafür
sorgt, dass diejenigen, denen es um die Kunst zu tun ist und die
man traditionell Künstler nennt, in ihr nichts zu suchen haben und
nichts an ihr finden können. Die Kunst ist das erste
hochdifferenzierte Teilsystem der Kultur, das in ein Medium bloßer
Kommunikation verwandelt wurde. Wer das Gewäsch leid ist, muss ihre
Gesellschaft meiden. Als hätten sie einen Ausgleich zu schaffen,
sind die Techniken heutiger Reproduktion denen der Vergangenheit so
unendlich überlegen, dass die Museumsbestände mühelos die Grenzen
von Raum und Zeit überwinden. An den Ausstellungskatalogen werden
die Originale zuschanden. Sie fügen sich einer neuen Gegenwart ein,
einer Hyper-Gegenwart, in der die Größen des Betriebs zu Randfiguren
schrumpfen, die niemanden ernstlich kümmern. Das, nicht die
angebliche Gewöhnung an die erregende und erregte Kunstsprache der
Moderne, hat dazu geführt, dass die Gesellschaft ihre Künstler für
friedliche Gartenzwerge hält, an deren Tun und Lassen kein Mensch
Anstoß nimmt, der seine fünf Sinne beisammen hat. Emphase für die
Kunst ist heute Ausdruck von Schwachsinn. Die Sirenen schweigen:
alle Macht der Künste ist darin versammelt.
»Das ›Nationale‹ ist eine ›Frage‹, die heute entweder unterschätzt
oder bloß vom äußeren und oberflächlich-wirtschaftlichen
Standpunkte behandelt wird, weshalb seine negativen Seiten stark in
den Vordergrund treten und das Anderseitige spurlos verdecken. Und
gerade dieses Anderseitige, d.h. das Innere, ist das Wesentliche.
Von diesem letzteren Standpunkte aus würde die Summe der Nationen
nicht eine Dissonanz, sondern eine Konsonanz bilden. Wahrscheinlich
wird auch in diesem scheinbar hoffnungslosen Falle die Kunst –
dieses Mal auf wissenschaftlichem Wege – unbewusst oder
unwillkürlich harmonisierend eingreifen. Die Verwirklichung der
Idee der zu organisierenden internationalen Kunstinstitute kann
eine Einleitung dazu werden.« So Kandinsky 1926. – Ergänzend ließe
sich feststellen, dass die Organisation der Kunstideen auf der
Grundlage breitester Zustimmung auf genau zweierlei Weise zu
verwirklichen ist: durch den Verzicht auf Ideen oder durch Moden
als Meta-Instanzen, die an die Stelle des ›wissenschaftlichen
Weges‹ treten, wenn sie nicht einfach auf diesem Wege Verbreitung
finden.
Zur Übergabe unerträglicher Zustände der Kunst, an Richter in unbekannten
Zuständen des Bewusstseins und der ästhetischen Erkenntnis, bedient
sich in neuerer Zeit ein offenbar unerklärliches Machtfeld
gereizter Geister der Hilfe unbekannter Fahndungsorgane. Es
geschieht, dass sich die Verhaftung und Überführung der Dummheit in
Bündeln oder personifizierbaren Sprüchen immer öfter ereignet.
(Bisher konnten dazu nur im Alphazet Andeutungen gefunden
werden.)
Zerstörungsprozesse des Mal
governo sowie die banalen Dogmen einer frech
besitzergreifenden Oberwelt, die immer mehr der einstigen Unterwelt
gleicht, werden plötzlich mitsamt ihren Vertretern erfasst und
abgeführt, und zwar von einer unsichtbar agierenden,
metaphysisch-dämonischen Kunstpolizey. Diesen völlig neuartigen
Zugriff auf die Phrasen vorsetzlicher oder unschuldiger Verblödung,
durch welche die wahren Künste verdrängt worden sind, bekommt man
jetzt in Träumen von seltsamer Süße zu sehen. Man sieht in ihnen,
wie die alten geschichts-moralischen Dogmen samt den üblen Kadavern
ständiger Kopien ihrer selbst ganz plötzlich, gleichsam intuitiv,
nach rätselhaften Urteilen der erwähnten Gerichtsbarkeit, in sich
zusammenstürzen und in tote Gebiete abgeführt werden. Das sind von
Geräuschen durchzogene Einöden ohne Landschaft, von keinem Himmel
bedeckt noch von Horizonten umgrenzt.
Die besondere Form des neuen Infernos besteht in einem
entsetzlichen Wissen, das den verurteilten Antikünstlern
eingepflanzt wird, wodurch sie den Folgen ihrer ehemaligen
Verwüstungen ebenso schutzlos ausgesetzt werden wie einst die von
ihrem Treiben erbarmungslos ausgerotteten Menschen des guten
Geschmacks und der feineren Nerven. Die Geister dieses Ortes sind
abseitige Philosophen, die mit hohen und schweren Denkaufgaben, die
sie pausenlos offenbaren, die verurteilten Schwachköpfe aufs
Tödlichste langweilen, indessen zugleich eine völlig selbständig
gewordene Kunst, die sie einst gehasst und beiseite geschafft
haben, aufs Schlimmste über sie kommt und sie peinigt. Die
plötzliche Begegnung mit ihrer eigenen, stark verkürzten
Intelligenz und den Geistern des Platzes wird auch deswegen zur
äußersten Qual, weil der Unterricht zwar empfunden, aber niemals
begriffen wird.
Bilder von neuer und großer Schönheit, begleitet von einer Musik
der Gedanken, die sie nicht verstehen, treibt ihre aufs höchste
gereizten Gehirne in gespaltene Zustände aus Scham und Verwirrung.
Einer Sonderform ihrer kritischen Dummheit, einer erkennenden
Gefühlskraft, sind sie hoffnungslos ausgeliefert und sie versetzt
sie in rasende Wut. Überhaupt ist diese Abteilung der Hölle völlig
neu und quält die Kulturverderber durch wirkliche Kunst, die sie
sinnlos verfluchen. Man sollte auch wissen, daß seit der Aufklärung
der Stil der Hölle gewechselt hat. Im großen und ganzen ist sie
heute ein aus Banalitäten zusammengesetztes Regietheater
kollektiver Satanie. Eine Massenveranstaltung folgt der
anderen.
Das ganze Gebiet, das einstmals in all seiner Dunkelheit durchaus
noch das glanzvolle Gepränge des Herrn dieser Welt zu bieten hatte,
ist den Antikünstlern durch eine wissende Unbildung gänzlich
entzogen. Sie leben in in einer Art qualvoll erkennender Barbarei,
ohne den Ausgleich eines dunklen Genusses dämonischer Schönheit.
Töpfe mit Kunstschlamm aus tierischem Eiweiß, gleich dem Schleim
der von ihnen verbreiteten Abkunft der Menschen, die nie eine Seele
besaßen, gehören zu ihren Speisen. Das furchtbare Wort an den
Säulen der anatomischen Finsternis: ›Die Toten lehren die
Lebenden‹, wird hier mit Zirkeln und Mikroskopen
scheinwissenschaftlich gekocht und tierisch verschlungen. -
PM
Die moderne Kunst ist in Paris aufgegangen und man merkt es ihr an.
Was danach kam, ging nicht mehr auf, sondern strahlte verlegen.
Auch daran hat sich das Publikum gewöhnt, das seine eigene
Verlegenheit ablegte, sobald es lernte, dass es durchaus gemeint
war. Das Publikum strahlt zurück, es ist mehr ein Glimmen in den
Augen, aber es reicht, das Feuer der Kunst zu steigern. Ein
Aufenthalt in den gehobenen Kunstbezirken ist wenig mehr als ein
Autodafé, bei dem keine Menschen verbrannt werden, sondern Scheine.
Das alte Scheinen der Kunst ist zurückgekehrt, aber im Plural. Das
Scheineverbrennen bestimmt die Verweildauer vor dem Gebilde, der
Arbeit, dem Arrangement –
meist geht es schnell, im Vorübergehen, manchmal kommt ein schwer
brennbares Stück unter, da steigt die Neugier, wie es sich macht.
»Weitergehen, nicht stehenbleiben« steht in Scheintinte über den
Anstalten, die sich mit teuren Anschaffungen in die
Aufmerksamkeitszone beamen, aber das wissen die Leute selbst. Die
Kunstsonne spendet das Licht, für das Inventar und die Wände sind
die Menschen verantwortlich. So steht hinter jedem Schein eine
Wand, die hält, bis sie abgerissen und durch eine andere ersetzt
wird. Das kann dauern, aber alles in allem bleibt die Sache
überschaubar. »Macht keine Witze« steht über dem guten Stück,
jedenfalls kann man es auf den Gesichtern lesen, die darauf
starren. Nein, sie machen keine Witze, die Guten – weder die einen
noch die anderen. Es fällt ihnen wenig ein.
Die Zeitlosigkeit der Kunstwerke ist keine Gunst, die ihnen die Kunstwelt erweist, sondern eine Tatsache, in deren Glanz sie erstrahlen. Sie haben alle Zeit der Welt in sich versammelt und teilen sie großmütig an ihre Umgebung aus. Die Umgebung hat keine Zeit. Der Besucher treibt vorbei, er verschwindet im nächsten Café, um seine Beute als Biskuit einzutunken und feucht zu verzehren. Kaum ist ihm bewusst, dass Zeit, so behandelt, unbekömmlich wird. Die Zeit der Kunstwerke will genossen werden, aber sie verweigert sich dem Genuss. Wer von ihr gestreift wurde, will wiederkehren, er weiß, er bekommt nie genug, oder er weiß es nicht und verzehrt sich in blinder Begehrlichkeit. Wer als Besuch kam, geht als Sucher, er will den Augenblick der Sammlung wiederfinden, aber das gelingt selten. Eigentlich gelingt es nie, der Wunsch wiederzufinden geht in die Irre. Vermutlich ist das sogar seine Aufgabe: da Irren menschlich ist, muss es wohl auch ein menschliches Irren geben. Das meiste Irren ist unmenschlich, ein brutales Herumtappen auf falschen Wegen, bis einer im Graben liegt und das Geräusch der Fahrzeuge ihn begräbt. Würde es ihn nur zudecken! Aber es lässt ihn unbedeckt, eine offene Wunde, die zum Himmel stinkt.
›Emanzen‹ nannte man Frauen, die einen bestimmten Lebensstil
pflegten und damit kenntlich wurden – gefürchtet, verehrt,
belächelt, verhöhnt, aber selten mit Gleichgültigkeit bedacht. Seit
der Staat die Emanzipation in seine administrativen Hände genommen
hat, ist eine Emanzipierte eine, die ihre Pflicht gegen das gemeine
Wesen dadurch erfüllt, dass sie Berufe ›erobert‹ – wogegen prima
vista nichts spricht, auch nicht seconda vista, außer vielleicht, hier
und da, die Methode. Aber der Staat der Dienstleister lässt sich
diese Dienstleistung, für die er ›kämpft‹ und die er am Ende
verlangt, mit einem Konformismus des ›Perfektseins‹ bezahlen, der
an die alte Tugend des Gehorsams erinnert und bis in die letzten
geformten Sätze, in die Blicke und Nagelrundungen hinein bekundet,
wem er gehört. Frauen haben in leidvollen Jahren gelernt, mit
diesem unerwarteten Phänomen umzugehen; inzwischen wissen die
meisten halbwegs, wie man sich seiner an den Grenzen zum
Privatleben entledigt. Das macht das alte Emanzenblatt zu einer
wirklichen Kuriosität. Die jungen Frauen sehen hinein wie in einen
Koffer voll Wäsche, den ihre Mütter einst packten, um zu ›gehen‹,
und den sie jetzt auf dem Dachboden finden. Vater war schneller.
Kurs halten, sagen die Schlaumeier, die See ist glatt und das Ziel
hinter dem Horizont, jedenfalls versinkt es dort gerade, wir werden
es nicht mehr schaffen. Na und? Der Bogen ist gespannt, der Pfeil
flirrt, er steht in der Luft. Der Rest ergibt sich von selbst oder
wie von selbst, den Unterschied wollen wir kappen. Wir haben die
Pest an Bord, eine schöne Leiche geben wir, aus lebhaftem
Personal, das sieht berückend aus und wer weiß? Organisation ist
alles. Diese latente Neigung zur Gewalt macht uns zu schaffen, aber
es gibt Ventile. Was wäre denn gewonnen, wenn wir an Land gingen?
Kursbücher wird man lesen, solange die Reiselust unter den Menschen
anhält. »Wann fährt der Zug?« ist eine ebenso naheliegende Frage
wie die nach dem nächsten Hafen. Der Aufbruch enthält den Bruch wie
die Sirene den Marterpfahl des Odysseus. Man bricht ein, wenn man
aufbricht, aber man überdeckt es durch Hochgefühl.
Es soll Leute gegeben haben, die vor Langeweile gestorben sind,
selbst zu Zeiten, zu denen so etwas gang und gäbe war, jedenfalls
von heute aus betrachtet, was bereits einem Standpunkt gleichkommt.
Das muss sich geändert haben, jedenfalls stirbt einer heute eher an
Kurz- als an Langeweile. Die kurze Verweildauer wird zum Problem
bei Patienten, die sich zum Sterben Zeit nehmen. Ihren letzten
Kampf fechten sie, wissentlich oder nicht, mit ungeduldigen
Klinikverwaltungen aus, die ihre Betten bereits verplant
haben. Steh auf und
wandle: eine ganz normale Aufforderung an jemanden, der
seiner Gliedmaßen und vielleicht seiner Sinne nicht mehr ganz
mächtig ist. Nimmt ihn eine barmherzige Seele mit, verbucht man’s
als Heilungserfolg. Gestorben wird dann halt anderswo. Und es ist
was dran. Nur was? Die kurze Weile ist ein Symbol für
das Leben, das nirgends zureicht. Da
freut sich einer mit seinen Lesern aufs Alter, weil ihm die
Gehirnforschung sagt, dass man gegen Demenz etwas tun kann –
endlich etwas tun, nach so vielen Jahren des Nichtstuns, der
Kurzatmigkeit, ein Aufatmen geht durch den Mann, er ist ganz aus
dem Häuschen. Eine Demenz ist auch schon gebucht, sie freut sich
aufs Treffen.
Das Lachen ist eine Weltmacht, die ihre eigenen, teils absurden Kriege führt, ohne sich vor die Tür zu begeben. Man kann auch sagen, sie bevorzugt die geschlossenen Räume – was so nicht stimmt. Aber wenn man die symbolischen und gesellschaftlichen Räume hinzunimmt, bekommt man eine Ahnung, was damit gemeint sein könnte. Dass das Lachen in der Philosophie soviel gilt, hat gewiss auch damit zu tun, dass sie ein ähnliches Ambiente für ihre eigenen Zaubereien bevorzugt. Eine niedrige Decke erzeugt Riesen, ein enges Gehege Ausreißer. Pädagogen fürchten das Lachen so sehr, dass sie es lieber für erzieherisch wertvoll erklären, als dass sie ihre Furcht einzugestehen wagten. Was Politiker von der Sache halten, erkennt man am besten im Karneval, der ein Gegenregiment sein soll und im Hinterzimmer mit der Macht paktiert, damit alles in gesitteten Bahnen verläuft. Wer das Gelächter kontrolliert, kontrolliert die Massen. Wer vom Gelächter kontrolliert wird wie z.B. Prominenz, die sich ins Kabarett verläuft, bevorzugt das mechanische Lächeln, falls er nicht, wie Sokrates, den Zuschauerraum zur Bühne umfunktioniert: Seht, hier bin ich, ein Wesen aus Fleisch und Blut, im Ernst unter euch weilend, während ihr euren Spaß an mir habt. Das kann, wie im Fall des athenischen Philosophen, schlecht ausgehen, selbst wenn es sich gut anlässt, so wie Weinen, Heulen und Zähneknirschen und -klappern, Lächeln und Juchzen generell in die gleiche Klasse von Ereignissen fallen, in denen eine psychische Irritation vom Körper interpretiert und abgefangen wird: da geht sie hin, in Ketten, aber glücklich, dem Aufruhr entronnen zu sein, den sie angezettelt hat und der sie ist. Am Lächeln will man diesen Vorgang am wenigsten einsehen, weil es am kontrolliertesten erscheint und ohne große Mühen mechanisch erzeugt werden kann. Ein mechanisches Lächeln ist ein Lächeln oder ein Ärgernis. Der stimulierte Körper forscht gleichsam nach dem Unruhepotenzial in seinem Inneren und lässt es, falls keine entgegengesetzte Order es untersagt, heraus. Entsprechend sucht ein mechanisches Gelächter sich seine Opfer; seine Bewegung geht nicht nach innen, sondern in die Umgebung, die sich unvermittelt einer Aggression ausgesetzt sieht, deren Ursachen sie nicht versteht und die ihr gleichgültig sind. Dass Gelächter auch ansteckend wirkt, ist keine besonders gute Botschaft; Aggressionsgemeinschaften pflegen sich immer und überall zu bilden, wo der Aggression nicht sofort entschieden entgegengetreten wird. Manchem, der in sich hineinlacht, schallt es heraus: Du bist ein elender Schauspieler. Mancher, der das Lachen als Therapeutikum empfiehlt, bevorzugt das zerstreute Lachen, um sich nicht lächerlich zu machen: damit gelingt es ihm. Das existenzielle Gelächter, das Lachen angesichts des lebhaft empfundenen Nichts bildet eine Klasse für sich: entweder es vollzieht sich lautlos, als Geist, oder es kollert und jedermann wartet auf den Aufschlag.
Landschaftsheizer sind rar. Selten bekommt man einen und keinesfalls an einem der Tage, für die man ihn bestellt hat. Das macht aber nichts, denn: niemand – niemand! – bestellt einen Landschaftsheizer. Wozu auch? Landschaftsheizer ist kein Beruf, es ist eine Auszeichnung. Sie wird selten verliehen und ehrt den Auszeichner. Der Ausgezeichnete hat nichts davon, er wäre vermutlich befremdet, wüsste er, wie man über ihn denkt. Aber auch das weiß so genau keiner. Es gilt der Grundsatz der Kontingenz: der Ausgezeichnete hat mit der Auszeichnung nichts zu schaffen. Allenfalls fürchtet er sie. Apropos: ein Landschaftsheizer kommt selten allein. Aber er bleibt es. Landschaftsheizen ist eine Passion, die ihresgleichen nicht kennt. Wärmt sie denn? Wärmt sie die Welt oder was? Wenigstens ihren bewohnbaren Teil? Das ist schwer zu sagen. Es fehlen die Messinstrumente und niemand kennt die Kapazitäten. Keiner weiß, wie viele Landschaftsheizer es gibt, wo sie wohnen, wie sie sich in der Landschaft verteilen – die Verteilung, ja, ein weites Feld. Sagen wir, wie es ist: Es fehlt das Interesse. Gern wäre ich Landschaftsheizer geworden. Doch, wie gesagt, man wird keiner, weil man es will.
Man kann die Angst der Menschen schüren und ihre Schläfrigkeit. Wie das? Nun, bisweilen (und gar nicht so selten) geht das eine aus dem anderen hervor, z.B. wenn die Menschen vor lauter Weghören die einfachsten Signale nicht mehr hören wollen und anfangen, ihnen willkürlich einen anderen Sinn zu unterlegen. Dieser Sinn, der keiner ist, eigentlich ein Unsinn, macht sich breit, er überwuchert nicht nur die Signale, sondern auch den Raum dazwischen, er lässt Unterschiede verschwinden, auf denen die Wachheit des Geistes gründet, die ja nicht einfach ein physiologischer Zustand ist, sondern ein erworbener, ein Selbsterwerbungsverhältnis des wachen Menschen, wenn man so will, jedenfalls nichts, das man durch Schlafen erwirbt, so gut es der Seele auch tut. Man sagt, Menschen, die so agieren, gehen Konflikten aus dem Weg. Der Gedanke ist sicher nicht falsch, aber vielleicht seitenverkehrt. Manche Konflikte gehen um den Menschen herum, nicht, um ihn hinterrücks desto sicherer zu packen, sondern um ihn langfristig einzuwickeln, da sie selbst noch nicht die gehörige Form und Reife erreicht haben. Ein tödlicher Konflikt braucht viel Zeit, um zu werden, in dieser Zeit fürchtet er nichts mehr als aufzufallen, er versteckt sich, er macht sich klein, er will niedlich erscheinen, putzig sogar, er spielt damit, dass sich Kassandren zur Unzeit lächerlich machen, er lässt den Umgarnten seine Geschäfte besorgen: so wächst er heran.
Klassiker entstehen eher aus Langeweile denn aus Langmut. Eine solide Langeweile lässt sich weder dämpfen noch, Lieblingsphrase aller Sortierten, ›effektiv‹ bekämpfen. Sie kann nur, an ihre Grenze geführt, umschlagen – in etwas Wildes, etwas Großes, etwas Beherrschendes. Die Aussage, ein Mensch werde von der Langeweile beherrscht, kommt so nahe an die Wahrheit heran wie irgendeine Lüge. Sie muss nur von der Unwahrheit befreit werden, die in ihr steckt wie die Obsession in der Langeweile. Wogegen Langmut, die immer zusieht, bis es zu spät ist oder die Verhältnisse reif werden, unter bestimmten Umständen sich ins schlichte, trockene, nichtige Gegenteil, also in Unbeherrschtheit verkehrt. – Die Empfindung, in der Provinz zu leben, weitab von den saugenden Zentren, befördert die Langeweile aus einem Grund, der auf der Hand liegt: sie ist ein Entleerer. In solcher Leere lässt sich gut leben. Damit die Langeweile, ein rasch geweckter Null-Affekt, zu beherrschender Größe heranwächst, muss vieles und immer anderes geschehen. Dieses andere ergibt schließlich die Füllung, die den Klassiker macht. Daher die Langeweile, mit der Außengesteuerte, die stets nur das eine im Auge haben, auf ihn reagieren. Gibt sich der Klassiker Füllung? Oder lässt ihn Ergebung die Beherrschung verlieren, auf dass er, aus wessen Hand auch immer, zu empfangen bereit ist? Klassiker sind langmütig mit ihrem Talent, sie glauben, es stehe ihnen zu, aber das flüstert nur der Kitzel des einmal erfolgten Umschlags. Sie sind Meister der Langeweile, solange sie wissen oder zu wissen glauben: Das ist der Weg. Stirbt die Provinz, stirbt die Kunst. Stirbt die Kunst, stirbt der Mensch. Stirbt der Mensch, sind alle Planetarier.
Die Sorgen und Ängste der Menschen zum Ausdruck bringen – ist es das? Oder ist es besser, sie einzulullen: Mach dir keine Sorgen, du lebst nur heute? Gerade da liegt der Hase im Pfeffer. Wer nur heute lebte, der wäre fein heraus. Und doch würde er sich Sorgen machen: Was geschieht morgen? Was wird passieren, wenn ich nicht dabei bin? Was wird passieren, weil ich nicht dabei bin? Kann das gut sein? Und wie ist das überhaupt: nicht mehr zu sein? Ist es so wie nicht sein? Wie war ich, als ich noch nicht war? War ich gut? Sicher war ich gut, damals, bevor alles schief lief. Gern wäre ich wieder so gut wie damals, vor meiner Zeit, also zu meiner Zeit, als sie noch keine war. Eine Zeit, die keine ist? Also kein Morgen? Also kein: Ich werde nicht mehr sein? Das ›nicht mehr‹ gilt nur für die anderen? Es geht mich nichts an? Wieso lebe ich dann nur heute? Lebe ich überhaupt? Bin ich nicht tot? Bin ich nicht begraben unter lauter Kram, der mich nichts angeht? Müsste ich nicht aufstehen und hinausgehen, um nachzusehen, wie es aussieht, dort draußen? Aber nein, ich bin doch kein Schlächter, ich kann diesen Organismus, der Ich sagt, kaut, verdaut und all diese Dinge bewerkstelligt, von denen man sagt, sie seien das Leben oder sie machten es aus oder es bestünde daraus oder so sei das eben oder daran ließe sich nun mal nichts ändern, ich kann ihn nicht zerstören. Er zerstört sich ja selbst und ich sehe dabei zu. Mache ich mir deswegen Sorgen? Eine gewisse Ängstlichkeit scheint aus diesem meinem Ich nicht wegzudenken. Darum also muss ich mir keine Sorgen machen. Ich lebe im Heute – und das ist nur ungenau gesagt, denn ich erinnere mich nicht daran, wie heute begann und weiß nicht, wie es enden wird, auch wenn ich darüber gewisse Erwartungen hege.
Erwartungen also. Das Leben kommt aus dem Wartestand nicht heraus. Dennoch warte ich darauf, dass es mit dem Warten ein Ende nimmt, bevor das Ende eintritt. Tritt es denn ein? Begrüßt es einen mit Handschlag? Darf man es auf sich aufmerksam machen? Ihm vielleicht bedeuten, wie lange es auf sich hat warten lassen und dass es mir zum Ausgleich jetzt etwas bieten muss? Schließlich ist es mein Ende, es wird sich also mit mir beschäftigen müssen. Wie lange? Bringt es Zeit mit? Viel Zeit? Quälend viel Zeit? Ausreichend Zeit? Oder geht alles auch diesmal huschhusch und wieder weiß keiner, wohin die Zeit gegangen ist? Die gute Zeit, die Zeit der Sorgen und Ängste: da geht sie hin und keiner kann sie aufhalten. Seltsamer noch, das alles spielt heute, jetzt, jetzt, jetzt, j... Diese Gedanken sind nicht aufzuhalten, nicht abzuwehren und unüberwindlich. Vielleicht überwinden sie sich selbst, schließlich sind es Gedanken und unterliegen den Gesetzmäßigkeiten des Denkens. Nur Gedanken können Gedanken überwinden und letzte Gedanken sind letztlich mit sich allein.
Man kann der ersten Frau, die Deutschland regierte, keine mangelnde Tatkraft vorwerfen. Sie hatte, als sie abtrat, das Land … nein, nicht zur Kenntlichkeit, bis zur Unkenntlichkeit verändert, das alles, ohne selbst kenntlich geworden zu sein … und wodurch? Durch Laufenlassen! Wer weiß, wie man die Verhältnisse laufen lässt, für den laufen sie ganz von alleine. Das Laufenlassen ist eine große Kunst, manche meinen sogar, eine hohe – aber ›hoch‹, ›niedrig‹, was sind das für Begriffe, wo kommen sie her? Das wäre nicht länger unser Land. Mehr unser Land wäre, wenn die Verhältnisse, erst einmal im Laufen begriffen, gerade dort immer halten würden, wo die Mehrheit sie haben will. Die Mehrheit will, das ist nichts ganz Brandneues, geordnete Verhältnisse, die kann sie haben, selbst auf die Gefahr hin, dass man im Leben nicht immer alles bekommt, was man will – daher ist es auch besser, das Meiste zu nehmen, wie es gerade kommt, und das Beste daraus zu machen. Aus allem das Beste! Eine Katastrophe zum Beispiel, ganz für sich als Gestaltungsaufgabe betrachtet, enthüllt durchaus reizvolle Seiten, darauf allein kommt es an. Wo es nichts zu gestalten gibt, da läuft das Laufenlassen zur Höchstform auf, gesetzt, es darf, was es kann. Dafür zu sorgen fällt nicht immer leicht, aber es gelingt, wenn die innere Spannkraft stimmt. Die chinesische Kunst des Kampfes lehrt, die Kraft des Gegners gegen ihn selbst zu lenken. Wer Politik als Fitness-Training betreibt, der kommt diesem Ideal schon sehr nahe. Gegner ist der-der-ins-Leere-läuft – eine Feststellung, die verblüfft, wenn man bedenkt, dass der Hauptfeind eines jeden Politikers, der wiedergewählt werden will, der Misserfolg ist. Ihn ins Leere laufen zu lassen ähnelt der Quadratur des Kreises, sie kann nur gelingen, wenn sich genügend Claqueure finden, die sich und aller Welt versichern, Kreis und Quadrat seien im Grunde dasselbe. Im Grunde dasselbe – mit dieser Formel lässt eine Republik sich in Grund und Boden regieren, solange die Wirtschaft boomt, und es kommt ja wirklich auf dasselbe heraus, was am Ende gewählt wird, solange die Grundeinstellung des politischen Personals stimmt. Dafür lässt sich sorgen.
Eigenartiger Ausdruck, der daran erinnert, dass die Lauten geschlagen werden, immer und immer wieder. Die Lauten wie die Leisen, sie müssen geschlagen werden, das ist der Gong der Welt. Die geläuterten Deutschen, die nicht sehen wollen, dass sie geschlagen, und noch viel weniger wissen, wie sie geschlagen wurden, wünschen sich weder laut noch leise getroffen, sie hassen den Aufschrei und lieben es, ihn zu unterdrücken. Am liebsten möchten sie gar nicht getroffen werden. Man trifft sie deshalb selten zu Hause an und nie, ohne dass sie schon ein wenig getrunken haben und ihre Offenheit damit relativieren. Nein, sie sind nicht offen, sie weichen auch selten aus. Sie sprechen deutlich, überdeutlich und damit beyond interpretation über alles Mögliche, worüber Klügere lieber schweigen. Andererseits schweigen sie gern, um Stimmen Raum zu geben, von denen sie sich Belehrung versprechen. Leider werden Völker selten belehrt, außer von Großsprechern und Windbeuteln. »Über alles, worüber sonst?« lautet das verborgene Motto und keiner weiß, wie es damit weitergeht. Ein belehrtes Volk, so würde man sie gerne nennen und findet, wohin man auch blickt, wenig Anlass – so vieles geschieht unbelehrt und unbelehrbar vor, unter und hinter den Belehrungen, dass, wer die Lauten schlägt, nur die Leisen findet, die Leisetreterischen und leise Treterischen, sprachvergessen und lärmversessen ohne Ende.
»Würdest du so leben wollen, wie die tot sind?« – Die immer
virulente Frage stellt sich nicht allein vor Gräbern, gleich
welcher Ausstattung, sie stellt sich ganz allgemein angesichts der
erdrückenden Übermacht des Vergangenen, die nicht anders, nur
gespenstischer anmutete, wöge die gegenwärtige Weltbevölkerung die
gesamte bisherige Menschheit zahlenmäßig auf. Die Übermacht der
Vergangenheit ist die Übermacht der Kausalität, des nexus rerum universalis, in den auch
die Wertungen hineingehören, denen die Lebenden unterliegen.
Erbarmenswert ist das Dasein derer, die unter dem Diktat der
Wertungen anderer dahinleben, ohne eigene dagegensetzen zu können
oder von ihnen getragen zu werden. Doch wird man hier unterscheiden
zwischen dem objektiven und dem subjektiven Fall. Denn auch was
eigene Wertungen sind, regelt sich im Verkehr der Menschen
untereinander und so fällt die ganze Entgegensetzung dahin. Am Ende
bleibt das Problem der Bettung zwischen Menschen, die einem näher
stehen als andere, einem aber im Ernstfall auch nicht helfen
können, weil sie sich selbst nicht zu helfen vermögen. Ein
sadistisches Ranking sorgt dafür, dass die Ränge immer gefüllt
sind. Was ein Mensch wert sei, entscheiden Ökonomen, ohne mit der
Wimper zu zucken, es ist aber vorab entschieden in der
Wertschätzung, welche die Ökonomie selbst genießt und in den
Interpretationen wuchert, die Ökonomen und Nichtökonomen ihr
angedeihen lassen. So gibt es eine der Ökonomie
vorgeschaltete Ökonomie, in der das Leben des Einzelnen nach
Weltregionen und Kollektivzugehörigkeiten bereits taxiert ist,
lange bevor er zu krähen beginnt. Man sieht es an den teuren Toten
der Naturkatastrophen und Kriege, die von den Medien zu
unterschiedlichen Preisen gehandelt werden. – »Aber das weiß doch
jeder!« Das ist es, gerade das. – Es gibt andere Fälle, z. B. die
Vorratshaltung an Guten und Bösen, an Schurken im Weltmaßstab, die dem
Betrachter atemberaubend erscheint und sich ungeniert beliebiger
Individuen bedient, die durch die Zufälle der Geburt in ihre Netze
geraten. Auch die Konstruktion der Vergangenheit schafft
ihre Ungeheuer:
Zwitterwesen, die weder ganz vergangen noch ganz gegenwärtig sind,
halb Mensch, halb Dämon, klauenbehaftet, beliebig zitierbar, bis
zur Unkenntlichkeit kenntlich.
Dass die durchschnittliche Lebenserwartung in der westlichen
Wohlstandszone seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs steigt und
steigt, wird gern durch die verbesserte medizinische Versorgung,
den technologischen Fortschritt, die besseren Nahrungsmittel, die
gesünderen Lebensumstände erklärt, lauter Faktoren, die sich leicht
objektivieren lassen und insofern ›stimmen‹, obwohl aus ihnen die
Wut nicht begreifbar wird, mit der sich ›die Gesellschaft‹ auf die
Herstellung all dieser Umstände geworfen hat, warum sie an dieser
Stelle so viele Umstände macht. Vielleicht deswegen, weil ihr das
Überleben um jeden Preis eingeprägt ist, weil es die Lektion ist,
die sie aufs Eindrücklichste gelernt hat. Dazu gehören auch andere
wie die, auf der richtigen Seite stehen zu müssen, koste es, was es
wolle, und die nötigen Maßnahmen zu ergreifen, auch wenn es
schmerzt. Die richtige Seite ist die, die sich durchsetzt – wie
wäre sie sonst die richtige? Was der Modephilosoph Agamben das Lagermodell nennt,
wäre die Fixierung aufs Überleben, eine Verengung der Erwartung,
ein dünner Erwartungsfaden, der alles, nur nicht abreißen darf:
mehr wird nicht erwartet. ›Weiter, weiter!‹ ist die Formel eines
Lebens in Erwartung von nichts Besonderem außer dem, dass es weiter
geht, jede Stunde, jede Minute ein Gewinn. Wer sich zum Sterben
niederlegen möchte, wer sterbensmüde ist und sich, vermöge einer letzten Rückwendung des Gedächtnisses, in
Granatenhagel und unter fallende Bomben zurückversetzt findet, der
fügt sich jeder Rehabilitationsmaßnahme, der will, was man von ihm
verlangt. Es wird auch wieder anders gestorben werden, das ist der
leicht zu ziehende Schluss, wenn die Beobachtung stimmt.
Wer einmal die Leichtigkeit der Bewegung gefunden hat, kehrt selten oder nie, eher nie als selten, zur schulmäßigen Bewegungsart zurück. Man muss also vermeiden, dass sich eine Art Selbstbewegung in den Köpfen herstellt. Zu den professionellen Weisen, sie zu unterdrücken, zählt die Praxis der permanenten Zurschaustellung: wer das Erreichte auf immer neuen Symposien, in immer neuen ›Kontexten‹, zwischen immer neuen Buchdeckeln, in immer neuen Worten – denn etwas anderes wäre Plagiat und Betrug am Kunden – darbieten muss, der muss auch immer wieder ins Geschirr der Ex- und Dispositionen zurück, der darf nicht, sondern muss wieder- und wiederholen, was ohne diese Anstrengung bereits halb und halb versackt wäre und neuen Aus- und Ansichten Platz gemacht hätte. Er muss kenntlich bleiben, verlässlich in seinen Themen und Überzeugungen und Forschungsergebnissen und Gefühlsszenarien, und überdies formal konsistent und vermittelbar, soll heißen, den gängigen Schematismen verbunden bis zum Abwinken. Abgewunken, das weiß die Kollegin, wird immer; dass jemand hinten im Bild schon die Fahne hebt, rührt ihr verborgenes Herz und lässt sie fürs nächste Symposium rüsten: Auf zum letzten Gefecht.
Die chinesischen Arztpuppen dienten keineswegs bloß der Diskretion,
wie man heute platterdings behauptet, sondern sie stellten einen
geheimnisvollen Abstand her, der zwischen Körper und Geist, oder
zwischen dem leiblichen Dasein und seinem Spiegelbild, einen
Fetisch als Übergang setzte. Diese Brücken zwischen dem Brennpunkt
des Leidens und einem als nebelhaft fern empfundenen Ich bildeten
jene Puppen aus Holz, Leder, Porzellan und Elfenbein – in
ländlichen Gegenden genügte oft Stroh –, die es dem Arzt erlaubten,
mit seinem Patienten das Leiden als ferne Macht ins Visier zu
nehmen. Allein die Entfernung war bereits hilfreich.
Im Kaiserhaus und an den Höfen der Fürsten gab es Meister der
Puppen, Fu-hsi genannt. Sie verfügten über medizinisch geübte
Bogenschützen, die unter Lautenmusik dem Leidenden die Stellen
seines Übels an lebensgroßen Figuren zu deuten wussten. Letztere
wurden, teilweise mit ornamentalen Organen oder magischen Malereien
verziert, in astrologisch berechneter Entfernung vom Lager des
Kranken aufgestellt. Heutzutage betrachtet man sie
irrtümlicherweise als von Pfeilschüssen beschädigte
Kunstgegenstände.
»Wer sein Leiden nicht von sich selber zu trennen weiß, ist in
schlechter Verfassung. Er gewinnt keinen Abstand und der Feind hält
die Festung seines Hauptes besetzt.« So schreibt ein chinesische
Arzt, von dem wir nur über die Jesuiten in Japan den lateinischen
Namen kennen. Segmund van den Dusend, ein Arzt des Ordens, nennt
ihn in seiner Schrift De
waterlosmakene kunst to de genezing schlicht oder auch
falsch: Cui bono
(möglicherweise Tibetisch ›Shik-bon‹).
Es heißt, C.G. Jung sei im Besitz dieser Schrift gewesen und habe
sie gerne unter Studenten und Freunden in holländischer Sprache,
nicht ohne alemannische Klangfarben, zitiert, indem er behauptet
habe, dies stifte bereits den genügenden Abstand zwischen Körper
und Krankheit.
Interessanterweise setzt heute eine aufgeklärte
Wirklichkeitstrennung ein, die den Verlust des magischen Feldes
zwischen dem leidenden Menschen und seinem geistigen Spiegelbild
nicht mehr erfassen kann. »Der allein stehende Mensch hat seinen
Hof verloren«, sagt Homomaris, der in seiner Schrift Gestaltgewinnung der Krankheiten durch die
plastische Kunst behauptet, die geglättete, organlose
Körperdarstellung des Menschen in der plastischen Kunst sei nichts
als eine geistlos-ästhetische Entwicklung der Arztpuppen. In
Sonderheit träfe dies auf die Darstellungen des heiligen Sebastian
zu, deren Pfeilschüsse Homomaris an einigen hundert Statuen,
zwischen Europa und Südamerika verglichen und untersucht haben
will.
Dass unter solchen Aspekten die katholische Kirche um
Neunzehnhundert eine Schrift über Nietzsches Leiden in lateinischer
Sprache herauszugeben gedachte, ist wenig bekannt. In ihr sollte
die Hauptursache seiner Erkrankung und der seines Vaters im
protestantischen Egozentrismus als der alleinigen Selbstexistenz
eines jeden Menschen vor Gott gesucht werden. Es heißt in dieser
Schrift, jeder Mensch besäße von seiner Geburt an eine leere
Persona oder Maske, besser
noch eine Seelenpuppe, die er im Laufe seines Lebens, das immer
auch Leiden bedeute, zu erlösen und zu besprechen habe. Der
Protestantismus habe allein an dieser Stelle der religiösen Medizin
so nachhaltig geschadet, dass in Europa und Amerika die
Geisteskrankheiten zu Volkskrankheiten geworden seien
(»democratissimus et morbus mentis«). Die Herausgabe der Schrift
schien aber um Neunzehnhundert bereits zu heikel, angeblich weil
sie dem Aberglauben in abgelegenen Gebieten der Kirche hätte
Nahrung geben können. In Wahrheit fürchtete man wohl den
massiven Widerspruch der längt irreal vagabundierenden
Vernunft.
Das unbewachte Leiden, abstandslos am Menschen haftend, ist darüber
zum modernen Problem geworden. Die Leiden werden in der uns fremd
gewordenen Natur gesucht und der leidende Mensch sozialisiert und
kollektiviert. - PM
Dass die leidenschaftliche Weltsicht Leiden schafft, liegt
einerseits in der Natur der Sache und geht andererseits weit über
sie hinaus. Wie alt muss einer werden, damit er beginnt, das Leiden
zu leiden? Am Leiden leiden viele, man nennt das Verdruss. Auch
hier gibt es Unterschiede, die selten auf den Tisch gebracht
werden, seit Einheitskost herrscht. Nehmen wir uns beim Wort und
werfen wir uns in die Stromschnellen des Verlangens. Das ist ein
Experiment, das keiner besonderen Mittel bedarf, eigentlich kein
Experiment, sondern eine Erscheinung. Und was passiert? Was soll
schon passieren, wenn ER
erscheint? Oder SIE? Oder
– horribile dictu! – ES?
Das erste, was stört, ist die Sprache selbst, die schon weiter ist
und die Erscheinungen kassiert, eine um die andere. Die Sprache
vermittelt die Leidenschaft weiter, das will sie ja, da liegt das
Enigma. Eine Leidenschaft, die sich nicht auszudrücken vermag, die
nicht zur Sprache kommt, mag bleiben, wo der Pfeffer wächst, sie
korrespondiert keiner Seel’. Aber wehe, sie kommt, treu wie ein
Hund, wedelnd, brav, den Knochen im Maul – Verdruss! Die
leidenschaftliche Weltsicht entspringt dem Verdruss wie der Wärter
der Anstalt: freiwillig, doch mit flackerndem Blick und dem
unfreien Wunsch, der wohltätig verhängten Ruhe ein für alle Mal zu
entkommen. Erlangen könnte so jemand vieles, im Verlangen verdreht
es sich und wird unerreichbar. Wer dagegen im Sturm navigiert, als
säße er auf dem Trockenen, kann sich einbilden, er sei bald am Ziel
seiner Wünsche. So einen nennen die Mitmenschen eingebildet. »Ein
Schnösel«, schimpfen sie, »woher nimmt er das?« Geschöpft, liebe
Mitbewohner, alles geschöpft. Das Leiden leiden, damit ist alles
gesagt.
Das ist der züngelnde, durch keinerlei Nebenabsichten zu zähmende
Schmerz, der sich kostbarer anfühlt als alle Tröstungen, den man
ihm anbietet und der sich vor ihnen versteckt, wenn sie gehäuft
auftreten oder das Feld zu behaupten versuchen, um hinter ihnen, in
einer einzigen Geste der linken Hand oder in einem stummen Moment
aufs Neue zu explodieren. Er nützt eine kleine beredsame Stelle im
Gehirn, die für ihn reserviert scheint, jedenfalls leer, bevor er
zu sprechen begann, und seine Sprache erstreckt sich über das Organ
des gewöhnlichen Reden hinaus bis auf die Zunge, die seinen
Geschmack aufnimmt und triefend wie ein Schwamm vor dem Absturz
bewahrt. Hüte deine Zunge! Das gilt niemals so wie in den Tagen des
Schmerzes, wenn sie durch die Reibung des sanften Gebrauchs
versucht, seiner Herr zu werden, und ihn doch nur verteilt: in
welche Richtung du ihn auch nötigst, er richtet sich in seiner
Folgsamkeit ein, die das Wort Trennung nicht kennt, und rollt sich,
blitzartig oder langsam, ein Reptil der Nötigung, rückwärts in
deine Substanzen zurück. Ein Lügner, der nicht mit dir leidet und
dich ruhig auf die Freiheit verweist, die dich wie ein Mantel
umfängt und die härteren Stöße des Schicksals abfedert. Ein Lügner
sagst du, einer von der Sorte, die sagen können, was sie
wollen; wenn er gerade in diesem Punkt die Wahrheit sagt, dann nur
deshalb, weil sie wie ein Scheinwerfer seine verquere Existenz
beleuchtet. Jedenfalls scheint es dir so. Nein, von dieser
Trennung gibt es kein Zurück, es gibt aber auch kein Vorwärts,
jedenfalls keins, das dich lockte. Die Lockung selbst hat ihre
Richtung geändert und ist retrospektiv geworden, eine Späherin in
Verhältnisse, die so niemals bestanden haben, Zukünfte von
Vergangenheiten, die nicht ausgeschöpft wurden, die Potential
hatten und es jetzt zeigen, eine Beinstellung hier, eine enthüllte
Rundung dort. Dieses obszöne Pack scheint zu wissen, was es will,
es scheint überhaupt nach Belieben zu wissen. Es hat sich in der
Kammer des Wissens verfangen und rast in ihr kreuz und quer, auf
und nieder wie ein Insekt, dessen letztes Stündlein geschlagen hat.
Etwas drückt an der Leistung und es sind keineswegs nur Linke, die es bemerken. Es drückt gleichsam an der Wurzel und man bedarf keines Spatens, um den Befund zu bestätigen oder zu erhärten. Im Prinzip genügt ein klein wenig Lebenserfahrung, näherhin der Umgang mit dem Unbedingten in seinen verschiedenen Spielarten. Leistung ist unbedingt. Wer nicht aus sich herauszuholen gewillt ist, was nie und nimmer in ihm gelegen ist, der weiß nicht, wovon die Rede ist, für den ist Leistung allenfalls eine statistische Größe. Und es ist wahr, dahin tendiert sie, alle Fühler, alle Tentakel ihres vielgliedrigen, dabei überaus einfach gestrickten Seins zieht es in diese Richtung. Sie will in die Statistik eingehen, unbedingt, am liebsten natürlich in die der Rekorde. Aber im Prinzip genügt ihr die Schwellung, das ist die Stelle, an der die Werte ein wenig zugelegt haben. »Ein hoher Wert«, sagt sie gern und sie meint nicht das Fieber, »ein hoher Wert kommt nicht von allein, er muss gebracht werden.« Sie sagt nicht ›erbracht‹, das Wort sagt ihr nichts, mit einem Achselzucken geht sie darüber weg. Den klassischen Erbringer vergleicht man am besten mit einem Bauern, der Frondienste leistet. Er weiß, dass man sie ihm abzwackt und spürt die Minderung als Druck in allen Gliedern. Bedrückend gleichbleibend, das heißt nennenswert, wird Leistung erst dann, wenn der Kopf sie bringt: ein Bringer ersten Grades, der jeden Zubringer hinter sich lässt, obwohl er ohne dessen Zunft nichts wäre, wofür er manchmal dankt, aber beiher. Nur die Leistung zählt. Sie zählt wirklich, alle anderen schaffen es bloß bis drei. Was sie wohl zählen mag? Dumme Frage. Ein Schein wäscht den anderen.
Eine Steigerung des Leistungsdrucks bietet der Erfolgszwang, mit dessen Hilfe sich Calvins Erben auf Gotteskurs halten. Als klassische Zuarbeiter schätzen sie das Aufarbeiten nur selten, beherrschen es aber zur Not. Nicht ein Leben, zwei sollten es schon sein, wenn der Erfolg uns antritt: straff, schön, entspannt soll er uns vorfinden, so wie wir einst antraten, als ein Tritt zu genügen schien, um auf die andere Seite zu gelangen. Im Alter, da sind wir jung. Die Märchen wissen darüber viel, sie schätzen die Leistung, das Wort ›abschätzig‹ stammt aus diesem Milieu.
Was immer Physiker davon halten mögen, im Alltag ist dieses Wort
ein Signal undes bedeutet, jedenfalls in aufgezogenem Zustand wie bei der guten alten analogen Bahn: Hier
darf abgeschrieben werden. Eine Regel, einst für Journalisten
erdacht, gilt in einem Zeitalter, in dem jeder seine eigenen
Nachrichten verfertigt und um die Welt schickt, natürlich für
jedermann. Ein solches kollektives Abschreiben erzeugt quasi
naturgesetzlich den Unmut derer, die zu wissen meinen, dass bei der
Masse wenig Wahrheit ist und man sich besser von ihr absentiert. Schwieriger
wird es, sobald erst die Masse begriffen hat, dass bei den Leitmedien
im Grunde wenig zu holen ist. Warum das? Weil sie auch nicht
mehr wissen? Gut möglich. Möglich aber auch, dass sie ihr Wissen
aus lauter Angst vor den Wiederholungs-Tsunamis draußen im Weltmeer
der Information am liebsten vor sich selbst versteckt halten würden.
Halt! Keine Verschwörungstheorie! Aber diese Information kommt von
ihnen selbst: Keine Information in die falschen Hände! Am
Anfang aller Bewegungen, deren man so schlecht Herr wird, steht eine
Information, eine Information zuviel, wie viele meinen, am besten,
man hält alle zurück, dann sollte eigentlich nichts passieren.
Leider ist das nicht machbar, vor allem im medialen Bereich. Sich
selbst zu zensieren, ohne dass es auffällt, ist eine Kunst, die
nicht jeder beherrscht, dazu bedarf es der Meister. Doch wo zeigte
sich wahre Meisterschaft, wenn nicht dort, wo sie das Misstrauen
gegen sich selbst aufs Äußerste steigert? Ein Leitmedium ist daher
in aller Regel die Rinne, an der entlang aller Unmut und Geifer in
einer Gesellschaft entlangläuft, um in die bereitgestellten Tonnen
aus vorfabrizierter Gesinnung zu tropfen. Da in der physischen Welt –
wie in der geistigen, die hier aber außer Betracht bleibt – alles
mit allem reagiert, reagieren auch Leitmedien mit diesem steten Strom
der Gemeinheit, sei es, dass sie ihn zu steuern, sei es, dass sie ihn
ins eigene Repertoire zu übernehmen trachten, weil der Fluss
als Absatzgarant nie erliegen darf. Allerdings gilt in derselben
physischen Welt der Grundsatz, dass niemand Herr aller Reaktionen
sein kann, die er auslöst. Daher sind Leitmedien, die vorgeben,
Herren ihrer selbst zu sein und die Prozesse zu steuern, die sie
durch ihr kontinuierliches Erscheinen auslösen, in Wahrheit
Wahnbefangene mit einem Hang zum unbegründeten Großtun. Als solche
sind sie wahrheitsaffin, denn alles, was ›in Wahrheit‹ so oder so
ist, bedeutet etwas, man muss nur herausholen, was dahintersteckt.
Der Lesehirsch betritt den Garten der Lüste versonnen, mit einem
Buch in der Hand, er blickt kurz hoch, aber das zählt nicht
besonders in einem Raum, in dem es vor Spannungen knistert. Er hat
einen langen Aufstieg hinter sich und begehrt im Grunde nur eines:
den freien Ausblick. Der wäre ihm auch gewährt, hätten sich nicht
Lesende jeder erdenklichen Art zwischen ihn und sein Sils Maria
geschoben, darunter Leute, die das Buch so sehr erhoben haben, dass
sie es nur auf Gerüsten, ausgerüstet mit Ferngläsern, zu entziffern
imstande sind. Einige wenige haben sich ihr Buch erkoren und
blicken nicht links und nicht rechts, aber die meisten sind mehr
damit beschäftigt, auf den Gerüsten herumzuklettern oder beständig
zwischen ihnen zu wechseln, um nichts zu verpassen. Den Lesehirsch
ficht das nicht an, er ist mehr denn je bemüht, das Gewimmel zu
seinen Füßen nicht im Weiterlesen zu zertreten, weshalb er nur
langsam vorankommt und den Felsen, die sich jenseits der Bücherwand
türmen, ein gelassenes »Servus« entbietet. Homomaris, der Aufnahmen von ihm
verwahrt, glaubt nicht, dass es eines Tages zum Kontakt kommt.
»Nein«, sagt er, »das ist etwas für Tiere. Er wird eher in die
Ewigkeit eingehen als ins Gestein. Hoffen wir auf ein gescheites
Verschwinden.«
Nirgendwo tritt die Wolfsnatur des Menschen in annähernd gleicher Schärfe hervor wie bei Lesen. Der lesehungrige Mensch verschlingt alles, er kennt keine Grenzen, keine Bedenken, keine Tabus. Im Gegenteil: letztere ziehen ihn mächtig an. Deshalb hat der regierende Geist des Menschen vor den Hunger die Zensur gesetzt: Nur eine ordentliche Zensur bewahrt Anstand, Scham und Sitte vor den verderblichen Auswirkungen geistiger Neugier – von anderen Instanzen zu schweigen. Wo diese Zensur ansetzt – Apfel, Verlag, Bibliothek oder gleich beim Autor selbst – ist dagegen nachrangig, solange der Erziehungseffekt gewahrt bleibt: die Selbstzensur. Sie bietet zwar keinen verlässlichen Schutzwall gegen den Lesehunger, aber sie erleichtert den wirklichen Zensoren die Arbeit. Zum Glück gewährt auch die Literatur die beseligende Wirkung des Positiven: Heidi, Pippi Langstrumpf, Harry Potter werden immer leuchtende Fixsterne der Weltkultur sein und bleiben. Halt! Welcher negativistische Teufel hat mich da gerade geritten? Weiß ich denn nicht…? Bin ich meiner Feder so wenig sicher? Welcher Feder? Welches Geschwurbel tritt da aus mir aus? Lesefrüchte, von Grund auf faul: faul wie das Land, auf dessen Boden sie wuchern, faul wie die Bewohner des Landes, denen ihre Tüchtigkeit das Gehirn wegschmolz, faul wie ihre Medien, die faulsten von allen, faul wie eine Politik, die aus Unwissenheit Gold gewinnt, die letzte Deckung für ihre Ausgabenwut –… Wohin führt mich die blinde Erregung? In den Wahnsinn? In den Wahn, Sinn aus allen erdenklichen Töpfen zu saugen? Mehr Sinn? Noch mehr Sinn? Nein, das macht jetzt keinen Sinn. Es macht … überhaupt macht es … nichts. Wie wär’s mit einem Lesestopp? Jetzt? Kann man verhängen, in Blauweiß, wenn’s recht ist. Tässchen gefällig?
Wenn man erst den Lektüren der Menschen hinterherliest, dann fragt man sich, wie letztere durchs Leben gekommen sein mögen. Die Frage ist gut, aber die Lektüre erlaubt keine Antwort. Es wird wohl an der Harmlosigkeit der Lektüre gelegen haben, dass sie so halbwegs mit ihm zurechtkamen. Manche Lektüren erhalten sich, für die Nachwelt präpariert, in Kinder- und Kitschbibliotheken, mit einigen müssen künftige Schüler sich zu Abschreckungszwecken herumschlagen, das Gros verschwindet einfach, gleichgültig, welche Auflagenzahlen sie einst erreichten und welche Preise sie auf ihre Verzapfer herabregnen ließen. Aus und fort! Die Texte einer Epoche, die das Zeug dazu haben, ohne Kronzeugenregelung zu überdauern, sind ihr oft genug unbekannt oder gelten als abwegig, wenn nicht verwerflich. Diese Regel hält sich eisern, sie ist tief in der Wahrnehmungsstruktur von Gesellschaft verankert und wer sie herausreißen wollte, verhöbe sich leicht, ohne dass etwas sich änderte.
Die Aufgabe, die Leserschaft zu dezimieren, verschlingt ungeheure Kräfte. Zu groß die Lesewut der Leute, als dass es reichen würde, ihr mit den üblichen Tricks wie gehäuftem Fremdwortgebrauch, komplexer Syntax und schwierigen Gedankengängen beizukommen. Selbst Analphabetentum, das in diesen Breiten eher zu den selbstgewählten Handicaps zählt, kommt nicht in Betracht – nicht wirklich, denn wie viel auch gelesen wird, es geschieht ohne viel Federlesens, soll heißen, ohne die Mittlerfunktion des Verstandes in Anspruch zu nehmen. So, ohne den lästigen Gesellen zur Seite, liest es sich frei und gemein: jeder versteht, was der andere versteht und versteht er etwas anderes, so versteht er nicht, was der andere damit will. Ein wilder Unglaube an die Verständigkeit und ein verständigter Glaube an die freie Verstehbarkeit aller Zeichen zeichnet die Gezeichneten der Zeichenwelt aus. Auf ein Weltzeichen wartend – und gelegentlich drängend –, das ihnen den Weg nach außen weist, klammern sie sich an ihre Verstellungen und treten sie auf dem Pflaster ihrer Lektüren breit, die vielleicht keine Lektüren mehr sind, sondern eine in den Boden gerammte ältere Leserschaft, deren Kehrseite nun im Sonnenlicht glänzt, als warte sie auf den Marschtritt der wahren Analphabeten. Eine Sekte heute, doch welch reiches Gemeindeleben! Keine Zeichen! Nie wieder Zeichen! Atmet durch, Gezeichnete. Auch ihr werdet an der Zeit sein, so sie denn kommt.
Keine Kulturmacht liegt dem Menschen näher als das Vergessen ... so nahe, dass er sie bei seinen Berechnungen regelmäßig vergisst. So vertraut ist ihm die dauernde Bedrohung aus den Tiefen des eigenen Unvermögens, Eindrücke, Dinge, Assoziationen und Gedankenflüsse dauerhaft und verlässlich festzuhalten, dass er nicht anders zu denken vermag, als sei Kultur die unwandelbare Verfügung über alles, was je überliefert wurde. Im kulturellen Gedächtnis, so denkt er unwillkürlich, liegt alles bereit, was je überliefert wurde, sofern nicht gewaltsame Ereignisse die Überlieferungskette sprengten. Und selbst dann – selbst an solchen Stellen, angesichts rauchender oder erkalteter Trümmer-Enden, kann der nimmermüde Geist nicht anders, er muss so denken: Rekonstruktion ist möglich, sie muss möglich sein, sie ist schon im Gange, wenn das Bedauern begann. So sehr ist Denken Herstellung von Zusammenhängen, Sich-Bewegen in Zusammenhängen, dass Zusammenhanglosigkeit nur postuliert, nicht ›festgestellt‹ werden kann. Wo einer sie konstatiert, ist der Zusammenhang schon unterwegs. »Wir kennen die Zusammenhänge nicht« bedeutet: wir nicht, andere schon, wir können sie gegenwärtig nur nicht befragen. Was nicht so schlimm ist, denn wir können uns unseren Teil denken, wir haben ihn auch bereits gedacht und damit das Wesentliche vorweggenommen. Wen juckt das Vergangene außerhalb der allgegenwärtigen Diskurse? Die Frage beantwortet sich von selbst, sie ist längst beantwortet, bedenkt man, dass niemand sich die Mühe macht, sie zu stellen. Kulturwissenschaftler wissen (oder behaupten zu wissen), dass auch Kulturen vergessen, dass sie immerfort vergessen, mit einem Elan und mit einer Konsequenz, die ihre Art des Vergessens ›strategisch bedeutsam‹ erscheinen lässt. Doch diese allzu theoretische Einsicht ist bereits wieder vergessen, sobald sie sich an die Arbeit begeben und das Kulturwesen Mensch daran erinnern, was es einmal darstellte – just darin besteht schließlich der Sinn und die Arbeit aller Kultur. Wie wir wurden, was wir sind: das ist wichtig, das ist bewahrenswert, das muss memoriert werden. Ich armes Würstchen hingegen, das sich kaum von Tag zu Tag rettet, habe bereits wieder vergessen, was zu bewahren mir gestern dringlich erschien, ganz zu schweigen von dem Brief ans Finanzamt, der jetzt verspätet eintreffen wird, weil ich vergessen hatte, ihn rechtzeitig einzuwerfen. Das Finanzamt vergisst nichts, zum Glück, denn es ist Teil der Kultur. Ich hingegen bin kein Teil der Kultur. Seltsamerweise ist die Kultur ein Teil von mir, ich könnte sie komplett vergessen und würde nichts vermissen, ich hätte das Vergessen vergessen und fühlte mich frei in allem. Aber frei in allem sein: ist das nicht auch Kultur? Ist das nicht geradezu eine Definition von Kultur? So erneuert sich die Kultur in mir: durch Vergessen. Und, seltsam, seltsam – sie kann es. Die selbstvergessene Kultur: das muss wohl die meine sein. Lethe schreckt, aber nicht unbedingt.
Wir haben hier jede Menge Leugner, erläutert der Klinikdirektor, sie leugnen nicht, dass sie krank sind, aber sie leugnen, dass sie sich in guter Obhut befinden, sie verlangen nach richtigen Ärzten, nicht solchen Scharlatanen, wie meine Kollegen und ich es in ihren Augen sind. Was sollen wir machen? Sollen wir ihnen Nasen und Ohren abschneiden, damit sie ein Einsehen haben? Das ist nicht unser Beruf. Indirekt täten wir ihnen damit den Gefallen, auf den sie inbrünstig hoffen. Bandagiert, wie sie sind, würden sie uns aus ihren Betten entgegen krächzen: »Scharlatane! Seht ihr nicht, was uns fehlt?« Was sollen wir antworten? Dass wir Sehende sind, aber ohne Kraft, das Rechte zu tun? Wie können wir uns rechtfertigen? Wie stehen wir vor der kommenden Ärztewelt da? Aussätzige sind wir, fast ohne unser Zutun.
Keine Erfindung der Menschheit hat die Wahrnehmung der Vernunft so
verändert wie der Lichtschalter. Ja, man kann sagen, dass sie
seither erst für blanke Münze genommen wird:
Man kann sie handhaben. Wer den Schalter umlegt, sagt kein
Simsalabim oder Fiat Lux, er sagt
eigentlich gar nichts, aber er hegt eine starke Erwartung. Jeder
trägt diesen kleinen Schalter in sich, er ist weiß und eigentlich
farblos. Keiner sieht ihn, er will nur gedrückt werden, nur
gedrückt, nicht an die Brust, das wäre ein Irrtum, ein
welthistorisches Verhängnis, es wäre, als
schnitte einer die Menschheit entzwei und wollte den größeren Teil
des Kuchens für sich. Welch ein Irrtum. »Nicht geschaltet, was?«
Man kann drücken, ohne zu schalten, man kann schalten, ohne es zu
merken, man kann merken, ohne zu drücken. Letzteres, ein wahres
Epiphänomen, begleitet das Industriezeitalter des Intellekts, er
bemerkt es wohl, doch sobald einer drückt, ist es verschwunden. Mein
Schalter und ich, wir gäben ein gutes Paar, aber man verweigert uns
die Papiere. Wir sind zu stark miteinander verwachsen, um für zwei
durchzugehen. Um ehrlich zu sein, ich vermisse sie nicht zu sehr.
Hätten wir einen Vertrag, wo wollten wir ihn aufbewahren? Im
Hellen? Im Dunkeln? Sollte man ihn lesen, bevor... oder danach...
bevor... danach...? Und wer, bitteschön, sollte wann für wen
sorgen? An der Versorgungsfrage scheitert so manches Projekt,
deshalb – Hände weg.
Dass die Träume wie die Schrecken einer Generation in Jahren wurzeln, die nicht die ihren sind, ist wohl normal. Wirklichkeit stellt sich durch Wirksamkeit unter Beweis. Wo man selbst wirkt, zeigt sich die Welt offen, formbar, ein bisschen desorganisiert, mit einer Tendenz zum Amorphen, die kaum verstehen lässt, wie die harten, abgeschlossenen, dichten Gebilde, in denen sich die Vergangenheit dem darstellt, der hinsieht, möglich sein konnten. Das ist eine perspektivische Täuschung. Den Menschen bleibt keine Zeit. niemals, an keiner Stelle. Die Aufforderung, sich Zeit zu lassen, ist zweideutig, wenn nicht tückisch, sie verrät, dass der, an den sie ergeht, Gefahr läuft, den Anschluss zu verlieren. Er sollte sich sputen und in der Regel kann er es nicht.
Wer sich Zeit lässt, gerät in eine andere Welt, der man gern ›Eigensinn‹ attestiert, weil sich sonst nichts mit ihr anfangen lässt. Ins Aufatmen hinein explodieren die Sprengsätze. Die Menschen lieben Auszeiten nicht, sie nehmen sie mit einem leisem Widerwillen, sie halten sie für Medizin und die Wirkung ist danach. Wer in die versprochene andere Welt, in die Traumwelt der Familiendramen und Privatexpeditionen, des Baumeln-Lassens und Stricke-Drehens hineingerät, der gerät stante pede in einen Albtraum.
Wissen, wie’s geht, ist ein hohes Gut, auch wenn es am Ende anders geht. Es reißt die anderen mit, ein Stück weit, bis sie in wieder anderer Leute Wirbel geraten und so fort. Aber die Schrecken… Sie bleiben ja, als Gängelband, daran erinnernd, dass wir zu spät Gekommene sind, zu spät aufgestanden, wie der korrekte Ausdruck lautet, denn der aufrechte Gang, dieses Menschheitsthema, spukt in allen erwartbaren Formen. Die Hallen der Wissenschaft vom Menschen sind nicht dicht. Es zieht vom Lieferanteneingang her. Nicht bloß der Stoff wird durch ihn gekarrt, auch die Substanz – alles, was zählt. Wissenschaft – unser aller Wissenschaft – lebt von dem, was sie sich distanzierend vom Leib hält, und wenn sie es zu beobachten vorgibt, so sagt sie die Unwahrheit wissentlich: sie beobachtet nicht, sie liegt auf der Lauer.
Ideologisches Gekloppe plus Lesefutter für Voyeure: so funktioniert Literatur eine Zeitlang, sehr gut sogar, aber, wie gesagt, nur eine Zeitlang, genauer gesagt, solange es der Motivationslage der an diesem Spiel Beteiligten entspricht, die da lautet: die Idiosynkraten machen sich nützlich und die Nützlichen genießen die Idiosynkrasie, als sei es die eigene. Leider sind die Nützlichen nicht immer und überall nützlich, in den sozialen Medien besorgen sie es sich selbst und pfeifen auf jede Art von Literatur, bis auch diese pfeift – im Walde, aus dem letzten Loch, auf alle Art von Bedeutung, die eigene eingeschlossen. Ja die Bedeutung, sie schwindet. Sie ist schon dahin, auch wenn immer Betuliche nachkommen, denen sich noch ein Cent aus der Tasche ziehen lässt. Schriftsteller sind Kommentatoren von Haus aus, sie müssen ihren Senf dazugeben, so unnötig er auch sein mag. Und sie verlangen, dass er bezahlt wird. Warum? Das Publikum macht es umsonst und – es ist schneller. Das krasse Geschwätz, das einem entgegenschlägt, sobald unter den Schreib-Artikeln des täglichen Bedarfs die Rubrik ›Leserkommentare‹ aufgeht, lässt sich schwerlich überbieten. Allenfalls lässt es sich per Blütenlese verschlanken, mit ein wenig Lebensstoff anreichern und jenem Minimum an Rechtschreibung zuführen, das unter Sprachsensiblen als ›gebildet‹ gilt: Voilà, mein neues Buch ist fertig, ein Riesenschritt für die Menschheit, Leute kauft, denn ich bin ein armer Hund, der leben will – just live, wie es in der Sprache meines Bankinstituts heißt –, und ich gebe euch Stoff von eurem Stoff, was wollt ihr mehr? Das ist die Frage, einmal gestellt, mischt sie sich überall ein. Was wollt ihr mehr? Und wenn ›ihr‹ mehr nicht wolltet – die Sprache erlaubt es nicht, sie verschiebt den Akzent, ungewollt, unbemerkt, auf das ›nicht‹ und das ›wollt‹, das ›mehr‹ geht leer aus. Nie mehr, nie wieder, aus und vorbei: So sieht’s aus, so fühlt es sich an, wenn alte Rechte kassiert werden und die mehr oder weniger jungen Rechten zeigen, was sie – in Konkurrenz zur anderen Feldpostnummer – auf dem Kasten haben.
Die Farbe der Sehermasken am Rande der deutschen Wälder. Nicht ihre
Helme sah Parzival damals leuchten, sondern die Masken jener drei
Ritter, die bereits an den Zeiten der Kühnheit zu zweifeln
begannen. Die herbei gerufenen Wolken zögerten nicht, das Maß zu
nennen. Sie gebaren in großer Höhe Grieseldis, die lilafarbene
Zweiflerin, die den Rehen die Hörner gab, denn zuvor waren es
Zweige aus Eichenlaub, die sie zum Lob ihrer Wälder trugen. Das
Zeichen dieser Wandlung gehörte von nun an zum hörnernen Zeitalter,
das dem feurigen folgte, nach welchem das steinerne und schließlich
das hölzerne aufkam. Alle Frauen wissen dies seit diesen Tagen. Das
hölzerne ist das unsrige und das weibliche. Ab jetzt ist die Seele
nach Hidaijoshi »eine Lampe aus Seidenpapier die dem Mondlicht
gleicht. Sie ist angefüllt mit kleinen gekochten Hirsekörnern die
feucht und durchsichtig sind.«
Immanente Antworten führen
von nun an, anders als je zuvor, jegliches Wissen bis an die
Gipfel der Verstandeskraft, nicht aber des Geistes. Unwissenheit bleibt verlassen
zurück in den Zonen herbstlicher Gärten des steinernen Zeitalters,
von älteren Zirkeln verrostet bepflanzt.
Jene Körner schießen zusammen oder entfernen sich, je nach den
Stimmungen der Augenblicke, durch welche die Zustände
menschlicher Empfindungen bewegt werden. Es heißt in früheren
Werken Grabbeaus, das
Geringe werde dunkler, das Erhabene lila. In neuerer Zeit
durchbricht diese Farbe in tiefer Trauer die Felswand über den
Augen, wenn die Seele weiblich herabsinkt. Das nennt sich die
hölzerne Offenbarung in vernagelten Sarkophagen (hierzu: s.e.&o
– salvo errore et
omissione).
Mag das Geräusch eines Luftzuges oder der hässliche Ton eines
Motorrades den inneren Wächter der Lampe bewegen, immer verfärbt
sich sogleich ein jegliches Hirsekorn und strebt einer neuen
Verbindung entgegen. So verfärbt sich die Seele und so kreisen die
Hirsekörner in innerer Erregung der Deutung durch Götter entgegen.
Zehntausend Mal am Tage prüfen auf solche Weise gewisse Mächte den
Menschen. ›Lampenkönige‹ nannte sie Homomaris, ohne genau zu wissen,
welchen Geistes sie sind. - PM
Die wahren Identitären sind die Linken, die von ihrem geheimnisvollen Linkssein nicht lassen können, ohne in rechtsobskurantische Abgründe zu stürzen, aus denen kein Rettungsteam sie jemals wieder herauszuholen vermag. Wer dieses Linkssein beschreiben wollte, geriete rasch in einen Albtraum aus Befindlichkeiten, die weniger von Überzeugungen gespeist werden als von Gelegenheiten, sie unter Beweis zu stellen: in diesem unter-Beweis-Stellen besteht gerade die verpflichtende Substanz dessen, was sonst als gemeinsamer ›Traum‹, als ›Projekt‹, gelegentlich als ›Utopie‹ an- und besprochen wird, wobei diese Wörter bloße Nostalgiemarken darstellen, ohne Bezug zur umgebenden Welt, überhaupt zu irgendeiner Welt, es sei denn, man ließe die Formel von meiner Welt, die ich mir nicht nehmen lasse, zum Nennwert durchgehen. Linkssein bedeutet, die Formbarkeit der Welt in Richtung auf eine generelle Machbarkeit zu übertreiben, an die Stelle der dialektischen Verflüssigung der Begriffe eine Verflüssigung der Realverhältnisse ins Auge zu fassen, für die immerfort die Voraussetzungen geschaffen werden müssen, ohne dass diese je einträten, es sei denn, man nimmt dafür gesellschaftliche Krisensituationen in Anspruch, die, wenn sie einmal entstehen, vorrangig nach gutem Management verlangen und, unter Bedingungen der gewollten Prosperität, wenig utopischen Spielraum bieten. Linkssein bedeutet daher in allen Lagen, ›gegen Rechts‹ zu sein, den Feind zu identifizieren, zu stellen und zu bekämpfen, um der eigenen Identität willen, aus Selbstbehauptung, um des Ideals einer Kommunität willen, die sich auf keinem anderen Wege herstellen lässt. Sich die Anliegen der Menschen zu eigen machen bedeutet auch: sie sich zu eigen zu machen, sich über sie kenntlich zu machen, gelegentlich auch: sich mit ihnen davonzumachen. Das Wort ›Anliegen‹ deutet es an: nicht jedes Bedürfnis der ›Massen‹ zählt, nur solche, die durch das eigene Verhältnis zum Volk geadelt werden, den Egalitarismus einer Elite, deren wichtigstes Bedürfnis darin besteht, das Sagen zu haben und unter allen Umständen zu behalten. Sprachregelungen und Parteibeschlüsse sind daher das eigentliche Elixier des linken Bewusstseins, sein Jungbrunnen, in dem sich bis in alle Ewigkeit planschen ließe, gäbe es nicht als letzten Realitätsanker das Volk – wer es in den Käfig der Bedeutungslosigkeit sperren wollte, bräuchte nichts anderes zu tun, als diesen Anker zu lichten. Kein Linkssein ohne Volk, kein Volk ohne Linke, kein grenzenloses Linkssein ohne zensiertes Volk, das Volk unter Verdacht, das durchgestrichene Volk als reaktionäre Restgröße. Dagegen gibt es keine originäre Rechte, alles Rechte ist reaktiv, es gibt keinen Schutzraum gegen Veränderung in der Vergangenheit, in der Gegenwart ohnedies nicht, die sogenannte revolutionäre Rechte verdankt sich stets einem linken Schisma, deshalb fällt der Wechsel von einem Pol zum anderen so leicht.
Wer glaubt, man könne die Lippen nicht spitzen, ohne zu pfeifen,
der täuscht sich nicht: ein winziger Pfeifton entweicht ihnen
immer. Es ist das Klägliche dieses Tons, das Aufmerksamkeit erregt.
Allerdings erkennen die wenigsten seine Herkunft. Er steht
sozusagen im Raum, einsam, isoliert, um Aufmerksamkeit bittend.
Aber wofür? – »Wofür?« fragt die versammelte Sippschaft vergebens
und wartet ein Weilchen, bevor sie auseinandergeht. Dies, dass sie
unfehlbar auseinandergeht, beweist, dass ihn alle gehört haben. Es
ist im Grunde wie mit den Hundepfeifen. Keiner hört sie, außer den
Hunden natürlich, aber die Wirkung ist unübersehbar und jeder weiß:
aha, Herrchen hat wieder gepfiffen!
Man weiß nicht genau, wann das Lippenspitzen in Gebrauch kam.
Solche Kulturtechniken sind uralt und ihre Anfänge entziehen sich
der direkten Beobachtung. Unter Julian Apostata sehen wir es in
voller Blüte. Aus jener Zeit sind uns einige kostbar gearbeitete
Lippenspitzer erhalten. Die Museen reißen sich um diese
Instrumente. Sie stehen deutlich höher im Kurs als eine Stradivari
oder eines dieser seltenen Alphadrome. Natürlich kommt es darauf
an, die Lippen zu spitzen, ohne sich zu schneiden. Das interessiert
die Leute. Sie rücken in hellen Scharen an und drücken sich die
Nasen an den Glaskästen platt. Wie immer verrät ihnen das, was sie
sehen, nichts von dem, was sie wissen wollen. Daher halten sie sich
an die Kunst: an das prachtvolle Aussehen, die fein ziselierte
Oberfläche, die ganze ›Arbeit‹, die der Handwerker in die Objekte
hineingesteckt hat und die ihn jetzt als Künstler dastehen lässt.
Das alles erregt die Aufmerksamkeit der Leute in hohem Grade, sie
opfern ihre Sonntagnachmittage dafür und fahren von weither vor,
damit sie es gesehen haben und darüber berichten können.
Hin und wieder schleicht einer aus der Zunft derer, die das hohe
Handwerk noch immer üben, an den Vitrinen vorbei. Der Blick, den er
auf das alte Exemplar darin wirft, ist kurz, er kennt jedes von
Grund auf und kann dem Anblick nicht widerstehen. Er verdient gut,
heißt es, aber die Diskretion erlaubt nicht, dass sein Name genannt
wird, vor allem nicht in einem Atemzug mit der Prominenz, für die
er Tag und Nacht arbeitet. Doch viele Leute, von denen es niemand
vermutet, besitzen ein feines Stück aus seiner Produktion und
Sammler gibt es in der Provinz, deren Kollektionen Erstaunen
hervorrufen würden, aber vor den Blicken der Neugierigen
abgeschirmt bleiben und vielleicht bleiben müssen, denn wenn auch
die Wirkungen in der Regel spürbar werden, so ruhen die Ursachen
gern warm im Verborgenen.
Eine auf Literaturähnlichkeit eingekochte Literatur, aus der alles entwichen ist, was den Grund des Schreibens ausmacht, außer dem Wunsch zu gefallen und sich zu verkaufen. Man könnte, was den Ausdruck angeht, in den Irrtum verfallen, es handle sich um eine Literatur zweiter Stufe, eine Literatur 2.0, um im Jargon zu bleiben, manche, die’s komplizierter mögen, werden dabei an Reflexion denken oder an jene berühmte Reflexion der Reflexion, mit der sich idealistische Philosophen, dem Hörensagen nach, noch immer die Zeit vertreiben. In der Tat, etwas Ephemeres liegt diesen Äußerungsformen des menschlichen Unvermögens zu Grunde, Bedeutendes auf die Reihe zu bringen. Das liegt sicherlich an der Reihe: ohne sie ist alles nichts und in ihr auch. Banale Posen etc. beherrschen das Feld des Bedeutenden, als seien sie dort bereits zur Schule gegangen. Was auch stimmt, gewisse Traditionsfäden werden auf der Penne vermittelt oder gar nicht. So gilt pünktlich, gleichsam aufs Läuten, das Lesen endlich wieder als Wert, nachdem die zu vermittelnden Werte sich verbraucht haben, und damit es auch den Klassenletzten erreicht, delegiert man es an gemietete Vorsprecher, vor allem solche, die bei jedem Satz zu sagen scheinen: »Das ist alles von mir. Hätten Sie’s gedacht?« Bewahre! Wer denkt solche ausgekochten Bosheiten? Der Kampf gegen das Analphabetentum ist verloren, sobald er beginnt.
Living Under
the Empire, erzählt G. mit diesem Luccheser
Charme, dem auch Jahrzehnte des Exils nichts anhaben können, hieß
eine Platte, die mein Sohn irgendwann nach Hause brachte, es hätte
auch Under Destruction
oder Under Deconstruction heißen
können oder etwas in der Art. Der Unterschied wäre marginal gewesen,
aber irgendetwas ließ daran aufhorchen.
›Living‹ ist eine Vokabel, die viele Unbedarfte mit dem bekannten
englischen Wort für ›leben‹, ›lebend‹ o. dgl. verwechseln. Eigentlich
sollte dem allein die Aussprache vorbeugen. Diese hier beginnt mit einem
kräftigen deutschen ›L‹ wie ›Lümmel‹ und assoniert dann kräftig mit dem
›Struwwelpeter‹, zu dem das Wort auch sonst verwandtschaftliche Beziehungen
unterhält. Es hat Eingang in allerlei dümmliche Song- und Werbetexte gefunden,
in denen sich meine Landsleute bevorzugt wiedererkennen, und ich habe mich oft
gefragt, wer dieser Living wohl sein mag.
Durch meine Vorstellung geistert er als eine Art
entsteinter Livingstone, ein wenig unstet und aufbrausend, weil es ihm an der
rechten Beschwerung fehlt, dabei durchaus imperial
eingestellt, dem Entdecker und Eroberer aus dem vorletzten Jahrhundert
auch in dieser Hinsicht ebenbürtig – ein Bewusstseinshai, der mit anderer Leute
Leben herumspielt wie der sprichwörtliche Finanzhai mit ihren Finanzen und
ihrer Gesundheit.
Während ich das hinschreibe, bemerke ich natürlich die Differenz und bin
geneigt, die Äußerung als unpassend zurückzuziehen. Auf solche Reste
kapitalistischen Schamgefühls scheint Living zu bauen. Offenbar nicht schlecht:
ganze Scheinarchitekturen entstehen auf diese Weise, die in schwindelnde Höhen
ragen und von Springbrunnen umkränzt sind, aus denen immer einige Vögel Lust
trinken, von denen bereits wieder manche das Fliegen verlernt zu haben scheinen,
während andere die tollsten Manöver vollführen. ›Living & Co‹ begegnete
ich in einer einfachen Seitenstraße, es war nur ein harmloses Schild, das nicht
preisgab, welches Business hier zugrunde lag. Ich wollte es auch nicht wissen,
aber ich fühlte die Verwandtschaft. Einmal fand ich an einer Mauer die
Sprühschrift: Living ist Jeder. Das kam
mir übertrieben vor und ich schloss es für meine Person aus. Aber wenn ich heute
darüber nachdenke, so kann es gut sein, dass ich den Vorgang geträumt habe und
die Schrift aus mir selbst stammte. Am Selbstausschluss gehen viele zugrunde,
andere profitieren davon und machen sich einen schönen Lenz. Gern wäre ich
Living in all den Jahren begegnet, einmal nur, in einer Schummerkneipe am
Tresen, vollkommen absichtslos und unverhofft – es hat nicht sollen sein. Aber
wer weiß, was nicht ist, kann vielleicht noch werden und unverhofft kommt oft.
Nein, aufhalten will ich ihn nicht.
P.S.: Wie ich lese, hat Living neuerdings eine Impfagentur eröffnet und geschworen, die Menschheit, koste es, was es wolle, jährlich mehrfach durchzuimpfen, um sie fit zu machen für die Gefahren des, nun ja, Lebens, das er mehr und mehr als seinen Antipoden betrachtet. Krankheiten, annonciert er, gibt es wie Sand am Meer, es kommt aber darauf an, sie in Gold zu verwandeln. ›Gold‹ ist so eine typische Living-Vokabel, sie glänzt und lässt glänzen, was doch, näher betrachtet, nur Abzocke ist.
Locken wir sie aufs Feld der Begriffe, wo die alten Hasen den Klee
mit ihren Angstknuddeln
düngen, und zeigen wir ihnen, was sie nicht sehen wollen, obwohl
sie schon wollten, wenn sie dürften, was ihnen keiner verbietet
außer dem unbestimmten Gefühl, dabei über Ränder zu treten.
Bravsein mit Wörtern –
eine Art Unzucht, der sich gern hingibt, wer nichts zu bestellen
hat. So bestellt er wenigstens ab, was ihn ungefragt heimsucht. Nur
Begriffe in ihrer knarzigen Bewegtheit können da helfen,
vorausgesetzt, es sind auch die richtigen. Wir wollen nicht nur
genießen und ›Spaß haben‹, wir wollen auch klug sein und die Ohren
spitzen, wir wollen auch die Lippen spitzen und sogar pfeifen,
unbedingt pfeifen, wenn uns danach ist, nicht nur die
›Verhältnisse‹ studieren, die so spannend nicht sind, dass man sie
sich Tag für Tag mit gleicher Intensität zu Gemüte führen müsste.
Ein dünnes Gemüt wäre das, wenn es damit auskäme. Was also tun?
Eine Lockung, die ratlos lässt – ist das erlaubt? Aber liegt darin
nicht das Wesen aller Lockung, sofern man ihr ein Wesen konzedieren
möchte, das heißt etwas im Grunde Unerlaubtes? Das ist ein
seltsamer Grund, der sich im Negieren fordert. Ein Verbot diesseits
aller Verbote, Vorbote eines Unglücks, das sich als Glück verkauft
– an den Nächstbietenden, der etwas Festes um jeden Preis vorzieht
und sich im Grunde wundert, wie billig man sich hier eindeckt. Wer
die Lockung zulässt, erliegt ihr zuletzt. Wer aber keinen Grund
scheut, dem laufen irgendwann die Gründe davon.
Das lose Maul hält die Untaten anderer auf Vorrat und schleudert sie in den Raum, sobald ein Bedarf sich meldet. Ein abgehalfteter Nachrichtensprecher ist kein Held, eher ein Herr mit Kleiderbügelphantasie, der in der Wäsche anderer Leute besser zu Hause scheint als im eigenen Gehirn. Dergleichen heißt man einen Zeitkritiker, manche begnügen sich auch mit dem Epitheton ›nachdenklich‹, wogegen wir nachdrücklich protestieren: dieser hier denkt weder nach noch vor, er tickt überhaupt nicht richtig, sondern verdient es, auseinander genommen und auf Spuren intrinsischer Gewalt untersucht zu werden. Wir unterstreichen: er verdient es, er kann sich eine solche Operation ohne weiteres leisten, ohne dass die Kasse ihren Teil daran übernimmt. Überhaupt haben diejenigen, die sich die dreistesten Tiraden leisten, die Tendenz, es sich leisten zu können, vermutlich deshalb, weil das Über-den-Leisten-Schlagen ihr Metier ist und sie sonst nichts beherrschen außer der öffentlichen Meinung, die solchen Herrschern mit einem leisen Lächeln begegnet. Man kann bei ihm nicht unterscheiden, ob es sich dem Spott oder der Ehrerbietung oder der Ratlosigkeit verdankt. »Ist das wichtig?« fragt die Sirene, sie kann Ratlosigkeit nicht leiden und tut ihr Bestes, um sie in Fassungslosigkeit zu verwandeln wie andere Wasser in Wein. Ja, es ist wichtig, das beweist der Fall, um den wir uns gerade bemühen, als sei er ein Neugeborenes, obwohl, jedenfalls nach biblischem Maßstab, es sich um den ältesten aller Fälle handelt. Nach biblischem Maßstab geschieht viel, auch in nach-nachbiblischer Zeit, so wie das Christentum erst unter seinen Verächtern explodiert ist: alles Gezeichnete vor oder nach dem Herrn, der noch aussteht. Unausstehlich das Wüten der Herren gegen das eigene Geschlecht im Namen eines still verdrückten Genießertums, das großkotzig einmal aus Katakomben die Welt erneuern wollte und heute in ihren Kloaken seine Spaziergänge unternimmt. Aus der heroischen Phase haben sie nichts gerettet außer dem ehernen Vorurteil, die anderen tickten wie sie und lebten es noch immer insgeheim aus. Greise bezichtigen Greise unerhörter Ausschweifungen, die sie sich mühelos, aber unter Bedauern verkneifen – so könnte man ihre Lieblingstätigkeit nennen und wäre damit bei den Alten.
Was dem Lot recht ist, kann der Waage billig sein. Das Lotrecht ist alt, älter als das Faustrecht, was etwas heißen möchte unter den Spitzbrüdern, die sich beider bedienen. Und mit Erfolg, wie die Geschichte beweist. Was beweist sie nicht alles, die Gute. Nein, sie ist nicht gut, nur die Gute, die den Dreck wegmacht. Wer die Geschichte liebt, braucht sich um Lot nicht zu kümmern. Eher um Lots Weib, diese natürliche Erstarrung, aus der immer etwas Lebendiges hervorgeht, etwas, das sich sehen lassen kann. Also doch: Waage. Wäge deine Schritte! Vor allem: Wäge deine Wagnisse. Erwäge sie gut, denn einmal gewagt, fallen sie unter das Lotrecht und wupp! sind sie verschwunden. Dieses ›wupp!‹ hat schon viele beschäftigt, die freiwillig oder nicht über die Wupper gingen, bevor das Abendrot dem Land die passende Färbung gab. Warum wägen, was doch gewagt sein will? Warum in Gedanken verdoppeln, was bloß in Gedanken zur Hand ist? Warum die Verdopplung verdoppeln, um des Einfachen willen, das nicht zur Hand ist, wenn man es braucht? Das Einfache um des Einfachen willen, brav getan, unter einem Augenaufschlag, den schon das Aufschlagen eines Eis ganz gefangennimmt, kennt die Verdopplung wohl. Aber es grüßt sie nicht, niemals. Schließlich zählt es sich nicht zu den morituri, die Caesar grüßen, bevor die Arena sie aufnimmt, und hält seinen Gegner nicht für den Abgott, von dem man sich verabschieden muss, bevor einem die Augen gewaltsam geschlossen werden.
M’eier hat love im Anschlag, er jettet gern und liebt, wo es ihm beliebt. Seine
Fangemeinde rund um die Welt vermisst seinen Schwanz und fragt sich
ein volles Jahr: Wo wird er stecken? Dann ist die Sache ausgestanden
und sie kümmert sich um die anderen. Wem das ordinär vorkommt, der
ist nicht gerichtet. Wie bitte? Wie kommt dieses Wort hierher? Es gab
kühlere Zeiten, da hieß es noch ›ausgerichtet‹ und weckte
Assoziationen, doch das ›aus‹ stört, solange sich alles
erwärmt, es wurde daher entfernt. M’eier also ist gerichtet, er kennt
seinen inneren Pol, und alle, die den inneren Pol kennen, kennen
M’eier. Manche kennen ihn in-, manche auswendig, doch darauf kommt
es nicht an. Als die Vertreter des inneren Pols die Welt betraten –
eine schreckliche Welt, bevölkert von Nutten und Zuhältern –,
schworen sie sich, sie zu erlösen: durch Liebe, wodurch denn sonst.
Das war die Botschaft, man zahlte in harter Währung und wurde
infolgedessen verstanden, nur zu gut, meinen Puristen, denen
der transkontinentale Heiratsmarkt dubios erscheint und die sich
daher nur zeugenlos trauen.
Hätte man sie handlich in einem Beutel, dann wäre man rasch mit ihnen durch. So aber sind sie zahllos wie die Wogen des Meeres, ein einziges Hin und Her, und Lügenbeutel heißt, wer immer noch eine hinterherzuschicken weiß, wenn seinen Opfern bereits schwindlig geworden ist und ihnen das Unten und Oben in einem einzigen Wirbel vergeht. Zu den Fischen! So lautet die Parole aller, die lügen, dass ihnen der Sand unter den Füßen den Dienst verweigert. Dabei war es nur Sand! Sand in den Schuhen, Sand in den Augen! Sand everywhere. Man könnte den Lügenbeutel auch, in Anlehnung an den Schlaumeier, ›Sandmeier‹ nennen, doch das ist ein Hausmeistername und insofern tabu. Der Beruf des Lügenbeutels ist es, Unruhe zu schüren, er selbst sieht sich als Muntermacher und wirbt für das Neue, das sich noch ziert. Der erste Schuss ist der Vorschuss – so denkt er und läutet Sturm.
»Knick-knack«, sagt die Lügenfresse und darin liegt bereits die
erste Lüge. Denn knickerig ist sie nicht, die Fresse, jedenfalls
dann, wenn es um die Wahrheit geht, nur knacken lässt sie es gern.
Das Knackertum verfügt über eine lange Liste von Freunden,
eigentlich ist es überall auf der Welt zu Hause und natürlich dort,
wo man Knackwürste grillt. Keine Knackerei ohne Grillerei! Der Grill
ist der natürliche Heimatboden der Lügenfresse, hier wartet sie auf
Nachschub und wird selten enttäuscht. Ist das wahr, fragt sie und
hat es schon gefressen. Wo sollten sie auch hin, all die Lügen,
stünde die Fresse nicht überall bereit, wo sie sich breitmachen.
Lügenfresser sind Wiederkäuer, wer wüsste es nicht? Sie schlucken
alle Lügen und verwandeln sie in die immergleichen, die Volk und
Staat beglücken, wohin man auch tritt. Apropos Treten … Die
Lügenfresse tritt gern etwas los, das liegt in ihrer Natur, die weit
über jede körperliche Bewandtnis hinausreicht. Ihre Welt, jeder
weiß es, steht kopf, daher der Fuß im Wappen.
Die Lüge spricht (hört, hört!):
»Natürlich ist Lügen ethisch gerechtfertigt … zum Beispiel wenn ich mir in die
Tasche lüge, was dort meiner Ansicht nach hingehört. Damit
korrigiere ich eine defiziente Realität, die mich
zwingt, sie als irreal zu empfinden, während ich sonst an mir selbst
irre werden müsste. Was soll daran falsch sein? Das Fatale ist, dass
gerade hier die Unterstellung lauert: ›Der lügt sich doch bloß in
die Tasche!‹ Wenn ich ein solcher Lügensack wäre, ›bloß‹ mir
in die Tasche zu lügen, was wäre mein Zeugnis dann wert? Nicht die
Spitze des Gaumens, auf der die gemeine Lüge, mendacium commune,
balanciert, bevor sie herunterfällt und verschluckt wird. Zu was
sollte ein solches Lügentum nütze sein? Wenn ich mir in die Tasche
lüge, dann, um der verletzten Gerechtigkeit durch die Hintertüre
zum Sieg zu verhelfen, ebenso wie ich jedem in die Tasche zu lügen
bereit bin, der mir beweist, dass es ihm genauso erging. Ich lüge
nicht ›bloß‹, sondern ›ebenso wie‹, darin liegt der
Unterschied. Die Gerechtigkeit ist es, die mich zum Lügen zwingt.
Eventuell zwingt sie mich nicht, aber soll ich sie deshalb im Stich
lassen? Urteilen Sie selbst! Soll ich sie deshalb im Stich lassen?
Natürlich nicht. Die Menschen würden von mir abrücken, die Kinder
würden zu nörgeln beginnen, weil in der Schule niemand mit ihnen
spielt, bald hinge der Haussegen schief und irgendwann dürfte ich
meinen Hausrat beim Nachbarn abholen. ›Das ist nicht gerecht‹,
würde ich von ihm hören, ›du weißt, wie erbärmlich du bist.‹
›Warum nicht gerecht‹, könnte ich dagegenhalten, ›seit wann weißt
du über meine häuslichen Verhältnisse Bescheid?‹ ›Länger als
dir lieb ist.‹ Was kann, was soll ich mit einer solchen Antwort? Mutmaßungen anstellen? Das wäre sehr ungerecht oder könnte es werden. Was dann? Gut, ich könnte mich verteidigen, ich
könnte ausrasten, ich könnte mit den Achseln zucken, ich könnte alle mir verbleibenden Möglichkeiten durchspielen, doch der Gerechtigkeit käme ich dadurch um
keinen Deut näher. Die Gerechtigkeit verlangt nun einmal, dass ich mir in die
Tasche lüge. Und nicht nur einmal! Wie spricht der Gesellschaftsmund? ›Dieser Mann weiß nicht, wovon er spricht. Warum weiß er es nicht? Weil er sich für gerecht hält? Ist das so
schlimm? Es ist schlimm genug. Aber davon wird der Klee auch nicht
fett.‹ Wenn alle gerecht bleiben, ist Platz für alle da und ein
bisschen bleibt übrig. Wenn keiner gerecht sein will, um der
Wahrheit nicht zu nahe zu treten, bleibt viel Platz um die Wahrheit
und überall sonst herrscht Gedränge. Die Wahrheit braucht Platz.
Das ist die Wahrheit. Wieviel Platz sie braucht, kann man zum
Beispiel daran erkennen, dass sie keinen findet, der mit ihr spielt.
Natürlich kommen immer wieder Leute, die mit ihr spielen wollen, aber sie
verlieren haushoch und geben rasch auf. Es ist Irrsinn, wahr sein zu
wollen, wo alles gezinkt ist. ›Dem Irrsinn entgegentreten‹ war
immer mein Wahlspruch, das Schlimme daran ist, dass er meist Recht
hat. Wie kann Recht haben, was nicht recht ist?«
Im Lügenuniversum drehen sich die Zeiger der Uhren entgegen dem Uhrzeigersinn. Wer behauptet denn sowas? Das wäre ja Dünnpfiff. Nein, im Lügenuniversum kehrt sich natürlich der Uhrzeigersinn um, so dass die Zeiger, rückwärts laufend, voranstürmen. Vielmehr: dem wäre so, wenn es im Lügenuniversum noch so analog zuginge wie in der analogen Welt. Nein, das Lügenuniversum, da neueren Datums, ist von Grund auf digital eingerichtet und was als analoge Uhr scheint, das scheint nur so, und alles ist Simulation. Alles? Alles. Im Lügenuniversum ist jede Information per Definition Desinformation. Sie heißt nur nicht so, sondern versteckt sich hinter Neusprech à la Fake News oder Faktencheck oder Qualitätsjournalismus. Das Beste am Lügenuniversum ist natürlich die einfache Begriffsumkehr, auch Bauchwelle genannt. Nehmen wir die Gleichung Gesundheit = Krankheit, die so niemand verwendet. Das wäre ja unklug. Also: Was in der analogen Welt ›Gesundheit‹ heißt, heißt in der analogen ›Krankheit‹. Damit muss einer umgehen können! Aber – man kann es lernen. Man könnte nun meinen, was ehedem als Krankheit angesehen wurde, sei in der digitalen Lügenwelt Gesundheit. Doch so einfach liegen die Dinge nicht. »Gesundheit? Was soll das sein?« Ganz recht, was soll das sein? Gesundheit, der allzu zerbrechliche Kahn, der die Menschheit von Anbeginn über die Wogen des Unheils hinweggleiten ließ, hat den Wechsel der Zeiten nicht überlebt. Da liegt er in der Tiefe des Weltmeers und niemand weint ihm eine Träne nach. Krankheit ist die neue Normalität. Man richtet sich in ihr ein wie im Kino, wenn der Hauptfilm beginnt und das Knistern der Chips erstirbt. Jeder ist hier ein Tor, der nach beendeter Vorstellung nach Hause zu gehen gedenkt. So beschränkt ist die menschliche Phantasie. Wie wenig reicht sie über ein Hollywood-Spektakel hinaus! Man möchte sie in den Arm nehmen und über ihre Unzulänglichkeit trösten, aber das ist gar nicht nötig, denn: Sie fühlt sich bei alledem pudelwohl.
»In einer solchen Lügenwelt möchte ich nicht leben.« Willkommen in der Wirklichkeit! Was bleibt jetzt vom Wunsch, Abstand zu halten? Will ich leben? Will ich wirklich leben? Wieviel Wirklichkeit will ich mir zumuten? Wie wirklich ist mir zumute in der Wirklichkeit? All diese Lügen – bewirken sie Wirklichkeit? Oder moderieren, dämpfen sie Wirklichkeit mit dem Ziel, sie erträglich zu gestalten? Was ist die Wahrheit der Lüge? Wahrheit? Lüge? Was ist die Lüge in Wahrheit? Ein Medium? Ein Kanal? Eine Kanaille? Wer will in der Wahrheit leben? Alle? Sicher? Ganz sicher? Stelle die Welt richtig und es dauert keine Stunde, bis der vertraute Zustand sich wieder hergestellt hat. In der Wahrheit leben ist unerträglich. In der Lüge leben ist unerträglich. Erträglich wird Leben dort, wo es den kleinen Grenzverkehr pflegt: in der Lüge der Wahrheit, in der Wahrheit der Lüge nachgehen, ihr gelegentlich nachgeben, aber nicht zu sehr, die Wahrheit sonntags verehren, montags gestalten, dienstags verraten und mittwochs sammeln, als ginge es ums Leben, ums ganze Leben, sie donnerstags hinausposaunen, freitags bis zum Zerreißen spannen und samstags aussparen – das ist der Zyklus, in dem sich über kurz oder lang jeder wiederfindet, der nicht die Freiheit des humanen Verkehrs verriet und mit dem Schießprügel in der Hand an der Grenze seiner Welt (Lüge schon das!) Patrouille schiebt: »Wer da? Freund oder Feind?«
Jeder lügt, wie er kann: das ist der Hauptzweck. Nebenzwecke sind zum Beispiel der Wunsch, nicht anzuecken oder, falls es bereits passiert ist, es vergessen zu machen. Tatsächlich: man lügt, um vergessen zu machen, was doch geschehen ist. Wem fällt so etwas ein? Alle Welt weiß, was passiert ist, und plötzlich wird alles unklar, nur weil ein Lügenbold keine Ruhe gibt. Wie verrückt ist das? Der Grund liegt darin, dass allem, was irgendwann herauskommt, die Tendenz eignet, von Zeit zu Zeit zu verschwinden, selbst den Archiven, in denen es verzeichnet steht, oder sie werden nicht mehr konsultiert. Ein guter Lügner kennt diese Zyklen, er beutet sie aus, er weiß, wann er das Maul vollnehmen darf und wann er es besser halten sollte. Was man gemeinhin Lügner nennt, sind eigentlich die schlechten, die zur Unzeit herausplärren, was ihnen gerade zu diesem Zeitpunkt niemand abnimmt. So einem bedeutet man erst, er soll Ruhe geben, bevor man ihn vor Gericht zerrt. Die glücklichen Lügner überziehen ihre Generation mit Lügen, denen kaum einer entrinnt, viele erkennen darin ihre Zeit, in Begriffe gefasst, und spenden Beifall, bis das hübsche Gebäude ganz von allein auseinanderbricht. Auch darin hat sich ihr Zweck erfüllt.
Dieses Organum Apollos von der Länge Groß-Griechenlands wurde im
Liebesdienst des gefallenen Knaben Serostibos wohl ein letztes Mal
vom Gott der Musik bezwungen. Stilos war es, des Zeno Hausgenosse,
der später vierhändig geigend noch einmal das Werk bezwang und
kostbare Töne zum Ärger der »ohrenbefreiten« Lyker über »Busch und
Hain hintanzen ließ, als schwämmen sie hin auf gläubiger Luft«, wie
es in der sechzehnten Vorrede zur Musikgewalt der Antike Winckelmann so
empfindsam geschildert hat. Der Musikwissenschaftler Jablos Nahomi
hingegen schildert es, allerdings in bereits anämischer Zeit, viel
weniger treffend an Stefan George, der einst den Rhein bei
Bingen in Flammen geraten sah, wenn »Zypris der eherne knabe des
windes mir sang • vom eisen zum feuer und wieder zurück als käme er
an..« Er sah ja auch zwei Rosen bei Speyer »die geige führen im
wohlklang des pfaffengartens • reineren trostes bevölkernd ein
schmaleres griechenland mir.« Irgend jemand hat später aus Rosen
›Rosse‹ gemacht, was bei einer Vorlesung im vierten Kreis seiner
Freunde zum Aussschluß des Grafen X. geführt haben soll, dem man
die Schönheit des Geistes
absprach. Allerdings hat George selbst, der über zwei seiner Kreise
niemals hinaussah, von dem Vorgang auch niemals erfahren. -
PM
Er war ein Deutscher und dachte genetisch. Das war es, was man
eigentlich von ihm erwartete und er beeilte sich, den Kundenwunsch
zu erfüllen. Was Hegel die Krämer und Händler des Geistes nannte,
das waren ihm die verständigen Leute, für die er schrieb. Man muss
ihnen die Wünsche an den Augen ablesen, den offenen und den
geschlossenen – soweit die Maxime seiner Weisheit, die einzige, an
die er sich hielt, für die anderen hatte er keine Zeit. Und es gab
immer zu tun. Man darf den Leuten nur wenig zu sagen haben, das
aber immer wieder, in jeder erdenklichen ›Anwendung‹, damit sie
sich langsam hineinfinden und jedes Mal ein Stück für sie abfällt.
Den halten sie für reich, der sorgsam die Brosamen über die Kante
schiebt, gleichgültig, was davon auf dem Tisch bleibt. Die
Brosameninhaber erkennen sich leicht, sie halten Kongresse ab, auf
denen sie ihre Begriffsschildchen hochhalten und nachsehen, ob die
Färbung auch einerlei ist, darüber vergehen Jahre. Das Denken darf
die Karriere nicht aufhalten, es muss sie beflügeln, daran halten
sie sich und es ist ihnen ernst. Dem Denken bleibt es gleich, es
findet für jeden die passende Murmel, sie rollt ihm gleichsam aus
dem Säckel, das es für solche Gelegenheiten dabei hat, so muss es
sich nicht weiter damit befassen. Wer einer Generation von
Habenichtsen auf die begehrten Stühlchen verholfen hat, darf mit
Dankbarkeit rechnen – im Leben und
darüber hinaus. Am Ende feiern sich alle gegenseitig, schöne
Festschriften gibt das.
Neben dem Klimaleugner verdient es vor allem der Luftleugner, in die Annalen der Menschheit aufgenommen zu werden – dort, wo die schwärzesten Bösewichter verzeichnet werden, gleich neben der Schranke, die Schreibtischtäter und Täter der bösen Hand voneinander trennt, ist noch ein Plätzchen frei, dort gehört er hin. Warum? Er leugnet, was jeder atmet, solange er atmen kann, danach ist ohnehin alles vorbei. Die Luft leugnen bedeutet die Welt leugnen, das Jubilieren der Lerche, das Wachstum des Rotdorns aus dem Grund, die Lebensfreude des Parlaments und damit zugleich, um auch das nicht auszulassen, die Staatsverfassung. Wie das Klima gehört die Verfassung zu den bedeutendsten Menschheitsschöpfungen, sie steht unter dem besonderen Schutz der UNESCO und darf nur freitags angerührt werden, sonst erst in den Abendstunden, wenn der Rechtsstaat sich weicher anfühlt, weil Alkohol die Poren der Herausforderer tränkt. Wer allerdings die Luft leugnet, der leugnet die Biologie des Menschen, denn er behauptet, sie sei schon immer nicht da, also könne man, jedenfalls was ihren Erhalt angeht, auch nichts machen. Vom Lufterhalt träumen viele, andere leben gut von ihm, weil sie gelernt haben, wie man Träumer abzockt, die mit ihren Albträumen nicht alleingelassen sein wollen. Offensichtlich liegt den Staaten daran, möglichst viel Luft auf ihren Territorien anzusammeln, ihnen geht, wie auch in anderen Belangen, Quantität vor Qualität, und so kaufen sie zu, blättern viel Geld für schlechte Luft hin und verkünden den Steuerzahlern auf übergroßen Plakaten, wie gut es angelegt sei. Währenddessen verkümmern die Schulen und die Zahl derer, die kein Plakat lesen können, wächst. Wozu Plakate? Wer hören kann, der weiß alles oder er weiß nichts und vertraut seinem Gefühl.
Garganelli erinnert sich,
wie er vor ein paar Jahren die Spirale des New Yorker
Guggenheim-Museums erklomm und ihm aus jedem ausgestellten Bild ein
weibliches Geschlechtsteil in Öl entgegenblickte. Mein Gott, so
sein erster Gedanke, das habe ich nicht verdient. Aber was hat
einer schon verdient? Es war eine Retrospektive und Garganelli, der
sich unter Kollegen wusste, noch dazu aus dem Land seiner Herkunft,
geriet ins Grübeln. »Da ist dieser Maler, merkwürdigerweise
gleichen Alters wie du, der sein Leben
damit zugebracht hat, diesen Anblick zu studieren und als eine Art
Manna auszuteilen, damit keiner nachlasse auf dem weiten, sandigen
Weg ins Gelobte Land. Wo wird es sein? Wie wird es sein? Wird dort
alles wirklich sein, was wir hier im Bilde sehen? Ist das, was ich
hier sehe, vielleicht eine klitzekleine Blasphemie? Aber der
Kollege hat in Indien gelebt, er hat sich die Weisheit der
östlichen Kulturen angeeignet, er wird sich nicht auf so einen
schlichten Provinzialismus einlassen, das kann nicht sein. Was also
will er uns sagen? Dass er der bedeutendste Maler der wirklich wichtigen Dinge ist seit
jenem teutonischen Neorealisten, den seine Spießgesellen
probehalber den Schamhaar-Leibl nannten, teils, um zu provozieren,
teils, um die Ehre, ihn unter sich zu wissen, wie Brot zu brechen,
das sich an alle austeilen lässt? Die dort sind in Schande
vergangen, vergehen wir in Wonne? Aber ich will nicht vergehen, so
nicht und hier nicht, es fröstelt mich angesichts all dieser
Lust-Örter, durch die hindurch einer kalt auf mich sieht, nein
starrt, einer der vielen Helden des Geistes, die Tag für Tag ihr
Strahlenschwert schwingen, um eine Wurstpelle zu zerschneiden.«
Die aufeinandergestapelten Akten übler Verwaltungsprozesse gelten
als staatsarchivarisch fruchtbare Sammlungen von Machenschaften.
Tatsache ist auch, dass die berühmten Muster des stucco
lustro an Wänden und Säulen barocker Kirchen
bezeichnenderweise dem Schnittmuster der einst symbolisch von
Henkersknechten auf Aktenböcken mit Äxten durchschlagenen
Sammlungen auf überraschende Weise gleichen.
Jede einzelne Machenschaft selbst war fast immer von Tinten gebläut
und schwimmend gerötet, sodass die staatlich geforderte
Transzendenz in Dingen der Verwaltung oft in omamentalen
Linienspielen vollkommen unterging. Hier sammelte sich der Neid in
gelblichen, dort der Hass in grünlichen Farben, denn dazumal
bestimmten durchaus noch Leidenschaften die Wahl der Tinten.
Hieraus folgerte Wölfflin, dass die Malerfarben bedeutender
Hofkünstler, ja selbst der Konditoren und Hofschneider vom Studium
gerichtlich gespaltener Machenschaften bestimmt sein könnten.
Besonders Spanien mit seinen Verwaltungsschulen bis hin zur
Inquisition besaß eine ungeregelte, wenn auch formal- ästhetisch
höchst verfeinerte Farbgebung aus dem Geist der dämonischen
Machenschaften. Von Velázquez bis Goya ist deren Einfluß durch
Wölfflin bezeugt.
Goya schreibt an den Oberrichter von Salamanka, Stolpedaro de
Marquavedi Espoda, dem Schwager seines Bruders: »Werter Herr,
teurer Freund, noch einmal bitte ich Sie um ein oder zwei
groseteros (das sind ortsübliche Aktenfässer von etwa
sechzehn Mavedis) da mir das Farbamusement zu dem
Altarbild der Jungfrau von Oviedo auszugehen beginnt, ehe der Abt
und der Herr Gouverneur die Kirche besichtigen werden.« (Aus
Homomaris: Gespaltene Briefe)
Das deutsche Grundgesetz verbietet die ästhetische Nutzung von
Machenschaften außerhalb der Redezeiten im Parlament. - PM
Man findet Menschen, die den düsteren Zauber der Macht so stark
empfinden, dass sie ihn in allen Verhältnissen als das aufspüren,
was letztlich zählt. Diese Tendenz hat eine theoretisch-praktische
Disziplin der Weltseufzer
hervorgebracht, deren Vertreter man abwechselnd beneiden und zur
Raison rufen möchte. Aber es erweist sich als unmöglich, sie kennen
die Uneinnehmbarkeit ihrer Position wie die Argumente, die man
gegen sie auffährt. Der blinde Fleck in ihrer Kalkulation ist die
nächste Generation, das heißt alle diejenigen, die von ihnen
lernen, wie leicht man immer und in allen Belangen die Machtfrage
stellen und folglich gewinnen kann. Wer die Macht zur Anzeige
bringt, arbeitet dem Machttypus vor. Ein trauriger Befund, dem um
Gesellschaft nicht bange ist.
Als ein paar Politiker zu verkünden beschlossen, die Kultur ihrer Länder sei ›divers‹ und sonst gar nichts, also bloß eine Projektionsfläche für den eigenen Ehrgeiz, da stellte sich heraus, wie einförmig alles geworden war: die amtlichen Medien, die stets dieselben Sprüche verbreiteten und dazu Bilder zeigten, von denen man nicht erfuhr, ob sie gestern oder vor vier Jahren aufgenommen worden waren, die Leitmedien, die alle wie auf Verabredung in dieselbe Richtung hetzten, am liebsten gegen die Hetze, das heißt, vornehmlich gegen den Widerspruch, den sie vereinzelt erfuhren, die Priester, die sich aufatmend der neuen Richtung an den Hals warfen, weil sie irrigerweise annahmen, dass nur sie die Kraft aufbringen würden, das Land in den vor ihm liegenden Krisen zu stabilisieren, die Schwätzer, die sich an allem aufgeilten, was Anlass zur Sorge geben konnte und daher Anlass zu großer Verschwiegenheit wurde, die bezahlten Denker, die unentwegt das Tor zur Zukunft aufstießen, das vor geraumer Zeit hinter ihnen ins Schloss gefallen war, ohne die Laufrichtung ändern zu wollen, die von ihnen allen an-, doch nicht ausbuchstabierten ›anderen‹, auf die das Wort von der Diversität gemünzt war und die von seiner Schwere überrascht wurden, als fühlten sie sich halb erschlagen und halb beglückt von einem Goldbarren, den ihnen eine boshafte Fee zugeworfen hätte, um ihre Reaktionsfähigkeit zu testen, und den sie doch nie würden einwechseln können. Und plötzlich, wie auf Verabredung, begannen alle zu keifen. Vereinzelte Kämpfernaturen gingen darüber hinaus und provozierten den Unfrieden wie eine im Anmarsch befindliche Bürgertugend. Es war ein altes Land mit einer großen Kultur, glitzernd im Tau seiner Untergänge, von finsteren Träumen seiner Vergangenheit heimgesucht, selbstverständlich in seinem Stolz, der nichts zu bedeuten hatte, weil er so eingekerbt war, dass er keines Wortes bedurfte, und nun herausgefordert wie nie zuvor in der Geschichte, wenn man von den legendären Anfängen absah, über die ein Erwachsener lächelte, weil er sie als Kindergeschichten gelernt hatte. Nun wurde es mit den Knien geritten. Der es ritt, hielt sich für einen neuen Wilden, einen Eroberer der Leere, an der alles Vision schien, ein Stück Bast in der Hand, mit dem er sie binden wollte, als ließe sich anschließend daraus trinken, denn er war, wie seine Landsleute, Weintrinker und vertraute dem guten Tropfen im voraus mehr als dem Tropf, der aus ihm sprach.
Da liegt die Gegend, wo, zwischen Eisriesen, flüssiges Magma das
Meer zum Kochen brachte und die getöteten Fische tonnenweise
bauchoben schwammen – soviel zur Orientierung. Man fühlt sich
seltsam wohl an solchen Plätzen, die Luft geht frei und der kühle
Kopf bemerkt so mancherlei, was ihm sonst weniger auffällt. Die
Natur bewegt sich aufgeräumter als anderswo, mehr obenhin, sie
rührt, könnte man meinen, weniger an, was schmerzlich sein könnte,
und bekämpft energisch die Runzeln in ihrem Gesicht. Glatt sein,
schön glatt sein, spiegeln, was es schon gibt, was es tausendmal
gibt, hier wie an anderen Ufern. Das Leben der Fischottern ist
nicht zu verachten, es sei denn, die Verächter kommen in langen
Booten und das Gemetzel beginnt.
»Hier, ein Magritte«, ruft die Frau des Direktors entzückt, sie
leistet sich diese Passion, denn sie muss hart arbeiten und genießt
das Schöne an seinen freien Tagen. »Es ist ein Magritte«, ertönt
die Stimme des Gatten, der nachgesehen hat und sich insgeheim
fragt, welche Diät der Meister vertreten mag, der so hoch in der
Gunst der Frauen schwebt. »Wie ein Flöckchen, ein Wölkchen am
lichten Azur, so ein liebes, leichtes Bild.« Der Gatte stutzt,
solche Töne sind neu, streckt hier der Erwerbstrieb die Fühler aus?
Doch die Frau ist schon weiter, sie bewundert, was kommt. Der
Meister trägt einen strengen Scheitel, bemerkt der insgeheim
zögernde Gatte, er spürt die Schwelle. Wieviel mag der Vogel
gekostet haben? Einen Pappenstiel gegen das Bild, gegen Vogel und
Ei, vom Meister betrachtet, gemalt, betrachtet, in natura und in effigie, und nun ich. Nur das Blau
ist stumpf. Es ist wirklich stumpf. Den Azur hat sie geträumt, das
Bild trägt sie hinweg. Schnell, fang sie ein. Oder halt, nein, es
hat Zeit. Das Museum verliert nichts, es enthält sich doch selbst,
was will man mehr.
Das Verständnis für die Pittura grassi hat auf puritanische
Weise stark abgenommen. Die heute gemalten Ideen, trocken und ohne
Fülle, bedürfen schon lange nicht mehr der köstlichen Salben der
Malerei, um Bilder im höheren Sinne fett und gleichsam ›katholisch‹
zu machen. Dazu gehört, dass inzwischen auch eine der einstmals
bekanntesten Ölpflanzen der Venezianischen Malergärten am Canale
lardo verschwunden ist. Es war ein Kräutlein, das selbst noch in
den mageren Zeiten der Nazarener eine große Rolle gespielt hat, von
den Deutschen ›das triefende Pfaffenäuglein‹ genannt. Eine
unscheinbare Blattpflanze, aber Trägerin eines kostbaren öligen
Seims, der nach Texten der Malerbücher kaum in einer der älteren
Werkstätten gefehlt haben wird. Aus ihr gewannen die Künstler bis
weit ins neunzehnte Jahrhundert im Handumdrehen das wasserlösliche
Tränenfett, Laertina
grassi, das in den Farbgeschäften zu Rom noch lange sehr
rein, ohne Beimischungen von Stearin, in grüner Farbe zu haben war.
Es war wohl in allen Sorten der Malbutter zu finden, die, von
Tizian über Hans von Marées bis Giorgio de Chirico, den Meistern der letzten großen
Peinture à l’uile, benutzt
worden sind. Natürlich ist jede Malbutter anders. Das gotische
Eierfett der Deutschen zum Beispiel, das, mit Elfenbeinstaub und
›hilligem Schmeersaft‹ zu Brei geschlagen, als Mus gekocht worden
ist, wurde von den Meistern wohl eher bei der Arbeit verkostet als
unter die Farben gemischt. Ein wunderliches Beispiel des echten
leiblichen Malertums. Man fand das vertrocknete Mus in den Spalten
frommer Altarblätter zur Unterfütterung schwindenden Holzes auf
steinharten Brotfugen sowohl bei Jänsken van Soest wie bei Meister
Emeram Martyr.
»Was hilft aller Glanz auf bemaltem Holz! Wieder habe ich heute,
unter einem begehrlichen Schluckauf, die gute Malbutter anrühren
müssen, die dann nie auf das Bild gelangt ist, weil kein Ränftlein
Speck mehr im Hause war. Magarethe, mein Weib, und ich,
verschlangen sie noch in der Früh unter Tränen.« So lautet ein
Geständnis des einarmigen Malers Jacob Ohnbrass aus Ulm.
Auch von Chirico wissen wir manche Besonderheit. Er
vergötterte beispielsweise eine halb flüssige Salbe von saftgrüner
Farbe in einer Karaffe und ließ sie durch einen Adepten der
Mailänder Malerküche, einer geheimen Spontaneinrichtung fliegender
Künstler und Alchimisten, zweimal im Jahr überprüfen. Als dieser
Vorgang durch gezielte Indiskretion in Rom bekannt wurde, nannte
man ihn wegen seiner bis heute noch nicht begriffenen, in
übernatürlichen Glanzfetten leuchtenden Stilleben der späten Zeit
hinter vorgehaltener Hand nicht mehr einen metaphysischen Maler,
sondern einen malenden Ölhändler. - PM
Zwanzig Jahre vor der Tür des Zeichners herumgelungert, auf ein
Wort hin, er sei dein Freund – welche Verschwendung an Lebenskraft
und -anmut! Aber was für ein Maler: erst ist alles flüssige Kraft,
Sog in die Ferne, die zugleich Innen ist, Innenferne, oft
beschrieben, mit kristallenen Griffeln hervorgekratzt, alle Venen
angestochen, alles vom Herzen her gesehen, gedacht, gepunktet,
schraffiert, übereinander geschichtet, verdichtet und verdreht,
damit es passt. Dann, im zweiten Durchgang, die matte Reprise, das
Bunte, das sich breitmacht wie die falschen Blümchen auf einer
Bergwiese, auf der plötzlich Ziegen weiden, herabgestiegen von den
fernen Bergen, von den Zacken und Graten und Schrunden, auf denen
sie schroffe Konturen gegen den Himmel zeichneten, Sternbilder für
den einsamen Zeichner, der auch ein Wanderer war. Nun, da er denkt,
es sei Mittag, bleibt die Tür zu, der Herr weilt wie weiland ein
anderer im Seinigen. Aber, pardon, es ist nicht Mittag, es ist
schon Abend, die Sternlein blinken, das Haus, das feste Haus, hat
die Mütze gezogen und salutiert, eine archaische Geste, die man
hier nicht vermutete. Bei diesem Anblick fröstelt den Wanderer, der
Eintritt, denkt er, hat sich erübrigt und schließlich, wer tritt
schon die Tür des Nächsten ein, nur um ihm näher zu sein.
Der Grund, auf den ich
male, der Grund, aus dem
ich male – seltsamer Doppelsinn, seltsames Doppelwesen, das vor die
Wand tritt, als habe es soeben noch in ihr residiert, doch die Wand
kann sich an nichts erinnern. Ohne Wand kein Grund, doch Wände, die
keine Gründe hergeben, gibt es zuhauf. Es ist sogar, näher
betrachtet, die Regel, denn unverwandt sind sie immer. Was sich
erhebt, grundlos erhebt, bedarf des Grundes, um ohne Grund da zu
sein, es bedarf der Grundlosigkeit, um sich zu erheben, andernfalls
erhöbe es nur... Aber was rede ich! Das Abrakadabra der Kunst ist
eine Gemengerede, der keine Gemeinde zu folgen vermag. Man übermalt
den Grund, der einen bewog, man übermalt das Überwiegende, um seine
Übermacht zu erfahren, man übermalt den Grund, den es ohne diesen
Akt gar nicht gäbe, der im Übermalen aufscheint und verschwindet,
ohne zu vergehen. Er geht in eine Art Untergrund über, von dem man,
ginge es mit Recht zu, sagen müsste, dass er die Operationen
der Oberfläche erklärt. Aber da erklärt sich nichts. Die Oberfläche
erklärt sich selbst, sie trägt den Malgrund in sich wie... wie...
das unartikulierte Bild. Und das ist wenig gesagt, blutwenig,
sozusagen. Erhöbe sie sich, eine Aurora des Hierseins, nicht
wirklich über ihren Gründen, so bliebe sie, immerhin, eine der
Gänse des Kapitols. Aber sie weckte niemanden und die Gefahr ginge
ganz unbemerkt an allen vorüber.
Die wirklichen Stellvertreter Gottes auf Erden hält sich die
Gesellschaft als Spaßvögel. Es ist ihnen nicht unlieb, denn so
haben sie ein Auskommen, während ihnen andererseits der Ausgang
verwehrt ist. Eingesperrt in die Zelle ihrer Vertretung, können sie
Zeitung lesen, Wasser kochen oder Bücher schreiben, es ist alles
gleich und es ist alles vergebens. Der, den sie vertreten, lässt
sich nicht blicken, er schickt auch keine Boten vorbei, er vertraut
absolut. Dieses absolute Vertrauen erregt den Stellvertreter in
jungen Jahren, eine Zeitlang lässt es ihn kalt, dann wieder wird es
ihm lästig, aber er begreift – oder weiß es unter der Oberfläche
der Zweifel –, dass es immer da ist und immer da sein wird bis zum
letzten Atemzug. Was danach sein wird? »Keine Ahnung«, sagt die
junge Frau mit dem zwischen jugendlichem Hochmut und Entgeisterung
changierenden Gesicht, »muss ich das wissen?« »In der Prüfung
schon«, versucht es der Dozent, »aber vermeiden Sie unbedingt
dieses ›keine Ahnung‹, man könnte Sie beim Wort nehmen.« »Wobei
sonst?« fragt die junge Frau und zuckt mit den Achseln, »keine
Ahnung.« Der Stellvertreter Gottes denkt viel, aber er denkt zum
Zeitvertreib. ›Keine Ahnung‹ könnte er jedem Satz anfügen, den er
niederschreibt, doch das wäre schlechter Stil und widerspräche dem
Amt.
Ein Marabu, vor die Entscheidung gestellt, welcher Gemeinschaft er sich anschließen soll, geht ins Löwenabteil und erntet Gebrüll. Das erstaunt ihn. Schließlich geht es ihm um sachliche Auseinandersetzung und da gehört es sich, dass die Stimme unten bleibt. Also zieht es ihn fort. Bei den Schlangen geht es leise zu, alles fühlt sich sanft an, sanft und kühl, fast wäre er an einer ihrer Umarmungen erstickt. Doch wie das Leben so spielt… Das Glück des Unbedarften springt ihm bei und er entkommt – nur fort! – zu den Kamelen. Erstaunlich, welche Lasten sie schleppen! Davon versteht er nichts. Es kommt ihm, ehrlich gesagt, auch nicht sonderlich helle vor.
Schließlich trifft er auf eine Gruppe Flamingos. Ihr Rosa findet er zauberhaft, ihre geschmeidigen Bewegungen sexy, und wenn sie auf einem Bein stehen, fühlt er sich gleich, als sei er einer der ihren.
Kurz, das ist sein Verein.
Die Flamingos haben (aus Gründen der politischen Schönheit) den Beschluss gefasst sich nicht fortzupflanzen, und die Kinder von LaBaDu als Erben eingesetzt. Kurz, sie haben ihr Land den Pinguinen vermacht – und ein paar Jahre später thront unser Marabu, zur Magistratsperson avanciert, majestätisch zwischen glücklichen Pinguinen. So verrinnen die Jahre und wir verrinnen mit ihnen. Einzig der Marabu, scharfäugig wie eh und je, bleibt auf dem Posten.
Irgendwann sind auch die Pinguine gegangen. Nunu Marabu, wo drückt der Schuh? Fast wünschte er sich das Greisengrau der Pinguine zurück. Ihm fehlt die Augenhöhe. Klein ist das Völkchen geworden: klein und schrill. Ein Stimmchen hört er immer heraus. Es dauert eine ganze Weile, bis er begreift, dass es ihm gilt:
»Hau ab! Du gehörst nicht zu uns!«
Das scheint ihm auch so. Doch als Flamingo der ersten Generation lehnt er es ab, sich mit derlei Lärm um Nichts zu befassen. Wer soll denn ihm an den Kragen wollen? Es sind doch Flamingos! Erst muss er sich im Handbuch der Zoologie kundig machen, um zu begreifen, dass er unter Sperlinge gefallen ist: dreistes Volk, das ihm die Krümel vom Teller pickt und mit seinem Gekreisch jede andere Stimme erstickt. Also erhebt er die seine und spricht: »Ihr müsst noch viel lernen, bis ihr echte Flamingos seid.«
Da schrillt der Hof, dass der Emu nebenan den Kopf hebt und kurz mit den Flügeln zuckt.
Die Spatzen, die sich ob der Größe des Marabus nicht trauen, ihn direkt zu vertreiben, sitzen über ihn zu Gericht. »Er ist kein Flamingo«, schreien die einen, »er soll zu den Schwarzen gehen!« »Die Schwarzen wollen ihn nicht. Habt ihr nicht seine braunen Krallen gesehen?« Da zetern sie alle durcheinander: »Er hat braune Krallen! Er hat braune Krallen!«
Jetzt, da es langsam ernst wird, richtet der Marabu sich beleidigt zur vollen Größe auf: »Meine Krallen braun? Meine Krallen sind nicht braun. Sie sind rosenfarben wie nur je bei einem Flamingo. Seht her!« Und er zeigt seine Krallen. Da wichteln die Spatzen, schwirren um seinen Kopf, dass ihm Hören und Sehen vergeht, und kreischen: »Er hat Krallen! Werft ihn über Bord! Er hat Krallen!«
Der Ozean aber, auf dem sie sich wähnen, ist ein Stück Brachland, Erinnerung an alte Kriegszeiten. Wie man hört, wird bald wieder darauf gebaut.
Wer das Meer im Namen trägt, braucht für den Ankerplatz nicht zu
sorgen. Er bewegt sich zwischen den Schichten, zwischen Himmel und
Erde, ein alter Dachdecker, der auf dem First davonreitet und den
Hunden ein Schauspiel bietet, auf das ihr Geheul lange gewartet
hat. Nun entlädt es sich in die Nacht hinaus, die Lampen geben
einen ungenauen Eindruck von dem, was vorgeht, sie strahlen hell
und sind sauber justiert, aber sie bleiben dahinter. Dieses
Dahinterbleiben des Lichts ist etwas Geheimnisvolles, es gibt dem,
der mit dem Licht arbeitet, einen Vorsprung, den er dringend
benötigt, um ihn sofort zu missbrauchen, weil er mit ihm – in
Wahrheit – nichts anfangen kann. Nein, er bewegt sich nicht in der
Wahrheit, sondern außerhalb, das Meer der Lügen liegt ihm glatt an,
schwer, kühl und ölig, wäre nicht die Positionslampe, die er fürs
Fortkommen angesteckt hat und nun brennen lässt, weil sie bereits
brennt, er würde vom Druck des nachdrängenden Lichts
davongetrieben, so vermag er zu navigieren und kreuzt dort auf, wo
ihn niemand erwartet, zur Unzeit, die niemals endet. Unter Ruderern
gilt der Satz: besser einen Marées im Nacken als einen tätowierten
Stier im Geviert.
Angenommen, es passiert – es passiert immer, aber angenommen, es
passiert wirklich –, so darf man sich nicht wundern, wenn die
Reaktion darauf überraschend ausfällt – so, als habe etwas in uns
nur auf diesen Moment gewartet, um sich zu entfalten oder, bleiben
wir vorsichtig, eine Art Semi-Sichtbarkeit zu beanspruchen, an die
vorher gar nicht zu denken war. Wie das geht? Ein Beispiel. Jeder,
der sich im automatischen Schreiben versucht, macht die Erfahrung,
dass es nicht geht. Die Instanz, die unsereins
manchmal Geist, manchmal
Bewusstsein und manchmal einfach Verstand nennt, weil das Wort
Vernunft immer gleich mehr Fragen aufwirft, als zu beantworten
sind, ist unhintergehbar. Man könnte das eine theoretische
Erfahrung nennen, wohl wissend, welche Kröte man sich damit ins
Haus holt. Was aber geht, was wirklich geht und gelegentlich, ohne
dass man es will oder weiß, wie man hineingeraten konnte, ist eine
Explosion an sprachlicher Kraft, die sich selbst steuert und ihre
Wege geht, als seien sie ihr vorgezeichnet, mit jener seit alters
›divinatorisch‹ genannten Sicherheit, die besser eine Unsicherheit
genannt werden sollte, weil ihr Begleiter, die ausdenkende und
-malende Phantasie, dabei immer wieder ins Hintertreffen gerät und
im Grunde von der Bewegung überrollt wird. Diese Kraft ist
vielleicht die unruhig gewordene Vernunft, die sich aus den
Beschränkungen losrüttelt, die ihr im Alltag auferlegt sind, weil
Gefahr im Verzug ist. Und, seltsam auch das, diese Kraft ist
eigentlich zeichnerisch – überflüssig, darüber nachzudenken, in
welchem Medium sie sich bekundet.
Anders als der von einzelnen Machthabern gelenkte Mitläufer in
einer Zeitherde ist der wirkliche Massenmensch aufs tiefste
befähigt, die Zeitherde in all ihren Zuständen zu begreifen. Er
versteht die Masse als seinesgleichen, verfällt ihr aber nicht. Er
trennt sich nicht wissend von ihr ab, sondern bleibt wissend in
ihr. Zweifellos ist dies die genaueste Definition des
Menschensohnes und damit der imitatio Jesu. So entgeht er zugleich
der Öffentlichkeit als versteckter Prophet und verlässt sich auf
die Tatsache, dass kein Gedanke vergebens ist, ob er aufgeschrieben
wird oder nicht, denn er denkt in der Zeitherde und seine Gedanken
wirken darin als ein Amalgam zur Legierung des Denkbaren. Sie
steigen auf wie das Wasser in Goethes Gleichnis, erfüllen das
Jenseits mit Dampf, und neue Generationen kehren davon erfüllt
zurück.
Wieviele solcher Massenmenschen es gibt, ist wegen ihrer fehlenden
Werke schwer zu erkennen. Manche Seher meinen, es seien höchsten
tausend in einer Generation, andere sprechen von fünfzehn Millionen
in allen Erdteilen. Wieder andere, wie Polonius Silabus, nennen für
das römische Weltreich um hundert nach Christus präzise
Achthunderttausendneunhundertfünfundsechzig, einschließlich
Germanien, Gallien, Britannien und die Nilprovinzen.
Die Kenntnis vom Taomenschen bei Lao- tse mag nach Jan van den
Klockenbusch (Homo sensibilitatis
Christi, Münster 1650) auf einer ganz ähnlichen Einsicht in
das Wesen des wahren Massenmenschen beruhen. Er bereiste mit Moritz
von Meersemann die Südprovinzen Chinas im Auftrag seines
venezianischen Verlegers Manutius und hielt in seinem Gefolge zwei
zierliche Taomenschen. Nach Münster zurückgekehrt starben sie aber
angeblich an dem, was sie ›verlogenes Wasser‹ nannten. Man
vermutet, sie hätten den unbekannten Branntwein für klares Wasser
gehalten, anderseits war einer von ihnen nachweislich Bibliothekar
des Bischofs Franz von Galen. Ihre Spuren verlieren sich eher im
tiefsten Gebirge Westfalens, den Baumbergen. In Nottuln soll es
nach einer alten Überlieferung »zwee gineske Dautensteene«
(chinesische Totensteine) mitten in einem Waldstück gegeben haben.
- PM
Wer sagt, er sei Materialist, riskiert viel, nicht zuletzt,
von seinesgleichen für einen Idioten gehalten zu werden. Ein
Materialist, der sich auf der Höhe seiner Anschauungen bewegt, gibt
sich nicht zu erkennen. Wer vorgibt, Materialist zu sein, wird
durch zwei, drei Gesprächszüge überführt, die jeder beherrscht. Man
braucht dafür nicht ›gebildet‹ zu sein, man muss nur den
Anforderungen des Geredes nachzukommen wissen. Der Materialismus
führt eine Großväter-Existenz, er weiß sich unter den Seinen und
hat sich damit abgefunden, dass ihn alle auf eine lustige Weise
›von gestern‹ finden. Gab es in seiner Jugend schon Autos? Es ist
nicht wichtig, schließlich ist er noch immer rüstig und lehnt einen
tüchtigen Fußmarsch keineswegs ab. Doch sieht man ihn von vielen
Besorgten umringt, die es am liebsten haben, wenn er ruhig im
Sessel sitzen bleibt und die alten Geschichten noch einmal zum
Besten gibt. Zugleich stört sie jedes laute Wort, das in seiner
Nähe gesprochen wird. Sie finden es unerhört und bitten um
Diskretion. Da er schwerhörig ist, zumindest auf einem Ohr,
versteht man nicht recht, was sie damit bezwecken, bis man sieht,
dass sie das noch leidlich intakte besetzt halten und kräftig gegen
äußere Einflüsse abschirmen. »Lass dich nicht beirren«, flüstern
sie ihm ins Ohr, »du bist auf einem guten Weg. Wer den Schotter
herankarrt, muss schließlich wissen, wie es weiter geht. Wir
vertrauen dir.« Nun, sie haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht.
»Schotter! Ich verlange Schotter! Sofort!« brüllt der Alte und
schnellt nach vorn. Da rufen sie rasch nach dem Arzt und betten den
Hinfälligen tiefer in seine Kissen.
Unter Patrioten ist der Matriot, was der Buchfink unter den Bucheckern: äußerst beliebt, auch wenn keiner weiß, was das soll. Was soll schon sollen? So ließe sich zurückfragen, aber es wäre das Porto nicht wert. Der Matriot stammt aus einer Sphäre, die der Physik noch nicht zugänglich ist: er steht zwischen Patriot und Antipatriot und will vermitteln, wo andere nur Feuer und Wasser oder Gott und Gottseibeiuns sehen. Sagte ich Physik? Ich sage nur: Märchenstunde. Dort vermitteln zu wollen, wo es nichts zu vermitteln gibt, grenzt an Unverstand, was sage ich, es überschreitet die Grenze ganz energisch, es ist Unverstand. Recht bedacht allerdings – immer schiebt etwas sich ein, was bedacht werden will –, recht bedacht ist jeder Patriot Matriot: nicht weil er Vater und Mutter ehrt, sondern weil er den Antipatrioten besänftigen muss, den er in sich trägt. Et vice versa. Warum das so ist? Patriotismus – was wäre das anderes als eine Anhänglichkeit, die, tausendmal zu Tode enttäuscht, aus Abscheu Zuversicht schlägt? Und wenn schon nicht Zuversicht, dann wenigstens den grimmigen Mut, sein Land zu behaupten? Nun, behaupten lässt sich allerlei, vor allem das Gegenteil, was immer am einfachsten geht. Antipatriot ist, wem der Patriotismus abgeht. »Das geht mir völlig ab«, sagt so einer und mein damit: Das geht mir gegen die Natur. Wenn die Natur widerstrebt, muss doch etwas da sein, das zieht? Vom Ziehvater ist in seinen Kreisen häufig die Rede, schärfer klingt schon der Stief- … wer dächte nicht gleich an den Stiefel samt allen Weiterungen? So zieht eins das andere nach sich, ein Bild löchert das andere, der Antipatriot bleibt Rebell. Gegen was? Gegen wen? Klopfet an und es wird euch aufgetan.
Der menschliche Maulwurf gräbt seine Gänge nicht unter der Erde, sondern in
freier Luft. Man kann sagen, es ist die Luft der Freiheit, die ihn zu seinem Tun
stimuliert, er schwängert sie gleichsam mit dem Geheimnis, das ihn umgibt.
Deshalb sagt man, er untergräbt die Freiheit der Rede. Die Rede, solang sie frei
fließt, kennt kein Geheimnis, ihr Geheimnis liegt im Fluss, im Fortgang, nicht
von A nach B, sondern darüber hinaus. Maulwurfsrede, dort, wo sie beginnt, ist
unfrei, sie verwandelt Freiheit in Unfreiheit, schon der Verdacht, sie könne
vorliegen, genügt. Ideologen genügt der Verdacht, sie pfeifen auf den wirklichen
Maulwurf und setzen seinesgleichen voraus, wann immer es passt, damit zwingen
sie jeden ins Joch der Unfreiheit. »Dient dem Feind!« So qualmen sie, selten
nimmt einer die Pfeife aus dem Maul, wenn er redet. Was dem Feind dient, ist
nicht erlaubt. Wenn alles dem Feind dient, ist nichts erlaubt. Ein schöner Feind
wäre das, dem etwas nicht diente: ein Wort, eine Geste, ein Zug. Diese Züge!
Immer fahren sie, wohin keiner will, man steigt zu, weil die Richtung ungefähr
stimmt, und man steigt aus, weil einem dämmert, man hat sich verirrt. Ein
Maulwurf kommt immer an, jeder Zug ist der seine, jede Geste durchfährt ihn blind,
jedes Wort schnappt er auf und sackt es ein. Kommt seine Zeit, denkt er, so hat
er die seine genützt, also hat er doppelt gelebt, was will der Mensch mehr.
Fragt ihn einer, unschuldig wie der Mond, wie es geht, so hört er, fast im
Vorbeigehen, ein Geflüster: »Es geht voran.« Maulwurf ist, wer Ereignissen
vorangeht, von denen er annimmt, sie würden sein Dasein, eine verquere
Hypothese, stützen. Was niemals eintritt, füttert die meisten.
Jene Handvoll Theoretiker aus den siebziger Jahren, die heute noch en vogue sind, weil aus ihren Phrasen eine
Art populärer Musik gewonnen wurde, die einem überall da entgegenschallt, wo
Menschen, die angenehm leben wollen, sich in professioneller Denktätigkeit üben,
könnte man vielleicht Mausknacker nennen: dazu bestimmt, Mäusen Angst
einzujagen. Sie zeigen ihnen ein großes Maul und drohen damit, sie bei passender
Gelegenheit auszuquetschen, bis Innen und Außen eins sind und nichts weiter da,
was zu schützen sich lohnte. Wo die vertrauten Konterfeis herumstehen, hocken
die Verhuschten in ihren Löchern – grau, bibbernd, verschämt die einen, stolz
und geschwätzig wispernd die anderen, die gern mitknacken würden, aber
stellvertretend und im kleinen Kreise.
Wenn in Vielen die Überzeugung wächst, dem größten Medizinverbrechen der
Menschheitsgeschichte auf der Spur zu sein, dann wächst in Vielen das Verlangen,
sich jener Vielen mit Mitteln zu entledigen, die aus der Verbrechensgeschichte
hinlänglich bekannt sind, zum ersten der Omertà, dem verhängten Schweigen, aus
dem die finale Drohung gegen jeden hervorblitzt, der es sich überlegt. Das
läuft auf die geistige, in manchen Fällen physische Isolation all derer hinaus,
die sich an kein Schweigegelübde gebunden wissen. Am auffälligsten aber ist die
stumme Komplizenschaft der Opfer, deren Angst vor den Tätern noch von der Angst
vor den Folgen der Tat übertroffen wird. Am Ende geht vom Opfer als Mittäter die
größte Gefahr aus, weil es das Elend des Vertuschens bis in die Familien trägt
und den Schnitt verhindert, der die Schuldigen vor Gericht bringen könnte.
Warum? Wer fürchtet, dass er die Krankheit zum Tode in sich trägt, der fürchtet
sich vor der Wahrheit. Man nennt das ein Tabu, man sollte es besser
Religionsverweigerung nennen.
Gäbe es Meinungsfreiheit für unser Dorf, so stellte sich rasch heraus: wir haben keine. Bekanntlich setzt die Freiheit zu meinen, was immer einer meinen zu müssen glaubt, eine gewisse Vielfalt voraus. Meinungen müssen vorhanden sein, um sich entfalten zu können. Wo alle einer Meinung sind, herrscht Gewissheit. Das ist ein anderes Kaliber.
Der Begriff ›Meinung‹, heruntergeholt vom Sockel der Meinungsfreiheit, enthält bereits eine gewisse Zurücknahme: Ich bin mir meiner Sache zwar sicher, konzediere aber, dass andere anderer Meinung sein und ihrer Sache ebenfalls sicher sein können. Wahrlich keine leichte Aufgabe! Aber was tut man nicht anderes, um im Auge des anderen annehmlich zu erscheinen. Ich bin mir also relativ sicher, das macht mich zwar sicher, auf der richtigen Seite zu stehen, aber nicht, die ›Wahrheit gepachtet‹ zu haben, wie es so sinnig heißt. Im Gegenteil: der Wahrheitspächter, dessen bin ich mir ziemlich sicher, hat die Gesellschaft der Meinenden verlassen und bewegt sich außerhalb der Grenzen, die durch den Begriff ›Meinung‹ gezogen sind, also außerhalb der guten Gesellschaft, in der konzediert wird, dass jeder seine eigene Meinung besitzt und dies sein gutes Recht ist. Gerade daran nagt jedoch der nimmer ruhende Zweifel: Wenn jeder seine Meinung besitzt und im Munde spazieren führt, warum erkenne ich dann in der Regel bereits nach zwei Sätzen, worauf er hinaus will? Doch nur deshalb, weil seine Meinung die kurrente ist oder, genauer gesagt, eine kurrente, da in der Regel mehrere sich im Umlauf befinden, so wie in Grenzregionen jeder Einheimische auch die Währung des Nachbarlandes in der Tasche trägt. Wie gesagt, in unserem Dorf gibt es das nicht, hier herrscht eine Meinung und sie herrscht ungebrochen. Worüber herrscht sie? Über die Köpfe, gewiss, auch in ihnen, gewiss. Aber auch über die anderen, immerhin denkbaren Meinungen? Wohin sind sie verschwunden, die immerhin denkbaren Meinungen?
Das muss sich der Minister gedacht haben, der den Hassparagraphen erfand (oder erfinden ließ, wir wollen da nicht so pingelig sein): Natürlich in den Hass! Wo eine Meinung herrscht, herrscht in den unteren Regionen Hass. Und zwar nicht der Hass auf andere Meinungen, behüte, sondern der Hass auf die herrschende Meinung, die kurrente Wahrheit, die keine Abweichung zulässt. Gelänge es also, diesen Hass zu bekämpfen, ihn sogar auszurotten, dann ließe sich reiner Tisch machen und die Wahrheit triumphierte wie Gott im Mittelalter. Leider haben der Minister und seine Helfer, wie die Ketzerverbrenner des Mittelalters, versäumt, die Frage zu untersuchen, ob der Gedanke einer triumphierenden Wahrheit, wie der des triumphierenden Gottes, auch stimmig sei: Triumph ist eine zu menschliche Geste, als dass es sich schickte, ihn Gott oder der Wahrheit zu unterschieben. Es ziemt sich nicht, in dieser Weise zu denken. Es ist geschmacklos und widert die Menschen an, vor allem die nachdenklichen, die sich zwar in der Minderzahl befinden, aber in der Regel wissen, wie es mit der geschändeten Wahrheit weitergeht. Und? Wie geht es weiter? In Wahrheit kann niemand die Wahrheit schänden. Was in ihrem Namen triumphiert, ist nichts anderes als das berühmte Bündel Stroh, mit dem im Märchen der allzu Beglückte aufzuwachen pflegt: War da nicht etwas? Aber vielleicht wissen die Hassverbrenner das längst und halten den Fetisch hoch, damit die Gutmeinenden sich empören. So hat man sie sicher im Sack. Schon haben sie sich in zwei Fraktionen gespalten, die einander bitter bekämpfen, beide hassgetränkt bis zur Stehkrause und sichere Beute des herrschend gesetzten Zynismus.
Ein Wort, hereingeschneit aus den unendlichen Weiten des bewohnten
Universums, die bekanntlich nur einen Bruchteil der unbewohnten
ausmachen, die wiederum … wo kommen wir eigentlich hin, wenn wir
jedem Löffelchen hinterherlaufen, das ein Taugenichts vor uns
schwingt? Vor allem, wenn nicht leicht zu unterscheiden ist, wo das
Löffelchen aufhört und der Taktstock beginnt, oder wo der Taktstock
unauffällig zum Löffelchen mutiert, mit dem einer den Honig aus den
Verhältnissen herausholt, auch wenn es der letzte ist und das
Kratzen am Grund bezeugt, dass es sich bald ausgelöffelt haben wird.
Ein solcher Auslöffler braucht, wie seine Bewunderer wissen, das
große Publikum, unter dem sich bekanntlich immer ein Kindskopf
findet, der mit der Feststellung Der Kaiser ist nackt seine
nahe Umgebung schockt. ›Menassieren‹ klingt so ähnlich wie
›grimassieren‹ – nur eben vor großem Publikum, nicht vor dem
häuslichen Spiegel, wo es die Pickel und Mitesser austreiben hilft.
Wer menassiert, der hat viel zu verlieren, gesetzt, einer gebietet
ihm für einen Augenblick Schweigen und in die M-Pause hinein
erklingt die Stimme des Kindskopfs aus der dritten Reihe links. Daher
muss, wer zum Menassieren geboren ist, immerfort plappern oder immer
fortplappern, was ihm an Widrigem widerfährt. Weist ihm einer zum
Beispiel nach, er habe etwas erfunden, eine Rede zum Beispiel an
einem historisch bedeutsamen Ort zu einem historisch bedeutsamen
Zweck, dann bricht der Stolz auf seine Erfindungsgabe aus ihm heraus,
als habe er nur auf diesen Brech-Reiz gewartet. Resonances of the
mind nennt das die traditionelle Anglistik, Gleiche Brüder
gleiche Kappen das Derbdeutsche, das ohne einen Schuss
Geschlechter-Ungleichheit nicht zu haben ist, weshalb es auf den
Abschusslisten aller Abschussberechtigten mit einem
Dreifach-Sternchen *** versehen ist: »Ja!!! Halt drauf!« Aber
das führt vom Thema ab. Das Thema ›menassieren‹ ist grenzenlos
wie das Universum – grenzenlos, aber nicht unendlich, verstehe das,
wer will. Als Grundregel gilt: Wer sich menassieren lassen will,
sollte es gründlich tun, zum Beispiel jede Woche donnerstags, zwei
Stunden sollte einer schon mitbringen, allein um den Applaus von der
falschen Seite nicht zu verpassen, auf den alles hinausläuft, was
Beine hat und einen kurzen Verstand.
Als Opa das Kreischen erfand, dachte er mehr an Oma und ihre Bedürfnisse als an Ex-Minister und ihre Ausbrüche von Nachfolgerhass. Ganz frei davon war er nicht, wenn man die Musik-Alben der letzten 60 Jahre Revue passieren lässt. Doch wer spricht vom Kreischen. Mensch Fischer! – so redet man in der Regel nicht einen Menschen an, der einst die Geschicke eines Landes mitregierte, in dem so viele Menschen täglich ihr Glück und ihr Auskommen finden. Ehrlich gesagt, man zögert bereits bei dem Wort ›Mensch‹, weil es sich doch von selbst versteht und eigentlich nichts zur Sache tut, es sei denn, die Menschenfischerei wäre die Sache, was sie doch außerhalb der alleinseligmachenden Kirche niemals sein sollte. Alleinseligmachend: das wäre so ein Konzept. Man braucht dazu grobe Knechte und einen robusten, über ein, zwei Jahrhunderte stabilen Entschluss, es müssen ja nicht gleich Jahrtausende sein. Oder doch? Wer begriffen hat, wo Bartel den Most holt, möchte auch gern dabei sein, solang es geschieht. Er möchte auch sonst gern dabei sein. Das Wissen, wohin man gehört, gehört sich für ihn ganz von selbst. In einer Welt, in der keiner gerettet werden will und die Schlaueren bereits den Rettungswagen für ihren Nachbarn bestellt haben, versteht es sich praktisch von selbst, wenn einer einsam, doch weithin sichtbar auf seinem Balkon mit dem Blaulicht hantiert. Es muss gestritten werden – aber worüber? Wer die Stärkeren sind? Unstrittig ist das nie. Stärke kann schnell zum Impediment werden. Das Stärkste an der Politik des Heils ist die prinzipienlose Prinzipienreiterei, die sich anderen Interessen als Biomasse zur Verfügung stellt, in der irgendein Menschenrecht brodelt.
Das Ungleichartige gleich gestalten: ein biologischer Schematismus und zugleich das übergriffige ›Wesen‹ (besser: ›Gewese‹) von Gesellschaft, in dem das Etwas-Hermachen und das Sich-etwas-Vormachen mit einer diffusen Beweglichkeit kopulieren, deren Richtungssinn schwer zu ergründen bleibt. »Erst in Gesellschaft ist der Mensch bei sich selbst«: ein Satz, an dem die meisten Philosophen höchstens in terminologischer Hinsicht etwas auszusetzen hätten – und doch markiert er den Abgrund der menschlichen Dinge und ist von unaufhebbarer Komik. Man könnte anmerken, dass erst im Sich-Gleichmachen das ganze Potenzial der Differenz und der Differenzierungen zutage tritt, von deren ›Wirklichkeit‹ jedermann ausgeht (auch das ein Witz, aber ein trauriger). Und können zusammen nicht kommen: das Tor der Gleichartigkeit erlaubt, wie die Passagierkontrolle der Flughäfen, nur ein Nach-, kein Miteinander. Wer glaubt, gleich danach käme man wieder zusammen, der könnte sich böse täuschen. Denn streng genommen kommt kein Danach, niemals und nirgends. Der Zwang zur Gleichartigkeit bringt Wesen hervor, die einander ›begegnen‹, das heißt jene grandiose Folgenlosigkeit produzieren, die ebenfalls Gesellschaft heißt.
Wie das? Man beachte die intimen Trennungen mit ihren immer gleichen Ritualen, ihrem immer gleichen Vokabular. Aus einer Perspektive wirken sie schief, wie flüchtig über die wahren Verhältnisse gelegte Schamtücher, aus einer anderen bekunden sie eine gnadenlose Härte, die offenlegt, was besser auf ewig verborgen geblieben wäre: der Mensch schneidet tief ins Fleisch des Tieres, das menschlich sein möchte und dessen Wille immerfort abgleitet in die konfektionierende Menschenmacherei.
Der international bekannte Gelehrte Christian von Grüsen-Schmerbach
eröffnete die diesjährige Tagung der Grabbegesellschaft in Lichtel
mit einem Vortrag, der nicht nur bei Fachleuten Aufsehen erregte.
Er wies auf zunehmende Gefahren in den modernen Gesellschaften hin,
unter denen die demographische Entwicklung eine der größten bisher
zu wenig erforschten sei. Er argwöhnte, dass der Gegenstand zu
einem Fall für die prospektive Archäologie werde, nehme man sich
des Problems nicht augenblicklich und unter Einsatz aller
gesellschaftlicher Mittel an. Noch niemals in der Entwicklung der
Menschheit habe ein Forschungsgegenstand sich aufgrund schwindender
Substanz vor den Augen der versammelten Wissenschaft mit so
ungeheurer Geschwindigkeit verflüchtigt.
In diesem Zusammenhang sei es eine der Herausforderungen für unsere
Gesellschaft, die Theorie des Menschenopfers, wie sie in Folge des
großen Mordens im vergangenen Jahrhundert erweitert worden sei,
nicht nur zu überdenken, sondern für hochdynamische, in permanentem
Wandel begriffene Gesellschaften neu zu formulieren, sozusagen als
unblutige, aber höchst effektive Variante.
Im Kontext der verschiedenen Abtreibungsdebatten sei zwar die Frage
gestellt worden, ob es sich um Mord handle oder nicht, das Problem
des Menschenopfers jedoch sei gar nicht erst ins Blickfeld der
Diskussionsparteien gekommen. Unter welches Rubrum aber sonst sei
es zu fassen, wenn ganze Gesellschaften aufgrund ideologischer
Verfasstheit, ökonomischer Mobilmachung und unter ostentativer
Ausrufung der Befreiung der Frau den zukünftigen Menschen opferten,
indem sie ihn gar nicht erst zeugten. Es handele sich, wie bereits
erwähnt, um hochdynamische Gesellschaften, die den neuen Menschen
an hervorragender Stelle für ihre Zwecke propagierten. Ziel der
Untersuchungen sei es, so von Grüsen-Schmerbach, herauszufinden, ob
es sich um immanente, nicht benannte Ziele der ideologischen Front
oder um eine gesellschaftliche Widerstandsbewegung handle, die den
kollektiven Selbstmord der mentalen Versklavung vorziehe. Jan
Ritterling, Korrespondent vor Ort, berichtet von tumultartigen
Reaktionen. Er vermutet, die ganze Tagung werde unter dieses
Thema zu stehen kommen, da die Frauen es bereits aufgenommen und
ihrem Sinne gemäß erweitert hätten. Dabei rückte die Frage in den
Vordergrund, inwieweit die verschiedenen für die Frauen als
neuerliche Unterdrückung durch das nach wie vor aktive
paternalistische Schema zu wertenden Folgen der Emanzipation nicht
auch als Menschenopfer zu betrachten seien. Die Frauen, soweit
anwesend, beschlossen einhellig, sich mit der Randgruppe der
ungeborenen Kinder zusammenzuschließen und kündigten für den
Nachmittag ein neues Grundsatzprogramm an. Im Gegenzug appellierte
ein harter Kern von Feministinnen an die Frauen, sich nicht durch
theoretische Konzepte von ihrem gesellschaftlichen Kampf entfremden
zu lassen und rief einen Gebärstreik aus, um auf die Probleme
aufmerksam zu machen. - AC
Man stellt, wenn es um die neue Intensität des Glaubens geht, die Erweckungsreligiosität und den politisch motivierten Fundamentalismus zu sehr in den Vordergrund. Man vernachlässigt darüber die Religion, die unauffällig von Frauen an die nächste Generation weiter gegeben wird. Sie haben diese Aufgabe selbst in den Jahren des progressivistischen Wahns niemals versäumt, gleichsam als Rückversicherung für andere Zeiten. Die Wurzeln der Frömmigkeit liegen in der Kindheit und es ist nie ganz müßig zu rätseln, ob sie dort eingepflanzt oder nur gegossen werden. Angenommen, sie gehörten, wie die Disposition zur Sprache, zur genetischen Ausstattung und ließen sich durch geduldige Anleitung aktivieren, so wären Individuen, an denen dies versäumt wurde, einfach nur religiöse Idioten. Die Unruhe der Mütter wäre also gerechtfertigt, weil sie die kommende Generation vor einer Verstümmelung bewahrt. Dennoch kann man sich fragen, warum sie so unbeirrbar in dieser Angelegenheit Kurs halten. Irgendein Vorteil ist dabei, über den man reden kann, über den man reden können muss, ein Vorteil, der durch die sogenannte Frauenbefreiung nicht ausgehebelt wurde. Er muss schlagend sein, wenn keine Umgestaltung der Verhältnisse ihn zum Verschwinden bringt. Die Fähigkeit, religiöse Dispositionen zu hegen und weiter zu geben, ohne selbst religiös sein zu müssen, jedenfalls im Sinn intensiver Bekenntnisse und Gemütserregungen, setzt eine Art von Intimverhältnis voraus, das nicht viele Worte braucht, um sich zu entfalten. Man denkt an die Schutz‑ und Machtfunktion, die der Religion im sozialen Alltag zukommt, an die traditionelle Erhöhung der Frau durch allerlei pseudo-religiöse Praktiken, die sakrale Ummäntelung des Geschlechterverhältnisses und denkt sich: nein, das ist es nicht. All das wäre durch profane Mechanismen ersetzbar, die seit langem benützt werden, um diese alten Modelle zu entkräften und, wo möglich, unter dem Vorwand der Frauenfeindlichkeit zum Verschwinden zu bringen. Im Grunde bleibt, wenn alle möglichen Vorteile ausgehebelt sind, nur die Figur des Vorteils selbst, das Auslösen einer Funktion, weil man die Macht dazu besitzt – eine Macht, die sonst ungenutzt bliebe, während die gesellschaftlichen Instanzen jede Macht ausspielen, deren sie habhaft werden. Macht also, das alte Motiv, und gleichzeitig eine Art Kennerwissen, das alle verborgenen Hebel ertastet, die sich an einem Menschenpüppchen finden und darauf warten, umgelegt zu werden, damit es sich in Bewegung setzt. Die Lust, in Gang zu setzen, was zu gehen bestimmt ist, auch wenn man um seine ambivalenten Züge weiß, und dabei jede Art Abwehrzauber herunterzubeten, kommt vor der Erziehung und durchkreuzt sie, wann immer sie die Erziehenden anwandelt. Manchen zeigt sich hier die dämonische Seite der Alleinerziehenden, die niemandem Rechenschaft ablegen als sich selbst, und auch das nur lückenhaft. Zäune, um durchzuschlüpfen, finden sich überall.
Es ist ein Menschenrecht, unbehelligt von notorisch
überinterpretierten Erkenntnissen, deren Lebensbelang sich darin
erschöpft, es, das Leben, vielleicht zu verlängern, vielleicht auch
nicht, Grundsätzen zu folgen, die einer langen Evolution der Person
geschuldet sind, ohne dafür aufs Streckbett einer gedankenlosen
Moral gelegt zu werden und zum Hohn den Verlust seiner vertrauten Umwelt zu
tragen. Ein schwieriges, schwer durchzusetzendes Recht. Auch
Menschenrechte bedürfen des Menschen. Wer hätte das gedacht?
Die Menschheit hat nur eine Aufgabe und die ist sie selbst. Wie das gemeint sei? Dumme Frage. Bitte stellen Sie sich nicht einfältiger als Sie sind! Die Menschheit ist sich aufgegeben, sie muss sich vollenden, zumindest bewahren, zumindest durchbringen – was nicht so einfach ist, da sie fortwährend wächst und wächst und... Also nochmals! Die Menschheit, das sind Leute, die einander kaum kennen, die einander größtenteils nicht kennen, Wildfremde, wenn Sie so wollen – aber: diese Leute (oder einige unter ihnen) haben entschieden, einander gegenseitig eine Einheit vorzutäuschen, über die sie selbst keineswegs im Bilde sind. Das wäre also ... die Spitze des Eisbergs! Nur ein Bruchteil der heute lebenden Menschen ist an dem Spiel beteiligt, das Menschheit heißt. Der Rest hat keine Ahnung davon oder es ist ihm egal. Vernachlässigen darf man ihn deswegen nicht, denn er bestimmt das Spiel. Die Menschheit: ein Durcheinander von Aussagen über Personen, die nicht wissen, dass sie die Menschheit sind, – nicht gemeinsam, denn es gibt keine Gemeinsamkeit zwischen ihnen, nicht zusammen, denn sie kommen niemals zusammen (furchtbarer Gedanke, sie könnten eines Tages zusammenströmen ––), nicht miteinander, denn sie kennen einander nicht, nein, in ihrem eigensten Tun und Handeln, um vom Denken zu schweigen, bilden sie täglich-kläglich die eine Menschheit, über die andere – wenige – zu Gericht sitzen: Was hat sie verbrochen? Wohin bewegt sie sich? Reicht der Planet noch, an dem sie sich täglich versündigt? Wohin reicht der Planet? Wofür reicht der Planet? Sollten wir nicht andere auftun? O dieses ›Wir‹: in ihm liegt die ganze Menschheit in ihrem Wahn wie ein Säugling in seinen Windeln.
Aber es kommen doch die gewählten Vertreter der Staaten zusammen, um über das Schicksal der Menschheit zu befinden? Aber es gibt sie doch, die weltumspannenden Organisationen, in denen das Wort ›Zusammenarbeit‹ obenan steht? Werden nicht alle bewegt von Öl, Wasser, Luft und den Schätzen der Erde, um vom Klima zu schweigen? Ja, es kommen zusammen die Mächtigen und die Ohnmächtigen unter den Mächtigen, zu pflegen die Macht der Ohnmacht und sie zu leiten auf die Wasser der Mächtigen und ihrer Klienten, sie lesen dieselben im Auftrag gefertigten Statistiken und fassen Beschlüsse, in denen der Menschheit etwa die Bedeutung der Wand zukommt für einen, der verzweifelt nach einem Ausgang sucht: man kann sich schon denken, von welchen Furien er gejagt wird und wie das Personal sich im Raum verteilt. Die Menschheit, wie immer man es wendet und dreht, ist eine transzendentale Größe, eine verschiebbare und immerfort verschobene Grenzlinie, von einer Interpreten-Elite in den Sand, die Meere, die Luft und schließlich in den Weltraum gezeichnet und anschließend als Erpressungsmittel von Menschen verwendet, denen der Gedanke an Abstraktes am A... vorbeigeht. Man sollte sie den großen Einfältigmacher nennen – in des Wortes vielfältigster Bedeutung.
Man muss sich aus der sogenannten Moderne herausdrehen, langsam,
vorsichtig, behutsam, immer darauf bedacht, die Fassung nicht zu
verletzen oder zu verlieren: das ergibt einen guten, einen
menschlichen Sinn, der sich schwer aussprechen lässt. Viel eher
setzt er auf das Empfinden, das ein Einzelner mitbringt. Wer will
das kalte Kunstlicht in sich selbst zum Erlöschen bringen, das sich
dem Kontakt verdankt? Wird es nicht finster, sobald der Kontakt
unterbrochen wurde? Wer sagt mir, dass jenes immerfort überstrahlte
Licht wirklich leuchtet, ausreichend leuchtet, um all die
Funktionen zu erlauben, aus denen das Leben besteht? Dass es mir zu
sehen erlaubt? Warum aber, wenn das so ist, der Eindruck des
Überstrahltseins, der Überblendung, der Bewegung in einem
künstlichen Raum, während der andere immer mitgeht, schattenhaft,
substanzlos vielleicht, aber als Substanzverlockung? Natürlich,
sagt der Analytiker, der Traum vom einfachen Leben deckt zu, wie schwierig, seltsam
und wenig verlockend es dort zugeht. Aber, unter uns, wer hat
diesen Traum je geträumt? Er ist ein Trick – ein Analytikertrick,
der bei der Stange hält und halten soll, darin liegt eine Aufgabe,
die erfüllt er gut. Niemand hat es gesehen, jenes einfache Leben,
niemand hat es geführt, allenfalls gefühlt hat man es, mit
dem Zauberspiegel des Fremden aus Verhältnissen herausgelesen, die
zu ergründen vielleicht Spaß macht, vielleicht nicht, sich
jedenfalls in Abbreviaturen ergeht, die man Hypothesen nennt – eine
nach der anderen, darauf kommt es an. Alle Verhältnisse, in denen
ein Mensch lebt, in den Menschheitszoo gestellt und zur Begaffung
freigegeben, wirken auf wundersame Weise einfach und merkwürdig,
merkwürdig muffig vor allem, als zerbröckelten sie unter der Hand,
nicht lebbar, das ist das Wort.
Das nur im Plural existierende Menschenrecht ist das verbriefte Recht des Menschen, Mensch zu sein. Da jeder bereits Mensch ist, bevor er dieses Recht einklagen kann, braucht es juristisch gebildete Mitmenschen, die ihm, wenn es soweit ist, vorsprechen, worin sein Recht, Mensch zu sein, im Detail besteht. In diesem Vorsprechen lauert eine Drohung, die nur der vernimmt, den sie angeht. Er vernimmt sie vielleicht besser als alles andere, so wie ein Festgenommener, dem man seine Rechte vorspricht, halb von Sinnen vor Angst, kaum versteht, was man ihm da sagt. Dabei sollte er gerade an dieser Stelle genau hinhören, denn das interpretierte Menschsein wird exakt nie und nimmer das seine sein, es wird sich seiner annehmen und ihn umformen, bis er selbst sich kaum wiedererkennt, auch wenn er das niemals zugeben wird. Ein Mensch, der sein Recht darauf reklamiert, ein Mensch zu sein, ist schon ein anderer. Das mag für ihn gut oder schlecht sein, aber sein Ruf ist ruiniert. Er besitzt jetzt den Ruf eines Menschen, dessen Menschsein in Frage gestellt ist. Er wirft Fragen auf, deren Brisanz er nicht kennt, er fängt sich Antworten ein, die er nie überblicken wird, von Leuten, mit denen er im Leben nichts zu tun haben wollte, um eines Lebens willen, das er sich so nicht vorstellen konnte. Dabei wäre es einfach das Recht, da zu sein wie andere auch.
Gesteigerte Form des Merkertums sc. Blitzmerkertum: Das Auge der
Chefin blitzt und Donnergrollen erfüllt die Gemüter der
Merkelistas, auch Emsters oder Hamsters genannt,
mit Ehrfuchtschauern, die instantan entweder in Form von
singulären Einsichten oder zu hektischen Rücktritten verarbeitet
werden. ›Verarbeitet‹…? Aber gewiss. Merkelismus sive
Merkelianismus ist Innenschau, doch nicht mit dem inneren Auge,
sondern mit einem Organ, das gemeinhin dem Verdauungsprozess
zugerechnet wird. Man kann das an gewissen Redensarten erkennen wie
der, dass »am Ende zählt, was hinten herauskommt«, oder an dem
berühmten Brocken, den ein unkündbarer Merkelianer der ersten
Stunde dem inneren Feind der Partei hinwarf, auf dass er daran
krepiere: so ein Krebsgeschwür dürfe nicht »in die Partei
hineinkriechen«. Was herauskommt, nennt der gemeine Straßenverstand
Macht, was hinein will, nennt er … Ohnmacht, die an die Macht
drängt? Das wäre, denkt mancher Zeitgenosse, zu einfach, und macht
sich darauf seinen eigenen Reim: M. ist ein organischer Prozess, in
dessen Verlauf dem jeweiligen ›Partner‹ sämtliche Lebensstoffe
entzogen werden. Das ausgeschiedene Material … – wer spricht vom
Rest? – darf ›braun‹ genannt werden. Wohin mit dem Stoff? In
die Bekämpfung! Merke: Der Merkelismus bekämpft seine
Hinterlassenschaft, als sei sie der Grund, der ihn am Dasein erhält.
Zu Recht, zu Unrecht? Der M. lebt von der Gesellschaft, für die zu
fein zu sein er behauptet. Das einzige Verhältnis, das er kennt, ist
das Selbstverhältnis: Erkannt, verbannt! Dabei geht das Phänomen
des M. weit über parteistrategische Selbstaufhebungs- und
Marginalisierungsspiele hinaus. Recht betrachtet, umfasst er die
Gesellschaft als Ganze: Ihr Wüten gegen sich selbst, als sei sie
eine andere, die nur im Kampf gegen sich Rettung findet, hat etwas
abstoßend Anziehendes oder anziehend Abstoßendes, das sich als
stärker erweist als jede Gemeinschaft, und sei es die der
Gutgläubigen. Allein die Frage »Wie soll das enden?«, die Grund-
und Ausgangsfrage des Merkelismus, treibt einem offenen Ende
entgegen: Sie treibt es bunt.
Ehrlich gesagt, wir misstrauen der Wissenschaft vom Menschen, soll heißen seiner theoretischen und praktischen Aufbereitung unter gentheoretischen, gehirnphysiologischen, erinnerungspsychologischen, religionstherapeutischen etc. Gesichtspunkten. All diese Forschungen sind nur in ihrer Anfangsphase ›heiß‹, danach werden sie rasch kalt und beschäftigen noch eine Zeitlang die Fachleute und Geschäftemacher, während die Neugier der Menschen über sie hinwegschweift. Die Medizin, ja, die Medizin. Auch werden sicher neue Forschungen kommen und neue Anfangsphasen, daran kann es nicht liegen. Vielleicht daran, dass keine Wissenschaft ›vom Menschen‹ handelt und sich das in Wellen herumspricht. Aber es spricht sich ja nicht herum. Ehrlich gesagt, es spricht sich niemals herum. Es kann sich auch gar nicht herumsprechen, weil die Kriterien fehlen und keine Wissenschaft weit und breit sich imstande sieht, sie zu liefern. Es lungert auch niemand in den Eingangshallen der Wissenschaft und verlangt Aufschluss. Die ungeheuren Heerscharen adrett gekleideter Studienanfänger, die stracks hineingehen, verlangen nichts dergleichen, sie wären zu Recht verwundert und schon ein wenig misstrauisch, wenn man sie fragte, ob sie nun, nach der ersten oder zweiten Vorlesung, mehr über den Menschen wüssten, nach dem Examen empfinden sie die Frage als Zumutung. ›Geht doch!‹ steht über der großen Eingangshalle des Volkes und kein Hexenmeister hat seine Freude daran. Dieses ›Geht doch!‹ ist dem delphischen ›Erkenne dich selbst!‹ funktional äquivalent, aber nur funktional und nur äquivalent. Fragt man aber nach der Valenz dessen, was da valiert, tappt man im Dunkeln. Geht doch! »Wenn ich einen Krebs operieren kann und der Mann lebt noch fünf Jahre, dann sind das womöglich entscheidende Jahre – sagen wir, die Tochter macht Abitur, der Sohn kann promovieren, die Frau darf sich ohne Gewissensbisse scheiden lassen und muss nicht anschließend als Witwe herumlaufen.« So spricht der Medizinprofessor zu seinen Studenten, denen das einleuchtet. Schließlich wollen sie operieren. Warum? Suchen sie ihr Wissen vom Menschen beim Medizinmann? Oder der Medizinfrau? Keineswegs. Sie schlendern schließlich auch nicht durch die Kirchen, um das Knie zu beugen, sondern um die Kunstwerke zu betrachten, die darin hängen, oder weil es so angenehm kühl ist oder man ihnen gesagt hat, es lohne sich. Nun, es lohnt sich. Wenn die religiöse Konkurrenz die Inbrunst ein wenig aufdreht, steigt das Interesse ›an Glaubensdingen‹ marginal, aber merklich, und die Funktionäre bekommen glänzende Gesichter. Nichts ändert sich, nur der Wahn zieht seine Bahnen. Ist das Nihilismus? Gefehlt. Der Nihilismus ist eine der Überzeugungen, die keiner teilt – schon gar nicht mit sich selbst. Geht doch! Hundert Jahre Nihilismus und allen reicht es zu überleben. Hundert Jahre Überleben und allen reicht es. Allen? Wie steht es um die Nimmersatten, die Sauger, die Nuckler, die Perversen, die keine Ruhe geben, die Scheinperversen, die keine Ruhe finden, die pervers Scheinheiligen, die innerlich weiter sind und weiter drängen, hinaus über die Säulein des Herkules, der ein kräftiger Mann gewesen sein muss? Schade um ihn, aber sowas wächst nach und ist immer zur Hand. Wer alt wird, muss sich viel merken. Diese Gesellschaft wird alt: so sagt man. Nun, an der Merkerei stirbt das Wissen vom Menschen zum zweiten, dritten und vielleicht vierten Mal. Auch deshalb wirken die Ältesten leer. Vielleicht merken sie nicht mehr so viel, aber innerlich stecken sie voll Merkerei. Voilà, die Epoche der Merker ist gekommen. Wohl dem, der’s merkt.
Der Mord ist der Missbrauch des Messers. Das stand in ehernen
Lettern über der Tür zum Gerichtssaal, die einer durchschritt, dem
es ans Leben ging. Und es ging weiter, viel weiter noch, nur die
Geschichte endet hier.
Wie einer der raumfüllenden Kunstmoderne überdrüssig werden kann, sieht man gut und gern an den Tapezierern,
deren Museumsaufträge noch aus dem letzten Jahrhundert
herüberreichen. Ein solcher Überhang sollte eigentlich gepflegt
werden. Doch Stillstand ist nirgends und Pfleger gehören ins
Seniorenheim oder auf die Krankenstation. So drängen die Tapezierer
selbst ins Museum. Am besten befänden sie sich als Mumien im
Metamuseum, in dem die Museen mitsamt ihren Helfern im metamusealen
Alltag verdämmern. Am Metamuseum wird allerorten gebaut, den einen
oder anderen Trakt kann sich ein heller Kopf bereits vorstellen,
doch das Ganze bleibt auf unabsehbare Weise vertrackt. Nun, die
Tapezierer sind da den entscheidenden Schritt voraus. Ein kühler
Rechner könnte, falls er Lust hätte, ihnen attestieren, dass sie
bereits eingezogen sind und voller Vertrauen den Erbauern ihrer
Heimstätte entgegenlächeln.
Gewisse Leute entwickeln, auch wenn sie auf dem Land oder in der Kleinstadt aufgewachsen sind, ein rückwärtsgewandtes Metropolenbewusstsein, d.h. sie fügen ihrem Gedächtnis all die Ereignisse ein, die ihnen, aktiven Gliedern der Gesellschaft, die sie geworden sind, am Herzen liegen oder deren Kenntnis ihnen ihr Beruf zwingend vorschreibt. Jetzt haben sie all das auch mitbekommen, jedenfalls können sie darüber reden und gegebenenfalls schreiben, als seien sie dabeigewesen: Das haben wir erlebt. Sie könnten auch sagen: So haben wir gelebt. Der Grund dafür liegt, außer in der notorischen Unfähigkeit, die Dinge auseinanderzuhalten, mit der so viele geschlagen sind, in der Scham darüber, damals nicht wahrgenommen zu haben, was heute zählt. Das Mitzählenwollen verlangt gebieterisch nach Gedächtnisinhalten und das folgsame Ich spuckt sie, mühsam wie alles, was einmal in den falschen Hals geriet, bei Bedarf aus. Man könnte darüber zur Tagesordnung übergehen, entstünde aus dem Durcheinander nicht nach und nach ein Gemenge aus angeblichen Erfahrungen, die in keines Menschen Gehirn passen, aber als Grundlage für Urteile über vergangene Zeiten sowie über Menschen herhalten müssen, die in ihnen lebten und handelten – im Guten wie im Schlechten.
Da den Tieren gewissermaßen die Bärte bis über die Augen wachsen,
so dass, außer in aggressiver Weise, kaum ein anderes Mienenspiel
als der Wutausbruch möglich ist, kann man die hochentwickelte
Urkunst menschlichen Ausdrucksvermögens auf diesem Gebiet ebenso
für den Anfang der Schauspielerei wie der entsprechenden Bühne
betrachten. Gedanken und Gefühle treten hier auf, teils vom
Direktorium unzähliger Absichten nach außen gesandt, teils von
unendlichen Begegnungen herausgefordert. Überhaupt sind die
Mischungen erzwungener Mienenspiele und berechneter Entsendungen
nicht auseinander zu halten. Jedoch haben weder Casanova noch Freud
sich an Deutung und Ursache des wechselnden Mienenspiels ernsthaft
herangewagt, obwohl beide, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen,
Interesse daran gehabt haben müssen. Auch Lavater weist irrtümlich
mehr auf Schädelerhebungen unter der Haardecke als auf die viel
subtileren Bewegungen der Gesichtsfalten hin. Überhaupt wird nie
auf das Spiegelhafte eines kaum noch benutzten Begriffs wie Antlitz
verwiesen, bei welchem man rasch auf die große Bedeutung der
leuchtenden Hautfarbe weißer Menschen für ihr Mienenspiel hätte
kommen können. Die sogenannte ›weiße Farbe‹ hätte hier vieles im
Sinne eines Spiegels zu sagen, besonders im Hinblick auf
Porträtmalerei und Maskenkunst. Wann trennte man sich von den
Masken und ihrem Dämonenbezug? Wann sah man sich leuchtend und
schutzlos ins Gesicht? In der bekannten Operette heißt es japanisch
gepudert: »Wie es drinnen aussieht, geht niemand was an.«
Zweifellos hat die römische Porträtkunst sich als erste endgültig
von Götterbezügen getrennt und so viel als möglich vom gleichsam
stille gelegten Ausdruck eines Gesichtes darzustellen versucht.
Aber die plastische Kunst als belehrendes Beispiel und Vorbild
steht heute verlassen hinter dem schonungslosen Schnappschuss mit
seinen unbewacht fixierten Überraschungen und dem Lauf des
immerwährenden freien Mienenspiels, das von der Geburt bis zum Tode
kein Ende nimmt und als Teil des unmessbaren Menschentums hier
keine Rolle spielt. Vielleicht spielen die neuen Maskeraden von
Lüge und Täuschung auch keine Rolle mehr, weil kein Vorbild von
alten Mauern und Bildern herab uns warnt oder ermuntert. Kein
Idealbild der Kunst reizt zur Nachahmung. Wer möchte die zerteilten
Gesichter Picassos, selbst als boshafter Scharlatan, nur in
Andeutungen übernehmen, oder wagte es, Schlüsse daraus zu
ziehen?
Je größer die Kopflosigkeit der Kunst, um so näher die unabhängige,
die kollektive, die unablesbare Grimasse, bis zur schönen Grimasse
in Illustrierten. Der nackte Mensch ohne Züge ist heimliches Ziel
einer neuen Gesundheit ganz ohne Falten.
Einst war die zunehmende Herablassung in den Mienen des Adels eine
würdige Alterserscheinung, die dem Leben wichtiger Blicke über der
gepanzerten Brust mit himmelblauer Schärpe zu folgen hatte. Das
verändert sich nun zur bloßen Herablassung alt gewordener Falten
bei Schönheitsoperationen: sie werden abgelegt. Es kann gelogen
werden, was das Zeug hält, man sieht es keinem mehr an, man ist gar
nicht mehr richtig da. - PM
Der Minister wacht eines Morgens auf und begreift: alles Schwindel. Die Papiere gefälscht, die Ernennungsurkunde getürkt, die Sekretärin, eine alte Spionin, im Bilde, die Journalisten schon vor der Tür. Er muss nur die Gardine verrücken, um den ganzen Umfang des Unheils zu überblicken: er ist verloren. Was tun? Die Kanzlerin anrufen? Wie kommt das an? Was löst das aus? Eine Lawine vermutlich, die ihn verschüttet. Nein, mit dieser Sache muss er allein fertig werden, Hilfe steht nicht zu erwarten. Selbstmord? Schön für die, die darüber berichten, aber keine Option für einen, den der Trieb, die Welt zu verändern, geradewegs so beherrscht wie ihn. Warum muss es ihn treffen? Trifft es ihn denn? Die Krawatte (der Spiegel sorgt für Erkenntnis) zeigt sich nicht weiter beeindruckt. Diesseits der Panik wartet das Leben auf den, der es neu beginnt. Oder es ihn – wer möchte da fehlen? »Du bist mein Leben, ich beginne dich neu«: so könnte er säuseln, die Stirn in pastorale Falten gelegt. Nein, es ist nicht sein Leben, jeder Versuch, es zurechtzurücken, lässt es in eine andere Richtung entrollen. Was ist das für ein Leben? Bald schon wird er ausziehen müssen, dieses Haus wird ihm zu eng. Derweil johlt das Volk auf den Gassen und die Twittergemeinde empfängt ihren Helden über Gebühr. So empfänglich müsste man sein.
Der Minutenruhm hat, wie jeder andere, das Beruhigende, dass er vorbeigeht. Was langsamer vorbeigeht, das Ritual, trägt zu dieser Beruhigung nicht unwesentlich bei. Es ist ein Ruhestifter, der dem Unruhestifter entgegentritt, ihn aufnimmt und seitwärts geleitet, dorthin, wo schon seine Vorgänger entsorgt wurden. Der Unruhestifter blinzelt, er kann wenig sehen, er will Vertrauen fassen und darf es nicht. Sähe er genauer hin, so käme ihm die Betriebsamkeit verdächtig vor, gerade in dieser dichten Folge von Augenblicken könnte man ihn sehgeschädigt nennen. Jedenfalls nimmt er wenig wahr. Und es stimmt ja, wenig ist wahr an dem, was über ihn gesprochen wird, es sind Formeln, aus denen das Weihwasser tropft, er kann, wenn ihm der Sinn danach steht, es mit eigenen Tränen vermischen, damit es rascher abläuft und nach mehr aussieht. Aus Tränen werden schnell Hieroglyphen, aber die echten, vor ihrer Entzifferung: da steht ICH und da steht ALLE und da, ein wenig abseits, LIEBE, folgt man dem Bogen abwärts, so entdeckt man ein kleineres EUCH und ein noch kleineres DOCH. Doch, sagt er sich, so könnte es sein, aber muss man es auch so ausdrücken? Diese Schriftzeichen bedeuten vielleicht etwas ganz anderes. Ganz sicher bedeuten sie etwas anderes, jemand wird drauf kommen, aber hier und heute bedeuten sie nichts. Bedeuteten sie etwas, so wäre das ganze Verfahren nur abgefeimt, es ist aber etwas dabei, das sich dem Zugriff der Protagonisten entzieht. Bei dem Wort ›Protagonisten‹ muss er automatisch lächeln, er blinzelt schon wieder, der Anfall ist praktisch vorbei und das Leben geht weiter.
Da stehen die großen Griffel und keiner rührt sie an. Keiner? Wenn einer käme, um die Probe darauf zu machen, sähe man ihn? Und wenn man ihn sähe, jagte man ihn nicht davon? Und wenn man ihn nicht davonjagte, würde man nicht über ihn lachen? Und wenn man nicht über ihn lachte, würde man ihn denn ernst nehmen? Und wenn man ihn schon ernst nähme, würde man denn ernst nehmen, was er schriebe? Und nähme man es ernst, würde man etwas anderes darin erkennen wollen als einen Missbrauch der Schrift? Allein die Schrift ist rein wie am ersten Tag, wem seine Gedanken von ihr befleckt erscheinen, der möge schweigen, als sei es sein letzter.
Man kann eine Religion missbrauchen wie eine Nation, ein Volk, eine Ethnie oder das Personal einer Firma, das zu denken bereitet gar keine Schwierigkeit. Die Schwierigkeiten beginnen, wenn man versucht, Brauch und Missbrauch zu sondern, weil niemand den Missbrauch zugibt, so dass die Ansichten aufeinanderprallen, als gäbe es zwischen ihnen keine vernünftige Mitte. Was richtig ist, am Ende hilft nur das Strafgesetz, und das bloß in kleineren Fällen. Die maßgeblichen Fälle treiben auf Katastrophen zu und nur Zufälle halten sie auf diesem Wege auf. Das große Verdienst der Religionen, dass sie den Menschen verkünden, was gut und böse sei, kehrt sich dann gegen sie, da sie keine Instanz über sich dulden dürfen, jedenfalls nicht in dieser Hinsicht. Gegen einen Verkünder, der die ethischen Kataloge der verschiedenen Religionen gegeneinander und gegen das Recht des Staates, Gesetze nach eigenem Gutdünken zu erlassen, abgleicht, stehen hundert andere, die sich in der Regel zurückhalten, aber eben nur zurückhalten, weil sie nicht anders denken können, als dass ihr Gotteswort den anderen vorgeht. Sie schließen Kompromisse, so wie ihr bürgerliches Heldenleben ein Kompromiss ist, sie schließen mit sich selbst Kompromisse, darin liegt ihre Schwäche, die von kühneren Charakteren bloßgestellt wird. Der Missbrauch der Religion beginnt als Kritik an den Kompromissen, die nötig sind, um sie im rechtlich-bürgerlichen Rahmen zu halten. Zwischen Kritik und Terror liegt im Zweifelsfall nur ein Entschluss. Es überfordert die Spitzen einer Konfession in der Regel, eine Gleichwertigkeit religiöser Angebote zu denken, es sei denn, es ist ihnen mit der Konfession nicht mehr sonderlich ernst, nicht heilig-ernst, wie es sich in den Augen der Gemeinde gehört, und sie zählen in Wahrheit bereits zur Ketzer-Gemeinschaft der Zivilreligiösen. Sagen wir, wie es ist: des einen Brauch ist des anderen Missbrauch et vice versa. Der religiöse Humanismus, dessen es bedürfte, dieses Dilemma aufzulösen, liegt seit zweihundert Jahren auf dem Tisch, aber er ist eine Botschaft für wenige geblieben. Die christlichen Kirchen, die ihn sich ächzend angeeignet haben, verdanken ihm leere Gotteshäuser und gehen daher lieber mit den Welt-Ideologen auf Dummenfang – kein guter Anreiz für andere Glaubensgemeinschaften, ihnen auf diesem Wege zu folgen. Wer den säkularen Staat bewahren will, muss ihn verteidigen und darf nicht auf den Sinneswandel von Kräften hoffen, die gar nicht anders können als ihn, wo immer es geht, auszuhöhlen, bis er in sich zusammenfällt.
»Wollt ihr die totale Gesellschaft?« Diesen Lockruf hörten, die uns
– nicht erst seit heute – regieren, in ihrer Jugend, und fast alle
riefen Ja! Das waren eine andere Zeit und ein anderes Bewusstsein,
aber das Bekenntnis hallt nach in der Gouvernantengesellschaft, der
Gesellschaft, die nicht loslässt, die den letzten Trinker mit
Programmen umgarnt und nicht zulässt, dass etwas anderes sei als
sie selbst, die es in Worten und Begriffen ebenso ausgrenzt wie in
Taten, so dass es sich endlich in die Arme von Weltverschlechterern
wirft, nur damit etwas sei. Denn die totale Gesellschaft, mit
Verlaub sei es gesagt, ist nicht, sie existiert nur, solange sie
aus Ressourcen leben kann, die außerhalb ihrer selbst liegen, und
sei es im Wüstensand. Deshalb ist es gefährlich und bitter, mit ihr
zu rechten. Nach rechter Kolonialherrenart lässt sie nur eine
Antwort zu: das nächste Programm. Auch wäre es falsch zu sagen,
hinter jedem abgestellten Missstand lauere ein neuer. Es sind die
alten Missstände, die in den Programmen fröhliche Urständ feiern,
die sich ihrer inwendig längst bemächtigt haben und auf Kapertour
gehen. Ausgerüstet mit Mitteln, die stets etwas Märchenhaftes
behalten, sehen sie ganz neue Möglichkeiten. Wer glaubt, dies seien
Probleme höherer Ordnung, mag recht haben, sofern er für sich
spricht, jedenfalls sollte man ihn, solange er auf dem Dachfirst
wandelt, nicht wecken.
Wer den religiösen Formeln misstraut, wer sie verachtet, wer den
Missbrauch fürchtet und den Wahn, der in ihnen lauert, wer nicht
vergessen kann, was in ihrem Namen und unter ihrem Bann verübt
wurde, der muss auch bedenken, dass ihm all dies einmal gesagt
wurde, dass auch er eine Art Frömmigkeit exerziert, wenn er so
denkt, wie er denkt und vielleicht denken muss, weil es ihm sonst
an Selbstachtung mangelte, vielleicht auch nur, weil er einem
Korpsgeist verpflichtet ist oder gewohnheitsmäßig zu einer
bestimmten Stunde den Fernseher einschaltet. All dies bedacht,
sollte er sich fragen, ob seine Frömmigkeit nicht jener anderen,
vor der er sich fürchtet, bereits auf den Leim ging. Warum, so
könnte er sich fragen, geht es mir überhaupt um jene Formeln? Warum
verkleinere ich willkürlich, was dort gedacht worden ist, auf seine
einfachste Form, auf den kleinsten gemeinsamen Nenner für eine
Masse, an der mir nichts liegt, wenn es mir nicht um Formeln ginge?
Ist eine Durchstreichung nicht so gut wie die andere? Sind die
Spiele der Negation nicht Gemeingut aller Religionen, die diesen
Namen verdienen? Ist nicht diese Religion, die zu verachten ich
vorgebe, gerade darin Meister aller Klassen? Ist meine Frömmigkeit
also sehr unterschieden von der, die ich ablehne? Ist sie nicht auf
gleichem Kurs wie all die differenten Auslegungen, die sie
hervorgebracht hat? Woher also mein Misstrauen? Oder vielmehr:
Wohin drängt es mich? Über welchen Rand stößt es mich, wenn ich ihm
nachgebe? Ich blicke ihm ins Gesicht und es schiebt mich weiter,
rückwärts, dorthin, wo ich nichts sehe.
Nach den Töchtern kommen die Söhne. Vielleicht, ja vielleicht, kommen sie einmal gemeinsam, Söhne und Töchter: erhobenen Hauptes, gemeinsam ihr Leben einfordernd von den Ungeheuern. Welchen Ungeheuern? Das ist eine lange Geschichte, die einmal erzählt werden muss, nur nicht vor der Zeit. Wenn aber die Zeit gekommen ist und die Archive sich öffnen, dann zählt jedes Opfer. Jedes einzelne ist dann das Opfer zuviel, das erbracht werden musste, um jene zu Fall zu bringen. Jedes einzelne ist dann das Opfer zuviel, das nie hätte erbracht werden dürfen: hier beginnt das Verbrechen, das keines sein durfte, als es geschah.
»Die Figuren der Mitspieler allen erkennbar hinstellen: da ist Aufgabe und Amt.« (Heinrich Mann) ›Allen erkennbar‹: da liegt das Problem. Zu dieser Aufgabe und in dieses Amt drängeln sich viele, die selbst unerkannt bleiben und nur ihre Namen in den Wind schreiben möchten, der bekanntlich noch dann weht, wenn auch die letzte Behausung pulverisiert und der Mond über wuchernden Sumpfländern seine einsame Bahn zieht. Die Banken, die Konzerne und die Politiker: zu oft wurde das Stück von sogenannten kritischen Köpfen aufgeführt, um den Beifall zu finden, den man sich davon erhofft. Am Ende der Kenntlichkeit steht die Unkenntlichkeit: Das wissen wir ja, sagen die Leute, aber wie geht es weiter? Da reiben sich die Banker, die Konzernstrategen und die Politiker die Hände, denn sie wissen, wie’s weitergeht, sie werden für dieses Wissen sogar bezahlt. Die Behauptung, dass es so nicht weitergeht, verdunkelt die Zukunft, statt sie zu erhellen, die verdunkelte Zukunft verdunkelt die Gegenwart, ganz wie der Zorn sie verdunkelt, den viele predigen, wo er doch als Grundstoff bereitliegen müsste, um geschmiedet zu werden, wenn die Zeit dafür reif ist. Was sich zusammenrottet, muss auch wieder auseinandergehen: das gilt in den Köpfen ebenso wie auf den Straßen und Plätzen. Das meiste der sogenannten Kritik der Verhältnisse besteht aus Aufzählungen der Weltübel mit Hilfe immer derselben Phrasen und Denunziationen, verbunden mit so detaillierten Handlungskonzepten wie rauf mit, runter mit, weg mit, her mit: ein Blick in die Schriften der Klassiker zeigt, dass diese Art von ›Aufklärung‹ getrost selbst unter die Weltübel gerechnet werden darf. Nebenbei ist sie gezinkt – was immer ›allen erkennbar‹ sein soll, ist für den Markt produziert und will die Art von Erfolg, die es verdammt.
Anders als in der Politik und im Leben besitzt die Mitte in
der Kunst keinen Wert.
Nichts bezeugt das besser als der Goldene Schnitt, der eine Reihe
von Möglichkeiten eröffnet, sie elegant zu umgehen. Mit seinem
Wegfall wird alles recht, aber sonderbarerweise wird die Mitte
dadurch sichtbarer, wieder sichtbarer, könnte man sagen, sie kehrt
als leere Mitte ins Bild zurück und lässt sich anstarren. Man
erfährt daraus, dass auch die Kunst vom Tabu gelenkt wird. Das
Anstarren, diese unzüchtige Tätigkeit, ruiniert den Bildraum und
erzeugt die Textflut, in der das Gesehene untergeht, weil es
sich nicht anstarren
lässt. Es bedeckt sich, sozusagen mit Wörtern. Das erinnert
an Frauen, die das Kopftuch ablegen, um frei zu sein, und sich vom
Friseur eine künstliche Haarpracht arrangieren lassen, bevor sie
sich unter die Leute trauen. Mit einem zugetexteten Bild muss man
keine engere Beziehung eingehen, es lohnt nicht, denn es kommt auf
dasselbe heraus, es ist rundherum dasselbe. Aber auch das ist
vielleicht nur Schein.
Wer eine Frau angreift, dem verdorre die Hand. Dennoch fühlen sie
sich allzu oft angegriffen und greifen an, aus einem Impuls heraus,
den Männer gern eine Laune oder eine Grille nennen, falls sie nicht
zu der Sorte gehören, die manche Frauen abfällig die ›verstehende‹
nennen, und den Topos vom unterdrückten Geschlecht gleich hier in
Anschlag bringen, statt bessere Gelegenheiten abzuwarten. Vom
Denken ist beide Male nicht die Rede, eher von Reflexhandlungen,
die leicht in erotische Tätlichkeiten übergehen können, wie die
Romanwelt lehrt. Vielleicht auch das wirkliche Leben, doch man kann sich täuschen.
Männer, die sich für richtige halten, täuschen sich umso häufiger,
je öfter sie im beruflichen Umgang auf diese Karte setzen und ihre
Niederlage als weibliche Niedertracht buchstabieren. Warum? Sie
sehen das Spiel, aber sie überblicken es nicht und versuchen es
willkürlich zu verkleinern. Frauen, die wissen wollen, woran
sie sind, sind die Regel, Männer die Ausnahme. Ein Mann, der weiß,
woran er ist, ist schnell am Ende, für die Frau ist es ein Anfang:
Sprüche, zweifellos, aber in ihnen spiegelt sich die reale
Dimension des Geschlechts. Übrigens verhext die Geschlechterrede
auch den, der sich ihrer mit wissenschaftlichen Ansprüchen annimmt.
Beispiele gibt es wie Sand am Meer, doch wehe dem, der eins
aufhebt. »Die Mittagsfrau geht von Bord« – so steht es in
Organum Mortis und es ist
die volle Wahrheit, ein Aspekt der Balance.
Die beste Zeit, sich den Groll von der Seele zu schreiben, ist die Zeit nach Mitternacht. Die Entrüstung darüber, nicht schlafen zu können, gibt die Stimmung, die latente Müdigkeit drängt zum Abschluss und die kalte Nachtluft verleiht die benötigte Schärfe: so können die Barrieren fallen, zwischen denen das Tagesgemüt dahin trabt, das sich nichts anmerken lassen will, weil es sonst Wirkung zeigte, und das ist nicht erlaubt. Nachts ist erlaubt, was sich bei Tage verbietet, das liegt nicht an der Dunkelheit, wie die Diebe glauben, sondern an der falschen Wachheit, die auf der Einlösung eines Versprechens besteht, das niemand gegeben hat, es steht aber im Raum und blinzelt den Übernächtigten an. Alles unzeitige Aufstehen muss sich gelohnt haben, vorher geht keiner zu Bett. Nun gut, der Groll ist eine Art Einlösung, sogar die einzige, wenn sich nichts anderes herstellt, er ist die Nacht in ihrer Reinform, als versagte Erfüllung, die sich holt, was sie braucht. Mancher greift darüber zur Flasche. Das zeigt, was er von sich hält: nichts. Wer seinen Groll für eine Flasche dahingibt, will noch im Weglosen spuren. Er wünscht, dass der Alkohol sich seiner erbarmt und nimmt die Erbärmlichkeit gern in Kauf. Dabei ist der Groll der bessere Rausch, jedenfalls für den, der ihn zu bespielen vermag. Das Beste am Groll ist, dass er die Volumina steigert. Alles Unpassende passt peu à peu in ihn hinein und lässt ihn anwachsen, bis der Blick sich verklärt und die Müdigkeit endlich den Eintritt findet, nach dem sie lange gesucht hat. Nun ist sie da und räumt das Trümmerfeld weg, denn sie will es weich haben und liebt die Horizontale.
Müller kommt herum, sagte sich der Kulturschaffende M., das ist ein
Vorteil dieses Berufs. Und er kam herum. Man kommt herum, sagen
sich viele und tragen das Zeichen, MKH, dort, wo andere ihre
Sehnsüchte aufbewahren.
Träume machen eine reine Haut, vor allem die tiefen, aus denen niemand ohne Zeitsprung aufwacht, leicht erschöpft, voller Unruhe, ob er auch wirklich entronnen sei. Die Tendenz des Bewusstseins, sich zu verflüssigen, seine Fähigkeit, zu zerlaufen und an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit sich im Nu zu konsolidieren, ist keine vernachlässigbare Größe. Das Bewusstsein kennt viele Raumzeiten, zwischen denen es beständig wechselt. Ein Strich, eine Wolke, ein Taschentuch, eine Fliege, eine Tasse Tee, ein Duft, eine Kinoszene, ein Wort reichen völlig aus, um die Verflüssigung zu bewirken. Viele dieser Wörter sind kaum mehr als dürftige Sehnsuchtsmaschinen für Durchschnittsverschwinder. Wider Erwarten erweisen sich andere als bewohnbar und rufen nach Kultur. ›Moderne‹ ist so ein Wort, hoch expansiv, ein Fraßwort, eigentlich ein Witz, der sich nicht abschütteln lässt, es sei denn im Tiefschlaf. Was modern ist, bestimme ich, aber nicht ganz, nicht ganz wirklich, nicht ganz souverän, ich muss mich strecken, Moderne ist einer fordernde Instanz, warum?
Was modern ist, bestimmen die anderen, aber nicht ganz, denn ich kann sie nicht verstehen, es sei denn, ich lege mich dazu: bin ich modern? Aber sicher. Jede Beschreibung passt auf mich, ja genau, aber sicher, aber nicht ganz: etwas fehlt an den Beschreibungen, etwas fehlt an mir, ich passe nicht ganz hinein und fülle sie nicht ganz aus. Ich denke an sie, also lebe ich in ihr, ich lebe in ihr und falle aus ihr heraus. Modern sind immer die anderen. Nicht ganz, ihre Gesten wirken auf mich ganz und gar archaisch, und ihre Gedanken... An ihnen erkenne ich, was ich abschütteln möchte. Ich bin der erste moderne Mensch. Wenn alle modern sind, bin ich der erste, der nach ihnen kommt. Wenn alle postmodern sind, bin ich die Differenz. Gehen Sie ruhig voran, ich komme nach. Ja, ich kenne den Weg, machen Sie sich da keine Sorgen. Ich falle tief. Im Haus der Moderne sind viele Wohnungen: einst werde ich eine davon bewohnen. Wann wird das sein? Zu einer anderen Zeit, in einer anderen Welt, mit anderen Mitteln, mit meinen Mitteln, denn Herr der Moderne bin ich. Warum Herr? Dies ist das Haus vieler Herren: Haben Sie das nicht gewusst? Nein, das Haus ist herrenlos, es gehört niemandem außer denen, die es bewohnen wollen, und diese wissen davon nur vom Hörensagen.
Die toten Diskussionen sind nicht im Keller zu besichtigen, wie
immer behauptet wird, zwischen allerlei Lifestyle-Gerümpel und
löchrigen Stiefeln, verfaulten Kartoffeln und verrotteten
Spiegel-Nummern. Sie
treiben auch nicht an der fauligen Oberfläche entlegener Buchten
und Meeresableger und niemand hat sie vergraben, niemand hat sie
verbrannt. Schon gar nicht ruhen sie auf dem Grunde des Ozeans,
zwischen den Wracks der großen Schifffahrtsrouten, stillen
Überbleibseln des menschlichen Bewegungsdrangs. Sie ruhen auch
nicht in der Tiefe des Gemüts, das wäre zwar schöner, es wäre aber
auch zu einfach und wir lehnen es einfach ab. Manchmal, wenn die
Suche schon allzu sehr ins Leere geht, könnte man meinen, es habe
sie nie gegeben. Dann allerdings, sobald dieser Punkt fast erreicht
ist, brechen sie los mit einer verzweifelten Virulenz, als steckten
sie allen, die es angeht, seit altersher in den Knochen und
warteten nur darauf... – ja worauf denn? Auf den Moment. Der Moment
verhält sich zur Diskussion wie die Pflaume zum Kuchen, er wartet
darauf, geschlitzt, entkernt, verzuckert und in den großen Teig
gesteckt zu werden, wo ihn niemand sieht, es sei denn, einer kommt
auf den Geschmack und liebkost ihn gedankenverloren zwischen den
Zähnen, den weißen Vorboten der Verdauung, die keine Farbe hat und
mit einem Geschmack nichts weiter anfangen kann. Einerseits, könnte
man sagen, besteht eine Diskussion aus vielen solcher Momente im
Moment ihres Verschwindens, der sie nichts kostet, weil sie ohnehin
dazu bereit und schon auf dem Weg sind, andererseits zückt sie sie
wie eine Tüte Süßigkeiten vor jemandem, der schon halb süchtig nach
ihnen ist und es kaum abwarten kann, dass sie sich öffnet. Die
toten Diskussionen sind nicht tot, auch nicht scheintot, sie sind
Straßenhändler, deren Existenz man verschweigt, während man sich
bei ihnen eindeckt. Die Fesselung der Diskussion an den Moment, an
all die Momente, in denen sie sich entfaltet, ist tragisch wie alle
Lust an der Lust: »Das wollen wir
festhalten«, sagt der Stenograph und setzt seine Schnörkel,
die keiner liest, während alle auf die Reinschrift warten, damit
sie das nächste Mal präpariert sind.
Die Ökonomie der Verschwendung liebt ihre Landsknechtssprache. Sie ist ihr nicht ganz gewachsen, aber sie wächst an ihr wie das Glied, an dem sie sich aufrichtet. Sie hat ein Glied zuviel vielleicht, diese Ökonomie jenseits der Ökonomie, der zuliebe die Vornehmen bluten, nachdem die erste Ökonomie sie lange gesäugt und auf ihre lichten Höhen gestellt hat. – Und eine Gelegenheit zuwenig, zirpt die Waise, sie muss es wissen, denn sie gehört zu dem gefährdeten Personenkreis, der vor den Bataillisten geschützt werden muss, solange die Regel ›rechts vor links‹ gilt. Was nicht überall der Fall ist! Radfahrer zum Beispiel wissen nichts von ihr, manche behaupten auch, sie ignorierten die Gefahr bewusst, um vorwärts zu kommen, und böten sich darum als Opfer an. Das ist vielleicht ein Wink. So ein Opfer kann niemand brauchen und darum unterbleibt es, solange die Regel gilt. Ja, es bleibt, solange es unterbleibt. So könnte man es sagen. Erst wenn die Regel den Dienst quittiert, explodiert die Gefahr und ihre ersten Opfer sind die, die sie brachen. Der Bataille eine Bleibe! Nichts wünschen sich ihre Liebhaber sehnlicher, solange sie innen tobt, wie das Gesetz es befiehlt. Aber sie tobt nicht. Sie wird ganz still angesichts der Gefahr, am liebsten hört sie die Grillen zirpen.
Von Zeit zu Zeit gefällt es den Menschen, sich nicht mit Zwischenergebnissen zufrieden zu geben, es ›überkommt sie‹, wie man so sagt, wobei gern im Unklaren gelassen wird, was sie da überkommt. Da dieser Impuls im gewöhnlichen Leben so rasch wie möglich eingefangen, eingekapselt und beiseitegeschafft werden muss, um keinen dauerhaften Schaden zu stiften, verschiebt man ihn in den Bereich der Kultur, also in Gefilde, in denen nicht etwa die Differenzierten, Ausgewogenen, Ausbalancierten und Gründlichen das Sagen haben, sondern die Einseitigen, die Extremen, die Undifferenzierten – Zeitgenossen also, die in den Augen der Mitwelt die allgegenwärtige Tendenz verkörpern. Für die Gebremsten, Kontrollierten, Beherrschten verschafft sich in diesem Personal etwas Ausdruck, was sie selbst gewöhnlich sorgfältig in den Falten ihrer Existenz verbergen, um es nur bei passender Gelegenheit, sozusagen bei Kerzenlicht und Musik, hervorzuholen. Die Ikonen der Kultur sind, geben wir’s zu, ordinär. Ähnliches gilt auch für die Klasse der Frühvollendeten, die ein Übermaß an Differenzierungs-Anstrengungen von Seiten der Überlebenden und Nachfolgenden auf sich ziehen, weil offen blieb, wohin ihr Impetus
sich, auf längere Sicht gesehen, gewendet hätte. Sie sind daher, was sie nicht sind und vielleicht nie geworden wären, nur eben für andere und daher im Wortsinn selbst-los.
Am entgegengesetzten Ende der Skala tritt die beherrschende Richtung erst im Alter hervor, nachdem sie lange unter einem Wust von Geschäften begraben lag oder nur einem kleinen Kreis von Eingeweihten bekannt war. Ein schlichtes Wort in einer bestimmten Sache gewinnt nun eine Kraft, die es aus sich heraus nie besessen hätte. Es wird notorisch in jenem anrührenden Sinn, der durch die Kombination von Alter und Radikalität der Anschauung ins Leben tritt. Ein Gleiches gilt, unter verständlichem Vorbehalt, für die Ikonen des Sexus: besser, sie sterben jung, aber zwingend ist das nicht. Auch Dummheit will leben, nicht nur unsterblich sein. Im Alter kommen die besten Exemplare wieder hervor und spielen die Komödie des Ergreifenden, die immer ihr Publikum findet, gleichgültig, was die Ideologiewächter der Gegenwart dazu anmerken. Klassiker schließlich sterben beizeiten und tauchen zu den Jubiläums-Terminen als virtuelle Greise auf, untergehakt in den Reihen ihrer altgedienten Verehrer, die sich im TV-Seniorenheim einen schönen Tag machen, manchmal zur besten Sendezeit, meistens jedoch, wenn der Tag sich dem Ende zuneigt, was auch als Aussage zu nehmen ist. Aber nicht nur. Die greise Monroe in alter Plastik-Schönheit, Seit’ an Seit’ mit dem verblichenen Heer ihrer Prakti- und Plasti- und Sykophanten, das macht schon was, das macht schon was her, auch wenn niemand so recht weiß, was es hermacht. Irgendeine Art von Kraftschluss muss es wohl sein, in den die Bedürftigen aller Geschlechter den Finger tauchen, nicht um Lethe zu lecken, sondern um ihren electric body zu fühlen, ganz ohne elektrischen Stuhl, der sein Geschäft, wie es gelegentlich heißt, mit einem gewissen Gleichmut verrichtet.
Metzger, Brauereibesitzer, Würstchenverkäufer,
Elektroinstallateure, Handelsvertreter, Ballonfahrer,
Bordelleigner, Boxchampions, Leisetreter, Kommunionkinder,
Heckenschützen, Freidemokraten, Mengenrabatteure, Kleingärtner,
Großaktionäre, Grüne, Stammtischler jeder Sorte und jeder
Trinkfestigkeit: alle sind schon immer beim Thema. Intellektuelle,
soweit als Spezies noch vorhanden, fürchten, dass ihnen der Stoff
entglitten ist, sie raffen die kritische Toga und behandeln ihn von
der Warte dessen, der diese Dinge hinter sich hat. Seit jeher tun die beredtesten unter ihnen so, als
empfänden sie das Thema als Zumutung, als unterböte es bei weitem
die Differenziertheit ihrer Gedankenführung. Manche nähern sich ihm
nur knurrend. Wie man’s nimmt. Sich zu benehmen wissen, keine Klagen
laut werden lassen, auf die Stimmen der anderen hören und seinen Weg
gehen, keine Verstörungen wollen, keinen klitzekleinen Mord
begehen, den Planeten retten: Moral ist einfach. Schwierig wird es, rechnet man
die üblichen Unterstellungen, die perfiden Argumente ohne Prämissen,
die Handgreiflichkeiten und Verantwortungseuphorien, die Entrüstungen, die
Verleumdungen sowie, nicht zu vergessen, die salbungsvoll
einherwandelnde und zu jeder Desinformation bereite ›Sorge um sich‹ hinzu: Ja, wir Lieben: woher die
Moral? Und wohin?
»Die Zivilgesellschaft muss dort ächten, wo der Staat nicht hinlangt.« Das ist leicht gesagt, aber schwer getan, vor allem, wenn der Staat hinlangt, wo immer die Zivilgesellschaft aufkreuzt – ganz nach dem Motto: »Ick bün schon da.« Nein, es ist nicht so, dass die Zivilgesellschaft nach dem Staat riefe, wann immer sie ein Krümelchen Unrecht aus ihrem Weg entdeckt. Eher wird sie vom Staat als Wünschelrutengänger benützt und auf Schritt und Tritt überwacht. Die Zivilgesellschaft akzeptiert den Staat nur als großen Reformer und der Große Reformer weiß sich den Reformstoff auf keine andere Weise zuzuführen als dadurch, dass er sich ihre Funde umstandslos aneignet. Das ist die Wahrheit, nichts als die Wahrheit und die Wahrheit ganz. Ein Krümelchen davon ist die Erkenntnis, dass die Moral schwindet, sobald das Recht überhandnimmt. Es nimmt aber nicht überhand, sondern bedient sich der Hände, in denen sie ruht. So haben sie immer zu tun und die Moral kommt jedes Mal aufs Neue zu kurz. Sie kommt danach. Wer glaubt, sie ginge im Recht auf, der kennt keinen Schmerz oder leugnet ihn, weil er als Wunderheiler auf ein besseres Auskommen hofft.
Die moralische Welt – schade, dass wir einen solchen Ausdruck nicht mehr besitzen. Bekanntlich ist die moralische Welt die unmoralische, soll heißen, die Ansammlung aller moralischen Gebrechen, an denen eine Gesellschaft weniger leidet als sich erkennt. Man kann diese Gebrechen so beschreiben, dass sie als Signatur eines Zeitalters durchgehen: als ihr So wird’s gemacht. Wer sich nicht dran hält, ist selbst schuld. Warum gelten sie dann als Gebrechen? Weil die Geschichte der Moral von den Opfern geschrieben wird? Von diesem nietzscheanischen Schwachsinn sollte man sich schleunigst verabschieden. Das Ressentiment fällt in den Bereich der Moral, sie lässt sich nicht aushebeln, indem man die Vorurteile der anderen studiert. Übrigens auch nicht die eigenen. Die ständigen Begleiter haben es nicht gern, wenn man sie dauernd an eine nebelhafte Herkunft erinnert. Sie ziehen sich nicht zurück, sie werden aggressiv. Zu Recht übrigens, denn ihre eigenen Erinnerungen sind stabil und unschlagbar. Die Moral ist die Moral und man verlangt zuviel von ihr, wenn man will, dass sie dem guten Gewissen weicht, das nicht so gut sein kann, wenn die Moral dabei stört.
Das morgendliche Entsetzen der Soldaten vor Anbruch einer Schlacht,
aber auch das Trianon-Grau auf den Möbeln des achtzehnten
Jahrhunderts, soweit das Mobiliar und die Wände der Salons nach
Osten ausgerichtet waren. Das Morgengrauen erlitt auch Phasen der
Rötung, weniger durch himmlisches Blutvergießen als von Amts wegen,
da Wetterberichte auf weiten Ebenen mit roter Wetterfarbe gleichsam
gestempelt wurden. Die amerikanische Flugzeugindustrie schuf im
letzten Krieg für weitfliegende Bomber die painting aeroplanes, die
amtlich-militärisch bestätigte Wetterzeichen versprühen konnten.
Sie wurden spöttisch ›morning devotion‹ genannt. Überhaupt hängt
das Morgengrauen keineswegs immer mit dem Aufstieg der Sonne
zusammen. Man kennt weit über zweihunderttausend unterschiedliche
Farben und manches Abendlicht, das des Vollmondes wegen nicht
gänzlich und rasch genug zergehen kann, steigt am Morgen noch
einmal auf und täuscht das ungeschützte Auge, was sich zugleich als
Sonnentäuschung bezeichnen ließe, und zwar im Sinne von Plotin und
Goethes berühmter Bemerkung: »Wär’ nicht das Auge sonnenhaft...«
Also kann niemand, der am frühen Morgen erwacht, auch sicher sein,
einem optisch wahren Morgen entgegen zu sehen. Bei gerichtlichen
Zeugenaussagen hat dies früher zu Fehlurteilen geführt, ehe Sir
Middelton-Fog die unumstößliche Wahrheit des Morgengrauens in
Greenwich erfolgreich in Zweifel zog. - PM
Haben Sie denn kein Motiv, empört sich Ratte; sie empört sich nicht richtig,
eher zum Schein, im Grunde ist sie zufrieden. Kein Motiv haben ist in ihren
Augen das Beste, was einer Ratte passieren kann, es passiert ihr nicht oft. Als
›Wesen im Umkreis des Menschen‹ findet sie Motive satt, aber es sind nicht die
richtigen. Hinter den Motiven lauert der Abgrund. Seit sie diesen Satz zum
ersten Mal, sich bedächtig über die Schnauze streichend, ihrem Supervisor
vortrug und dieser vor Lachen fast vom Stuhl gefallen wäre, ist sie
grundbeleidigt und ihre Seele trägt Schwarz. Natürlich weiß sie nicht, was
hinter den Motiven lauert, gerade deshalb fühlte sie sich zu ihrer Rede
berechtigt. Nun, es soll nicht sein, unter Ratten nicht und überhaupt nicht.
Unter den Motiven liegt der Strand, an dem keiner liegt, das ist zwar
unbestritten, aber erinnern Sie einen daran: gleich winkt er ab. Die alte Ratte
giert nach Motiven, ihre Fresslust ist ein Fanal. Wäre der Planet erst von
Motiven gesäubert, er hörte auf zu kreisen, legte sich auf die Seite und wäre in
jedem erdenklichen Sinn ausgeschieden. Das Motiv kenne ich, meldet sich eine
junge, ich habe davon gehört, als ich wirklich jung war, und jetzt sehe ich, was
passiert. Es ist ein Elend.
Der Tod ist das Register des Lebens, als Ratgeber scheidet er aus. Es bleibt eine seltsame Idee, den Mörder zu benützen, um die neue Ethik zu konstruieren, in der Gut und Böse nur als Kumpane aus alter Zeit mitreisen, ohne die Grundlinien zu behelligen. Die neue Ethik, wo immer sie auftaucht... läuft sie auf Anerkennung dessen hinaus, was gestern noch als verwerflich galt und morgen den Verworfenen zeichnet. Nur hier und heute, unter Lebenden, die sich und ihre monströsen Projekte salvieren wollen, greift die neue Ethik ein und rechtfertigt den Mord um der Sache willen, den gerade begangenen wie den noch zu begehenden, und alle fortschrittlichen Geister klatschen Beifall. Alle? Es gehört zu dieser Art Fortschritt, dass er die Anderen braucht, an denen er exekutiert werden kann und deren Votum daher nicht in Betracht kommt, höchstens als willkommener Anlass, den Praxistest zu beginnen. – Dass dieser Kluge mitdestruierte, ist nur zu verstehen, solange man das Schlachthaus Gegenwart nicht zum Kummerkasten der Vergangenheit degradiert.
Musils Fehler – wenn in diesen Bereichen von Fehlern die Rede sein kann – liegt wohl darin, dass er die zentrifugalen Tendenzen seines Erzählwerks mit aller Macht zurückbiegen wollte auf die Maße und Maßstäbe konventionellen Erzählens, auf die ›Begebenheit‹, die ›Folge von Begebenheiten‹ und ihre ›innere Einheit‹, die den Roman ›konstituieren‹ sollen, obwohl sie offensichtlich dazu keineswegs in der Lage sind. Man muss aber die zentrifugalen Bewegungen selbst als formgebend, als konstitutiv begreifen, um der sich türmenden Schwierigkeiten Herr zu werden, falls dies überhaupt eine zutreffende Metapher darstellt. Fragt sich also, woher sie kommen und worin sie bestehen. Dass Erzählen keineswegs der Geschichten bedarf, dass es Weisen der sich über sich selbst verständigenden und sich verortenden Reflexion geben kann, die vielleicht legitimer ›Erzählen‹ genannt werden dürfen als die pünktlich verlängerte Ausgestaltung tausendfach erzählter ›Plots‹, daran hat Musil, trotz Joyce, trotz Proust, vermutlich als erster gerührt und einen Preis dafür gezahlt, vor dem jedem auf die fällige Überweisung wartenden Schriftsteller grausen muss. Reflexion aber – das ist Basiswissen, das sich unerbittlich in das ambitionierte Projekt einschreibt –, Reflexion läuft in keinen Einheitspunkt zurück, sie lässt sich nicht zwischen zwei Buchdeckeln beschließen, sie geht fort, was immer das heißen mag. Reflexion ist immer zentrifugal, es sei denn, sie wird künstlich beruhigt, also eingeschläfert, zum Beispiel durch Dialektik oder ›Sprachanalyse‹. Raum, Zeit, Universum, Materie, Sinn, Leere, Sprache, Gesellschaft – dies alles ist lehrbar zu seiner Zeit, mit den Mitteln seiner Zeit, das heißt, prozesshaft, es ist, bei verweigerter Blindheit, nicht zurückzubannen in Geschichten, die von alledem wenig wissen und nichts begreifen lassen, weil irgend ein kämpferischer oder ›spiritueller‹ Auftrag ihnen die Flügel stutzt und weil eine schläfrige Leserschaft gewohnt ist, zu kriegen, wonach es sie juckt. Es geht dem Roman seit Musil wie der Musik seit Schönberg, entweder verzichtet er aufs Hirn oder aufs Publikum – gerade das gibt den Verlagen die Macht, ihre Interessen durchzusetzen, bis sich herumgesprochen hat, was ohnehin jeder weiß.
Die letzte Frage wäre also die nach den 0,2 Prozent, die durch das
Bildungssystem nicht bedient werden, was nicht weiter schlimm ist,
weil sie gerade in diesem Punkt ihr Fortkommen allein finden.
Weniger gut wissen sie sich zu helfen angesichts der aufs Genügen
abgestellten Kreisläufe, da doch ihre ganze Existenz auf das
Ungenügen abgestellt ist. Sie können daher nicht anders, als es
ganz oben oder ganz unten anzusiedeln, abwechselnd meist, je nach
Lage und Verfassung. Ahnungslose halten sie aus diesem Grund für
Leute, die vergangenen Wertordnungen anhängen. Das ist so nicht
richtig. Es sind unauffällige Mutanten, zu intelligent, um
mitzuwabern, und deshalb immer gerade ›in anderen Ordnungen‹
anzutreffen. Was sie dort machen? Aber sie machen doch nichts.
Wie es aussieht, erfordert es den Mut der ganzen Person, in einer von muslimischen Parolen erfüllten Welt ein Muslim zu sein, einer, der sich dem Ethos seiner Religion verschrieben hat und die Welt ohne Ressentiment verstehen will, um in ihr zu bestehen. Das wirft ein helles Licht auf die Lage jener – verhältnismäßig geringen – Schar bekennender Europäer, vor allem aus der politisch zerfledderten Mitte des Kontinents, die einst aus dem Christentum eine Religion der Humanität zu formen unternahmen: gegen die Blasiertheit der Aufklärer, gegen den Fanatismus der Eiferer. Und ihre Saat ging auf – das darf, das muss denken, wer ihnen gewogen ist, er sollte aber, der Redlichkeit halber, hinzusetzen, wieviel Hass erst die Welt verbrennen musste, bis sich die christlichen Kirchen zur besseren Einsicht bequemten, um, wie es aussieht, sie gleich wieder in Richtung auf neue Unfehlbarkeiten und Schuldmaschinen zu überschreiten. Nein, die christlichen Kirchen sind zweideutige Vorbilder, wenn es gilt, den Weg zu beleuchten, auf dem die Menschheit erzwungenermaßen Selbstfindung betreibt. Der Abfall vom Religiösen findet im inneren Zirkel der Religion statt, dort, wo Posten verteilt, Machtansprüche erhoben und Feindschaften ausgelost werden. ›Sei ein Christ‹ – das kann auch heißen: Sei kein Christ, das erlösende Wort stellt sich bloß von Zeit zu Zeit ein und nur dem Einzelnen.
Irgendwann dient, was als verlängerter Arm der Gesellschaftstheorie
begann, als ihr Reparaturbetrieb. Das ist das Schicksal der
Kulturwissenschaft, die im Seichten stochern darf, damit das Schiff
nicht leck läuft. Dabei sitzt es doch auf Grund. Hat das niemand
bemerkt? Aber sicher. ›Auslaufende Gelehrsamkeit‹ heißt das Spiel,
den Tatbestand zu vernebeln, durchschaut auch das. Der Nebel
erinnert verdächtig an Weihrauch, kräftig geschwenkt, um das
Denkvermögen des Nachbarn und, wo es angeht, das eigene ein wenig
herabzusetzen. Man gibt sich dynamisch, wie es der
Wissensgesellschaft ziemt. Was nach Dynamik aussieht, verdankt sich
dem Wechsel der Geräte und Moden. Die Gesellschaft, die sich gern
die dynamische nennt, befindet sich im Zustand der
Mythostase.
Gäbe es eine weltgeschichtliche Probe auf das, was die Menschen
heute ›Beziehung‹ nennen, man könnte geneigt sein, sie in der
Verbindung zwischen dem Christentum und Europa zu sehen. Sie haben
sich früh gefunden und sie hatten, was immer man sagen will, eine
gute Zeit miteinander, alles Gezänk und alle Streitereien
inbegriffen, die in einer Beziehung anfallen, in der jeder sein
eigener Herr bleiben und den anderen nicht aus den Fingern lassen
möchte. Es war ein kluger Zug seitens der Religion, sich in eine
ältere und eine jüngere Linie zu spalten und so den
Entfremdungsprozess um ein paar Jahrhunderte hinauszuschieben. Auch
diese Beziehung hat durch Trennung an Intensität gewonnen; erst
allmählich erkennen beide Seiten, wie sehr sie jeweils ein Teil des
anderen waren, und versuchen mit allen Mitteln, diesen Tatbestand
zu verdunkeln und die
fälligen Konsequenzen aus ihm zu ziehen. Manchem kommt es in Zeiten
gemeinsamer Interessenswahrnehmung so vor, als seien sie wieder
vereint. Aber das wirkt bloß so: es ist die Trennungsarbeit, die
den Schein wirklicher Gemeinsamkeit erzeugt und dabei doch nur
einen aufgebrochenen Gegensatz fortschreitend entfaltet. Niemand
weiß so viel vom Christentum wie das nachchristliche Europa,
niemanden bezichtigt es so rückhaltlos, nichts zu begreifen.
Endlich schließt sich für Europa diese Erscheinung; es hat das
Gefühl, um sie herumgehen zu können und dabei doch niemals zu
wissen, ob es aus sich herausgeht.
Eigentlich sollte der Vorgabe die Nachgabe entsprechen, doch gibt, wer nachgibt,
nichts, es sei denn, er zückt die Börse, um einen Erpresser
loszuwerden. Wer nachgibt, der gibt auch auf, und sei es nur
Widerstand, doch meist sind es Forderungen. Deshalb wäre es falsch,
den Nachgeber zu hofieren: Hätte er seine Vorgaben aufrechterhalten,
hätte er nicht aufgegeben, worum es ihm ging, dann könnte man
sehen, wofür er steht. So sieht man auch, aber nur, dass er für
nichts steht. Wer für nichts steht, der gibt auch nichts, er mag
sich all seiner Mittel entblößen, um diesen Punkt zu kaschieren, es
bleibt aber der Kardinalpunkt. Deshalb gibt es zwei Sorten einer
prinzipienlosen Politik: die ruchlose und die nachgiebige, besser
gesagt, nachgeberische: die eine schmiegt sich den Verhältnissen an,
um sie auszupressen, die andere, um sich von ihnen überrollen zu
lassen, in der Hoffnung, danach wieder aufzutauchen, als sei nichts
gewesen. »Das war wohl nichts«, sagen die Leute und wählen das Desaster noch einmal, als gelte es den zweiten Versuch. Was ist schon dabei, den dritten und vierten
Versuch zu wagen, sie wagen ja nichts, sie wählen auch nichts, sie
wissen, dass sie nichts wählen und rechtfertigen ihre Entscheidung
damit, keine Wahl zu haben. Wer die Wand wählt, in der
Hoffnung, da sei nur Nebel, mit dieser Augen-zu-und-durch-Gesinnung,
die typisch ist für die Politik der Unpolitischen, der überlässt
seine Wahl dem Geschick. Das Geschick … es wählt nicht, es greift
blind, am Ende nimmt es sich alles. Eine Nachgabe gibt es nicht.
Ein Riss, so der Museumsfreund G., geht – bald wird man auch hier sagen müssen: ging – durch die deutsche Gesellschaft, der selten bedacht wurde: er teilt die Jahrgänge, die noch im Weltkrieg geboren wurden, von denen, die nachher kamen und von Bombennächten, Flucht, Vertreibung, Heimkehr der Väter, Besatzungs‑ und Beschaffungsalltag, von der Trümmerlandschaft der Städte und ihrem ersten Wiederaufbau ebenso wenig ›Anschauung‹ besaßen und besitzen wie ihre heute erwachsenen Kinder. Sie hatten nichts erfahren und mussten daher alles durch die erfahren, die ›erlebt‹ hatten, die sich erinnerten oder qua Säuglingsstatus Teil jenes Szenarios gewesen waren und es auch habituell blieben. Eine Realität jenseits, hinter, unter der Realität, unfassbar, unbeschreibbar außer in Worten, von anderen geprägt und dauerhaft im Munde geführt, eine Wut, deren Motive unterhalb von Scham und Schuldbekenntnis – kollektiv, wie denn sonst – sich nur weiter verrätselten, je stärker man sich über sie beugte, überhaupt die Scham über etwas, das ›Unterrichtsstoff‹ war und bei aller explosiven Wirkung auch blieb, während es doch in den Äußerungen der ein wenig Älteren so höhnisch und aufreizend erschien, als wollten sie gerade jetzt die andere Seite der kindlich erlebten Realität herausfordern – jetzt, da sie doch bis auf jene letzten Spuren beseitigt war, die geradewegs in den Gedächtniskammern der Zeugen und Protokolle und damit – jedenfalls im Westen – in die Realität der Auschwitz‑ und Eichmann-Prozesse mitsamt ihrer publizistischen Aufbereitung führten: solche Prägungen haben eine Generation aufkommen lassen, der, strikt gesprochen, nichts zu sagen blieb, da doch alles, worum es gehen konnte, bereits vor ihrer Ankunft geschehen und besprochen war und von den Anderen fortfahrend weiter besprochen wurde. Sie hatte sich einzusprechen und ›Engagement‹ zu zeigen – im Grunde eine Kohorte von Vollstreckern, von Buchhaltern des Gelernthabens und Weiterlernens, deren Eifer sich nicht wirklich mit seinen Gegenständen vertrug, wie die lederne Sprache so vieler Abhandlungen und das entrückte Hantieren mit Theorien belegen, die niemanden überzeugen, aber unhintergehbar den Stand der erreichten Differenzierung repräsentieren. Und wirklich möchte niemand dahinter zurück, in dieses ›Nachkrieg‹ genannte Purgatorium, zu dem die Seelen der Verdammten hartnäckig schwiegen, während ihre Körper satte Zukunftsgewinne einfuhren und Urlaub auf Ibiza oder am Plattensee machten.
Das Nachsehen haben – eine Auszeichnung, selten gewürdigt, die
Leute laufen eher davon, als dass sie sich etwas nachsähen.
Dabei verfügt, wer nachsieht, über den Vorteil der Nähe, wie sie im
Nachkommen begründet liegt und mit Nachkommen einherzugehen pflegt.
Das Nachsehen haben: hieße das nicht, notorisch aufs Nachsehen
verpflichtet zu sein, sich verpflichtet zu haben? »Sieh doch mal
nach, ob noch Kaffee da ist.« Wenn ja, ist es nicht so schlimm.
»Lass es gut sein!« Oder noch knapper: »Lass gut sein!« Es gibt ein
Zuviel an Nachsicht: Welche Vorstellung von Güte liegt hier
zugrunde? Man kann die Güte auch übertreiben – das und nichts
anderes meint die Phrase, jedenfalls beinahe. Etwas über den
Übertreibungspunkt treiben, wie man ein träges, trottendes Vieh
treibt, sagt viel über den Antreiber, seine Mittel und seine
Zielvorstellungen aus. Oder gar nichts – für den Fall, dass er
selbst ein Getriebener ist. In einer Gesellschaft, in der alles,
was in die öffentliche Aufmerksamkeit gelangt, auf Übertreibung
gestellt ist, hat die Wahrheit das Nachsehen. Es ist ihr ältestes
Amt. Gleich hinter der heißen Luft kommt – die Absicht. Wer mag da
schon hinsehen.
Wer im Zug der Zeit sitzt, sollte die Fenster
geschlossen halten, vor allem bei Nacht. Die Nachtluft verzeiht
keinen Spaß, in ihr kann passieren, was will, und es findet kein
Ende. Worin auch? Wer als Zeitzeuge aufwachen will, muss aufpassen,
nicht von ihr verweht zu werden. Doch selbst patentierte Zeitzeugen
sind nicht dagegen geschützt, sich an ihr zu erkälten, sich ›einen
Zug zu holen‹. Was ist die Nachtluft anderes als die Fülle
abgewehrter Möglichkeiten, die einen unaufhörlich umstreichen und
darauf warten, sich zu materialisieren? Menschen gibt es, die sitzen
nur deshalb am Fenster, weil sie den Kitzel brauchen, es öffnen und
sich anstecken zu können, wann immer sie der Impuls überwältigt.
Zeitzeugen spüren, dass das Ungeheuer, dem sie nur mit Mühe oder
durch Zufall entkommen sind, dort draußen lebt und an ihrer
Entschlusskraft zerrt – ein Trauma, tönt ihre Umgebung, die keine
Ahnung hat. Woher auch? Entweder es gilt der Satz ›Vorbei ist
vorbei‹ oder er gilt nicht. Entweder man lebt seine Zeit
oder die der anderen. Die Zeit der anderen ist die wirkliche, die
sich entwirklicht, lernt man den anderen erst einmal kennen – einen
nach dem anderen. Plötzlich gilt der Satz: Sie sind alle noch da,
sie sind wieder da, sie oder ihresgleichen, der Tanz kann
beginnen, sobald die Musiker ihre Plätze eingenommen haben und der
Geister-Sound ertönt. Wie lange noch? Geht diese Nacht nie zu Ende?
Das Verblüffende an der Naivität ist, dass sie sich allen Definitionen entzieht. Sieh alle Definitionen durch, deren du habhaft wirst, und du findest sie naiv. Offenbar ist sie so unverwechselbar, dass man sie mit allem und jedem verwechseln kann und dennoch auf Anhieb weiß: Das ist sie. Im Naivsein gibt es kein Mehr oder Weniger. Deshalb hält man seine Geschäftspartner gern für ›ein bisschen‹ naiv; man weiß, das ist Quatsch, aber es gibt das Gefühl einer winzigen Überlegenheit: »Der Kauf gilt!« Mit Naiven macht man keine Geschäfte, man plündert sie oder man lässt es bleiben. Und selbst der Plünderer zieht mit dem seltsamen Gefühl in der Magengrube davon, nicht genau zu wissen, ob am Ende er der Gelackmeierte ist: Naivität, man mag von ihr halten, was man will, schafft es immer, aus einer Sache, und sei sie noch so verloren, siegreich herauszukommen. Deshalb ist es auch so gefährlich, wenn Naive ein Land regieren. Sie liefern es den Plünderern aus und treten in dem Bewusstsein ab, sie hätten die Welt ein bisschen besser gemacht. Sie sind, wenn man so will, praktisch unbelangbar, moralisch nicht satisfaktionsfähig und gegen intellektuelle Zumutungen immun. Nur dumm sind sie nicht, das zu glauben wäre zu einfach.
Man muss die Narren Narren nennen, damit gewinnt man die Vernünftigen zwar nicht, aber es macht sie nachdenklich. Warum? Weil sie die Vernünftigen sind, Leute, die in Nachdenklichkeit verfallen, sobald sie auf ein Hindernis stoßen. Das Problem mit den Narren ist, dass ihrer so viele sind und sie alles persönlich nehmen. Man hat sie schneller auf dem Hals als unter der Fuchtel, unter der sie gern leben würden, sie können sich nur nicht entscheiden, unter welcher. Deshalb bevölkern so viele von ihnen den öffentlichen Sektor: sie treiben sich gern unter denen herum, die gemeint sind, so hält man sie am Ende für die Gemeinten. Und siehe: nach einem kurzen Zögern denken sie selber so. Im Verborgenen wissen sie wohl, dass dem nicht so ist, das gibt ihrem Reden und Handeln den Zug ins Kämpferische, den die Leute mögen, vor allem aus der Distanz. Privat möchte niemand mit ihnen zu schaffen haben, dabei sind sie stets privatissime. Gegen das familiäre Verhältnis, wie es das Medium stiftet, kommt kein Familienleben an, vor allem kein gesundes. Am Narrenfluss sterben, schweigend auf ihn starren, wenn die große Verdüsterung eintritt – ein Ideal auch das, aber ein dunkles.
Auf dem Narrenschiff geht es zu wie gleich nebenan. Wie geht es zu, dass nichts davon in meine vier Wände vordringt? Dabei hallen sie wider von den Taten und Merksprüchen der anderen, gäben die Wände davon Kenntnis, sie wären bespritzt mit dem Lebenssaft der anderen, die nichts davon wissen. Und wenn sie es wüssten? Sie hielten das, was sie zu sehen bekämen, für Tomate, denn sie treiben es um keinen Deut anders. Deshalb ist das Narrenschiff, wie die Philosophin (Hannah Arendt) weise bemerkt, ein literarischer Grobianismus. Aber ein tüchtiger, nicht totzukriegen, in den Jungbrunnen gefallen, als handle es sich um kräftigenden Kakao. Seit die Gesinnungen im Netz randalieren, sind die Wände gefallen und alle Mann an Deck. Wer will, dem schwirren die Ohren von den Hassreden seiner Mitwelt, dabei sind es nur Bannsprüche von Leuten, die ihr Lebensschiffchen auf Kurs halten wollen, ohne sich von Bord zu bewegen.
Der geheimste Zug ist der Narrenzug, der durch alles hindurchgeht, was laufen kann. Er ist so geheim, dass ihn jeder entziffern kann, der es darauf anlegt. Das freut alle Anleger und ärgert die Laufkundschaft, die nicht begreift, warum sie nicht von der Stelle kommt. Warum bleibt das Offenbare verborgen? Weil es unnütz wäre, sich darüber das Maul zu zerreißen? Das kann nicht sein, denn es geschieht laufend. Was einer weiß, bleibt immer ein Geheimnis, und das hier weiß jeder.
Das Wort stammt aus Taschkent. Zur Überraschung fast aller Forscher
dieser Einöden war das Gastgeschenk aller Jurten der Tragöder
Gebiete südlich des Lub-shuk eine Brezel. Sie war von der Größe der
üblichen Satteltaschen aus Kushmar, einem Strohgeflecht. Die
zögernden Besucher aus dem Westen forderte man durch den Zuruf
»Naschen, Naschen« auf , davon zu kosten. Brach dann der Gast ein
Stück ab, war die Freude groß. Grabbeau, der die Gegend in
seinem Geiste mehrfach
befahren hat, erkannte das trunkene Glück dieses zauberhaften
Gebäcks und schrieb darüber in den Vorstudien zum Alphazet: »Schon im ersten Traum war der
Abstand zu der geheimnisvollen Brezel zwar sehr gering, aber ich
wagte es nicht, davon abzubrechen. Erst Wochen später, im zweiten
Traum, griff ich mit vergoldeten Fingerspitzen danach, brach ein
Stück ab und aß.
Nie zuvor, und auch später nicht, ward ich vom Urgefühl endloser
Steppen und seiner Bewohner, im Sinne der fernsten Vergangenheit
aller Menschen, so erfüllt und einfältig berauscht wie nach diesem
Traum. ›Weite...Weite‹ rief ich, als ich erwachte, und noch lange
danach sah ich vor mir Lucy mit ihrem Hund über eine sandige Anhöhe
wandern, und das selbst in Norderney und einmal bei
Gütersloh.« - PM
Man kann aus jeder Form der Rasur ein Ritual machen, jedenfalls ein
kleines, wie aus all diesen alltäglichen Verrichtungen, deren
Aufwände man niemals addiert, weil einem beim bloßen Gedanken daran
schwindlig wird. Mit der Nassrasur hat es eine eigene Bewandtnis.
Sie ist ein Ritual, kein Zweifel, sie überdauert ausschließlich als
dieses Ritual, das heißt, sie verwandelt den Zweck der Übung, die
tägliche Herstellung der sozialen Maske, in einen Nebeneffekt. Es
darf einen nicht wundern, dass Nassrasierer ihre eigenen
Internetseiten betreiben, auf denen sie sich gegenseitig ebenso
über die neuesten Accessoires informieren wie über die Literatur,
aus der sie sich Aufschlüsse über ein Tun erhoffen, die sie in
ihrer eigenen Psyche nicht finden. Die Nassrasur fordert zu
Deutungen heraus und ist auf sie angewiesen, weil sie über einen
Status verfügt, den es zu verteidigen gilt. Sie teilt dieses
Schicksal mit der Literatur, die zwar Deutungen vorschlägt, aber
sie mit derselben Vehemenz zurücknimmt, sobald sie ihrer ansichtig
wird. Die Ethik der Nassrasur, einmal in die Literatur eingeführt,
verlangt nichts weiter als das allmorgendliche Beiseitebringen der
Gedanken und Wörter. Dass es zu letzterem nichts weiter braucht als
ein gut gebautes ABC, ist das Glück der Wörter. Aber auch die
Gedanken könnten sich damit anfreunden, auf diese Weise entsorgt zu
werden.
Sie bieten schon einen seltsamen Anblick, all diese Europäer in
ihren nebeneinander liegenden Waben, in ihrem unbändigen, dabei ein
wenig zaghaft gewordenen Stolz auf ihre Institutionen im Werden
und ihr Weiter-Sein, mit den gleichen Fragen und Phrasen befasst,
unter denen die wichtigsten nicht einmal dazu taugen, auf eigene
Faust traktiert zu werden, abgesehen davon, dass es gerade die
Faust ist, die nach Größerem strebt. Was in Europa Nation hieß, ist
mit dem Machtanspruch der Staaten dahingegangen. Was zurückblieb,
ist die Sehnsucht nach einem größeren Machtgebilde, Europa, in dem
man noch einmal an den Drücker gelangen könnte. Der größte Stolz
auf die eigene ›Kultur‹ erhofft sich den größten Einfluss. Soviel
Sprachen, soviel dahingegangene Nationen, soviel Nationanwärter.
Einstweilen bedient man sich der Lingua franca so, wie man sich
eines Kotzbeutels bedienen würde, sollte das Bad sich im Umbau
befinden. Wenn die letzte Fliese verlegt ist, dann ist auch die
Zeit gekommen... Aber welche? Welche Zeit erhoffen die europäischen
Eliten sich außer der des Provisoriums? Die Arbeit an einem Staat,
wie ihn die Erde noch nicht sah, dauert erfahrungsgemäß lang, sie
hat etwas Unerschöpfliches. Aber: Ist sie auch wichtig? Und wenn
schon: In welchem Sinn? Und zu welchem Ende? Die Nation Europa
jedenfalls, sie scheint dahingegangen zu sein, bevor sie da sein
konnte, ein imaginärer Geburtshelfer des Gedankens, dass da keine
Nation mehr kommen wird, keine Nation aus Nationen und keine Nation
nach den Nationen. Demgemäß haben die Europäer gelernt, über ihre
Staatlichkeit zu raunen oder zu lachen, aber nicht als Franzosen,
Belgier, Italiener oder Deutsche, sondern als Europäer, als
Nutznießer des freien Verkehrs. Das ist noch nichts Besonderes,
schließlich ist Europa ein Lernprozess. Er saugt die historischen
Überschüsse ab, die sich in den Staaten gebildet haben und ihnen
den Gedanken verbieten, sie seien genau das, was sie heute jeder
für sich sind, nicht mehr, nicht weniger. Sie übertreiben die
Gefahr, die noch von ihnen ausgeht, um ihr Modell zu preisen, von
Ewigkeit zu Ewigkeit – und ein wenig dazwischen.
Man hat an der Negativen Dialektik einseitig den Negativismus
hervorgehoben und in ihm den Ausdruck einer speziellen Idiosykrasie
sehen wollen. Dabei ist er das beinahe anonyme Kennzeichen eines
Modernismus, den sie nur nirgends in Frage stellt. Das besondere
›Anliegen‹ dieser Theorie winkt aus ihrem angeblich schwächsten
Punkt: dem Bedenken des vielgestaltigen ›Umschlags‹ von Vernunft in
Natur. Was hier Vernunft, was Natur heißt, bleibt nicht schillernd,
sondern aus Gründen unterbestimmt, weil es die ganze Tradition des
aufklärerischen Denkens aufnehmen soll. Aber der Absturz der
›reinen‹ Konstruktion ins Unvernünftige, ins Weg- und Bodenlose
einer zerstörerischen Gegenwart war gesehen, er ist das Faktum des
langen zwanzigsten Jahrhunderts, das manche ›kurz‹ nennen, weil sie
es los sein wollen. Das sollten auch die ›radikalen‹, die
gemäßigten und die naiven Konstruktivisten nicht vergessen – eine
etwas altväterliche Ermahnung, die insofern unnötig ist, als
Gedächtnislosigkeit, wie bekannt, zu ihren besonderen Tugenden
zählt.
Das Geheimnis der Menschheit ist der Neanderthaler. Kaum etwas hat sie nachhaltiger geprägt als jene Phase, von der die 1,5 Prozent genetischen Erbes Kunde geben, ohne zu verraten, wie genau es dabei zuging. Der Neanderthaler, sagt man, geht dem homo sapiens voraus. Aber zu jener Zeit, in jenem vorgeschichtlichen Loch, teilen sie ein und dieselbe Landschaft, die gleichen Feinde, dieselben Lebensgrundlagen sowie – siehe die 1,5 Prozent – dieselben Lüste und Begehrlichkeiten. Sie teilen sie, wie man das tägliche Brot teilt, unter den Augen des anderen, zustimmend, konkurrierend, feindselig, aber immer im Hinblick auf jenen anderen, nach Maßgabe seiner Handlungen oder Nichthandlungen, seiner geballten Präsenz oder punktuellen Ohnmacht. Ist ihr Verhältnis offen? Verbergen sie sich voreinander? Gibt es ein durchgehendes Übergewicht einer Seite? Oder ist alles Kampf und Spiel und Zufall? Diese Parallel-Existenz der Menschenähnlichen, der Menschen mit abgewandter Seite, andersartigem Gedankenfluss, verschiedenem Geschick und Bedarf, mit unterschiedlichen Göttern (wenn dergleichen in diesen Schädeln Platz hat) dauert entwicklungsgeschichtlich nur einen Moment, jedoch lang genug, um einen planetarischen Abgang zu umfassen, der womöglich einem Aufblühen gleicht, bis die Herausforderung zu groß wird, sich vielleicht einer Krankheit, einer genetischen Störung, einer fatalen Veränderung der Ernährungsgrundlage oder einer waffentechnischen Neuerung, vielleicht der erfolgreichen Implantierung der Ideologie des Bösen auf der Verfolgerseite, einem systematischen Fortschritt im Denken verdankt. Durchaus denkbar, dass ein Entwicklungssprung ihnen den Garaus macht, weil er die Gegenseite zwingt (oder, was praktisch auf dasselbe hinausläuft, in Versuchung führt) sie auszulöschen. Durchaus denkbar, dass man die letzten Neanderthaler in Käfigen hält oder in Lagern verkümmern lässt oder als Maschinen bei groben Arbeiten einsetzt oder in Gladiatorenkämpfen verheizt – das alles, ohne den Gedanken des Aussterbens überhaupt denken zu können. – Die unfassbare Primitivität des Siegers, den man besser Nutznießer nennen sollte, gibt nicht zu denken, sie regiert vielmehr das Denken, sie verschmilzt mit ihm bis zu einem Grad, auf dem jeder Zugewinn an Gewitztheit und ›Mitteln‹ als evolutionärer Sieg über den Rest der Menschheit, über die ›andere Seite‹ betrachtet und ausgemünzt wird – was nichts weiter heißt, als dass man die anderen unbekümmert als Wesen taxiert, die in der Vergangenheit leben, also Vergangene sind, ohne es zu wissen oder zu ahnen. Die Herren der Gegenwart haben sich der Zukunft bemächtigt und rücken sie nicht mehr heraus. Verläuft sich die Herrschaft, so zersplittert die Zukunft in ungleiche Teile, in Zukünfte, teils gewollte, teils ungewollte, und es herrscht Krieg.
Barsch werden die meisten, weil die Stellung es ihnen erlaubt. ›Barschsein mit Abhängigen‹ fällt unter die Todsünden mit oder ohne Gott. Sie findet sich nur deshalb nicht im offiziellen Katalog, weil seine Fortschreiber unter dem gleichen Syndrom leiden. Nicht so der Nebenbarsch. Er ist barsch von Natur, also zu seinesgleichen, daran erkennt man ihn leicht. »Sei nicht so barsch«, begütigt ihn seine Frau, daraus ersieht man bereits, dass seine Natur männlich geprägt ist. (Frauen hingegen können barsch sein, sie sparen sich, was bei Männern unwillkürlich zum Vorschein kommt, für eine passende Gelegenheit auf.) Dem Nebenbarsch ist die Einrede schnuppe, keiner hält ihn zurück, sobald die Natur ihren Tribut fordert. Vielleicht gefällt ihm die Anerkennung, die ihm so widerfährt, und seine Miene heitert sich kurzfristig auf. Insgesamt bedeutet Barschsein, in puncto Anerkennung wählerisch zu sein – ein bisschen zu sehr, ein bisschen ins Ungebührliche hinein, so dass die Sache nach Verweigerung riecht und die Umgebung nach Luft schnappt. Wer barsch ist, findet im Grunde seiner Seele, sein Gegenüber müsse sich erst beweisen. Die meisten Menschen verstehen nichts von Beweisen, daher bleibt er in der Regel unverstanden zurück: »Was habt ihr denn?« Der Barscheste hält, wenn die Schau vorbei ist, noch eine Ansprache, die in dem Satz gipfelt: »Ich liebe euch doch alle!« Es ist nicht der Satz, es ist der Ernst darin, der verstört. Da fliehen die Bilderbuch-Indianer, nur Winnetou, wäre er zur Stelle, hätte verstanden. Nein, geliebt werden hätte er nicht wollen.
Deshalb lieben wir das alles sichtbar machende Netz: es erinnert an die
Beipackzettel gewisser Medikamente, die einen Krankheit samt
Therapie vergessen machen, weil... nun, weil man vergisst, sobald
man ins Lesen gerät. Man vergisst den Anlass, den Grund, den
verfolgten Zweck, man hört auf, ein Verfolger zu sein, man hört
sogar auf, sich verfolgt zu fühlen... Das Nebeneinander
unterschiedlichster Adressen und Mitteilungen erzeugt im Lesenden
eine Ordnung, die nicht ganz von dieser Welt zu sein scheint,
obwohl sie so selbstverständlich aus ihr hervorwächst. Diese
Ordnung ist nicht gestellt, aber sie stellt sich ein. Warum? Weil
der Mensch ein intelligentes Wesen...? Das ist etwas allgemein
gesprochen, aber es trifft den Sachverhalt. Man gebe den Menschen
alles zu lesen und sie finden sich schon zurecht. Es gibt kein
Nebeneinander. Das kommt ihnen paradox vor und sie tun alles, um
diese einfache Weisheit vor sich und den anderen abzudunkeln, aber
es ist die Wahrheit und sie setzt sich durch, so wie sie sich immer
durchsetzt: hinterrücks, ruckelnd, seitenverkehrt, überhaupt
verkehrt, damit den Zurechtrückern die Arbeit nicht ausgeht und die
Didaxe blüht. – Du hast gut reden, sagt die Kröte zum Walfisch, und
wenn sich nichts einstellt? Dann war es ein Test und alle guten
Leute gehen nach Hause.
Die Karriere des Neinsagers entscheidet sich an drei Buchstaben. Warum an dreien? Nun, das entscheidet jede Sprache anders. Nach einem bekannten Wort muss, wer hinausgeht, auch wieder hereinkommen, besonders in zivilisierteren Gegenden, in denen es zwecklos wäre, draußen zu bleiben, jedenfalls für längere Zeit, da sich alles Wichtige innen abspielt. Das Zurückkommen als dritter Akt ist der eigentlich Spannende, auf ihn ist alles gerüstet. »Nein« sagt es sich leicht, leichter als »Ja«, weil die Verpflichtung entfällt, auf die alle scharf sind. So ein Nein ist, recht betrachtet, nichts weiter als die aufgeschobene Verpflichtung, mit der einer Zeit schindet, die er sonst nicht bekommt. Geschundene Zeit zählt in der Regel doppelt, zum Beispiel vergeht sie doppelt so schnell oder doppelt so langsam, soll heißen, sie besitzt kein inneres Maß außer dem der Anspannung. ›Ja sicher‹ oder ›ja natürlich‹ lauten die Floskeln, mit denen der geborene Neinsager sich seinen Weg durch den Dschungel der Entscheidungen bahnt. Ja, sicher und natürlich, so sieht er sich selbst und so möchte er sein, dafür nimmt er Unsicherheiten in Kauf, vor denen andere zurückschrecken würden, deren geflüstertes ›Ja‹ im Gedränge immerfort unterzugehen droht, weil es sich scheinbar von selbst versteht. Ein Neinsager hat keine Zeit – außer der, die er sich nimmt. Deshalb nimmt er sich gerne Zeit, da der Bedarf niemals abreißt. Schließlich muss so einer nehmen, was kommt, wenig genug, wie ihm dünkt, nichts, was ein Ja rechtfertigen würde. Möglich, dass er zustimmt, aber bröckchenweise und ohne innere Überzeugung, er lässt es sich gerne abkaufen, denn er weiß, am Ende ist es nichts wert: nichts belangloser als ein aus der Zeit gefallenes Ja, mit dem ein großes Nein kurzen Prozess macht.
Der Nekrophilister ist der Feind des klassischen Nekrophilen, der sich in die Vergangenheit eingräbt, um der Gegenwart habhaft zu werden. Der Nekrophilister verlässt die Gegenwart nie, er will sie ›gestalten‹. Wer immer ihn dabei stört, den stürzt er ins Gestern. Die Vergangenheit gilt ihm nicht mehr als eine Jauchegrube. Wer hineinfällt, hat traditionsgemäß wenig Chancen, mit dem Leben davonzukommen.
Gut möglich, dass der Sieg des Neoliberalismus das Ende des
Liberalismus bedeutet: nicht, wie fleißige Kritiker vermuten,
aus Gründen der Markttyrannei, sondern auf Grund der Notwendigkeit,
ihm Halt und Struktur zu geben, ihm Grenzen einzuziehen, die keine
Grenzen im herkömmlichen Sinn sind, hinter denen andere Kräfte
herrschen, sondern Stellwände, auf denen die augenblicklich
geltenden Regeln des Spiels in Reklameschrift angeschrieben stehen.
Da das Spiel nicht unterbrochen werden darf, müssen kurze Aufblicke
genügen, um sich zu orientieren. Wenn Neoliberalismus bedeutet, die
eigene Haut zu Markte zu tragen, jederzeit und in vollem Umfang,
das heißt von vornherein sowie nach und nach, dann bedarf es eines
gut geschmierten Erziehungsstaates, der die Spieler daran hindert,
sich gleich auf den ersten Metern durch Übereifer aus dem Spiel zu
nehmen. Die liberale Trennung öffentlicher und privater
Zuständigkeiten wird durch die Verstaatlichung privater Belange
ebenso ausgehebelt wie durch die Privatisierung der öffentlichen
Aufgaben. Seltsamerweise geschieht das unter voller Zustimmung der
›Betroffenen‹. Die staatliche Bewirtschaftung der Gesundheit, was
immer mit ihr erreicht werden soll, ist dort, wo sie die
Bereitstellung passiver Instrumente überschreitet, Entmündigung:
das in aller Schärfe festzustellen wäre Aufgabe einer liberalen
Öffentlichkeit, die es nicht gibt. Wer, aus Gründen der
persönlichen Freiheit, die Institution der Ehe verweigert, läuft
rascher Gefahr, sich mit dem Staat zu verheiraten, als zu einer
befriedigenden Beziehung zu finden. Auch Homosexualität, lange ein
Ausweg, hilft da nicht weiter, allenfalls die gute alte Entsagung,
die keiner durchhält. An den auf Diät gesetzten Universitäten
besitzt ein Gedanke, der sich nicht verkaufen lässt, kein
Existenzrecht: so etwas durchzusetzen bedarf brachialer Mittel,
also des Staates. Die mediale Meute erzwingt die Regeln, der Staat
setzt sie durch und der Markt floriert, sofern die Hoffnung nicht
trügt – auf Kosten der Gesellschaft, des schütteren Absolutums, das
keine Mächte außer sich duldet und daher, Zuschauerin immer und
überall, zulassen muss, was in ihr geschieht.
Wir haben das Netz erfunden und es erfindet uns. Da gehen die
Besorger der Gegenwart hin und rütteln an den Stühlen der Zukunft,
um sich ihrer Stabilität zu versichern. Sie geben viel Geld aus, um
zu erfahren, wie es sich darauf sitzt und worauf man wird achten
müssen. Sie haben ein Auge geworfen und wünschen pünktlich
Erstattung. Das alles geschieht und es hat wenig Wert. Sie werden
Praxen erforscht haben, die obsolet sein werden.
Apropos Webforen und ‑blogs und ein gewisser darin herrschender
unsauberer Ton: Warum kann man den Eindruck nicht abschütteln, dass
man sich in einem anderen Milieu befindet, sobald man von, sagen
wir, englischsprachigen auf deutsch(sprachig)e Seiten wechselt?
Kein Scherz, keine generöse Geste lichtet diese Nebel, weit und
breit kein Geltenlassen, das nicht bemüht daherkäme und gleich
gelobt werden wollte, kaum einmal ein freundliches, ein
anerkennendes Wort, stattdessen dieses verbiesterte, ahnungs- und
syntaxlose Idiom, dieser Mix aus Denk- und Rechtschreibfehlern,
nicht zuletzt die unterschwellig allzu oft anwesende, sämtliche
Weltverhältnisse einbeziehende Nazi-Verdächtigerei und ihr
national-narzisstischer Widerpart, das meiste davon ohne
Sinn, ohne Verstand oder auch nur Anstand, dieser – sagen wir’s
ruhig – Geifer: das scheint alles ziemlich verbreitet zu sein und
erweckt einen Eindruck von Zeitgenossenschaft, den man sich als
Leser gerne erspart hätte. Aber warum? Man gäbe etwas darum, wenn
man sich täuschte.
Hier, im Netzraum, ist die Spannung beträchtlich. Woran das liegt?
Schwer zu sagen, selbst das Fragen ist schwierig, denn man bekommt
keine Antwort oder viel zu viele. Man weiß nicht, wer zusieht und
hinter welcher Brille, aus welcher Richtung und mit welchem Ziel.
Auch gibt es Grade der Intensität, die sich auf die Entfernung
nicht taxieren lassen. Man kennt die Mittel der Beeinflussung
nicht, aber man lässt sie sich gefallen. Man kann Umfragen
veranstalten, man kann den Leuten ins Haus kommen, gleichsam um den
schwarzen Kasten herum, und ihnen auf den Hintern starren, als sei
dies der Ort der Offenbarung, aber wenn sie sich endlich umdrehen
und geduldig den Katalog der einfältigen Fragen beantworten, den
ihnen die Wissensindustrie vorlegt, dann sind sie andere, mit
anderen Nerven, mit anderen Leidenschaften, mit anderen Gedanken,
mit anderen Einflusskanälen, und man erfährt nichts von dem, was
man wissen wollte. Das Netz ist autonom, solange es unter Strom
steht, vorher und nachher sieht man nur Sandkastenspiele. Das
Gesicht des Netzbenutzers ist verdeckt, selbst Sehschlitze sucht
man vergebens, gerade sie, denn dort fände man das Geheimnis, das
sich nicht preisgibt. Diese in Sauggeräte verwandelten Augen, die
nicht das Offene suchen oder ein Gegenüber, besitzen entfernte
Pendants auf den Autobahnen, Augen, die am Horizont kleben, doch
sie sind anders gerichtet, direkter, beweglicher,
informationsoffener, intelligenter, falls sich so etwas sagen
lässt. Der Blick ins Netz schaltet, anders als der Verkehr, die
Intelligenz nicht aus, sondern lässt sie pulsieren. Was da auf Zeit
entsteht, ist nicht die konvulsivische Schönheit, von der die
Surrealisten träumten, aber eine Art Schönheit ist es schon, eine,
die von den autoritativen Gewalten des Fernsehens oder des Kinos
niemals erzeugt wurde. Die Schönheit des Netzes liegt in der
Aktion, im Spiel zwischen Hand, Bildschirm und jener Lust auf
Neues, die unablässig treibt, sucht, fordert, und den flüchtigen
Elementen der puren Intelligenz auf andere Weise, aber ähnlich nahe
zu kommen vermag wie die – fast – vollständige Versenkung in einen
der Schlüsseltexte der Menschheit, von deren Existenz viele nichts
wissen und niemals wissen werden. Was ist das für eine Autonomie,
fragen sich viele, sie könnten auch fragen, welcher Teufel diese
Leute reitet, sie werden auf ihre Frage keine Antwort erhalten,
weil, wer so fragt, außerhalb steht – ähnlich einem Ästhetiker, der
sich vergeblich fragt, was denn das Schöne sei, das er nicht
empfindet. Als Werkzeug versieht das Netz seinen Dienst ohne
weiteres, wer nicht mehr darin sieht, wird auch nicht mehr
erfahren. Es ist nötig, dass Schönheit sei, aber es ist nicht
nötig, dass alle sie sehen. Wem ein Löschblatt genügt, was soll der
mit dem Original? Er würde nur versuchen, die anderen zu löschen.
Dem Leben ein Ende setzen: wie absurd! Wie unnötig! Wie fatal! Keiner kann hoffen, unversehrt aus dieser Operation herauszukommen und dennoch wird sie im Zeitalter der lebenserhaltenden Eingriffe von jedem verlangt... fast jedem, manchen bleibt es, aus kontigenten Gründen, erspart. Einige beginnen früh, sie üben noch, gerade sie nehmen alles genau und sind die ersten am Ziel. Wer hier stümpert, hat keine guten Karten, im Leben nicht und nicht danach. Was, du lebst noch? Reden wir von etwas anderem. Aber wovon? Was bleibt nach dem Scheitern in dieser Sache zu sagen? Was bleibt überhaupt zu sagen nach dieser Sache? Jeder glaubt zu wissen, was das ist: der Tod, und keiner kann sicher sein, dass sein Nachbar dasselbe darüber denkt wie er. Die vollmundigen Töner des Nichts bleibt sind die Verdächtigsten: irgendein Hintertürchen hält sich jeder von ihnen offen. Dieses Nichts ist nicht denkbar. Viele denken dorthin, aber sie kommen nicht an, der Gegendruck ist zu stark. Mancher hofft einzuschlafen, um endlich aufzuwachen, richtig aufzuwachen nach all den schlaffen Versuchen. Andere erwarten sich einen langen Schlaf und unterhaltsame Träume. Wer hofft, ist noch nicht am Ende, selbst wenn er es eilig herbeiführt. Wenige glauben ans Totengericht, die Leute fürchten es nur. Am nächsten kommt dem Nichts bleibt die offene, unverstellte Neugier, die sich selbst als Hindernis für das Neue sieht und den Störfaktor auszuschalten trachtet. Gerade sie... gerade sie... hat sich präpariert und ist bereit für die Reise. Was sagt uns das? Vorderhand nichts. Doch darunter brodelt es.
Das Prinzip heißt: maximaler Widerstand bei maximaler Anpassung. Man will dabeisein, man besteht auf kleinen Änderungen, die sich zu nichts summieren, aber in der Praxis alles verderben. Nur so kann der unsichtbaren Instanz Genüge getan wird, in deren Namen man sich auf das Spiel der anderen einlässt. Welcher Instanz? Wer sagt mir, dass nicht die anderen das Spiel spielen, so wie es gespielt werden muss? Dass ich also das Spiel unterbreche, wenn ich sie unterbreche? Genau besehen niemand, doch das ficht die Instanz nicht an. Wenn ich die anderen unterbreche, indem ich mich weigere, ihr Spiel zu spielen, dann beginnt ein neues Spiel. Gleichgültig, ob die anderen es bereits kennen oder nicht: jetzt bin ich Spielführer und die anderen haben sich nach mir zu richten. Wollte ich das? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Im Grunde ist es mir gleichgültig. Diesmal bin ich im Spiel. Wenn aber auch dieses Spiel unterbrochen wird, wenn es unterbrochen werden muss, weil ein neuer Teilnehmer aufkreuzt, dann stört das meine Bahnen beträchtlich. Vielleicht gewinne ich einen Verbündeten. Ausgeschlossen wäre es nicht, aber das Risiko ist hoch, vermutlich gewinne ich keinen Verbündeten, vielleicht sogar einen Gegner, in der Regel gewinne ich nichts. Was ich verliere, haben die anderen, wie ich annehme, bereits vergessen: dass, was gerade gespielt wird, mein Spiel ist und es soeben gestört und durch ein anderes ersetzt wird. Ich besitze also Verbündete, zumindest dem Grundsatz nach, weil mein Spiel gerade ihr Spiel ist und sie genauso verlieren wie ich. Einige unter ihnen mögen ein langes Gedächtnis haben und zufrieden sein, dass jetzt mein Spiel zerstört wird wie früher ihres. Aber das ist gleichgültig, weil es den einen wie den anderen und mir selbst ergeht: unfähig, die neue Situation zu verhindern – sie besteht ja bereits und ist durch kein Aufbäumen mehr zu beseitigen –, müssen sie über sich ergehen lassen, was jetzt geschieht. So werden sie tückischer und kraftloser, je häufiger ein Spieler eingewechselt wird oder den Kreis der Spieler vergrößert. Bleibt die unsichtbare Instanz. Der Neue ist nicht er selbst. Er ist es nicht mehr und noch nicht. Die unsichtbare Instanz tritt für ihn ein, sie lässt ihn Dinge tun, die ihm vorher und nachher völlig fremd sind. Auf der Schwelle und nur auf ihr erscheint er sich und den anderen als Fremdling. Seltsamerweise prägt sich diese Erscheinung ein. Sie bleibt erhalten, man kann bei Gelegenheit auf sie zurückgreifen, auch wenn längst nach anderen Regeln gespielt wird und der Betreffende höchstens merkwürdig findet, dass seine Erinnerung streikt, sobald sie sich der Person nähert, die er zum Zeitpunkt seines Eintritts war oder doch gewesen sein muss, denn: einer muss schließlich auch er gewesen sein. Etwas hat ihn so und nicht anders gestellt. Es ist verschwunden, nicht spurlos, aber auch nicht auffindbar.
Wenn zwei um die Vorherrschaft rangeln, führt das ins K.o. oder sie
legen ihre Interessen zusammen und finden zu einem Ausgleich.
Gemeinsam besitzen sie ein natürliches Übergewicht gegen jeden, der
zu ihnen aufzuschließen versucht. So reicht es stets zur
Vernichtung des Dritten. Das ist, unter Machtgesichtspunkten, die
Geschichte. Von einem bestimmten Zeitpunkt an wächst die
Vernichtungskapazität unaufhörlich. Sie wechselt, besser:
verschiebt die Länderbasis, sie wird autark gegenüber Machtfaktoren
älteren Stils. Zur gegebenen Zeit ersteht ihr ein neuer Feind. Die
Auguren sind unschlüssig, ob er eine Projektion ist oder eine
Realität. Vermutlich ist er beides und mehr. Er ist innen und
außen, er ist ›auf dem Schirm‹ und gut verborgen. Es ist der
Gedanke der Herausforderung selbst. Er ist unangreifbar in dem
Maße, in dem er bloßer Gedanke ist. Dabei ist er mit Händen zu
greifen. Wo man ihn aus den Gedanken verbannt, wird er zum
Hintergedanken. Wo man den Hintergedanken verbannt, provoziert man
Gewalt. Man nennt sie schmutzig an Stelle der reinen Gewalt und
zeigt damit, wie ratlos man ist. Sie ist die Gestalt der
Ratlosigkeit, aufgerichtet gegen den Zustand der Welt.
Das Nichtsdenken ist unter den Menschen so
verbreitet, dass sie verschiedene Namen dafür erfunden haben. Die
einen nennen es Meditation, die anderen Abolition: Wo nichts zu holen
ist, hat der Teufel sein Recht verloren und macht die Fliege.
Auf diesen Effekt rechnen die Schlaumeier, die sich selbst zu den
Rechtgläubigen zählen. Wer nichts denkt, geht nicht fehl. Man muss
mit dem Denken rechtzeitig aufhören können. Doch da es immer weiter
denkt, empfiehlt es sich, einfach nichts zu denken. Das werden Sie
doch wohl hinkriegen, oder? Stellen Sie sich nicht so an! Was haben
Sie sich dabei gedacht? Nichts? Das könnte Ihnen so passen. Wirklich
lässt sich das Nichtsdenken so weit treiben, dass am Ende nichts
dabei herauskommt als das Geständnis, sich nichts dabei gedacht zu
haben. Wobei? Wer, glauben Sie, fiele darauf herein? Das Nichtsdenken
eröffnet das Gehege der Unterstellungen, bei denen keine Seite sich
etwas zu denken braucht, weil die Technik immer
dieselbe ist, auch wenn die Hilfsmittel variieren. Ein gut
trainierter Mensch weiß, wo es nichts weiter nachzudenken gibt, und
gibt seine Bestellung rechtzeitig auf. Mancher gibt darüber den
Geist auf, er wird eingezogen und irgendwo existiert ein Lager
eingezogener Geister; man stelle sich die langen Gesichter vor, zöge
dort einmal ein Schlauer ein, der sich nichts dabei denkt.
Wer nichts hält, was hält denn der? So fragen die Leute und setzen
dabei einen dümmlichen Gesichtsausdruck auf, als verstünden sie nicht, was
das soll. Platzhalter kennt jeder, aber Nichtshalter –? In Wirklichkeit… Nun, in Wirklichkeit
verstehen sie nur zu gut – sie formen ihre Hände, als trügen sie, dabei tragen sie
nichts. Fast alles, was sie festhalten wollen, entzieht sich ihrem Zugriff und
sie halten nichts in Händen, aber es geht auch mit dem Gemüt. Selbst die
Seele, die berühmte Seele, enthält meistenteils nichts, wo sie doch
Halt bieten sollte, Halt in entseelter Zeit, in beseelter sowieso. Vom Haltbieter
zum Nichtshalter ist nur ein kleiner Schritt. Viele gehen ihn und sie merken
nichts, weil nicht sie es sind, die ihn gehen, sondern die Abkömmlinge der Leere, die sie auch
sind und die sie treibt. Nichts zum Beispiel hielte den Nichtshalter davon ab, sich des
nächstbesten Gegenstands zu bemächtigen. Aber er ist dagegen. Es wäre zu
einfach. »Was halten Sie davon?« fragt ihn seine Umgebung. Bedächtig wiegt er
das Haupt und antwortet: »Nichts.« Nichts hält er, der Gute, es rasselt alles
durch ihn hindurch und verschwindet dorthin, wo alles verschwindet: ins Nichts.
Im Nichts des Menschen lagern die erstaunlichsten Aufschlüsse. Wer den Code
knackt, vor dem breitet sich das Leben der Gattung aus wie eine Horrorshow mit
verdecktem Ausgang. Das Nichts gibt den Halt, den der Nichtshalter nicht zu
gewähren vermag. So sind die inneren Organe für ihren Besitzer nichts, solange
sie nicht ihren Dienst quittieren.
Die Überbewertung der äußeren Organe endet an ihrer Oberfläche. Nichts oder
wenig mehr als nichts hält der Nichtshalter auch von denen der anderen, es sei
denn, jemand würde ihm seine Arbeitskraft leihen oder ihn triebe ein sexuelles
Begehren um. Wenig bekannt sind ihm die Organe der Gesellschaft und er meidet
den Kontakt mit ihnen nach Kräften. Bloß falls seine Kräfte versagen, vertraut
er blind darauf, dass sie pünktlich zur Stelle sind, jedenfalls der Teil, von
dem er sich Unterstützung verspricht. Von allen anderen hält er nach wie vor –
nichts. Nichts hält er auch von den rettenden Organen, sobald er sich wieder
in Sicherheit wiegt. Das ginge noch an, schwiege er nur darüber. Stattdessen
regt er sich auf, um zu zeigen, dass er doch etwas von ihnen hält, nur
eben so gut wie nichts. Am ›so gut wie‹ erkennt man die Nichtshalter, mit ihm
reden sie sich heraus, wenn sie Betroffenheit mimen müssen. Sagt ein anderer:
»Das ist mein Land«, sagt so einer: »Das müsste ich wissen« und geht seiner Wege.
Für die alten Europäer, sagt Anke, die schlanke, war die Seelenwanderung der Buddhisten eine willkommene Brücke, um sich aus dem christlichen Jenseits davonzustehlen. Nach allerlei aufgeklärter Aufklärerei standen sie vor dem Nichts und konnten sich nicht entscheiden: Zulassen oder bekämpfen? Hände in den Schoß oder Hals über Kopf? Die Seelenwanderung bot den dringend benötigten Aufschub. Wir müssen erst besser werden, dann kommen wir überall hin, selbst ins Nirwana. Dorthin zu gelangen ist schwer, fast so schwer wie ins verlorene Paradies, und wir, wir müssen noch über alle Berge. So wurde, was bereits auf der Schwelle stand, rasch auf den St. Nimmerleinstag verschoben, vermutlich zu seiner nicht geringen Verwunderung, doch ist von dieser Seite naturgemäß so gut wie nichts in Erfahrung zu bringen. Die moderne Wissenschaft, wer wüsste das nicht, entspringt der Angst vor dem Nichts, einer unbegründeten, in tiefen Individualnöten wurzelnden Angst übrigens, aber, mein Gott ja, warum nicht. Vor dem Nichts stehen heißt einen neuen Anfang suchen, viele machen auf diese Weise ihr Glück, meistens bleibt es bei Nachbars Häme. Homo homini's nobody, der Mensch schenkt dem Nachbarn nichts, warum sollte er auch? Auf diese Weise kommt das Nichts praktisch unter die Leute. Aus dem Negator, sagen die Leute, wird ein... ja was denn? ... ein Negator, so wie aus der Menschmaschine am Ende ein Maschinenmensch wird. Die Wissenschaft, also der Aufschub, nein, die Form des Aufschubs, die fortwährend neue Inhalte hervorzaubert, steht, wie man liest, im Dienst der Menschheit, die sich ihrer bedient, vor allem, wenn sie das Geld dazu hat und die Renditevorstellungen stimmen. Vor dem Nichts stehen heißt die Wahrheit zur Arbeit zwingen. Und siehe: sie macht es gern. Übrigens müssen wir alle arbeiten. Das sollte es ihr erleichtern. Man steht nur kurzzeitig vor dem Nichts, anschließend folgt es einem überallhin nach. Fast wie ein Hund.
Anke, die schlanke, weiß, wovon sie redet. Eben noch stand sie vor dem Nichts, jetzt, mit einem neuen Lover im Hintergrund, sieht alle Welt: es geht ihr blendend.
Wissen Sie, wir sind niemand, denn wir haben Geist. Sie werden fragen: Wo zum
Teufel haben Sie den denn her? Dürfen Sie, dürfen Sie. Komische Sache: Er ist
uns zugelaufen. Drolliges Kerlchen, war plötzlich da. Wir haben natürlich
gedacht: Lasst uns den zurückbringen! Aber wohin? Das ist nicht so einfach.
Nichts zu machen! Das Kerlchen blieb. Und gedeiht. Sehen Sie selbst. Nein,
lassen Sie’s, lassen Sie’s. Im Grunde geht es Sie auch nichts an. Es geht
niemanden etwas an, wissen Sie. Geist weht im Verborgenen, sagt man, und es ist
was dran. Niemand weiß Bescheid, sagen Sie’s niemand. Schon die Sache mit dem
Wehen: Kommen Sie, ein Jux, aber nicht auf unsere Kosten. Nicht auf unsere
Kosten! Fragen Sie Geist – das Kerlchen bellt Ihnen was. Ja, es verbellt, was
ihm nicht passt. Und was passt ihm schon. Ein Vorleben, sehen Sie, ein
Vorleben hat das Kerlchen, das muss man ihm lassen. Wo immer es herkommt! Wo
wird es schon herkommen, sagen Sie, und da ist was dran. Wo wird es schon
herkommen, sagen wir, aber aufgepasst: Die Frage, sooft wir sie stellen, bleibt
nie dieselbe. Manchmal ändert sich nur der Klang. Rostiger Türflügel heute,
sagen wir, wie macht sie das? Und schwups... Aber ich langweile Sie. Warum?
Fragen über Fragen. Dabei frage ich mich: Warum wir? Was bezweckt das Kerlchen?
Was hat es vor? Plant es den Untergang? Als ob das lohnte. Ich sage immer:
Wir haben den Untergang hinter uns. Aber das stimmt nicht. Wir sind Untergeher.
Wir haben das im Blut, wir müssen untergehen, immerzu untergehen, anders geht es
nicht. Wir haben uns die Welt so eingerichtet, dass alle sagen: Seht ihr nicht,
dass ihr untergeht? Wollt ihr nichts dagegen tun? Und wir? Haben wir etwas
dagegen? Teils – teils: im Großen und Ganzen bringt ein Untergang große
Vorteile. Ansonsten bedeutet er nichts, denn er trifft niemanden. Niemand geht
unter, wenn wir untergehen. Kein Wir, kein Untergang. Kerlchen kommt da wie
gerufen. Wann geht er wieder?
Diesen Philosophen haben wir geliebt wie keinen anderen und jetzt gehen wir und
schließen die Bücher. Warum? Woher der plötzliche Überdruss? Hat er, nach so
vielen Exerzitien und Exuberanzen der nachfreudianischen Seele, auf einmal nicht
mehr recht? Denn dass dieser Drachentöter und Drachenerzeuger, der Chronologie zum Trotz, nach Freud kam, das ist mit Händen zu greifen und nicht bezweifelbar. Sind wir also weiter?
Wir? Welch komische Instanz drängt sich da zwischen den Einzelnen und seine
Lektüre? Aber nein, so ist es nicht. Wie dann? Sie drängt nicht, jene
Instanz, sie hat Zeit, sie lässt Zeit, sie hat alle Zeit der Welt. Sie gibt dem, der noch lesen muss, zu verstehen:
Nimm dir die Zeit, die du brauchst. Es hat keine Eile. Wie armselig wäre Lektüre, wenn sie
die Zeit kassierte, statt sie zu schenken! Dieser da war ein Gedrängter und Dränger, ein Wortführer des Nichts-Als –: was aus ihm hervorkam, hervorquoll, hervortrieb,
war der Geist des kommenden Jahrhunderts, das jetzt vorbei ist, aus und vorbei. In den
Sechzigern schrieb einer der Auguren: Nietzsche steht uns noch bevor. Der eine oder
andere hatte es befürchtet. Noch einmal Nietzsche und kein Ende. Hier war der Geist aus der Flasche, mächtig und
ungreifbar, dabei folgsam aufs Wort. Und wortgläubig musste einer sein, wollte
er ihm folgen, auch wortklauberisch, wenngleich in immer neu sich entrollenden
Grenzen: ein Natterngezücht, diese Nietzscheaner, seine Lehre ein Hütchenspiel,
seine Heiligsprechung ein lustvoll erneuertes Sakrileg. Wer heute ›Spaß hat‹,
ist schon Nietzscheaner. Das muss nicht sein. Man schlägt ihn auf und sagt sich:
Alles falsch! Nietzscheanismus ist jetzt die Kunst, selbst das Richtige
falsch zu sagen.
Ich habe mir ein kleines No-go zugelegt und ich muss sagen, es
fährt sich gut. Damit will ich jetzt nicht behaupten, seine
Konstruktion wäre über alle Zweifel erhaben. Aber ich komme damit überall
hin und das zählt. Und ich komme überall durch: ein winziger,
allerdings gewichtiger Unterschied. Wo andere im Stau stehen, setze
ich einen drauf und bin schon weg. Das mag jetzt unsozial klingen,
aber im Verkehr gelten nun einmal andere Maßstäbe. Und wir haben
hier viel Verkehr. Fragen Sie mich nicht, mit welchen Leuten! Sie
haben es gut, Sie wohnen weit ab vom Schuss. Nicht dass ich mit Ihnen
tauschen wollte, das nicht, doch dann und wann beneide ich Sie um
Ihre himmlische Abgeschiedenheit. Bei uns strömt alles zusammen, was
Beine hat. Leider sind nicht viele Köpfe darunter, jedenfalls habe
ich noch keinen gefunden, für den es sich lohnte, die Mütze vom
Kopf zu ziehen. Ich sage mir immer: Du und dein No-go, auf euch kann
man sich verlassen, auf niemanden sonst. Wie es aussieht, fragen Sie
mich? Gott! Wie so ein Ding eben aussieht. Auf äußere Werte
angelegt ist es nicht. Aber es funktioniert. Schlichte Technik im
Grunde, das Ganze erinnert schon sehr an die Roller der Kindheit,
doch ein Trick ist dabei, den einen keiner verrät und den man nicht
so schnell herausbekommt. Ich jedenfalls beiße da auf Granit. »Nicht
mit mir!« So ein Sprachspiel wirkt besser als jedes Verständnis.
Sie wissen doch, was ein Sesam-öffne-dich ist: Du spitzt die Lippen
und die Sache klappt, was will ein Ignorant wie ich mehr? Woher man
die Dinger bekommt? Gehen Sie ins Netz, tippen Sie ›No-go‹ und
der Rest ergibt sich ganz von alleine. Übrigens existieren, wenn ich
recht informiert bin, zwei Modelle auf dem Markt, das Nicht-mit-mir
und das Geht-gar-nicht. Welches Sie nehmen sollen? Also das ist jetzt
Geschmackssache, irgendwo trägt doch jeder ein bisschen
Verantwortung. Man kann nicht alles delegieren. Aber passen Sie auf,
bevor Sie losbrummen: Wie überall im Leben kommt es auf die Balance
an und die will gelernt sein. Bleiben Sie entspannt!
(Der Ursprung des germanischen Namens Notger ist hier zu suchen.)
Notgerten verteilten die Vorfahren der Sozialbesitzer, graublütige
Zwerge aus dem Rautengau, etwa zur gleichen Zeit, als im römischen
Castrop-Rauxel Papiergeld ausgepeitscht wurde. Die Szene
ist bei Homomaris auf einer silbernen
Münze festgehalten. Sie war der keltischen Göttin Sirona geweiht.
Man kennt heute indessen nur noch die gleiche Münze ohne die Gerte.
Auf Befragen im Auftrage der ›Alphazet-Vereinigung gläubiger Kenner
denkender Buchstaben‹ sagte der Künstler: »Die Gerte war mir damals
nur einmal ganz kurz bekannt geworden, später vergaß ich sie
mitsamt dem Heer graublütiger Zwerge als Sozialbesitzer. Hätte ich
sie noch weiter gekannt, so wäre ich wohl auch auf die Idee
gekommen, mich in Zeiten der Not der Gerte zu bedienen und
schließlich sogar aus einer zweiten Münze Nutzen zu ziehen. So aber
habe ich nie wieder eine Münze gemacht, bin aber auch nie wieder in
Träumen von Geldbesitz und Wohlstand von ihr heimgesucht worden
(siehe Homomaris: Geständnisse
eines verarmten Adlers). - PM
Dass die Schmierigen, Gierigen den Planeten beherrschen, ist weniger bemerkenswert als der Umstand, dass niemand es ihnen verwehrt: wo immer ein Einspruch sich bildet, schimmert alsbald die traurige Wahrheit durch, dass man sie überall braucht. Aber warum traurig? Die Wahrheit ist lustig wie die Tiroler, sie steigt morgens ins Unwegsame auf und bettet sich abends unter Schalmeienklang, doch das ist vielleicht nur ein Vorurteil. Die Wahrheit über die Wahrheit will keiner wissen, bloß die Schlaumeier behaupten keck, es gebe sie nicht und das sei die Wahrheit. Die Wahrheit ist, wie der Lappen, auf dem sie gedruckt steht, ein Notbehelf, der verdeckt, dass den Menschen nicht zu trauen ist. Deshalb gewinnt, wer sich traut, als trauten ihm alle, jedenfalls meistens.
Wir wollen die Welt nicht benoten. Wir wollen auch nicht benotet werden und da entsteht das Dilemma. Denn die da benoten und nicht benotet werden wollen, weil sie in allem die Bestnoten verdienen, wissen genau, was sie von denen zu halten haben, die sich der Benotung verweigern. Also erfinden sie immer neue Benotungssysteme, nicht zu reden von neuen Benotungs-Anlässen, um denen, die da nicht benotet werden wollen, weil sie schon wissen, was sie von denen, die da benoten, zu halten haben, das Leben schwer zu machen. Denn das wollen sie ja: leben. Die anderen wollen das auch und so erklärt sich das Durcheinander. So ist es gut, wenn alle, die da benoten, keine Vergangenheit haben, und alle, die da nicht benotet werden wollen, eine haben. Die da benoten, können sagen, sie hätten nichts zu verbergen, die anderen müssen es. Wer nichts zu verbergen hat, kann nichts dagegen haben, benotet zu werden, er sehnt es förmlich herbei, denn er ist neu auf der Welt und wüscht sein Lebensgefühl befestigt zu wissen. Also sind alle glühende Anhänger eines Notensystems, das sie insgeheim ablehnen. Was heißt schon ablehnen: sie scheuen sich nicht, es für gezinkt, unwürdig, ungerecht und überdies veraltet zu erklären, sofern es nicht das gewünschte Resultat zeigt. Da ist es am besten, wenn alle sich auf eine Vergangenheit einigen. Man weiß, was man an ihr hat und pfeift auf die Noten.
Ein Land, in Freiheit gesetzt, findet zu sich selbst, indem es sich in zwei Populationen teilt: das ist der einfache, der Glücksfall, unter dem nichts geht. Zwei Identitäten, damit lässt sich leben, das entspricht den zwei Seelen in einer Brust: »Ich bin ein Xler und ich bin es auch. Bitte das nicht zu vergessen.« Und wenn der andere es vergäße? Gut, der andere bin auch ich, wir werden uns einigen. Schon aus gemeinsamer Not werden wir uns einigen. Alles, was in Gemeinschaft geschieht, geschieht um einer Not willen. Aber wenn einer der beiden glaubt, das große Los gezogen zu haben, wenn er dem Goldrausch verfällt, weil ihm ein Angebot unterbreitet wurde, dem er ›beim besten Willen‹ nicht widerstehen kann, dann, ja dann verwandelt sich das Glück der Zweiheit in den härtesten aller Fälle, gK++, die große Konfrontation. Warum den Reibach nicht teilen? Gute Frage. So gestellt, übergeht sie die Kleinigkeit, dass die verschiedenen Identitäten sich gerade über dem Punkt finden und einander verlieren. Warum teilen, was nur einem gehört? Warum teilen, was der andere, aus den oder jenen Gründen, nicht will? Solche Gründe sind immer dem Zufall geschuldet und der historischen Notwendigkeit, die doch nichts anderes meint als den tiefen Zufall, der gerade jetzt, an Ort und Stelle, dafür sorgt, dass sich nichts bewegt. Wer nicht teilen will, der muss trennen, wer nicht trennen und nicht teilen will, der muss bluten, wer nicht trennen und nicht teilen und nicht bluten will, jedenfalls nicht allein, dem ist nicht zu helfen, weder von innen noch von außen, dennoch trommelt gerade er alle Mächte zusammen. Warum? Um bluten zu lassen.
Wir sind in ein neues mediaevum eingetreten, ein mittleres Zeitalter zwischen zwei Modernen. Die alte ist noch zu lebendig in uns, als dass wir anders als mit den vertrauten Aufschneidereien darauf reagieren könnten. Noch sind wir zu sehr mit ihrer Abschaffung beschäftigt, um anzuerkennen, dass dort, wohin es uns zieht, uns nur Heteronomie erwartet. Es wäre auch ungerecht, da sie exakt nach den Vorgaben dessen hervortritt, was verschwindet und schon verschwunden ist. Der Westen verliert rapide an Kraft, die Verhältnisse auf dem Globus zu gestalten, und nicht nur sie. Seine asymmetrischen Kriege nach dem Ende des großen Schismas kosten mehr, als sie einbringen, und er kann sie nicht beenden, auf Knopfdruck nicht und nicht auf dem Weg von Verhandlungen, wenn man weiß, dass er immer mit der falschen Partei am Tisch sitzt, weil die richtige sich nicht blicken lässt. Da wächst der Wunsch, hier und da reinen Tisch zu machen, fatal wie eh und je, mit Folgen, die man aus den Geschichtsbüchern kennt. Kümmern sie uns, diese Folgen? »Respice finem«: aber darum geht es doch! Man kann Enden gestalten, man kann sie aufhalten, aber nicht verhindern. Diese Enden haben etwas unbestreitbar Komisches, sie treten ein, wenn die Vorhersagen hundertmal widerlegt sind und die Diagnosen ihre Seriosität endgültig eingebüßt haben. Und wirklich gibt es nichts, kein Ereignis, kein Desaster, das man beim Wort nehmen könnte, um zu sagen: Das ist das Ende. Nein, es ist einfach eingetreten und dauert an, es läuft über alle Zeitgrenzen und nützt diesen Umstand gründlich aus. Keine Angst, es tut nicht weh, nicht mehr jedenfalls als andere Zustände, und mancher seufzt vor Erleichterung und sagt sein »Na endlich.« »Diese Moderne samt ihren Postmodernen, sie war wirklich nicht mehr zum Aushalten. War sie es je? Lastete sie nicht auf der Erde wie ein letzter Traum vor dem Erwachen?« Wer das sagt? Leider kennen wir nicht sein Gesicht, man wird ihn ausgraben müssen, ihn oder seine Reden, in ein paar Jahrhunderten, die sich vielleicht verkürzen, sollte der Planet sich entschließen, schneller zu kreisen, was er im Bereich der Mikrosekunden auch tut.
NICHT TOT SEIN – ein Imperativ, wie es wenige gibt. Überall Großbuchstaben, wohin man sieht, und die Anmerkungen spotten jeder Erfahrung. Besser, du wärest tot: ist es das, was man damit sagen will? Berührt man den anderen deswegen leicht, wie im Schlummer, und rüttelt ihn, weil es doch nichts nützt, um zu sagen: du bist so gut wie tot, aber ich lasse dich nicht? In diesem ›so gut wie‹ lauert eine Pointe, doch sie kommt nicht heraus. Sie hat eine Höhle gefunden, in der es ihr gut geht, warum sollte sie, da sie das Tageslicht scheut, sich ihm aussetzen?
Die klassischen Texte der Moderne wollen gelesen werden, als seien
sie neu, doch nicht so, wie sie in jedem Semester neu gelesen
werden, im heißen Bemühen, sie diesmal richtiger, vollständiger,
strategischer, zukunftsweisender zu verstehen als je zuvor, als
Ankündigungstexte von Modernen, die noch immer bevorstehen, kurz
als ebenso uneingelöst wie die Worte der Bergpredigt oder das Dogma
der Auferstehung des Fleisches. Solange man diese sehr irdischen
Texte als Heilstexte missversteht, ist nichts gewonnen, aber eines
verloren: die freie Bewegung des Denkens. Ein solches Denken
erträgt kein Lastenheft, das ihm vorschreibt, was ›am Ende
herauskommen‹ muss. Ebensowenig erträgt es die zwanghafte
Deutungsattitüde. Nur durch substanzielle Abwehr, durch eine alle
wider den Augenschein noch immer erhobenen Ansprüche auf Geduld,
auf Nachsicht, auf Rücksicht abweisende und, wo es sein
muss, höhnische Lektüre werden diese Texte ein letztes Mal
lebendig, bevor sie zusammen mit anderen, älteren durch ihre noch
immer nicht wegzuleugnende Glut den Horizont aufhellen, vor dem die
Auseinandersetzungen der Heutigen ihren Gang gehen. Und wären es
Heilstexte, so müssten auch diese zerstört werden, damit sich
andere, noch nicht in Erscheinung getretene Generationen aus ihnen
das Richtige zusammensuchen können. Die Hoffnung, weiter zu kommen,
indem man sich unter die Diktate Verstorbener duckt, ist nicht
besonders gegenwartsfreudig, darin liegt der unauflösbare
Selbstwiderspruch all derer, die ›nach wie vor meinen, modern zu
sein‹ – ein schönes Bild, das man so stehen lassen sollte, am
besten im freien Fall.
Darunter stelle ich mir den Träumer vor, der ich erwachend nicht bin. Ich stelle ihn mir, im Traum, als den vor, als den ich mich träume. Traum, der ich bin, erwache ich in einen Träumer hinein, den ich hintergangen habe, als ich ihn träumen ließ, er träumte. Pech für ihn: er hat mich geträumt, als er sich träumte. Mag sein, im Traum existiert kein Ich, nur ein großes, unbeschattetes Auge, das sieht und sieht, ein offenes Ohr, das hört und hört, ein Empfinden, das ins Blaue hinein empfindet, weil es sonst nichts zu tun gibt, das klingt angenehm nach nichts, aber ehrlich gesagt, es macht die Dinge nicht leichter. Ich, der geträumte Träumer, der keiner ist, weil er alles nur träumt, verzichte gern, wenn nur der unbeteiligte Träumer den Traum bewahrt. Ein bewahrter Traum ist schon so gut wie ein erinnerter. Das ist die Chance, auf die ich lauere. Ein Philosoph hat mir einmal versichert, es sei nicht möglich, zu träumen, man träume. Hat er recht, so bin ich alles, nur kein Traum. Was träume ich, wenn ich träume, mir träumte? Wart’, Träumer, dass ich dich packe.
Das Bedürfnis der Menschen nach Erlösung ist ungeheuer. Im
Deutschen klingt Obama nach ›Erbarmer‹, als solcher wurde bereits
der Kandidat vom Nichtwahlvolk empfangen, erbarmen sollte er sich
des ganzen verfahrenen Weltwesens und eine hemmungslose Propaganda
goss immer nach, bis die papierenen Tüten durchweicht waren und
eine nach der anderen aufplatzte. Dass auch ein Nobelpreiskommittee
sein Tütchen mitgebracht hatte, wurde bereits hier und da mit
Gelächter quittiert, wenngleich das Wohlwollen nicht so schnell
wich. Warum die Hoffnung? Warum die Enttäuschung? Die Erwartung
vernünftiger Beschlüsse ist ja nicht unvernünftig, jedenfalls nicht
von Haus aus, allenfalls durch ihr Übermaß. Wenn sie enttäuscht
wird, regieren wieder die Zwänge. Aber was vernünftig sein soll,
fügt sich den Erwartungen ebenso wenig wie sein Gegenteil. Die
Interessen der Menschheit divergieren, und nicht nur im Detail. Wer
sie kapert, um mit ihnen davonzusegeln, wird schneller zur Geisel
als er sich vorstellen kann. Überhaupt spielt die Vorstellung in
diesen Dingen eine bedeutende Rolle. Wer ein wenig mehr Phantasie
als seine Mitmenschen aufbringt, gerade so viel, um die brennenden
Probleme des Planeten zu bedenken, leidet sub specie dieser Themen
unter einem eklatanten Mangel an Einbildungskraft: er kann sich
nicht vorstellen, dass andere darüber ganz anders denken und selbst
dann, wenn sie zufällig gleich denken, von Motiven bestimmt werden,
die er weder teilen noch ausloten kann. Warum das so ist? Weil es
die eine Menschheit ebensowenig gibt wie den Menschen. Im Interesse
der Menschheit spielen die Fiktionen miteinander Katz und Maus. Den
Satz gilt es zu bedenken.
»Ober, Grenze!« So sähe der Bürger es gern, doch die Oberen ticken anders. Die wirkliche Obergrenze ist dort erreicht, wo der Kredit streikt. Im Kreditstreik sind über kurz oder lang alle vereint, die gern überziehen. Das ist ein Piloten-Ausdruck, gedacht als Warnung für Zeitgenossen, die allzu steil nach oben streben und dabei vergessen: der (Strömungs-)Abriss kommt vor dem Fall. Ein überzogener Kredit deckt nicht länger die Auslagen, die einer hat, nur weil er schon da ist. Warum einer da ist und nicht einfach dort, wo er nicht hingehört, das ist eine lange Geschichte, die jedesmal aufs Neue verwischt wird, wenn er den Flieger besteigt. Den Flieger besteigen – so ein Wort sitzt, es besitzt einen Klang, den nur Arschaufreißer verstehen, Leute, die von morgens bis abends unterwegs sind, um anderer Leute Trostlosigkeit zu torpedieren. Alles hat eine Obergrenze. Fragt sich nur: Oben oder unten? Manche, die sie tief unter sich orten, wundern sich, wie sie so hoch hinauf kommen konnten. Das Lustige dabei: sie wundern sich noch.
Nichts kommt im Leben wie in der ›Kultur‹ besser an als Sottisen über die Deutschen. Es ist ein Genre, das so alt scheint wie die Literatur Europas, jedenfalls seit sie sich in nationalsprachlichen Bahnen bewegt. Diese Mischung aus Herablassung und bitterem Spott, aus Hohn und Verärgerung, aus Über- und Unterlegenheitsadressen, zu gleichen Teilen gespeist aus Geschichtswissen wie aus Geschichtsunwissenheit, aus Politik, Religion und Literatur, ist so ungerecht wie töricht und überdies eine Quelle erhellender Einsichten. Durch Nietzsche wird das Syndrom in die Deutschen selbst verpflanzt, der gebildete Habitus nimmt es in sein Gefältel auf und erfindet kompensatorisch für sich die Mär vom ›anderen Deutschland‹, der dann der nationalsozialistische Irrwitz einen Zug ins Wirkliche verleiht. Seitdem hat das Bescheidwissen über die Deutschen apokalyptische Züge angenommen: Sie sind das bis ans Ende der Zeiten gebrandmarkte Volk. Jedenfalls sehen sie es selbst so, vielleicht wollen sie es auch so sehen, vielleicht müssen sie es so sehen, aber es hält sie nicht davon ab, es zwingt sie sogar, erfolgreich zu sein und mit ihren Erfolgen vor sich selbst zu paradieren. Erfolg jedoch, über jene unsichtbare Grenze hinaus, die hierzulande noch den Makel des Zugefallenen trägt, gilt nach zivilen Maßstäben als brutal, als eine widerwillig zugestandene Konstante, für die ein Obolus entrichtet werden muss. Das stiftet Freundschaften, die leicht in Verdruss münden. Wer den Mechanismus kennt, kommt blendend mit ihm zurecht, wer nicht, dem nützt es wenig, dass sein Gewissen ihm nächtens zuflüstert, er habe sich doch nichts vorzuwerfen – darin lag ja der Vorwurf.
All diese Leutchen, denen man eingeredet hat, ihre Weise zu leben sei gut und prächtig und frei und überdies die erfolgreichste des Universums, was werden sie tun, nachdem sie überraschend mit den Ergebnissen konfrontiert sind? Nun, zunächst nichts Bestimmtes, wenn man von der Aufgeregtheit und ihren Äußerungsformen einmal absieht. Was können sie tun? Nichts Bestimmtes, da sie sich nicht entschließen können, den Fehler da zu suchen, wo er zu finden wäre. Und wenn sie es täten, so fänden sich viele unter ihnen, zu viele vielleicht, aber vor allem zu Mächtige, zu gut Platzierte, die es wieder wegschwatzten, so dass der Überdruss an dem ganzen Gerede am Ende das Feld behauptet. So geschieht, was geschieht, wie es immer geschieht, es sei denn, etwas passiert, mit dem niemand gerechnet hat, das alle herumreißt und in neue Konflikte entlässt. Entlassen – das ist der Punkt. Die Angst vor dem Entlassenwerden ist der größte Stillhalter, selbst die Stille hält still, wenn es soweit ist. Nur die Dauererregten laufen herum und versuchen Öl in ein Feuer zu gießen, das längst gelöscht wurde, quasi vom Anfang her. Das finden die Braven obszön und sie rufen empört nach der Polizei. Es ist diese sekundäre Empörung, die den Bürger ausmacht, an ihr entzünden sich die Sekundärtugenden, mit deren Hilfe er seine Ochsenstärke unter Beweis stellt. Trage dein Los! Die Verantwortlichen werden sich finden.
Eine Ministerin schreibt ein Buch, das heißt, sie übergibt eine Reihe gesammelter Notizen der Referentin, die daraus ein Ganzes, wie es dann heißt, fabriziert, ein Ganzes mit einer Botschaft – das wird immer Fabrikware bleiben, aber es hat seinen Sitz im Leben und es wird rezipiert, unmittelbar, ›instantan‹. So etwas heißt in der Öffentlichkeit schreiben. Natürlich auch für sie, in verzweifelten Lagen sogar gegen sie, aber nie von ihr getrennt, es sei denn, der Funktionsinhaber wurde rechtzeitig vor Erscheinen abgehalftert und ihm steht keine Öffentlichkeit mehr zur Verfügung.
Einem Berufsschriftsteller steht Öffentlichkeit nicht in gleicher Weise zur Verfügung, es sei denn, man hat ihn hinreichend mit Preisen behängt, so dass er wenigstens dann Aufsehen erregt, wenn er randaliert. Er muss sich Öffentlichkeit erschreiben. Nur ist gerade das ausgeschlossen, aus Gründen, die er nicht wirklich durchschaut. Denn wie schon Musil bemerkte: die Organe der Öffentlichkeit haben ihre Lieblinge für alle Sparten, ihr Bedarf an freien Radikalen tendiert gegen Null. Daher die übermäßige Aufmerksamkeit aller, die schreiben, auf die Organe – eine Achtsamkeit, die durch kein Informationsbedürfnis gedeckt wird. Die Literaten umklammern, was ihnen nicht gehört, was im Ernstfall nicht auf sie hört, als ginge dadurch etwas von ihnen auf jene über. Sie nehmen persönlich, wo immer sie nicht gemeint sind. Erzwingungsverhalten, so könnte man es nennen, aber erzwungen ist nur die eigene Existenz. So etwas heißt: Schreiben für die Öffentlichkeit.
Öffentlich schreiben – auf dem Marktplatz sitzend, das Kinn aufgestützt, das Notizbuch auf den Beinen, eine Kinderschar um sich herum, so dass jeder, der vorbeikommt, nicht umhin kann... ja was denn? Im Café schreibt es sich gut, ein Café ist ein öffentlicher Ort. Wer hineinkommt, weiß schon Bescheid oder der Anblick sagt ihm nichts oder er hält ihn für eitle Pose – zu Recht, denn alles ist Zitat. Öffentlichkeit, selbst fabriziert, ist ein Zitat. Das Internet hat die Öffentlichkeit neu erschaffen, im Web 2 wird sie wieder Zitat – publik gemachte Privatheit. Man muss die Wirklichkeit nicht herbeizitieren, warum auch? Man kann es ebensowenig, wie man ihr ausweichen kann. Wer öffentlich schreibt, sollte es auf einer Insel tun, seine Existenz sollte insular sein.
Die Deutschen haben im Lauf der Zeit alle Staatsformen ausprobiert, nur die Ökodiktatur fehlt noch. Der Gedanke reizt sie, kein Zweifel, aber sie haben gelernt, unauffällig mit solchen Fragen umzugehen, und wollen die Sache nicht ausreizen. Manchmal, wenn am anderen Ende der Welt ein Unglück geschieht, macht ihr Gemüt einen Sprung und sie sind bereit, ein klein wenig weiter zu gehen als andere. Natürlich wäre es ihnen am liebsten, die ganze Sache würde in Brüssel geregelt und sie müssten den Anordnungen der dortigen Behörden nur Folge leisten. Mittelfristig, so hoffen sie, bewegen sich die Dinge in diese Richtung. Bis dahin spielen sie Vorreiter. So dient auch die leise gewordene Klage über das Demokratiedefizit der Union nur als Klingelbeutel für Stimmen, die sonst verloren gingen. Weiß Gott, wohin sie gerieten! Unter die Bänke? Kaum. Eher auf die Stimmzettel Andersgläubiger, die keine Diktatur fürchten, weil sie den Etikettenschwindel von Haus aus beherrschen. Also doch auf Abwege? Wer so fragt, hat nichts verstanden und bekommt bei Gelegenheit einen Geschichtsunterricht extra.
ist nicht die Fähigkeit, Ohnmacht zu empfinden – oder ohnmächtig zu werden, wie manche glauben –, sondern die Fähigkeit sie zu leben und weiterzugeben – ja weiterzugeben, man glaubt es kaum, aber darin eben besteht die hohe Kunst (nicht des Glaubens, sondern des Ohnmächtigseins). Anders als häufig angenommen ist Ohnmacht nicht ansteckend. Was als Ansteckung durchgeht, ist in der Regel bloße Sichtbarmachung. Was nützt der beste Ohnmachtsanfall, wenn keine Ohnmacht dahintersteckt? Er wäre rascher entlarvt, als so ein Anfall in der Regel dauert. Staaten zum Beispiel, die Ohnmacht mimen, um sich ihren internen Verpflichtungen zu entziehen, werden so rasch auf Herz und Nieren geprüft, dass dem Publikum über der Hast, mit der links und rechts die Polizei aus den Büschen springt, Hören und Sehen vergeht. Überhaupt sind Staaten weniger ohnmachtsfähig, als sie die Welt glauben machen, zum Beispiel, wenn sie Bündnisse eingehen, in denen sie als Beschützte firmieren, während sie doch nur andere für sich arbeiten lassen und als Friedensdividende einstreichen, wofür in anderen Weltgegenden blutig gezahlt wird. Europa zum Beispiel, der Kontinent, der seine Schwäche streichelt wie andere ihr Geschlechtsorgan, lässt sich am besten als Ohnmachtsvirtuose verstehen, dem es nur dann gut geht, wenn er von allen Seiten den Hohn erntet, den er mit Fleiß und Vorsatz vorher gesät hat. Wo, wenn nicht am Rande des Abgrunds, zeigt sich wahre Balance? Europa kommt von den Abgründen nicht los, die es unentwegt aufreißt; wer die alten Griechen kennt, weiß, es gründet auf Abgründen, von denen das Flachland wie eh und je nichts begreift.
Warum hat sich Girards Opfertheorie der Kultur nicht durchsetzen
können? War sie zu wenig durchdacht, zu unreflektiert, zu sehr auf
die Durchsetzung einer Figur erpicht, um auf die Dauer das Heer der
Auguren befriedigen zu können? Wer das Spektrum der Theorien
durchmustert, die zur selben Zeit und seither in den Zirkeln der
Fachleute und der Öffentlichkeit ihren Weg machten und zu
patterns des modernen
Weltverständnisses wurden, mag das kaum glauben. Wenig mehr als
eine dumpfe Verstärkung des Unbehagens an der Kultur hat sie nicht
geleistet, auch hat sich niemand der Mühe unterzogen, sie
sorgfältig und mit Argumenten, die nicht bereits bei der
Niederschrift hinkten, zu widerlegen. Dass die Herstellung von
Gemeinschaft zwischen rivalisierenden Gruppen und Personen die
zentrale Leistung aller Kultur, dass im Sündenbockmechanismus das
Herzstück dieser Veranstaltung namhaft gemacht werden kann, lässt
sich nur gegen den täglichen Augenschein bestreiten. Näher wäre es
also gelegen, hier differenzierend in der Analyse fortzufahren, als
achselzuckend zum nächsten Thema überzugehen. Doch Girard hatte die
Aufdeckung der Verfolgungsmuster zu weit oder nicht weit genug
getrieben, er hatte rücksichtslose Aufklärung verlangt und den
Schematismus weiter bedient, da er, im Gegensatz zu den anderen,
Bescheid wusste, er hatte nicht begriffen, dass die literarischen
Texte, die sein Begreifen genährt hatten, zwar Grundtexte der
Kultur darstellen, aber ihre Praxis in eine Ferne rücken, aus der
sie gefahrlos genossen werden können – er hatte die ästhetische
Katharsis mit dem Opfermechanismus selbst verwechselt und damit ein
Allerweltswissen in ein Geheimwissen verwandelt. Aus seinen
Schriften spricht der typische Interpret des vergangenen
Jahrhunderts, der alles neu zu stellen verspricht – durch einen
begrifflichen Hokuspokus, ein Hexen-Einmaleins, das jede Situation
anschärft und von Grund auf wendet. Vor Theorien wie der Girards
verstummen die Menschen, sie können nicht widersprechen und können
die Praxis nicht fahren lassen, von der in ihnen die Rede ist.
Überdies konnte sie, wenngleich gegen den Willen ihres Urhebers,
den Anschein verstärken, als habe die mythisch verhaftete Kultur in
der liberalen Gesellschaft bereits ihr Heilmittel gefunden – im
Feldzug gegen ›fundamentalistische Kulturen‹ zählt sie daher
vermutlich zu den wirkungsvolleren, weil versteckten, mehr
›gewussten‹ als zum Einsatz gebrachten Waffen. Schließlich hat es
der Interpret der Kultur versäumt, den Heilssuchern, die ihm zu
folgen bereit waren, ein Corpus an heiligen Texten anzubieten, das
der Schule selbst den nötigen Zusammenhalt beschert hätte. Sein
größter Fehlgriff war es, allein die Evangelientexte mit der
welthistorischen Autorität auszustatten, den Mythos zu entkräften –
außer den eigenen natürlich, die in sicherer interpretierender
Distanz verweilen. Das Beharren auf dem protestantischen
Schriftprinzip, als habe man seine Bedeutung erst heute begriffen,
besitzt ohne Zweifel eine originelle Seite, die andere ist – dumm.
Das Lateinische besitzt den Vorteil der klaren Trennung der Geschlechts- und
Sacheigenschaften bereits im Nomen, ganz ohne vorgesetzten Artikel, weshalb alle
Sprachen des lateinischen Kulturkreises gelegentlich die Möglichkeit zu
Hybridbildungen nützen, wenn sie etwas Wichtiges mitteilen wollen.
Opférculus, Opfércula, Opférculum: damit ist, auch im Deutschen, allen
Anforderungen an sprachliche Sauberkeit Genüge getan und es erhebt sich die
Frage, was mit dem Wort eigentlich gemeint sei. Um es kurz zu machen – ein
Opferculus ist jemand, der für sich einen Opferstatus reklamiert, aber dafür nur
imaginäre Gründe aufbieten kann: Leidableitungen zweiten und dritten Grades,
Leid durch Verallgemeinerung, Übertragung und Übertreibung, gelegentlich auch
durch Lektüre. Ja, selbst das Lesen, einfacher noch: das Fernsehen kann Leid
verursachen, vor allem, wenn es dabei um schreckliche Dinge geht. Der Mensch ist
schreckhaft, was dazu führt, dass Mitgefühl leicht in Selbstmitleid umschlagen
kann, ohne dass der Fühlende sich des Übergangs bewusst wird – eine Art
Dialektik im Dunkeln, aber das sagt Kennern der Dialektik nichts Neues. Solange
ein Opferculus sein Haus nicht verlässt, i.e. sein Opferdasein nur innerhalb der
eigenen vier Wände auslebt, bleibt die fühllose Welt taub für sein Anliegen, es
muss also in die Öffentlichkeit gehen, um auf sich aufmerksam zu machen, am
besten in Buchform, aber am eindringlichsten bleibt doch das Interview.
Opferculi wissen im Allgemeinen, woher der Wind weht, weshalb sie sich meist an
die offiziellen ›Erzählungen‹ halten. Zum Beispiel ist praktisch jeder ein Opfer
des allgegenwärtigen Rassismus – schon aus dem einfachen Grund, dass praktisch
jeder Rassist ist, jedenfalls muss er sich fragen, ob er es sei, und darin liegt
bereits der Grund allen Rassismus. Der Mensch ist frei geboren, kein Mensch ist
von Haus aus Rassist, doch kaum verlässt er das Haus, beschäftigt ihn diese
Frage und lässt ihn nicht mehr los. Wer keck behauptet, kein Rassist zu sein,
der gibt sich bereits als solcher zu erkennen, es ist, als ob einer sagte: »Ich
sündige nie.« In christlich geprägten Breiten ist Rassismus eine Sünde: die
einen sündigen täglich, die anderen nur gelegentlich, die einen mit Vorsatz, die
anderen, weil es ihnen einfach passiert. Zuwanderer aus Ländern, in denen
Alltagsrassismus so normal ist wie staatlicher Kontrollverlust oder der
Auswanderungswunsch, sind daher, sobald einem von ihnen der Sinn danach steht,
ideale Opferculi – plötzlich ist der naive Wahn anstößig und sie sehen sich
Angriffen ausgesetzt, die sie sich nicht anders als mit dem Rassismus der Umwelt
erklären können. Und sie haben recht: Jeder menschlichen Umwelt ist eine
kräftige Portion Rassismus beigemengt, der innere Schweinehund fühlt sich
dem Fremden überlegen und fürchtet es, er muss täglich, was sage ich, stündlich
überwunden werden, damit Menschlichkeit sei. Nun kann man einwenden, dass die
ganze Rassismus-Debatte – denn es handelt sich um eine immerwährende Debatte –
am immateriellen Charakter ihres impliziten Gegenstandes leidet, nachdem sich
die biologische Rassenvorstellung im Reagenzglas der Wissenschaft in Luft
aufgelöst hat. Aber darum geht’s doch: Sie haben frei, die Damen und Herren des
Rassendiskurses, und jeder ist ein Opfer der Rasse-Vorstellungen, die in ihm
sprudeln wie in einem kochenden Quell.
Was, bitte, ist ein Exzess? Ein durchgeführter Glaube geht über das hinaus, was man vom bloßen Glauben erwartet. Vom Glauben Taten erwarten heißt ihn auf die Probe stellen. Warum? Ist das noch Glaube? Ist es wirklich noch Glaube? »Ich glaube schon«, beteuert der Gläubige. »Ich glaube nicht«, nickt der Ungläubige, er fühlt sich durch den Tenor der Frage angesprochen und besetzt die Lücke. die sich hier auftut. Eine Glaubensprobe muss hart und entschieden sein, sonst gilt sie nicht und macht den Verdächtigen nur verdächtiger. Wer entscheidet darüber, wie hart und entschieden sie ausfallen muss? Der Gläubige? Der Ungläubige? Beide sind verdächtig, beide sind befangen, beide wollen im Grunde dasselbe – Bestätigung für das, was sich nicht bestätigen lässt. Mit seinem Glaubensproblem ist jeder allein. Er kann seinen Glauben teilen, er kann sich über ›Probleme des Glaubens‹ verständigen, aber mit seinem Glaubensproblem ist er allein. »Ich teile deinen Glauben«: ein Angebot, kaum auszuschlagen, und dennoch vollkommen unnütz. »Was glaubst du denn, was ich glaube? Glaube du nur, ich glaubte, was du dir unter meinem Glauben vorstellst. Ich weiß genau, was du glaubst, doch glaube nicht, du wüsstest deswegen, wie es in mir aussieht.« Glauben, das wäre also: wie es in mir aussieht. Wie es aussieht, darüber kann ich reden, ich kann es auch lassen, es läuft auf dasselbe hinaus. Die Lösung des Problems liegt im Exzess. Der Glaube muss aus sich herausgehen, um vor sich zu bestehen, er muss ausschweifend werden, um bestimmt zu werden, er muss Theorie werden oder Liebe oder Bekehrungswut oder Mord und Totschlag, dies alles, um Ursache von etwas zu werden und als Ursache: reell. Ein erprobter Glaube ist einer, auf den der Gläubige zurückweisen kann als Ursache dessen, was hier geschieht oder geschah. Er ist schuld, also ist er reell. Er existiert und verfügt über einen Wirklichkeitskern, einen wirklichen Inhalt, einen Inhalt, dem eine Wirklichkeit entspricht, geglaubte Wirklichkeit, an der zu zweifeln, die zu leugnen zwecklos ist. Wer zweifelt, wer leugnet, nimmt die Außenperspektive ein und kommt anders in Betracht als ich, der Gläubige: er ist Teil meiner Aufgabe. Natürlich kann das Modell unter Druck kollabieren, aber fürs erste ist es stabil und druckresistent. Es eröffnet Handlungsoptionen, wo vorher nur Wüste war – Opportunität.
»Ops«, sagte die Maus, die den Faden nicht abbiss, sondern
weiterspann, »O-P-S.« Sie wollte sich nicht weiter auslassen,
vielleicht, weil sie fürchtete, darüber zahnlos zu werden, doch
auch so war sie deutlich genug. Und sie fügte, scheinbar
unvermittelt, hinzu: »Opera sunt servanda.« Kein Lachen formte sich
im Gesicht der Hydra, in diesem nicht und in dem dort auch nicht.
Ginge es nach den Vorstellungen einer im Yagir bekannten und von interessierter Seite gerühmten Frauenzeitschrift, so wäre die Hälfte der männlichen Bevölkerung dauerhaft damit beschäftigt, die andere Hälfte wegen vergangener oder künftiger Sexualdelikte hinter Gitter zu bringen, während die Frauen, soweit sie nicht ihren verantwortungsvollen Berufen nachgehen, energisch darauf bestünden, dass endlich mehr zu ihrer Sicherheit geschehe.
Eine solche Außendarstellung ist natürlich verheerend, es ist, um es in der Sprache des Pöbels zu sagen, eine ›miserable Performance‹, verständlich nur, wenn man weiß, wen man vor sich hat und woher sie kommen, an welcher Mutterbrust sie genährt wurden und mit wem ihre Väter schliefen, wenn sie gerade aushäusig waren. Vielleicht auch nicht, vielleicht genügt ja eine Andeutung, wohin es führt, wenn man für sich und seinesgleichen Narrenfreiheit nicht nur fordert, sondern auch erhält. Aber gleichgültig, was einer andeuten oder recherchieren oder mutmaßen mag, es ändert nichts daran, dass sie sind, wer sie sind, und just die Denktätigkeit vorschützen, der sie nachgehen. In früheren Jahren kämpften sie gegen die sexistische Werbung, die jetzt ihre Frau ernährt, so wie sie heute fröhlich die Schecks einstreichen, die ihnen der ewiggestrige Männlichkeitswahn für ein paar Infamien über einen weibstollen Halbprominenten ausstellt, der gerade vor Gericht sein Fett abbekommt.
Das Schönste dabei ist, dass sie angekommen sind, wo sich mit den Jahren ganz von allein die dicksten Polster bilden, in der Mitte. Dort ruhen sie in sanften Fauteuils, lassen ihre ergraute Mähne spielen und erteilen dem Volk, das seine Beziehungsprobleme im Suff ertränkt, Nachhilfeunterricht in den Disziplinen, in denen es seit jeher den übelsten Neigungen frönt, als da sind Denunzieren, Verdächtigen, Verunglimpfen, Vorverurteilen, Nachtreten, Heucheln und Dummschwätzen.
— Warum hörst du auf diese Vettel, erkundigt Irene sich spitz, gefällt sie dir etwa? Sie liebt die drastischen Ausdrücke und hält sie für Seelennahrung, ohne die das Leben verkümmert. Aber Ariel ist ganz Ohr, er hört den Sound alter, längst vergessener Familienabende und überlegt, wie lange Tante Gertrud jetzt tot ist. Sie hatte ja recht, denkt er, Männer sind Schweine, warum habe ich mich so lange gegen diese Einsicht gesträubt. Frauen sind Orchideen, sie leben in Gewächshäusern und nur Gärtnerinnen dürfen sie berühren. Jedenfalls behauptet das die Kamera, deren Schwenks sie bedingungslos Folge leisten. Natürlich steckt noch etwas anderes dahinter, aber das ist mir zu hoch und ich gehe jetzt schlafen.
Ordinär: die Klage, einer Generation anzugehören, die nichts erlebt
hat, soll heißen, nicht in Kesselschlachten und KZ-Krematorien
verheizt, nicht von Bomben zerrissen und von Geheimdienst-Schergen
gefoltert wurde. Das müssen zarte Erlebnisseelen sein, die nach
derlei dürsten, vor allem, wenn man bedenkt, dass sie jederzeit die
Wahl hatten, eine der zu ihren Lebzeiten angeheizten Höllen
freiwillig zu entern. Da es eine literarische Klage ist, kommt die
Frage nach dem brutalen Sinnstifter hinzu, den so jemand braucht, um etwas
zu sagen zu haben. Bleibt er aus, sagt man eben nichts, man sagt es
ununterbrochen, der Ausstoß per
annum stimmt und man hat sogar eine Aufgabe. Das Evangelium
des Nihilismus kann nur von Leuten gepredigt werden, die nicht
wissen, was es bedeutet. Denn es bedeutet ihnen nichts.
Mit jeder aus dem Bildbereich fortstrebenden Fläche verbindet sich automatisch
die Vorstellung des ausgewalzten Gehirns. Neben den Augen flüchtet es in die
Breite und bildet die Tafel der im Innern geschauten Objekte. Wenn aber, je
nachdem, woher der ›Geist der Zeiten‹ weht, auf diesen Flächen, gleich welcher
Art (es gibt zehntausende), sich das vermeintlich Böse tummelt, so hat der
Betrachter oder Besitzer Grund, es ebenso zu fürchten wie das zu seinem Schutz
bestellte Polizeiwesen. Und würde er einmal aus Unbedachtheit oder wohl auch
geheimer Absicht vom Widerspiel des Bösen in seinem Innern zu reden beginnen, so
müsste er sich, den Aufpassern in seiner Umgebung sei Dank, am Ende vielleicht
vor einem Gericht verantworten.
Zu Inquisitionszeiten wachsen ganz gewöhnlichen Richtern erstaunliche
Fähigkeiten zu. Sie können dann, sobald man ihnen ein Bild zeigt, Gesinnungen
sehen, so wie andere Leute ihre toten Verwandten oder den nahenden
Gerichtsvollzieher zu sehen vermögen. Sähe so ein Richter auf einer dieser
Flächen religiös oder halbreligiös oder politisch unkorrekte Ansichten, dann
hinge der Ausgang des Verfahrens für den kunstliebenden Angeklagten am dünnen
Fädchen der Kunst, die alles (oder fast alles) zu rechtfertigen imstande
sei. Hier nun tritt nach Paolo Veronese das Ornamentum in Erscheinung. Es gehört, jenseits der Psychologie,
zur Produktion der unabhängig vom Thema ordnenden, höchst eigenwilligen
Zwangsästhetik, die keine Rücksicht auf das Passende nimmt. Es sind ungereimte
Erscheinungen, die dringend eingesetzt werden müssen, um jene Vollständigkeit
zu erreichen, die weder aus der Vernunft noch der Phantasie zu erschließen
ist.
Das Ornamentum ist sogar kostbarer als die reine Phantasie, weil es
deren Mängel und Lücken unvorhersehbar, ja zwanghaft
vervollständigen kann. Sich ihm zu entziehen wäre ein größeres
Verbrechen, als einem Tabu zu gehorchen.
In Veroneses Gastmahl im Hause
Levi sind es die deutschen lanzichenecchi und ein offenbar als
unrein gedachtes Hündchen, die dem Künstler zum Vorwurf gemacht
worden sind. Hier wurde gegenüber der Inquisition das erste Mal ein
Ornamentum beschworen, das den Richtern nur dann begreiflich sein
konnte, wenn zuvor eine große Kultur die Selbständigkeit der
Ästhetik und die Pflicht, ihren Launen als Mittel der Form Genüge
zu tun, lange genug verbreitet hatte. - PM
Hitler, der Deutscheste: ein Austriakismus, der, wie mancher
andere, auf intensiver Selbstbeobachtung fußt und so manche
literarische Höhenlage bis hin zum Nobelpreis erklärt. In
Deutschland, wo man weiß, dass Deutschsein nicht gesteigert,
sondern allenfalls gemindert werden kann, wozu man aus Gründen
allgemeiner Verträglichkeit in der Regel bereit ist, sieht man mit
einer Mischung aus Unbehagen und Faszination auf diesen Vulkan;
hätte man nicht seine eigene ›Szene‹, so würde man sich
wahrscheinlich stärker daran bedienen, als beiden Seiten bekömmlich
wäre. Im Österreichischen ist Deutschsein eine abgetrennte Option,
in den alten Nervenbahnen zuckt’s und ruckt’s, und hätten sie
einmal mehr einen solchen zur Hand, sie gäben ihn nimmermehr her,
sondern vergrüben ihn, wo der Berg am finstersten starrt. So tanzen
die feschen Madeln und Buam den Jetset-Tango und schlucken die
Kröten, die eine entgeisterte Kultur ihnen hinwirft, während die
Deutschen mit bleichen Gesichtern daneben stehen und unaufhörlich
die schwärzeste Stunde verfluchen, in der sie ihre Selbstachtung
mit dem da verbanden, warum auch immer, denn – EU hin, Euro her –
innen tobt er.
Sie wissen nicht, was der Ausdruck bedeutet? Das glaube ich gern. Dabei
haben Sie Ihre Finger doch überall im Spiel. Wo steckt nicht gleich
Ihre Nase? Sehen Sie, wenn die Türkei mit Syrien ein Problem hat, dann
selbstverständlich auf syrischem Boden. Wo denn sonst? Wo würden Sie
Truppen hinschicken, angenommen, Sie hätten welche? Und schon hat die
NATO, die gute alte NATO, ein Problem. »Warum die NATO?«, werden Sie
fragen, »Und wenn schon! Die mischt sich doch überall ein. Warum nicht hier?«
Ansichtssache, sage ich Ihnen, reine Ansichtssache. Sehen Sie, es gibt
Probleme, da mischt man sich besser ein, und es gibt Probleme, da mischt
man sich besser nicht ein. Zum Beispiel will der Chef einen Verbündeten
zügeln: Da mischt man sich doch nicht ein, bloß weil er Probleme
bekommt. Soll er ruhig ein wenig schmoren! Am besten geht Out-of-area,
wenn kein Verbündeter dabei stört, aber alle davon profitieren. Da hat
man auch eher die Moral auf seiner Seite. Die Moral ist das
Schmiermittel aller Einsätze out-of-area. Aber sie verflüchtigt sich
schnell, also achten die Verantwortlichen darauf, dass es im
Einsatzgebiet solidere Laufstoffe, z.B. Öl gibt. Sie glauben mir nicht?
Fahren Sie hin! Wo immer wir out-of-area unterwegs sind: Fahren Sie
hin! Wir haben da Interessen? Fahren Sie hin. Sie werden staunen, wer
alles schon dort ist und Interessen hat.
Unglückswort des 21. Jahrhunderts. Wie viele Lügen werden irgendwann auf dieses Wort gewälzt worden sein? Mit ihm begab sich die Politik in ein Labyrinth, aus dem es für sie kein Entkommen gibt. Gegen weltweit inszenierte Panikmache, hinter der mächtige Interessen stehen, lässt sich wenig ausrichten, es sei denn, man gehört selbst zu den Drahtziehern letzter Hand. Warum auch, wenn sie Macht ohne Ende verspricht? Hobbes hat gezeigt, wie die nackte Angst die Menschen in die Fänge des Souveräns treibt. Und genau das geschieht überall, wo mit Hilfe der Angst regiert wird: die Souveränität wandert, wie von Geisterhand bewegt, vom demokratischen Souverän, dem Volk samt seiner Vertretung, hinüber zur Exekutive, dem Machthaber, dessen alleiniges Gutdünken zählt. Sind solche Prozesse reversibel? Vielleicht kommt man der Antwort mit einfachen Fragen näher, als da lauten: Wie korrupt sind Volksvertreter? Gibt es Gesetzmäßigkeiten, die man dabei beachten muss? Aber auch: Sind Parteien rettbar? Allein oder mit anderen? Lässt sich falsche Selektion von Führungspersonal aufhalten, eventuell umkehren? Die Falle: das Kind, den Parlamentarismus, mit dem Bade ausschütten. Jenseits der Repräsentation gibt es nur Diktatur.
Nach dem Ende der Panik stehen die Leute Schlange. Warum das so
ist, weiß man nicht, es steckt in ihnen drin. Es ist nicht so, dass
sie es dringend wollten, sie könnten es auch aus dem Katalog
bestellen und zu Hause bequem abwarten, dass es geliefert wird.
Eher gewinnt man den Eindruck, dass sie es keineswegs brauchen,
dass sie den Erhalt auf jede erdenkliche Weise hinauszögern und
dass sie sich in die Schlange stellen, um zu warten, nicht, um
einmal dran zu kommen. Wer näher hinsieht, bemerkt wohl, dass sie
es nicht bis zum Ende aushalten und sich vorher so unauffällig aus
der Schlange entfernen, wie sie sich in sie eingereiht haben. Man
könnte sogar sagen: weit unauffälliger, denn die Selbstgefälligkeit
gibt ihnen doch ein, sich anzustellen, jedenfalls wäre dies die
einleuchtendste Hypothese. Doch warum sich grämen? Am Ende der
Panik erwartet sie gar nichts, so können sie vorher beruhigt nach
Hause gehen, als sei nichts gewesen. Haben sie nicht recht?
Pantomime, die Stückeverlängerin, tritt zwischen die handelnden
Personen des Stücks, aber diese sehen sie nicht, denn sie sind
beschäftigt. Pantomime hingegen ist müßig, sie hat nichts zu tun,
also hat sie sich darauf verlegt, den freien Raum zwischen den
Handelnden zu begrenzen. Geübt hat sie diese Rolle schon früher,
sie ist ihr nicht neu und sie kann sofort anfangen. Den Leuten
gefällt das, sie hat einen Kirschenmund und ein Hemdchen an, mit
dem sie Sterntaler fängt. Man kann nicht sagen, dass sie die
Aufmerksamkeit ablenkt, denn die Zuschauer haben das Stück oft
gesehen und können nur mühsam ein Gähnen unterdrücken. Ach diese
Sprüche! Pantomime sammelt sie in ihr Hemdchen, sie kommt von
Hölzchen auf Stöckchen, manchmal legt sie sich hin, aber die
eingeübte Bewegung läuft weiter, sie ist ein Werkzeug der Regie,
das sich nicht abstellen lässt. Pantomime ist schlau und spielt ihr
eigenes Spiel. »Wenn wir nur wüssten, worauf sie hinauswill«,
denken die Zuschauer und haben das Stück schon vergessen.
»Zwei Papas«, ruft die Frau über den kleinen Weiher, auf dem zwei Erpel, eine Ente und ein entzückendes Entlein ihre Kreise drehen. – »Ach«, kommt es von der Freundin, die ruhig ihren Kinderwagen bewegt. – »Da waren sicher mehr in der Mache und eins ist nur dabei rausgekommen. Ilona hat auch wieder eins von zwei Kerlen.« – »Nein – !« Wer ist Ilona? Ein Hündchen? Die Tochter? Eine gemeinsame Freundin? Das ist nicht zu ermitteln. Erinnerungen werden wach, gelebte und ungelebte.
»Links hatte noch
alles sich zu enträtseln.« Als das geschrieben wurde, lagen die
Optionen auf dem Tisch und keiner wollte sie lesen. Seit der Satz
ruchbar wurde, wurde die Linke sich selbst zum Rätsel. So steigert
Buchkunst den Preis der irdischen Dinge.
Auf dem Planeten herrscht Krieg und du kannst sagen, du seist nicht dabei gewesen. Dieses Nebeneinander von maßloser Sicherheit und Tod, Leid und grimmiger Aggression ist etwas Ungeheures, es ist nicht wirklich, es trennt die Wirklichkeiten, aber es stellt sich in ihnen nicht dar. Im Yagir sagt man dazu: »Es kann doch nicht angehen, dass...« Natürlich kann es angehen, es geht doch, es geht gerade auf und davon. Auch im Yagir wissen das alle, deshalb sagen sie es ohne Erstaunen, mit diesem harten Blick und einem Stück Kreide zwischen den Zähnen. Zugleich wollen sie etwas tun und Tuwasser-Fahrten, kleinere Strudel inbegriffen, stehen als Freizeitvergnügen hoch im Kurs. Dass sie, unten angekommen, in Bussen wieder an den Anfang des wilden Unternehmens zurückgebracht werden, verwundert sie nicht und weckt wenig Ärger. »Was soll’s, wir werden ja doch verarscht«, heißt es dann und manch einer sammelt Anstecknadeln, um die Gefahren zu bekunden, denen er sich ausgesetzt hat. Im Ganzen der gefährdeten Welt verlieren sie sich, als habe der sprichwörtliche Heuhaufen sie verschluckt, aber im Yagir nimmt man sie ernst. Und nicht nur dort, solche Nadeln sind beliebt, die kleine Gefahr, gefahrlos bestanden, gilt viel an Orten, wo die Gefahr groß ist.
Solange das Paradies existiert, existiert keine Hölle. Hört das Paradies auf zu existieren, so entsteht aus seinen Elementen die Hölle. Das behaupten im Yagir die Theologen. Was sagen die Staatsrechtler dazu? Bei ihnen, hört man, geht die Hölle dem Paradies voraus. Ihr Paradies ist kein Garten der Seligen, sondern ein Refugium der Gezeichneten. »Kein Zeichner möchte ins Paradies, er möchte nur andere dazu bringen, ihn für seinen Schöpfer zu halten. Folge der Zeichnung, lautet der Befehl, und die Gezeichneten fühlen, wie eine Last von ihren Schultern gleitet. Diese Last... woher sie nur stammt?« »Solange sie anderen die tägliche Hölle bereiten konnten, waren sie freie Menschen, jetzt, da sie aus der Hölle ins Paradies blicken, dämmert es ihnen, dass diese Freiheit nur Täuschung war. Wie war es möglich, sie so zu betrügen?« »Damit ist es vorbei. Warum sollte man sie diesmal belügen, nach soviel Leid, angesichts goldener Berge, auf denen schon das Abendrot liegt?«
Das ist ein Ausdruck, dessen Erfinder ein Preis gebührte, ach was, zwei Preise, drei, fünf, ein ganzes Dutzend, alle tiefrot wie die Rosen, die Tante Emmy immer zum Geburtstag bekommt, weil sonst das Jahr für sie schon gelaufen ist. Eine Gesellschaft, das ist wie eine Linie, die sich durch Zeit und Raum schlängelt, und nun gesellt sich ihr eine zweite hinzu, zu faul, sich eine eigene Kurve auszudenken, also parallel, der gewiefte Zeitgenosse denkt sofort an Para, Para wie Paradies, Para wie Parasit, Para wie Paranoia – er kann es einfach nicht lassen, er assoziiert frei, er denkt, wie er denkt, weil er gar nicht daran denkt, sich das Denken verbieten zu lassen, er ist schon zu sehr ins parahermeneutische Feld abgedriftet, um den einfachen Sachverhalt festzuhalten, um den es hier geht: ein Land, zwei Systeme. Besser gesagt: ein System, zwei unterschiedliche Weisen, es zu interpretieren: als fairen Vertrag und als laisser-faire. Was nun? Soll man es laufen lassen? Sollte man’s verbieten? Was könnte man verbieten? Die Abweichung in den Köpfen? Die Köpfe selbst? Etwas unterhalb der Köpfe Gelegenes, sagen wir, die schnelle Hand oder den schnellen Fuß, vom schnellen Geld ganz zu schweigen? Wie lässt sich unten verbieten, was obenhin schon verboten ist? Mit Verboten ist einer Gesellschaft, die sich ausgeklinkt hat, nicht wirklich beizukommen, vor allem, da sie bloß parallel existiert, bloß in den Köpfen, die etwas sehen, was gar nicht da sein sollte, eine Abweichung, die mitkommt, eine Abweichung, die nicht weicht. Was mag das sein? Kriminalität? Ehrenwerte Gesellschaft? Die Ehre, kein Zweifel, spielt eine Rolle, vielleicht die Haupt-Rolle in diesem Drama, mancher Kopf geht darüber verloren, mancher rettet sich in Resignation.
Im Paralleluniversum des Witzes stehen die Uhren kopf, und das
ist wenig gesagt. Eine schöne Lügenwelt, die da aufgebaut wurde.
Das heißt, auf einen Deckengeher wirkt alles normal, aber suspekt.
Das allein, normal und
suspekt, ist eine Mischung, die man sich auf der Zunge zergehen
lassen sollte – langsam, sehr langsam und – überlegt. Wozu nie Zeit
bleibt, jedenfalls nicht in diesem Leben. Ob anderwärts? Das wäre zu
überlegen. So wie die Frage, ob jenes Paralleluniversum bewohnbar,
was sage ich, ob es betretbar sei oder nur durch Glasscheiben
betrachtbar wie das Tiefseebassin im Meeresmuseum. Die meisten
kennen es jedenfalls nur durchs Bullauge und halten es, alles in
allem, für eine ebenso runde wie gefährliche Sache. Dabei wimmelt
es in ihm nicht nur von Fischen, bewahre, man sieht auch Menschen,
ins Gespräch vertieft oder einsam wandelnd, man sieht Lesehirsche und anderes Getier,
auf das man auf der Straße nicht stößt, Seziertische voller
Gerümpel, das Posthorn von Säckingen und die Lanze des Bonaventura,
ein heimliches Schlangenwesen, das sich das Schlängeln abgewöhnt
hat und für etwas geradesteht, das nie gemeint war. Aber das sind
nur Effekte eines noch ungeübten Wiedererkennens, dem die
wirklichen Schocks erst bevorstehen. Denn die Zeit, die
Verlaufszeit, die jeder kennt, verläuft sich dort anders, gerade
sie. Man hat ihr die Spitze abgebrochen und den Preis
heruntergesetzt, doch geht sie nicht weg. Wie das? Gleich Dürers
Melancholie träumt sie sich aus der Welt hinaus und weiß nicht
wohin. Schon das Wort ist für sie ein Pappkarton, bei dem das
Knistern für einen Inhalt durchgeht, den keiner sieht. Weltzeit,
ein Wesen für Einäugige. Die Uhren, von denen sie sich ablesen
lässt, haben eines gemeinsam: sie drehen das Rad weiter. Mancher
erwacht gerädert, der sich auf ein Frühstück bei Theo’s freute. Das
ist nicht anders als im Leben einer Kulturnation, die den Haken ins
Alphabet nahm und das Henken als Dreingabe abstaubte. Wo der Staub
meterdick liegt, findet sich auch ein Schild. ›Mach keine Witze!‹
steht darauf und: ›Nicht abstauben‹. Auch der Staub liegt verkehrt,
eigentlich liegt er unter
den Gegenständen und bettet sie weich. Er füllt das, was ›Luftraum‹
zu nennen einer nicht übel Lust hätte, wenn nicht selbst die
Lust... egal, sie weiß den Spaß nicht zu finden und vergnügt sich,
ungewollt heiter, mit Schwester Allotria, der saum- und
kramseligen.
Unter Deutschen grassiert eine merkwürdige Art, sich für anderer Staaten Interessen zu erwärmen, ohne erkennen zu lassen, ob sie ihnen überhaupt ›bewusst‹ sind. Das gilt für die Presse im allgemeinen und ganz besonders für ihre Zulieferer, die intellektuellen Publikumslieblinge. Vor Sarajewo nannten sie es ›kosmopolitische Sendung‹, danach Nibelungentreue und heute ›transatlantische‹ oder kürzer noch ›Westbindung‹. Dahinter verbirgt sich die berühmte Mittellage, die durch jeden neuen Riss, der die Nato durchzieht, wieder ein Stück aktueller wird. Sie neurotisiert jede außenpolitische Bindung und macht das Land für seine Verbündeten teils unkalkulierbar, teils undurchschaubar. Man will sich binden auf immerdar und findet immer nur Partner auf Zeit in wechselnden Konstellationen. Da bleibt es nicht aus, dass die Politik sich von Zeit zu Zeit mit den falschen Partnern im Bett wälzt – vor allem wenn man ihren Medien glauben will –, weil selbst der Staat der Lüfte Interessen besitzt, die er nicht per Leitartikel in Luft auflösen kann.
Man hat gesehen, wie die Angst aufstand im deutschen Parlament, als die Einheit beschlossene Sache war, und mit bebender Stimme das Vermächtnis des Nachkriegs beschwor: »Nie wieder allein.« Und es ist was dran. Nirgendwo sonst in Europa herrscht diese tiefe Sehnsucht nach einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik. Die reißerischen Alleingänge der anderen demolieren sie ein ums andere Mal und die Deutschen fragen sich bebend, ob sie nun ›schuld‹ seien. Das Beste an Europa sind seine Familienfotos, aufgenommen unter den Gipfeln der Alpen, an den Stränden von Biarritz oder in Sichtweite norddeutscher Offshore-Windparks: man kennt sich, man vergisst sich, man ist miteinander durch und kontrolliert seine Gefühle. Dafür genießt man die logistischen Vorteile eines gemeinsamen Urlaubs und überschlägt in Gedanken, wofür man spart: für Europa natürlich und seine nächste Auszeit. Never alone again.
Parental Alienation Syndrom – ein kleiner Schritt für die
Töchter und Söhne der Emanzipierten, ein großer Schritt für die
Menschheit. Welcher der vielen Schritte auf dem Weg zur Entfremdung
mag der entscheidende sein? Niemand weiß es, niemand wird es je
wissen. Unübersehbar sind nur die Folgen: der Mensch ist ein
anderer, er ist ›ganz verwandelt‹, er isst ab jetzt das Brot der
Armen und wäre er auf Rosen gebettet. Vieles bleibt Mutmaßung,
gestützt auf Wahrnehmung. Das verarmte Leben gibt sich ja nicht zu
erkennen, im Gegenteil, es verhüllt sich, wo es nur kann. Hochmut
ist das Erste, das Zweite, das Dritte. Nicht der Hochmut, der vor
dem Fall kommt, bewahre, nein, der langsame, schleichende Hochmut,
der Hochmut der Schleicher, der so leicht in Kläglichkeit übergeht,
in wirkliche, kommentarlose Ausdruckslosigkeit, auf der die Klage
schwimmt wie das Brotstück in der Wassersuppe. Ein Schleier des
Geheimnisses liegt über dieser Krankheit, ausgeworfen von Müttern,
gelegentlich Vätern, die sie ausgelöst haben und sorgsam darauf
achten, nicht ins Kreuzverhör zu geraten. Und wenn schon. Dieselbe
Attitüde, die das Entfremdungssyndrom schürt, lässt sie aus allen
Befragungen ungeschoren davonkommen, ach was, als Ankläger, Richter
und Gefangenenwärter zugleich, als wahre Ungeheuer der
Repräsentation, als ganz ganz wichtiges Personal.
Die kleinen Nationen wünschen sich zu erhalten, die großen wollen die Macht. Daraus könnte geschlossen werden, dass eine nur groß genug sein muss, um die Macht zu wollen, selbst um den Preis des Verschwindens. Was für Nationen gilt, das gilt, wenngleich nur begrenzt, auch für Personen: nicht, weil Nationen welche wären, sondern weil sie sich in ihrem Personal erkennen. Wen die Nation nichts angeht, existiert der überhaupt? Die Nation jedenfalls betrachtet ihn als Verfügungsmasse, als ›Ressource‹, angelegt, um sie größer erscheinen zu lassen und ihr Erfolge zuzuführen – Erfolge, die diejenigen, die sie erringen, nichts angehen und im Sand respektive auf den Konten der Reichen versickern. Die bleichste unter den Nationen möchte sich selbst vergessen machen, dass sie überhaupt eine ist – im Glauben, wäre sie eine, so müssten die anderen sie hassen. Dagegen besteht die mächtigste darauf, Ausnahme-Nation zu sein, und stellt es den anderen frei, sich ihr anzuschließen und dafür die erbärmliche Illusion dranzugeben, in gleicher Freiheit geboren zu sein. Gleich frei zu sein widerstrebt den zur Macht Entschlossenen, am liebsten schmeckt ihnen der Titel Erster unter Gleichen, von der Freiheit ist da schon nicht mehr die Rede. Pater patriae hieß der vornehmste Herrschertitel im alten Rom, als die Freiheit perdü und die Macht noch im Wachsen begriffen war. Im Paternoster der Macht bleiben die Türen nach oben offen. Doch in Wahrheit handelt es sich um Zeitfenster und die Reise ist limitiert. Wer an die Grenzen stößt und nicht aussteigen will, der empfängt seine Lektion.
Zur Entspannung der Netze zwischen gesprochenen und gesendeten
Worten überwindet das Alphazet, von unbewussten Ideen
gestiftet, die Linien der bisher nur wenig betretenen Zukunft
sowohl des Wassers wie der Erde, wie wir am Regen bemerken, der ja
gelegentlich auch unser Werk ist, oder der Feuersbrünste unter den
Bratpfannen großer Köche der Alchimie und anderer
Gesinnunungsmeister der bonne
nourriture.
Uns bleiben die Speisen, bis tief in Gedanken der Jagd und des
Krieges unter den Worten, eine gute Nahrung für ferne umwölkte
Völker, die uns einmal durch hohe Verwirrung gleichen. Unübersehbar
liegen die Ursachen aller Dinge in Wut oder Gnade ihres eigenen
Willens. Man vergesse das nie. Kein Ding ohne seinen Dämon.
Wir, vom kaleidoskopischen Wortregiment Grabbeau, als übernatürliche Leser
wie außernatürliche Schreiber, sämtlich auf allen Feldern der Ehre
im Handwerk der Verwandlungen wohl geübt, zaubern den neuen
Weitblick durch Tinte, Farbe und Pfeile bis in die Herzkammern der
Gegenstände, die wir im Dunst der Künste erfassen, um sie alsdann
erleuchtet und blind, ohne der Wirklichkeit je eine Chance zu
geben, in uns selber zurückgeleiten, um sie dort zerplatzen zu
lassen. Daraus besteht das Wesen der alchimistischen
Kaleidoskopie.
So fliegen wir ebenso durch das künstliche Lufteis niederer Flüsse
im Zustand der ersten Vergoldung, manche nennen das Nebel, wie auch
höher hinauf in die Berge der fetten Farben, die uns die
griechische Malbutter Chiricos, aber auch die Grottenbutter
durch zaubernde Zwerge im Tiegel der ewigen Kunstzeiten aufbewahrt
haben.
Wir gestehen, dass wir damit die immer zu jungen Papiere und die
ebenso immer zu jungen und weißen Gedanken besudeln, auf dass eine
fette Tiefe die Unterlagen der Kunst zu Offenbarungen zwingt, die sie
kaum selber ästhetisch begreifen kann. Auch erspart dies später die
Vernissage, denn Fett schwimmt oben.
Was die Zwerge betrifft, so wissen wir auch, welche Rolle das
zerrissene Rumpelstilzchen, ihr deutscher König, für uns gespielt
hat, nachdem wir es wieder zusammengeleimt haben. Ohne erneut ein
erstes Kind versprechen zu müssen – die Natur ist uns, was dieses
Übel betrifft, verhasst – schenkte uns dieses wärmste aller Herzen
der deutschen Gnome sein Gold, dass wir es im Zeichen des großen
Grabbeau erneut zu Stroh spinnen möchten. Das nennen wir unser
Zurück zur Natur. -
PM
Ein gesunder Patriotismus regelt sich über den Sport. Das hat den
Vorteil, dass man sich anderswo nicht über ihn wundern muss; er ist
auf ein Feld abgelenkt, auf dem außer ein paar Rippen und hier und
da einem Schädel wenig zu Bruch gehen kann. Das Modell könnte
bestechen, doch hat es, wie alles Bestechende, seine bedenklichen
Seiten. Zum Beispiel scheint es nicht ratsam, die Nation über den
Fußball zu fördern oder gar abzufackeln, wie manche zu denken
scheinen, denen das Nationalgefühl unheimlich bleibt. Man sperrt
dabei diejenigen aus, die bei dem Gegröle nicht auf ihre Kosten
kommen, also die Intelligenz, man erklärt die Nation zum Vaterland
aller Hirnlosen. Die Jungen ficht es nicht an, deshalb hat man sie
eine Weile auf seiner Seite. Aber niemand bleibt ewig jung,
irgendwann fliegt die Sache auf. Was dann? Die einen wollen sich
mit der Nation nicht erwischen lassen und die anderen hätten gern
eine. Niemand begibt sich ohne Selbstzweifel unter die
Deutungshoheit von Rüpeln, es sei denn, er wäre einer. Etwas
besitzen wollen, von dem man ein Teil ist, ohne gefragt zu sein,
etwas vermissen, was einem peinlich ist, wenn es in der Realität
begegnet, ist ein seltsamer Zug, der nirgendwohin führt außer aufs
Abstellgleis. So wandeln Aufklärung und Schmähsucht Arm in Arm den
Weg der Gewalt, voller Abscheu, doch guten Mutes.
»Patt«, ruft die Maus, es klingt, als haue sie auf den Putz, dabei kommt sie nicht weiter. Wo sie nur hin will? Sie will etwas erreichen, soviel ist sicher. Sie will die Verhältnisse klären, solange sie hier das Sagen hat, also vor langer Zeit. Wo steht die Welt heute? Sie will das wissen, sie ist eine Maus und zählt sich naturgemäß zu den Großen.
Die Partei der Abneigung ist die beste. Keine andere kommt ihr nahe, sie ist die beste, sie weiß das Ziel und den Weg. Niemals kommt sie in Versuchung, das Falsche um des Richtigen willen für richtig zu halten. Lächelnd tut sie das Falsche, wenn es darum geht, sich am Richtigen schadlos zu halten. Und immer ist sie am Drücker: wer die Macht der Abneigung nicht erfahren hat, der weiß gar nicht, was Macht ist. Eine richtige Abneigung ist wie ein Sechser im Lotto. Entweder du machst weiter wie bisher oder du hast alles verloren.
Dass einer, der auf dem Rücken liegt, zugleich ungeheuer oben sein kann, ist
allgemein bekannt und wird gemeinhin geschlechtlich
interpretiert. Nicht so im vorliegenden Fall einer exhumierten
Leiche, an der das Gedächtnis zuschanden wird, weil es nichts
hergibt. In der Regel ein reicher und sorgloser Spender, zeigt es
sich hier erstaunlich zugeknöpft, als sei es insgeheim verschnupft
und sogar verstimmt, und lässt nur ›gewisse‹ Inhalte durchgehen.
Das Bedauern darüber ist ebenso groß wie unbedarft und mit
Sicherheit heuchlerisch. »Sie war eine dusselige Kuh«, soll das
Gedächtnis, in Bedrängnis gebracht, gemurmelt haben, ohne sich
aufzurichten. Andere wussten es besser und alle Wege standen offen.
›Zurück zu Marie!‹ hörte der Bauer einst und ging von der Scholle.
Wie kann ein Bauer das wagen? Nur auf ein wenig Pechblende hin? So
ein Fund gelingt doch fast jedem im Leben. Im Leben bleiben, im
Leben leben, das, meint Marie, ist die Kunst. Oder wäre es, wenn... Nun, wenn
der Himmel halkyonisch und die Wäsche getrocknet ist, scheint
vielen vieles möglich. Was ein paar Unentwegte ›Zukunftsmusik‹
nennen, ist ein Nachklang alter Geschichten. Die Armenbibel, mit
viel Geld restauriert, aufgehängt im Vorzimmer der Macht. O Marie!
Sei ehrlich, zeig dein Gesicht.
Wenn in der hunderttausendsten Aufführung eines konventionellen Stücks der A-Klasse, sagen wir zum Beispiel des Peer Gynt, der Hauptdarsteller am Ende aufsteht und versucht, mittels einer Folge grotesker Verrenkungen den Einlass in den Mutterschoß seiner Geliebten zu erzwingen, offenkundig nicht, um darin zu vergehen, sondern um sich schlussendlich als Embryo zu verwirklichen, nachdem die Seifenträume geplatzt sind, dann wird das Publikum plötzlich still und neugierig, um zu sehen, was passiert, obwohl sonnenklar ist, dass weder etwas geschehen wird noch geschehen kann. Diese ins Nichts gespannte Erwartung entlädt sich aber nicht im Gelächter, wie man erwarten könnte, sondern in höflichem Applaus. Warum? Welches Voyeurs-Bedürfnis erfüllt der Bohrer? Das Stück ist bereits zu Ende gegangen, es ist aus, wie es so schön heißt, es handelt sich also um eine Zugabe, um ein schauspielerisches Husarenstück, als könnten sie auf der Bühne nicht genug kriegen und wollten den Abgang, koste es, was es wolle, noch etwas hinausschieben. Das entspricht gewiss der Mentalität der Zuschauer, aber vermutlich auch der politischen Geldgeber, die nicht zugeben wollen, dass zwar der Wahlkampf gewonnen, aber der Kampf zu Ende ist und nur der Krampf fortdauert. Die Theatersprüche donnern über die Bühne, als verbrenne in ihnen noch immer der alte Sinn-Saft, und das im Rundum-Einsatz verschlissene Präservativ simuliert die Verhinderung, dass etwas dabei herauskommt und das macht sicher auch einen Sinn.
Wer Sinn macht, weiß: der Nächste, der kommt, setzt seinen daneben.
Pendeln zerstört die Person. – Welche Person? – Gute Frage. Nehmen wir eine Gesellschaft X, die von Pendlern regiert wird, lebenslangen Wohnortpendlern, mit einem Häuschen bei Pforzheim und einer Stadtwohnung in Mönchengladbach oder in Stuttgart oder in, nun ja, Berlin oder Frankfurt/Oder, manche verschlägt es weiter hinauf oder hinunter, kartenmäßig gesehen. Das ist keine kleine Sache, obwohl wenig darüber geredet wird. Das Pendeln... – Darf ich unterbrechen? – Ja. Nein, zum Teufel, nein. Ein unterbrochenes Pendeln kommt hier nicht in Betracht, mit dem Körper regeneriert die Seele, bleibt die Anstrengung, der Verschleiß, subkutan, aber, nun ja, nun ja... – Ja? – die Margen werden breiter, die Gefahr scheinbar geringer, aber lebenslang... – sagen wir zwanzig Jahre... – Sagen wir: nach zwanzig Jahren ist der Mann tot. – Wie Mann? – Weil der Mann pendelt. Das ist die Regel. Die Frau ist berufstätig, der Mann ist Berufspendler. Anfangs, bevor ›Kinder da sind‹, ist das noch anders, man besucht einander wechselseitig, schließlich lebt man zusammen. Mit dem Kind ändert sich das. Aber es geht auch ohne Kinder. – Was geht? – Die Nullifizierung des Partners. – Klingt wie ein Programm. – Fragt sich wessen. – Das habe ich mich lange gefragt und keine Antwort bekommen. – Andererseits liegt sie nahe. – Aber sie empört unsere sittliche Natur. – Haben wir das? – Dann nicht mehr. – Und die Kinder? – Gibt es sie, gibt es sie nicht. Das ist die Antwort auf eine Frage, die selten gestellt wird, aber in Frageform. – Wer fragt? – Die Antwort. – Wer kennt sie? – Nur wer Grund hat zu fragen. – Also alle. – Als Frage schon, selten als Antwort. – Wer bist du. – Hu-a-wi. – Huawi? – Das ist die Frage.
Die Spießrute, ein Instrument zum Streicheln von Göttern und Menschen, hat die Aufgabe, sie zu trennen: ein Gott, wer sich dort zu helfen weiß, wo dem Menschen auf die Sprünge geholfen wird. Vielleicht auch nicht, kein Gott ist sterblicher als ein Mensch und dennoch harrt der Mensch aus, wo der Gott stirbt. Er harrt aus, sage ich, wohl wissend, was ihn empfängt. Die Meute verurteilt nicht, vor allem nicht vor, sie weiß einfach, wovon sie redet, Tatbestände sind gerade das, was sie kennt. Die Tatbestände suchen ihre Verkörperungen und schätzen sich glücklich, sie gefunden zu haben, ein schöner Körper ist gerade das, was sie glücklich macht. Ja, auch sie wollen glücklich sein, es geht ihnen da nicht anders als dem letzten aller Propheten, dem Glücksleser, der aus dem Kaffeesatz denkt. Was sonst sollte man auch von gestandenen Interpreten des öffentlichen Geschehens halten, die nicht anstehen, aus einem Fall das Letzte an Dreck herauszuholen, ohne dass dazu mehr vorhanden sein müsste als ein Verdächtiger? Der Dreck, normalerweise unter den Nägeln der Finger verborgen, die sich jetzt heben, ist das eigentliche Opfer dabei, denn so, abrupt ans Licht der Studio-Scheinwerfer geholt, weiß er sich bloß damit zu helfen, dass er zerfällt. Wo war ich, als das hier begann, könnte er sich verzweifelnd fragen, warum entgehen mir nur die Anfänge? Sie haben immer gewusst, wo sie mich finden konnten, sie haben mich in all ihren Lebenslagen mit sich herumgetragen und angestarrt, und jetzt holen sie mich heraus. Gibt es Schlimmeres? Ich müsste mich für sie schämen und kann es nicht, ich bin ihr peinlicher Teil und wer sie erlebt, starrt mich an und versteht gar nichts. Er könnte sie für Idioten halten, aber selbst dazu müsste er sie kennen, und das zu verhindern benützen sie mich. Schöne Gesichter übrigens, schön verschlagen und mit Dreistigkeit gekrönt, das ist das Schönste.
Ehrlich gesagt, wir loben, was wir haben. Wer keine Persönlichkeit hat, der wird sie schmähen, bis ihm der Griffel abbricht oder die Tastatur in Flammen aufgeht, es sei denn – es sei denn, er bekommt Gelegenheit, in eine hineinzukriechen und ihre eingebildeten Eingeweide auszulutschen, bis das Gefühl sich in ihm verfestigt: Das ist es. So entsteht der ›kongeniale‹ Biograph, von dem Verlage schwärmen, obwohl die Wortbildung sofort den Unfug verrät. Überhaupt ist eine Persönlichkeit, die es zu keiner Biographie bringt, schwer vorstellbar: Anspruch ohne Deckung. Zweifellos sind wir auf dem Mars alle Persönlichkeiten, solange noch keiner dort war und die Hierarchien klärte. Marsmenschen, das sind wir, die wir Persönlichkeit für uns reklamieren – es sei denn, wie gesagt, wir lehnen das ›Konzept‹ aus ideologischen Gründen ab. Persönlichkeit ist faschistisch: Nieder mit dem Persönlichkeitskult! Wer diesen Schwachsinn nie deklamierte, der hat nie gelebt. Er hatte vermutlich auch nie ein Che Guevara-Plakat im Kinderzimmer hängen und träumte Strawinski, statt sich aufzuführen wie … wie Michael Joseph Jackson oder Madonna Louise Ciccone nach ihrer Verwandlung in Abziehbilder des Pop-Gewerbes ... in der Einbildung, wie billig. ›Seinen Traum leben‹: was ist das anderes als die Aufforderung, die Persönlichkeit auszustreichen, um sich ihrer Früchte zu erfreuen? Denn dass eine solide Persönlichkeit zu den fruchttragenden Gewächsen gehört, diese Überzeugung versteht sich von selbst, da gilt das Bibelwort: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Und wie! Also her über die Früchte und hinein mit ihnen. Wo hinein? Jeder Sack dünkt sich gut genug, zu verspeisen, wo andere ernteten. Mit welchem Recht? Mit dem Recht des Sacks, der gefüllt werden will, weil sonst nichts mit ihm anzufangen wäre. In einem rechten Sack verschwindet jede Persönlichkeit, als habe sie nie existiert. Nur ein Wölkchen aus Wohlgefallen, das über der Szene schwebt, als gehe sie alles nichts an, verrät den Verrat.
Im Zentrum des Erweckungserlebnisses steht die Person. Man hat
sich, verführt durch eine altrömische Bedeutung und ein modernes
Bedürfnis, ein wenig zu sehr angewöhnt, sie als Maske zu deuten,
man ist an dieser Stelle nachlässig gegen die Erfahrung geworden
und hat sie dem Geschwätz preisgegeben. Wer auf dem
Persönlichkeitskern als einer erfahrbaren Größe beharrt, wird
schnell zu den Frommen gezählt und neutralisiert. Erfahrbar und
unhintergehbar darf nur die Wissenschaft sein – und mit ihr,
selbstredend, die Macht und ihre Gesellschaft. Jedesmal handelt es
sich um hergestellte Größen. Man nehme den denkenden, redenden,
planenden, agierenden Menschen aus dem Spiel und es verschwindet
spurlos. Also ist dieser denkende, redende, planende, agierende
Mensch das Faktum. So kann man es sehen. Der denkende, redende,
planende, agierende Mensch stellt sich her – er schafft seine
Institutionen, die ebensosehr Figuren der Selbstauslegung sind wie
reales Leben, Sein, Selbstbewusstsein. Es gibt kein
Selbstbewusstsein diesseits der Institutionen, es sei denn als
Schein, als Selbsttäuschung, als Maskerade und damit als Teil der
Formen, in denen der unvermeidliche anarchische Rest jeder Ordnung
sich organisiert – als Teile des großen Karnevals, in dem das biologische Sein sich
verspritzt oder verschwitzt (oder verblutet). So denkt die
Wissenschaft – oder wenigstens der Teil von ihr, der diesen Dingen
überhaupt Aufmerksamkeit schenkt und dem dergleichen Überlegungen
nicht sofort ›metaphysisch‹ und damit suspekt vorkommen. Unnötig zu
sagen, dass diese starken Überzeugungen Herrschaft begründen, dass
sie auf eine Art Fächerherrschaft hinauslaufen, die sich über
Ausbildung, Öffentlichkeit und Beratertätigkeit vermittelt. Ihr
Überzeugungsfundament ist die Religion der Gesellschaft, die
Spießerideologie ohne Konkurrenz, in die am Ende auch die
christliche Gläubigkeit einmündet – nicht überall, aber in den
Ländern des historisch vermittelten Unglaubens an sich selbst. Für
die Trauernden, die Resignierten, die Hinterbliebenen des alten
Persönlichkeitsglaubens, die schaudernd vor den ›starken
Persönlichkeiten‹ der Psychologie und der Wirtschaftsmagazine das
Haupt verbergen, ist jener Rest zum Gegenstand einer fortwährenden
pfingstlichen Erwartung geworden – als werde das eherne Haupt sich
eines Tages spalten und das freie Selbst aus ihm heraushüpfen,
gereinigt von den Schlacken des alten Aberglaubens und strahlend in
der Glorie seiner unhintergehbaren Transsubstanzialität. Dieses
Selbst... es ist doch nur die Schwundform der Person, des Menschen,
der hervortritt, um seine Dinge in die Hand zu nehmen – nicht des
metaphorischen Urhebers aller jener ›selbstgeschaffenen‹
Institutionen, hinter denen er flüchtig auftaucht, um gleich wieder
zu verschwinden, weil er sich keinem konkreten Gedanken gewachsen
zeigt, sondern des Menschen, wie er zwar in großer Zahl, aber nur
als Einzelner auftaucht und sein Leben lebt. Er lebt es übrigens
auch als Wissenschaftler, gelegentlich in schroffem Gegensatz zu
dem, was er lehrt. Das verbiegt vielleicht den Menschen, aber es
verbiegt mit Sicherheit auch die Wissenschaft. O Wunder: darin sind
alle sich wieder einig. Aber wie kann sich ein Wesen verbiegen
lassen, das doch unendlich biegsam gedacht wird und dazu bestimmt,
sich in Institutionen jeder Art und Güte auszudrücken und und unter
den übelsten Bewandtnissen ›voranzukommen‹, selbst wenn
gelegentlich Blut aus der Tube quillt?
Zur Politik gehört die Unterscheidung farbiger Personen von farblosen. Das meint nicht Hautfarbe, sondern Ausdrucksstärke. Die Unterscheidung dient, respektlos gesagt, zur Identifikation der Haufen. Von ihnen, die größtenteils aus farblosen Parteisoldaten bestehen, heißt es, dass sie ›Politik machen‹. Um sie auseinanderzuhalten, ist Farbe vonnöten. Die Grundeinfärbung ist praktisch immer gegeben. Notfalls lässt sich mit diskreten Kleidungsstücken wie Krawatten, Halstüchern, Westen etc. nachhelfen. Frauen, da farbenfroh, haben es in der Regel leichter. Doch kommen auch bei ihnen üble Fehlgriffe vor. Farbe ist, wie es in der Entscheidersprache heißt, nicht das Problem. Falls doch, gilt die klassische Loyalitätsregel: Wer zu farblos ist, um seine Parteizugehörigkeit zu verraten, darf ausscheiden und von vorn anfangen, z. B. als Wirtschaftsberater. Haufen- resp. Parteiführer müssen Farbe bekennen. Das gehört zur Natur der Sache und ist anders nicht vorstellbar. Als einfache Variante bietet sich das Erröten bzw. Erblassen bei passender Gelegenheit an, etwa nach einem Radsturz oder einem Skiunfall mit Todesfolge, der weggedrückt werden muss. Erreichbares Maximum ist der Parteiführer, der bei Ansprachen puterrot anläuft: ein Knopfdruck-Effekt, der auf Leidenschaft und Tatendurst deutet, auch wenn die Medizin da anderer Ansicht wäre. Ungefährlich ist eine solche Gabe nicht. Die Dosierung obliegt den von der Natur Beschenkten. Was nicht immer gut geht: dann wird aus einem Parteiführer gleichsam im Handumdrehen ein Spalter. Aber welche Brunst! Einem bleichen Kantianer gehen da leicht die Augen über. Andere steigen mit einer Farbe ins Bett und stehen mit einer anderen wieder auf. Das sind die Wendehälse, die bei jedem Wechsel gefragt sind und in der Zwischenzeit den Makel der Unzuverlässigkeit mit sich herumtragen. Überhaupt gilt eine bunte Persönlichkeit in der Politik als Übel. Man hält sie für wenig berechenbar und das für einen Fehler, denn Politik ist berechenbar. Auch die Politik der Unberechenbaren lässt sich berechnen. Das ist der Grund, weshalb Menschen, die ›zwei und zwei‹ nicht für ein Gesellschaftsspiel halten, oft genug die Haare zu Berge stehen. Das Publikum hingegen ist farbenfroh und liebt alles Bunte, andernfalls wird ihm langweilig. Außerdem ist das Durcheinander ein klassischer Bestandteil der Politik. Es verhindert, dass sie zu rasch voranschreitet und das Volk aus den Augen verliert. Es sorgt auch dafür, dass die gerühmten Konzepte alle Naslang auf den Prüfstand kommen, weil sonst vergessen würde, wofür sie gut sein sollen und was sie in Wirklichkeit anrichten. Ansonsten ist das Metaphernfeld für Politiker, die mit gebrauchten Masken hantieren, wenig empfehlenswert. ›Personen unterschiedlicher Färbung‹: das reicht für Ansprüche auf gute Führung oder einen Rassismus-Verweis, im Alltag gelten Maßstäbe, die hier nicht verraten werden.
Menschen, die ihren Aufstieg der eigenen Intelligenz verdanken, neigen dazu, die im oberen Drittel der Gesellschaft vorhandene Intelligenz zu über- oder zu unterschätzen: ersteres, wenn sie den Weg der Abschlüsse und Auswahlverfahren gegangen sind, auf dem die Papierform obsiegt, letzteres, wenn sie den Weg der List, der Schläue und gelegentlich der brutalen Gewalt beschritten haben. Das gehört unter die unvermeidbaren Verzerrungen. Keine objektive Instanz rechnet Menschen aus diesem Personenkreis vor, wie sie ihre Mitbürger realistischerweise einschätzen müssten, um die elementaren Fehlgriffe zu vermeiden, an deren Folgen sie schließlich scheitern. Da das Scheitern ebenfalls keine einfache Größe ist, setzt die Rückwärtssuche selten wirkliche Einsicht frei. Vielmehr verdankt sich auch das korrigierte Urteil dem Fehler, das heißt einer verfälschten Optik: es verkündet kein besseres Wissen, sondern das entgangene Bessere.
– Aber wenn dem so ist, räsoniert Engel, dann sind die ersten Opfer der Aufgestiegenen ihre Kinder. Im Normalfall können sie weder die Leistungen bringen noch sind sie clever genug, um den Weg der Eltern zu gehen. Da der einzig gangbare Weg nicht ihr Weg ist und es gar nicht sein kann, ernten sie eine mit Verachtung vermischte Liebe, an der sie ein Leben lang schlucken.
– Sehr richtig. Kinder des Durstes sind sie und schlucken – nichts.
Das Pfand, jeder weiß es, ist eine Geisel der Schuld. Was ist, was jeder weiß, wert? Nichts, gar nichts. Warum? Schwer zu sagen. Die Menschen sind, wie sie sind, systemabhängig bis zum Mysterium. Ja das Geheimnis, es macht sie zu Geiseln, es ist nicht ihr Geheimnis, das nicht, aber sie sind seine Bewahrer. Der Mensch ist ein Pfand. Wer ist der Mensch? Ein Abstractum? Ein Konstrukt? Das sagen viele, ein Hirngespinst: das sagen andere, aber nicht so sehr andere. Ich hingegen sage euch: Der Mensch ist ein Pfand. Die Schuld hingegen... Wie kann es sein, dass so ein Pfand stehenbleibt, Jahr um Jahr, Jahrzehnt um Jahrzehnt? Ist die Schuld so groß? Woher kommt sie, die Schuld? Woher kommt es, dass einer sein Leben schuldet? Denn darum, ums Leben, geht’s doch, gleichgültig, was man euch sagt. Darum ist, wer frei über sein Leben verfügt, auch frei von Schuld. Ein Krimineller? Vielleicht. Aber die Schuld kommt nicht an ihn heran. Menschen fürchten sich vor ihm, weil sie ihr Leben zu schätzen wissen. Und unter uns, sie taxieren es ziemlich hoch. Nicht hoch genug, nicht so hoch wie seins, da entstehen schon Bande. Wer frei über seins verfügt, verfügt auch über andere. Daher die Furcht, daher die Schuld. Sprecht den Furchtlosen schuldig und das Schuldsystem bricht zusammen. Es bricht zusammen, sage ich, aber es verschwindet nicht, so groß die Hoffnung auch sein mag. Jede, auch die verschwindende Hoffnung bedarf eines Trägers. Steck’ sie ihm an und er stellt seine Forderungen – er darf es. Revolutionen, Institutionen, Bewegungen, Bruder- und Schwesterschaften, Aufbrüche, Un-Menschliches jeder Couleur – sie stellen, einmal ins Leben gerufen, Forderungen ans Leben, Forderungen, die, eingehend betrachtet, unerfüllbar bleiben. Schon geht es dahin, das Pfand, der Garant für Wohlverhalten, genannt: Mensch. Er geht dahin – nur wohin, das lässt er wohlweislich offen. Der Mensch ist ein Offenhalter.
Wo ich herkomme, spukt die ›Philosophie‹ mächtig in den Köpfen. Warum die Anführungszeichen? Vielleicht deshalb, weil Philosophie aushäusig geworden ist, weil sie nirgends erkannt wird außer von denen, die mit ihrer akademischen Gestalt nichts im Sinn haben oder ›am Hut‹, wie sie sagen – es sind zweierlei Hüte und es ist zweierlei Hut, die hier ins Spiel kommt. Die eine lässt denken und hält das für Geistestätigkeit, die andere denkt selbst, sie denkt sich ihren Teil und ist bemüht, den anderen davon abzutrennen, nicht aus Geringschätzung, sondern aus Achtung vor dem, was einmal Geltung erzeugte, sodann aus Selbstachtung, die nicht zugeben kann, dass das Spiel darin besteht, Schiffchen zu versenken und Webfehler im Denken anderer aufzudecken, als liege dort die eigentliche Arbeit, und sie anschließend wieder zuzudecken, indem man sich einer ›Denktradition‹ zuordnet und die Reflexion abbricht, um zu irgendeiner Überzeugung überzugehen. Traduttore, traditore: der Übergang liegt im Denken selbst, er geht so einfach vonstatten, dass er kaum bemerkt wird, es sei denn unter Gelächter. Doch soll, wer gern lacht, nicht vergessen, dass auch das Belachte Macht über den Lacher besitzt, eher zuviel als zu wenig, eher dunkle als helle.
Ein Aquarell von Paul Mersmann: Der zwölfjährige Chirico zeichnet das Detail eines
römischen Rahmens anlässlich eines Papstbesuches seiner Mutter zur
Gewinnung eines vollkommenen Ablasses. – Il Gesù, zwei
Treppen hoch, da: eine Pietà, so süß, so über die Maßen süß dieser
Schmerz in den Augen der Mutter, leicht verdreht und das Unglück
betrachtend, aber von innen, in den Schultern, die ein heimliches
Schluchzen verdreht, in der Haltung der Hände, dieser ergreifenden
Haltung, vielleicht auch Halterung, derer der aber auch wirklich
übel zugerichtete Leichnam bedarf, um nicht herunterzugleiten. Und
doch lächelt dieser Leichnam, nicht mit den Augen, die geschlossen
sind oder vielmehr wurden, nicht mit dem Gesicht, das ernst und
männlich abwesend ist, es lächelt der Körper, dieser so ernsthaft
aufgebahrte Körper eines vor kurzem noch Gefolterten, vom Schmerz
der Mutter liebkost. Giorgio holt den Malstift heraus, Mutter wird
entzückt sein und mit einem heimlichen Beben seine innerste Absicht
erraten. »Das ist schön«, wird sie sagen, »das ist wirklich schön.«
Die Frau, stille Schreiberin, Schriftstellerin sogar, das Entzücken
der gebildeten Welt, dabei, wie immer, so still, so hingegeben, so
sehr bei den eingeborenen Gedanken, Empfindungen, Episoden, die ihr
stark wie am ersten Tag der Schöpfung in die Feder fließen, daneben
der Mann, ein geborener Agent, der den eigenen Beruf an den Nagel
hängt, um nur für ihren Erfolg zu leben, der dann natürlich
sein Erfolg ist, da
er ihn betreibt, mit
tausend Anstrengungen, mit Tricks, mit Werbeaktionen ohne Maß, mit
einem sich überschlagenden Verhandlungsgeschick, mit vollem Einsatz
eben, ein Nichts, eine Niete, eine Lächerlichkeit, ein
Fußabstreifer, ein Mörder seiner Frau, vor dem dieses reichhaltige,
so überaus menschliche Innenleben bebend flieht, gleichsam in die
Arme des jungen Schreibers hinein, der diese Geschichte, ihr
entgegeneilend, niederschreibt um des eigenen Erfolges willen,
vibrierend angesichts der Nichtswürdigkeit des geschäftstüchtigen
Gatten, bis zum Kragen angefüllt mit kalter Verachtung für einen
wie diesen da – wer mit einer solchen niederträchtigen Geschichte
beginnt, wie kann der enden? Nein, nicht unterm Schafott der
Kritik, eher schon unter der Bewunderung eines zum Kenner
hochfrisierten Philosophiedozenten, der hier allenthalben das
grandios überlegene Spiel von tiefer Abstraktion und gesättigt
konkreter Individualisierung in unvergleichlicher Lebendigkeit und
Gültigkeit ›erbracht‹ sieht. Dieses Erbringen – wie verrät es sich
selbst. »Es ist erbracht«: eine schöne Demaskerade für jemanden,
der das Geltenlassen nicht erlernen wollte, um keinen Preis.
Die waffentragende Maus beweist, in welch unglaublichem Tempo die
Evolution doch voranschreitet. Fand man sie vor ein, zwei Generationen
noch auf den Heftseiten der Comics, so hat sich das Bild in den letzten
Jahren radikal gewandelt. Waffentragende Mäuse sind keine Seltenheit
mehr. Man trifft auf sie, ohne dass man die Hauptstraßen der Städte
verlassen muss. Sie patrouillieren ganz ungeniert in der Dämmerung und
manche sagen, sie übten bereits eine gewisse Kontrolle über unser
Gemeinwesen aus, obwohl darin eine vielleicht gewollte Übertreibung
liegt. Noch fürchtet sich niemand, aber eine gewisse Nervosität liegt
in der Luft. Wie immer in solchen Fällen sollen wissenschaftliche
Studien belegen, dass von ihnen keine Gefahr ausgeht. Aber das
Vertrauen in diese Art der Wissenschaft ist seit langem im Sinken;
niemand weiß, wer ihren Gefälligkeitsarbeiten noch vertraut. Es täte
Not zu wissen, wer die Mäuslein bewaffnet und woher ihre Schießeisen
stammen. Die Polizei hat einige Exemplare konfisziert und Schießübungen
haben den Beweis erbracht, dass die von ihnen ausgehenden Gefahren
nicht unterschätzt werden dürfen. Das Material ist gut. Genaue Daten
liegen der Öffentlichkeit nicht vor, was die Gerüchteküche naturgemäß
anheizt. Schon hört man da und dort, die Dressurfähigkeit der Mäuse
habe sich stark gebessert. Das Militär soll sich der Sache angenommen
und eine Mäusearmee aufgestellt haben, deren Einsatz strenger
Geheimhaltung unterliegt. Man weiß nicht, wofür die Mäuse stehen, man
weiß nicht, wo sie stehen, und letztlich glaubt niemand daran, dass das
Militär in dieser Sache ein wirksames Monopol besitzt. Denkbar, dass
wohlhabende oder kriminelle Glieder der Gesellschaft inzwischen
Privatarmeen unterhalten, bestehend aus ganz unterschiedlich
bewaffneten und gedrillten Mäusen, die sich ihrerseits auf
verschiedenen mentalen Entwicklungsstufen befinden. Das Mentale scheint
in dieser Angelegenheit der eigentlich beunruhigende Faktor zu sein.
Denn die beschleunigte Evolution der Mäuse verläuft, wie Experimente
belegen, nicht einsinnig, sondern verzweigt sich auf nahezu jeder
Stufe, so dass praktisch jede Stunde eine neue Mäuseart mit gänzlich
neuen Fähigkeiten das Licht der Welt erblickt. Wohin das führen soll,
weiß niemand. Es sieht so aus, als habe ein verborgenes Ereignis oder
ein bisher unidentifizierter Umwelteinfluss die Mäuseschaft aus dem
langsamen Gang der Evolution geschleudert und nun rase sie, unbehelligt
durch die Schranken des gesetzhaft Immergleichen, ins Meer der
Möglichkeiten hinaus – ein Fall für Entwicklungsphysiologen, aber
ebenso für die Psychiatrie. Wie mag, wird dort gefragt, die
individuelle Mäusepsyche das große Geschehen verarbeiten, in das sie
unvermittelt geworfen wurde? Man spekuliert darüber, dass dies
›eigentlich Erlöserstoff‹ sei und die Mäuse sich kollektiv zu der
Überzeugung bekehrt hätten, sie seien berufen, die Neue Maus zu
gebären. Auch bei den Katzen scheint das Gerücht angekommen zu sein.
Ihrer wichtigsten Nahrungsquelle beraubt, verlieren sie zusehends die
Nerven: Sie rotten sich in Rudeln zusammen und versuchen lesen zu
lernen, was ihnen bislang misslingt.
Wer nach dem Ausnahmezustand Schlange steht, weil er sonst nichts zu erzählen hätte, darf sich mit einiger Berechtigung zu den Normalen zählen. Das sind Leute, denen ihr Leben zustößt, es lauert sozusagen an der nächsten Straßenecke und sie benehmen sich auffällig, damit es sie nicht übersieht. Und so geschieht es dann auch. Das Leben kommt und geht als eine Aneinanderreihung von Unfällen, einer krasser und banaler als der andere. Im Grunde kann es nur durch Mord enden, aber das wäre, nach allgemeiner Übereinkunft, zu krass und wird, wenn es einmal passiert, entschieden geahndet. Dass jemand im besten Lebenssalter verschwindet, ist eher die Ausnahme von der Regel. Sie besagt, dass es mit dem Verschwinden seine Weile hat und die Leute noch in voller Auflösung nicht bereit sind, den Platz zu räumen, auf den es sie einmal verschlagen hat. Das Verschwinden ist eine Disruption, die einerseits auf Mord oder Selbstmord deutet, andererseits auf ein Ritual, über das zu berichten sich nicht wirklich lohnt. Ein neues Leben beginnt, wem das alte zum Hals heraus hängt – schönes Bild, man sieht das Leben züngeln und weiß, es freut sich tierisch, eine frisch herausgeputzte Heimstatt zu beziehen.
Um reine Poesie zu backen, braucht man eine genaue Kenntnis der
Ingredienzien. Dann muss man wissen, wie sie zusammengerührt und
abgeschmeckt werden. Schließlich liegt alles daran, ob und wie sich
die unio mystica aus Dauer
und Hitze vollzieht, ohne die nichts geht. Ein schlechter Kopf kann
in geschickten Händen einen guten Ofen abgeben, man hat manches
ambitionierte Gerät gesehen, das bei dem Versuch, es recht zu
machen, den Geist aufgab – eine unziemliche Metapher, die das
Unziemliche des Vorgangs in ein grelles Licht rückt. Doch sollte
man solche Vorgänge besser im Dunkel lassen, das von
Kirchenmusikern gnädig genannt wird. Auch das Rühren und
Abschmecken bedarf eines unalltäglichen Rapports. Am besten bewährt
hat sich die Hand, die aus einem gerührten Gemüt hervorkommt wie
der Wasserstrahl aus der Wand. Dann wäre der Geschmackssinn der
Hahn, der jede Bewegung kontrolliert und am Ende die Zufuhr stoppt
– ein bestechender Gedanke, wohl wahr, doch was wird aus ihm, wenn
die Dichtung alt und brüchig ist, vielleicht vom Vorgänger
installiert wurde, von seinem Händedruck drangsaliert, dem sie sich
jetzt langsam und unkontrolliert entzieht? Auf die Dichtung kommt
alles an. Schließlich weiß keiner, woher die Ingredienzien stammen
und welche Hand schon auf ihnen lag. Am Ende sind es die Hände, die
über die Reinheit entscheiden, die Frage, ob man sie vorher oder
nachher wäscht, hat schon manchen Kleinganoven den großen Reibach
gekostet.
Der Pomp des Waschbeckenverkäufers besteht darin, dass er links neben der nimmermüden Hand eine Broschüre deponiert hat, die Aufschluss über seine Erfolge vermittelt – natürlich nur Menschen, denen er vertraut, handverlesenem Material sozusagen, also dem, was gerade heute schwer aufzutreiben ist, wenn man es überhaupt in die Finger bekommt. Das liegt nur teilweise an der Konkurrenz, die bekanntlich niemals schläft, aber nicht früh genug aufsteht, um einem ernsthaft Kopfzerbrechen zu bereiten, sondern am generellen Bonitätsverlust, der selbst vor Waschbecken nicht Halt macht, im Gegenteil: hier zeigt er sein wahres Gesicht. Fast könnte man sicher sein, ihn beim Rasieren zu treffen, doch genderpolitisch ist so eine Aussage natürlich ein No-go. Nicht jeder Mindernickel trägt den Bart im Gesicht. Die Raffinierteren tragen ihn unter dem Arm und lassen sich daher nur mühsam einwickeln. Sei’s drum. Was in Würde passiert, kann niemals falsch sein. Nur das Signal geht unter Umständen in die falsche Richtung oder gleich in die Irre. Wie in aller Welt lässt sich das ändern? Sehr einfach, du preschst hinterher, bis der Elan aufgebraucht ist und keiner mehr so recht weiter weiß. Dann, bei Torschluss, schließt du den großen Ehrenpakt mit allen, die guten Willens sind. Worin so ein Ehren...dings besteht? Passen Sie auf! Das ist kein Thema für Leute, denen das Wasser noch nicht bis zum Halse steht und die deshalb vor dem Schwimmen sich eine Art Horror bewahren. Schwimmkünste also... darauf läuft das Ganze hinaus. Welche Arten zum Einsatz gelangen? Kommt ganz aufs Waschbecken an, in dem sie erworben wurden, und darauf, ob der Stöpsel auch wirklich schließt. Merke: Wer sich vom Stöpsel abhängig macht, kennt den Grund gut, er stößt ihm nur auf. Es ist zwar nicht der reine Wein, in dem der Unglückliche sich abstrampelt, aber fürs Ersaufen reicht’s allemal. Schließlich reicht es auch so. Greifen Sie zu! Demonstrationsware geht zum halben Preis. Die Fliege am Beckenrand fische ich Ihnen heraus. Schon geschehen! Und nun: Gut Glück.
Die Literatur ist so erpicht auf Momente, dass sie eines regelmäßig
übersieht: das Moment der Scham ob all der bedeutsamen Augenblicke,
in denen sich ›etwas vollzieht‹. Die Vollzugsmeldung fällt dem Homo
sapiens schwer, er muss sein Herz über die Hürde werfen, um sie
herauszutrompeten, und wer die Reaktionen der anderen sieht, die
von Begütigung bis zu offenem Hohn reichen, der begreift mit
Leichtigkeit, wie es um diese inneren Momente steht. Erschiene der
Gott außer Zweifel, so erschiene er allen, doch dass er dem einen,
diesem da, erschienen sein soll, einem Wesen, das entweder keines
Zweifels fähig oder seiner ewigen Zweifel müde ist, das glauben nur
Leute, die sich an Leute hängen, um ihnen zu glauben, was sie an
sich zu glauben nicht fähig sind. So geht es einem mit den Momenten
der Kunst, wie es mit vielem geht. Zu schön, um wahr zu sein sind sie
nicht deswegen, weil sie zu viel, sondern weil sie zu wenig Kunst
enthalten. Aber auch das ist mehr oder weniger gleichgültig
angesichts des Umstandes, dass sie gewollt sind. Wären sie es
nicht, so blieben sie in den Gittern des Gedächtnisses hängen, das
sagt: Ich habe sie gerettet. Aus einer übergänglichen Folge von
Empfindungen habe ich diesen Goldfaden herausgezogen, an dem das
Jähe ebenso gewirkt hat wie die Erschlaffung. Die Empfindung, durch
Fülle überwältigt zu sein, verdankt sich dem Nachlassen der
Spannung in einer sich aufgipfelnden, durch welche Jagd auch immer
ausgelösten Erregung. Es ist
genug wird da leicht zu: Es ist geschehen. Und das ist es dann
auch.
Werkzeug der Gottesempfängnis nach Mitternacht. Der Gott erscheint
seit alters in Tiergestalt, als Ameise vielleicht oder als
Kreuzspinnritter, auch Hasen gelten als Zahlungsmittel und sind
akzeptiert. Die Plaudertasche umfasst sie alle mit einem runden
»O«, mehr gehaucht als gepfeffert, und legt sie lahm. In ihr ist
gut reden, sie hält die Gabeln warm und auf Abruf, da können die
Zahnärzte kommen. Wurzelbehandlung fördert das einsame Denken, das
hier wie in allen Kulturen zum Tragen kommt, wenn die Plaudertasche
die Röcke hebt und das Licht löscht. »Der letzte«, wispert die
Ameise, »der letzte, ein Fauxpas ohnegleichen.« Was immer sie damit
meint, es geht im Geschehenen unter.
»Einen feinen Pöbel habt ihr da beieinander.« Im Bild des Pöbels
beweist sich das Volk vor sich selbst und behauptet das Gegenteil:
die reine Differenz. Pöbel unten, Pöbel oben, Geldpöbel und
Gesinnungspöbel, Pöbel durch Herkunft und Pöbel durch Verlangen,
sie stehen einander in nichts nach außer in der Frage der
Definitionsmacht. Pöbel wird von oben nach unten dekliniert, er
setzt, neben der schieren Einbildung, einen klaren Blick für die
Verhältnisse voraus, wie er nur dem souveränen Teil der Bevölkerung
zukommt. Jedes andere Urteil in Sachen Pöbel erscheint geborgt,
reine Kolportage und daher lächerlich, unziemlich und umkehrbar. In
der Konsummoderne erzeugt die Weise des Konsumierens die
Hierarchien und wird durch Hierarchien gelenkt. Auf- und
absteigende Konsumeliten begegnen sich gern ›auf gleicher
Augenhöhe‹. Sie lieben diese Phrase bis zum Abwinken, derweil die
Fahrstühle weiterlaufen und dem Spuk ein Ende bereiten. Am Ende
heißt es Aussteigen, man ist da und genießt die Aussicht mit
poliertem Gebiss.
Doch was heißt schon Konsum. Das ist eine Phrase wie andere auch
und das Bild behauptet, was es verschließt, die reine Wahrheit. Die
Wahrheit über den Pöbel ist, dass es ihn gibt. Das unkontrollierte
Unterschied-Machen geht wie von selbst in den Zwang über, ihn
hervorzuwühlen, zu ›pöbeln‹, wie die Sprache das unnachahmlich
bezeichnet. Auch sie pöbelt herum, ist keineswegs unschuldig an der
Sache, bei Licht besehen trägt sie die Hauptschuld an der
Misere.
Alles, was unten durchrutscht, passiert die Etagen des schlechten
Geschmacks, der lauten Rede, der sich ereifernden Differenz. »Aber
das wissen wir doch.« »Ach, was wisst ihr schon. Dass jemand vom
Regen in die Traufe kommt, will nichts bedeuten. Seht die Politiker
an: einer pöbelt und bekommt einen Denkzettel an den Urnen. Der
Pöbel fühlt sich ertappt und keilt zurück, lautlos, wie es sich
ziemt. Kein Pöbel ist ›von gestern‹, das lehnt er ab.« »Gestern war
Eiszeit, heute schwimmen die Eisbären auf Schollen vorbei und
wärmen ihr Gebiss in der Sonne.« »Zu welchem Ende?« »Das ist eine
Kaninchenfrage, sie sollte nicht gestellt werden. Was geht sie
an, was unter Wasser geschieht?« »Nun, wer sich vermehrt, macht
sich so seine Gedanken.« »Ach –«
Polites der Ärgermacher – so hieß es früh in Trojas vornehmen Kreisen,
wenn er von seiner hohen Warte herabstieg, um schlechte Nachrichten
zu verbreiten. »Wer hoch steigt, der übersieht viel«: wer sein
Leben nach dieser Devise ausrichtet, fällt eher selten auf, dafür
unangenehm. Die heutige Politik bietet dafür gute Beispiele, sie
greift tief in alle Lebensbereiche ein, daher orientiert sie sich
gern an Werten, vor allem an Grenzwerten, die andere für sie
schufen. Dass ein Wert, um zu existieren, erzeugt werden muss, fällt
Politikern seltener auf. Meist denken sie, es genüge, ihn zu
verteidigen, und husch! ist er weg. Ganze Industriebranchen brechen
weg, wenn hinter Grenzwerten keine Technik steht. Jedenfalls
behaupten die ›betroffenen‹ Branchen das gern – in der Regel
gelingt es ihnen, das Gewünschte herbeizuschaffen, wie das Gesetz es
befahl, und sei es auf den letzten Atemzug. Anders geht es zu bei
Werten, an deren Entstehung ganze Kulturen beteiligt waren,
ausgestorbene und ausgestopfte, ausgelachte und ausgebrannte: Man
kann sie verteidigen wollen, aber nicht herstellen, man kann
nie wissen, ob sie noch existieren, nicht einmal, ob sie, auf diese
Art und Weise verteidigt, noch immer dieselben wären. Toleranz zum
Beispiel, ein Wert ohne Haltung, eine Haltung ohne Wert, die alle
anderen Werte auf die Perlenschnur zaubert: eine wertfreie Zone –
will man das, wenn man sie verteidigt? Toleranz, solange das
Wort seinen Sinn bewahrt, wird gewährt – wer soll dort
gewähren, wo es allein ums Hinnehmen geht? Toleranz, als
zugelassener Spielraum, ist der Raum, in dem alles geht – wo geht
sie hin, sobald nichts mehr geht? – Nie geht es um Toleranz, immer um
ihre Grenzen. Eine Politik, die sie einfordert, will Grenzen
erweitern, indem sie neue setzt. Das Ergebnis mag, wer will, Toleranz nennen,
aber es ist etwas anderes. Oh Polites! Hätte dein
Schweigen den Krieg um Troja verhindert, so wären wir heute um eine
Geschichte ärmer. Schlimmer noch: Hätte dein Reden den
Verteidigungskrieg der Troer ärger gemacht, du stündest heute als
Brandstifter da. Dabei wolltest du nur – Werte verteidigen.
Eingelegte Politikerreserve, nach EU-Norm gekrümmt, leicht säuerlich im Geschmack, immer auf der Suche nach dem richtigen Zeitpunkt fürs nationale Comeback. Konsequente Gegner des Nationalstaats. Rüstungsbefürworter.
Man muss es der Harmlosigkeit der Künstler zugute halten, dass sie
sich so bereitwillig politisiert haben und politisieren haben
lassen. Es verstand sich – beinahe – von selbst. Was hätten sie
verlieren sollen? Alles, doch das war, wie sie es verstanden,
wenig, da sie eine Welt zu gewinnen glaubten. Die Welt zu
gewinnen... zumindest eine, die zweite, um genau zu sein, die
nach Nietzsche keine Hinterwelt mehr
sein konnte, sondern eine, die bevorstand, die sich herausreißen
ließ aus den Verhältnissen, wie sie waren, gab man erst die Bildung
dran, die Vorbehalte, den Weltschmerz, die Autonomie, die Leinwand,
die Billigkeit, den Verstand: alles, was einen im Grunde harmlosen
Menschen davon abhalten kann, sich für eine Lotterie zu ruinieren.
Der homo novus hat
die Kunst ruiniert und er
ruiniert sie weiter. Er hat sich eingerichtet zwischen seinen
Einkaufskartons, die er Gesellschaft und neuerdings Umwelt nennt,
und verlangt, unterhalten zu werden. Die Leichengebirge, auf denen
er sich flezt, kümmern ihn wenig. Wenn die Kunst in die Kissen
schluchzt, fragt er, ob sie nicht alle hat und kauft ihr einen
Lolli. Sie schluchzt auch schon weniger, nur hin und wieder,
vermutlich, wenn der letzte Lolli aufgebraucht ist. Sie produziert
sie selber derweil, doch Verwöhntwerden ist schöner.
Man zieht es vor, die Dinge so zu sehen, als sei die Moderne
irgendwie in Europa entstanden und habe sich von dort über die Welt
verbreitet, aus deren Zentren sie heute auf Europa zurückwirkt. Das
mag in einem sehr allgemeinen Sinn zutreffen, aber es bezeichnet
nur einen Faktor in dem, was man gemeinhin ›Wirklichkeit‹ nennt,
die technologisch-ökonomische Entwicklung. Schon der Gebrauch, den
es von ihr gemacht hat, erinnert daran, dass eine abgewickelte
Spule leer ist. Auf dem intellektuellen Sektor bezeichnet ›Moderne‹
sehr genau den Prozess der Selbstzerstörung Europas – ein Vorgang
mit Folgen, aber in historischen Grenzen. Eine Gesellschaft, die
ökonomisch gut im Rennen liegt und keinen Grund sieht, Kriege zu
führen, weil es vereinbarten Prinzipien widerspricht, aus denen sie
neuerdings Vorteile zieht, mag, äußerlich betrachtet, Zeit und
Ressourcen besitzen, über das Wunder der Wiedergeburt nachzudenken
und ›konkrete Schritte einzuleiten‹, damit es in naher oder
fernerer Zukunft eintreten kann. Aber das scheint nur so, weil das
Rennen nicht aufhört und die Ressourcen verschlingt, die ein
anderes Miteinander versprechen. Am Ende siegt die
Positionsangst und mit ihr die
Überzeugung, alles geben zu müssen, um seinen Platz zu halten. So
zerstieben hochintegrative Modelle zu nichts, sobald sich
Währungsfragen nach vorne schieben oder die Tankanzeige flackert.
Aber vielleicht waren sie bereits nichts im Augenblick der Entstehung. Die
Überzeugung des Klempners, eine Familie glücklich zu machen, wenn
er ihre Leitungen repariert, ist, unter uns, schon ein bisschen
komisch. Auch sie folgt der Logik des Boxenstopps, ungeachtet der
Tatsache, dass der biedere Handwerker Rennen nur aus dem
Fernsehen kennt.
Die Geschichte ist die Abtreibung der Geschichte. Das kann kaum
anders sein, da die unzähligen Schlachten, die im Namen der
Geschichte geschlagen werden, sich im historischen Gewebe
ineinander verschlingen und in der Ungewissheit des Künftigen
zerlaufen. Mit jedem vergeblichen Sieg, mit jeder vergeblichen
Niederlage rückt das Ziel näher: Die Befreiung von der Geschichte
ist immer im Gang. Dort gehört sie auch hin, solange ein Augenpaar
da ist, das die Dokumente entziffert und ein Mund, der sich rundet
– vor Entzücken oder Entsetzen, wo bleibt da der Unterschied? Ja wo
bleibt er denn? Geschichte fördert man nicht durch Schürfrechte,
sondern durch Abschreiben. Das wird von Leuten gern übersehen, die
mit ihr auf vertrautem Fuß stehen und wissen, wo’s langgeht. Der
erste in dieser Reihe kennt die Geschichte noch nicht: er schreibt
auf. Er hat etwas erlebt, er hat den Wunsch zu berichten. Die
Muster, denen seine Niederschrift folgt, sieht er nicht oder sie
sind ihm gleichgültig. Das hat, da jede Geschichte eine ist, eine
bestimmte Konsequenz: die Geschichte aus Geschichten, die man die
Geschichte nennt, ruft nicht nur unterschiedliche Erzählmuster auf,
sondern fügt ihnen eines hinzu, das dem Hersteller der Geschichte
entgeht. Die Theoretiker, die das Ende der Geschichte verkünden,
erzählen nichts weiter (es sei denn das Blaue vom Himmel herunter).
Aber sie erweitern das Spektrum der zu erzählenden Geschichten,
insofern sie erzählen, wie es ihnen mit der Geschichte ergangen ist
und wie es geschehen konnte, dass sie den Glauben an ihren Fortgang
verloren. Im Kern der Posthistoire steckt, wie das Körnchen
Wahrheit, die Unvernunft des Erzählers, den das Erleben seiner Zeit
überwältigt: Eine Geschichte, wie
ich sie erlebt habe, hat mir noch keiner erzählt. Eine
schöne Geschichte ist das.
Glückswort der Kindheit, mit Goldtalern zu belohnen: Wer auf dem Bock sitzt und das
Horn bläst, dem ist immer Sonntag. Einmal Postillon sein: nein, es
wäre zu viel, zu viel des Glanzes, zu viel des Überschwangs, zu
viel des Glücks. Schon höre ich eine vertraute Stimme:
Das muss ein Männertraum sein. Doch wenn schon, dann bitte
genau: ein Knabentraum. Auch so stimmt es nicht, es ist kein
Glückstraum, sondern das Glück selbst in träumerischer Umhüllung. Viele
sehen das Glück so, bis die Schatten sie überwältigen, andere
ersetzen es schnell durch andere Formen von … nennen wir es
Glück, es gibt auch andere Wörter dafür, es gibt jedesmal andere
Wörter, wenn der Sachverhalt wechselt. Das reine Glück, falls es so
etwas gibt, bleibt träumerisch, es bleibt jenen Tagen verhaftet, die
der Unruhe des Sexus vorausgehen, wahrscheinlich wären die letzten
die kostbarsten, aber die Erinnerung gibt sie nicht her, der Übergang
macht sie unsicher.
Man hat die Postmoderne noch nicht wirklich verstanden, solange man
sie als etwas betrachtet, das nach der Moderne kommt oder sie so
verwandelt, dass sich in ihr etwas Neues, ein neues Verhältnis zur
Wirklichkeit, am Ende eine neue Wirklichkeit darstellt. Alle Kritik
am Konzept der Postmoderne ging dahin, in ihm die willentliche
Fehldeutung eines Weltzustandes zu sehen, der so schnell nicht
vergeht. Wer darauf beharrt, nach wie vor im Zeitalter der Moderne
zu leben, ist gegenüber dem, der anderes andeutet, immer im Recht.
Keine Erfindung der Neuzeit wurde seither vergessen, kein Rad hat
sich zurückgedreht, keine Unterscheidung scheidet heute weniger als
vor hundert oder dreihundert Jahren. Man hat nicht verstanden, dass
die Postmoderne in der Moderne aufkommt, dass sie nichts anderes
ist als die Langeweile in der Moderne, als dieses diffuse
Bewusstsein, dass das, was einmal von wenigen Gehirnen erdacht
wurde und sich seither unwiderstehlich vollzieht, keine
grundsätzlichen Fragen offen lässt. Die Postmoderne ist eine Art
Augsburger Religionsfriede zwischen den Fraktionen der Moderne,
eine Konsequenz daraus, dass es sich nicht lohnt, die alten
Streitereien weiter zu führen. Insofern waren die Gegner der
Postmoderne die entschiedeneren Postmodernen: Bitte keine neue
Scheinfront, keine neuen Schein-Positionen, wo doch bereits alles
gesagt ist. Postmoderne ist bloß die Moderne in den Händen – und
Köpfen – der wirklichen Menschen, das heißt all derer, die nur das
angewandte Denken kennen und praktizieren und keinen Überdruss
dabei empfinden, als Ganze apart zu sein. Das anstrengungsfreie
Anderssein gibt das Lebensgefühl hemmungsloser Überlegenheit, das
sich seit hundert Jahren in jeder Generation erfolgreich einredet,
neu zu sein – im Grunde eine lächerliche Angelegenheit, wie alles,
was zur Jahrgangsfrage deeskaliert.
Als Postnation bietet Europa nicht viel mehr als eine Notration auf dem Weg zum gefühlten Nordpol, nach dem alle Nadeln ausschlagen, in denen sich Einigungswünsche verbergen. Europas Nordpol, von Eiswüsten bedeckt, die langsam abschmelzen und damit für viel Unruhe sorgen, ist der gemeinsame Staat, die Republik aller Europäer, in der keiner seinem Nationalstaat eine Träne nachweint, weil dessen Bestände ins große Archiv verschoben wurden, aus dem sich jeder, der weiterhin danach Lust verspürt, bedienen kann, als liege darin ein Verdienst. Und es bleibt ein Verdienst – allein deshalb, weil der Nationalstaat, der Staat, der nicht von Untertanen bevölkert, sondern von selbstverantwortlich handelnden Bürgern getragen und regiert wird, Europas bedeutendstes Erbe darstellt: nicht anders kann und darf ›Europa‹ geplant, ins Werk gesetzt und regiert werden, nicht anders kann und darf werden, was als Europa Bestand haben soll. Doch sollte, wer ›eine Nation Europa‹ sagt und fordert, nicht vergessen oder vergessen machen, dass jene vereinzelten Bürger Europas, die man in allen Ländern des Kontinents antreffen kann, sich zwar gern als Vorhut begreifen, aber von vielen als Nachhut begriffen werden, als liebenswürdige Spinner, die nicht begriffen haben, dass der Aufbruch im Ansatz gescheitert ist und alles, was auf diesem Gebiete noch kommen mag, in fernerer Zukunft liegt als zu Zeiten, in denen ein Glanz in die Augen der Leute trat, wenn von Europa die Rede war. Als Postnation jedenfalls ist Europa ein großes Täuschungsmanöver, Sand in den Augen der Leute, die mit ihren Steuern die Illusion finanzieren, hier bewege sich etwas in die richtige Richtung, während sie als Bürger zurücktreten hinter die Erfordernisse des Übergangs, also das Recht auf den eigenen Staat gegen das Recht eintauschen, ihn vor europäischen Gerichten verklagen zu dürfen – ein Privileg, zweifelsohne, doch in der funktionierenden Demokratie braucht’s keine Privilegien. Dieser Übergang, er nährt seine Diener, er nährt sie prächtig – und er schafft sich seine Schwierigkeiten selbst, ein Labyrinth von Übergänglichkeiten, fein austariert und für eine Ewigkeit bestimmt, die bloß auf das Signal wartet, dass es zu Ende geht. Solange Europäer Europäer sind, weil sie (noch) keine sind, solange kann es den einen Staat nicht geben, der Europäer aus ihnen machte.
Der Postnationalismus, als Ideologie des Laufenlassens, ist in seinen
Anfängen bequem, weil er sich mit niemandem anlegt, es sei denn mit
dem Nationalismus, der – alarmistisch, wie er nun einmal tickt – in ihm eine unerhörte Fahrlässigkeit der Eliten am Werk sieht, denn der Postnationalismus, nicht anders als der
Nationalismus selbst, ist eine Angelegenheit von Eliten. Treffend beschreibt die Vokabel des ›Einsickerns‹, wie beide ins Volk gelangen.
Eingangs und gegen Ende zwar klingen ihre Parolen hohl, aber solange
sie über das Momentum verfügen, nützen sie die Hohlräume, in
denen sie widerhallen, effektiv. Irgendwann ist die Gesellschaft
gesättigt und irgendwann geht ihr der Ton auf den Geist, wohin er
definitiv nicht gehört. Wohin er gehört, ist die Haltung, jene
gewisse starre Grundposition, die einer einnimmt, der visitiert wird,
und sei’s von sich selbst. Der Nationalismus, wie gesagt, tendiert
zum Sich-Gehenlassen, der Postnationalismus zum Laufenlassen
– das klingt ähnlicher, als es sich in der Praxis darstellt,
obgleich es gerade dort zu den wildesten Überschneidungen kommt. Beide
treiben sich wechselseitig ihre Kundschaft zu, das liegt in der Natur
des Polarisierens, im übrigen dient es den beiderseitigen Interessen.
Dennoch – oder deshalb – sollte man die Parallele nicht
übertreiben: der Postnationalismus, das sagt schon der Name, negiert
den Nationalismus, er negiert ihn und behauptet, nach ihm zu kommen,
als liege darin ein besonderes Verdienst. Man kann den Nationalismus mit Fug, gleich jedem anderen Ismus, für sämtliche kollektiven Übel
dieser Welt verantwortlich machen, wie dies bereits der
Internationalismus tat, dazu genügt der einfache Appell an die
Weltoffenheit, die jeder mitbringen sollte, der sich ins Leben
hinauswagt. Der Postnationalismus wagt nichts, darin liegt die Pointe
seiner speziellen Offenheit: er ist offen für das, was kommt, wenn
ein Staat der Homogenisierungsarbeit am Volk, seinem per Recht und
Gesetz ins Werk gesetzten Lieblingsprojekt, die Krone aufsetzt, indem
er die Ideologie der Homogenität, den Nationalismus, unter Quarantäne
oder gleich unter Strafe stellt. Das ähnelt der Quadratur des
Kreises, aber es zeigt auch den Reifegrad einer Gesellschaft, die,
ihrer ewigen Einerleiheit überdrüssig, das Abenteuer der Vielheit
zu schätzen weiß. Doch ist die Wahrnehmung von allzuviel Einheit,
wie jeder weiß oder wissen könnte, milieubedingt, sie fußt,
altdeutsch gesprochen, auf falschem Bewusstsein und zeigt, dass einer
nicht weit herumgekommen ist oder den Umgang mit anderen Kreisen
geflissentlich meidet. Der Postnationalismus ist und bleibt schon
deshalb ein Elitenprojekt, weil die Bevölkerung, als
Bevölkerung, stets postnational ist und bleibt, daher den Sinn eines
solchen Projekts gar nicht einsehen kann – deswegen redet er gern vom
Geltenlassen und predigt Toleranz, wo Indifferenz und
Gleichgültigkeit weit gründlichere Dienste verrichten. Ein Staat,
der darauf verzichtet, das Volk – sein Volk – an die Urnen
zu rufen und mit der Bevölkerung, wie sie geht und steht,
vorliebnimmt, imponiert niemandem, am wenigsten den Leuten, die,
zumindest als Wahlvolk, ernst genommen sein wollen. Der
Postnationalismus, so scheint es vielen, öffnet die Grenzen für jedermann,
nach außen für Leute, die man nicht kennt, nach innen für Leute,
die ›mit diesem Land nichts am Hut haben‹ – hier kommt
plötzlich das Land ins Spiel, der Raum, in dem sich jeder bewegt,
zumindest jeder, der mein Land, meine Regierung denkt und
sagt, also der Staatsbürger, dem man geflissentlich das Mäntelchen
›klassisch‹ umhängt, als sei man auch in diesem Punkt weiter.
Vielleicht ist man es ja – man ist immer bereits weiter, als man
denkt, das ist ganz normal.
Wer viel liest, findet alles. Warum nicht im Alphazet? Zugegeben, Vielgeberei ist nicht seine Stärke, sie nistet gleich neben der Angeberei, wer will in solcher Nachbarschaft niederkommen? Die Stärke des Alphazet – falls es einer Stärke bedarf – liegt im Wiederkommen: alles, was sich einmal dort findet, findet sich andernorts wieder – anders zwar, aber erkennbar. Wie erkennbar? Das ist … wäre die Frage. Wer ein Motiv verfolgt, erliegt leicht dem Wahn, der in jedem Motiv bereitliegt: es will verfolgt werden, denn es selbst ist der Verfolger. Nichts liegt ihm näher als die Figur der Umkehr. Was wäre ein Motiv, wenn es nicht meins wäre? Da liegt es, blinzelnd, unscheinbar in der Sonne. Ich trete näher, näher, zu nahe bereits, um mich lösen zu können. Warum? Es ist ein Motiv, es hat mich erwählt und es will verfolgt werden. Ich lasse ihm seinen Willen und es bemächtigt sich meiner. So laufen die Dinge, so vollzieht sich Erkenntnis – sofern es etwas zu erkennen gibt –, so verdunkeln sich Perspektiven, während andere sich erhellen. Manche meinen, sie müssten etwas herausbekommen: Wechselgeld etwa, in kleiner Münze, oder eine Prämie, ja gewiss, eine Prämie. Im Alphazet findet ein Prämienleser alles, was er zu seinem Glück benötigt.
»Die Museen werden durchforscht werden.« – »Von ihnen wird bleiben,
der durch sie hindurchging, der Wind.« – Solche Sätze bilden nicht
länger das Säuseln einer fernen oder nahen Gefahr, als Sturmboten
des Klassenkampfes haben sie ausgedient. Sie sind poetische
Umschreibungen eines Ist-Zustandes, der von vielen gewollt wird.
Die Kontrolleure mit dem fordernden Blick, die bereits die
Inneneinrichtung künftiger Ramschtempel planen, die stillen
Enttäuschten, die sich fragen, wann und wie diese lautlose
Katastrophe eintreten konnte, die Schulklassen, die längst gemerkt
haben, dass im Lärm, den sie machen, der letzte Sinn der
Veranstaltung liegt, die munteren Greise, denen die
Verdauungsdisziplin vorschreibt,
vor Kaffee und Kuchen noch eine Runde zu drehen, die
umherwandelnden, von Hölzchen auf Stöckchen kommenden
Plaudertaschen, die Volkshochschulpulks mit ihren Klapphockerchen
und der durchdringenden Stimme der Führerin, sie alle wissen ... ja
was denn? Sie wissen es nicht, aber sie stellen es dar. Sie sind
Figuren in einem Stück, das es an machtvoller Präsenz mühelos mit
der attischen Tragödie aufnimmt. Nein, es heißt nicht, wie man
leicht annehmen könnte, ›Die Tragödie der Kultur‹. Es heißt
überhaupt nicht und es ist keine Tragödie. Es ist auch kein Ritual
in einer stehenden, bis an den Horizont der Wünsche vernagelten
Zeit. Es ist ... Warum fällt es so schwer, es auszusprechen? Warum
fällt es so schwer, den Gedanken zu Ende zu denken? Welche seltsame
Macht hindert einen daran, ihn überhaupt zu denken? Vielleicht die
Parole, die unsichtbar, aber wirksam über den Ausstellungsstätten
klebt: »Es darf gequatscht werden.«
Be precise – sei präzise: Wer so denkt, hat selten die Lacher auf seiner Seite. Das ist schade, weil es bei ihm viel zu lachen gibt. Woran das liegt? Seien wir ehrlich: es liegt an der Beständigkeit. Sie verstehen nicht…? Sagen wir so: Alles präzise Gearbeitete hat einen Hang zur Beständigkeit, alles nur so Dahingemachte verfliegt. So liegt eine präzise Sprache den ans Geschwätz gewöhnten Zeitgenossen beständig im Ohr, nichts wünschen sie sehnlicher als sie daraus zu entfernen, sie möchten freies Gehör und erhalten stattdessen freies Geleit. Dort will ich nicht hin – so denken sie und sind bereits wieder woanders. Sie sind immer woanders, das ist ihr Markenzeichen und der Grund ihres Wohlbefindens, das sich mit allen Verhältnissen abfindet, Hauptsache, sie sind dann schon weg.
Freiheit, eine Nachricht so lange zu pressen, zu stauchen, zu quetschen, in die
Länge zu ziehen, zu zertrennen, zu teilen, zu verstümmeln, zu
verdrehen, zu unterschlagen, zu überschlagen, in falsche
Zusammenhänge zu stellen, als ›falsch‹ zu markieren, zu
verhöhnen, zu entplausibilisieren, bis nur ein
bleiches Skelett in einer Sandwüste davon übrigbleibt: diese
Freiheit wurde und wird teuer erkauft und rettet der Wahrheit das
Leben, sooft sie auf der Kippe steht und Gefahr läuft, vom Blitz
erschlagen zu werden. »Liebet eure Feinde« – die Wahrheit, sie
vor allem, weiß ein Lied davon zu singen, doch meistens ist ihr
nicht nach Gesang zumute. Sie hat sich damit abfinden müssen, dass
keine Wahrheit auch eine Wahrheit ist und dass Menschen aus
allem das Ihre herauszufiltern wissen, nur erwarten darf man sich
davon nicht viel. Die Pressfreiheit ist eines der beiden pp’s
des Gesellschaftsvertrags, das andere ist die politische Freiheit,
ohne einander sind beide nichts. Die größte Hatz entfacht das
Verbot der Hatz, mit ihm hat man beide im Sack. Wahrheit und
Nachricht hetzen einander wie Hase und Igel: die Wahrheit schreit
»Immer schon da«, aber sie verschweigt, wie es dazu kam. Überhaupt
schreit, wer im Namen der Wahrheit schreit, selten die Wahrheit
heraus – es ist nur so eine Art Gestammel, in Wirklichkeit sitzt
die Wahrheit als Kloß im Hals und behindert den Redefluss. Folge
einer Wahrheit und du findest ein Interesse, folge einem Interesse
und du findest einen Haufen Lügen, über die nachzudenken sich
lohnt. Die Wahrheit schimmert durch jede Lüge hindurch.
Wer schreibt, hinterlässt Spuren. Er ist der Einzelne, der wahrgenommen wird, ob als Person mit einer Biographie, mag dahingestellt sein. Wichtig ist es nicht, da der Text an seine Stelle getreten ist. Die Spur des Einzelnen in den Lineamenten des Sinns, die sich an jeder Stelle zum Welt-Sinn zusammenschließen (oder ihn fest umschließen, um ihn nicht preiszugeben) findet sich vielleicht am überzeugendsten in den Artikeln eines Lexikons. Jedes Hintereinander ist hier ein Nebeneinander, im historischen wie im hierarchischen Sinn.
Es gilt auch in der Sache, da die lexikalische Ordnung, gleich welcher Art, die Sinn-Suggestion, die in der Folge liegt, nur als Unsinn zulässt. Der Einzelne ›findet sich‹ also in diesem wie in jenem Artikel, die Frage, ob er sich ›ganz‹ darin finde, entbehrt aller Bedeutung und ist daher nicht zugelassen. Einzelner und Einfall gehen hier eine Symbiose ein, die durch keine konstruktive Andacht gestört und gelähmt wird. Auch durch keine destruktive: ein destruktiver Artikel, ein Artikel ohne Artikel, selbst seine Negation, ist nichts weiter als ein Artikel. Was das Individuum erfährt, wenn es ›ich‹ sagt, kann es an ihm ohne weiteres ablesen. Ein Artikel hält sich nicht damit auf, seinen Gegenstand forschend zu konstituieren, also als Wechsel auf künftiges Wissen. Er ›gibt‹ diesen Gegenstand und er gibt ihn ganz. Wer liest, bekommt einen Artikel und ein Stück Welt-Sinn, beide komplett.
In gewisser Weise verwandelt das Netz, das nach und nach alles Geschriebene umfasst, es sei denn, es würde mit Vorsatz herausgehalten oder unwiederbringlich gelöscht, sämtliche Formen und Formate des Schreibens in ›Artikel‹, macht sie, gemäß den abgründigen Verfahren der Suchmaschinen, neben- wie hintereinander auffind- und nachschlagbar, lässt sie gleichförmiger erscheinen, als sie vielleicht zur Zeit und am Ort ihrer Entstehung gedacht waren. Ein und dieselbe Wahrnehmungsweise geht über sie hin, nicht so gleichförmig, wie ihre Verächter über sie reden, nicht so ausgefächert, wie sie Autoren gern hätten, die von sich behaupten, auf unterschiedlichen Planeten zu existieren. Sie lebt davon, auf und davon zu sein, sobald der Kitzel der einzelnen Lektüre nachlässt.
Die spaßige Idee, man könne das Auf-und-Davonsein durch ausgeklügelte Verknüpfungssysteme einfangen, wurde gleich am Anfang der Netz-Ära durch das reale Verhalten der Leser kassiert. Insofern stellt auch das alphabetische Nacheinander einen Anachronismus dar, eine Formfassade, hinter der gleichmütig die Suchmaschine Dienst tut. Man könnte es eine Demutsgeste nennen, eine Huldigung an die Zeichen des Alphabets, wissend, dass es in Konkurrenz zu anderen Zeichensystemen steht, vorhandenen und denkbaren, die ohne weiteres ihre Stelle einnehmen könnten, einen Regionalismus, wie ihn auch die für den Schreiber unabweisbare Wahl einer Sprache bezeugt.
Nicht länger also ist das Lexikon die umfassende Form, als die es das Licht der Welt erblickte und über so lange Zeit existierte. Es ist ein Spiel geworden, ein Spiel mit Worten, ein Spiel mit obsoletem Ordnungsanspruch, einer obsoleten Sprache und einem komischen Zeigegestus, der nicht parodiert werden kann, weil er nur als Parodie überlebt hat. Doch nicht alles ist Parodie, was sich einer parodistischen Sprache bedient. Die Parodie selbst beruht auf solchen Übergängen. Alles nur Parodistische hat eine Tendenz zum Fürchterlichen. So gleichen auch die seltsamen, spielerisch erzeugten Wörter der Sprache eher Wissensverdichtungen, von denen der Witz ebenso zehrt wie die Analyse. Kein Auswahlgremium hat sie gebilligt, kein Vollständigkeitsanspruch hat sie berührt, es sei denn merkwürdig. Vielmehr geht die Berührung von ihnen selbst aus, nach dem Motto: erst der Autor, dann die Leser. Die Frage ist also, wozu sie sich fügen.
Hier kommt man ohne einen Begriff nicht aus, der, obzwar allen geläufig, selten gebraucht wird: den des ›Weltverhältnisses‹. Wer in Taten, Worten und Bildern nur seine Welt zum Ausdruck bringen möchte, wozu Designer und Therapeuten in schöner Eintracht raten, der ist rasch am Ende, weil nur Besessene eine Welt ihr eigen nennen. Der urteilsfähige Rest muss sich damit abgeben, sein Verhältnis zur Welt zu bestimmen, es sei denn, er verzichtet darauf aus unerfindlichen Gründen. Wie soll das gehen, wenn ›Welt‹ als Grenzbegriff auf einer nach oben offenen Skala der Überraschungen fungiert?
Das zum Alphazet mutierte Lexikon gibt darauf Antwort. Jeder weitere Eintrag verändert es, ohne es zu verändern. Kein Eintrag bringt es einer Vollständigkeit näher, deren Fiktion über allen schwebt. Kein Eintrag ist ›Ertrag‹, der eine Lücke füllt. Jeder Eintrag ein Vorschlag zur Form: so könnte man es heute sagen, so könnte man es machen. Jeder Eintrag parodiert eine denkbare Parodie und eröffnet damit einen Merkraum zwischen Parodie und Nicht-Parodie, in dem jenes ›Weltverhältnis‹ vernehmbar wird, das sich der direkten Bestimmung verweigert. Jeder Eintrag? Aber sicher, welcher sonst! Doch jeder...? Nun denn: jeder zwischen seinesgleichen. Warum nicht Eulen nach Athen tragen? Dort sitzen schon andere und freuen sich. Vielleicht auch nicht, darüber zu befinden ist schwer.
Kunst heute um ein Programm
herum zu entwerfen, das wäre ja, als wollte man Zäune errichten, um
die globale Erwärmung in Kontrollzonen abzulenken, in denen sie
zwanglos verbrannt werden kann. Das Wissen, dass es so nicht geht,
ist weit verbreitet. Doch bleibt es, leider, kein Wissen und drängt
zum Programm. Arglos mischt sich das ewig Neue in die Gespräche,
ihr Dies und Das, und fordert Tribut. Mit fettigen Haaren und in
schmutzigen Stiefeln schlurft es daher und hält jedem den
Plastikbecher unter die Nase: »Haste mal nen Euro?« Aber ja, könnte
man ihm entgegnen, wir wissen, wie billig du bist und lassen dich
nicht verhungern. Doch das Gespräch, in dem man steckt,
ist aufregend genug und
will nicht unterbrochen werden, da gleitet der Blick vorbei. Nur
einen Moment lang zieht er sich zusammen und wird eisig. Diese
Blickverengung, durch die eine heruntergekommene Szene jeden
hindurchtreibt, der es vorzieht, ›bei den Sachen‹ zu bleiben, ist
der Tribut der Verständigen. Es ist ihr schamhafter Anteil an der
Gesellschaft, in der Kunst zur Lebensart gehört und rückwärtige
Loyalitäten über Positionen bestimmen, aus denen heraus manches
möglich erscheint, das dann nicht geschieht. Das alte Neue ist das
neue Alte. Man zahlt den Preis und alle kennen sich aus. Die
vielgepriesene ›Beobachtung der Kunst‹, die so tut, als laufe in
ihr ein autonomer Prozess ab, in dem nacheinander alles ans Licht
kommt, was seine Brauchbarkeit in einer Theorie der Moderne unter
Beweis stellt, parodiert das Modell der Anerkennung, das zweifellos
in ihr angelegt ist, durch Nichtanerkennung all dessen, was auch zu
sagen wäre, aber als Urteil verantwortet werden müsste: ein trübes
Thema, das ausgespart bleibt, bis der Alkohol abends die Zungen
lockert. Schließlich weiß man, worüber man schweigt, und ist in
eigener Sache schon weiter.
Die Leute lieben das, was sie ›klassische Moderne‹ nennen, so sehr, dass sie nicht genug davon bekommen und sich heimlich Stücke abbrechen: Souvenirs für den Wintergarten, neben anderem Schnickschnack. Klassisch ist daran, dass sich niemand mehr an ihr versucht. Was bedeutet, dass ihre Gesten und Taten unter dem Verdacht der Lächerlichkeit stehen. Einmal lässt man sie durchgehen, das nächste Mal wird geahndet. Zwar hängen alle von dem ab, was ›damals erreicht wurde‹, aber die Ansichten darüber, was damit erreicht wurde, gehen naturgemäß weit auseinander. Gemäß der Natur oder: soweit das Geschwätz trägt. Wie weit es trägt, darüber gibt es täglich Kunde. Klassisch ist die Moderne, soweit sie das Geschwätz in der Nussschale präsentiert – handlich und zu und zu jedem Schabernack zu gebrauchen, wie die Designer seit langem wissen. Die designten Gemüter ziehen ins Museum wie in den Zoo, um ihre Prototypen zu besichtigen: »Hier, ein Delvaux! Ganz dein Makeup.« Im Designmuseum lassen sich die Imitate als Originale bestaunen. Nur die Besucher schleichen herum, als stünden sie vor dem Examen und müssten sich Wachsmodelle aus Gehirnmasse kneten. Erst im Besuchermuseum leben sie auf: Wie echt, wie lebenswahr! Ganz neunzehntes Jahrhundert, man müsste sich ausziehen und ganz neu darin anfangen, nur das industrielle Elend lassen wir außen vor. Und doch... Das Abgehärmte hat eine Kraft, die es mit dem Design verbindet. Was wäre die Welt ohne ihr abgelichtetes Elend! Ein Nichts, ganz recht, diese Pointe will keiner dem anderen überlassen, sie ist zu eigen, ein Schatz.
Manchmal muss es echt sein, ›garantiert echt‹, wie der kalauernde Pöbel, dem
nichts heilig ist, zu sagen pflegt, weil er sich zuviel auf Trödelmärkten
herumtreibt und darüber die Scheu vor den Werten verliert. Dann schlägt die
Stunde der Exhibitanten, der Alles-Ausbreiter, der Transparentmacher, die gleich
nach den Angstmachern kommen und mit ihnen manch gemeinsamen Auftritt
bestreiten. Denn alles Transparente macht Angst, es könne zuviel herauskommen,
und darüber – erraten! – das Echte verlorengehen, der Firnis, der Glanz von dem
Ganzen, das Vertraueneinflößende, das stets zuletzt aufgelegt wird wie die
Patina auf Michelangelos Fresken im Vatikan und daher als erstes zu verschwinden
droht … droht, wohlgemerkt, denn kaum verloren, sitzt es schon wieder obenauf.
Dieses Wunder – denn es handelt sich um ein solches, vielleicht das erste
überhaupt, aber da gibt es viele Anwärter – bedarf einer eigenen Untersuchung.
Es entspringt, wie die ganz normale Verstaubung, der Tendenz der Natur, sich
immer und überall zu setzen, sobald all die Herrschaften, die so viel Staub
aufwirbeln, dass die Schwerkraft darüber klein beigibt, erst einmal gegangen
sind. Nun ist zwar der Ursprung das Ziel, doch aller echte Wahnsinn ist, wie
schon Petrarca wusste, menschengemacht und kann nur vom Menschen gebändigt
werden. Das Mittel, ihn zu bändigen, ist seit alters der Solitär, soll heißen,
jenes geheimnisvolle Ding, das nur einmal vorkommt und daher ›individuell‹ oder
unverwechselbar heißt. In der Kunst z.B. gibt es, wie im wirklichen Leben,
Solitäre, die jeden Trödelmarkt zieren – sie schaffen es selten in die oberste
Sphäre der Wahrnehmung, wo alles auffällig (und gern auch straffällig) wird,
aber unter uns, da fühlen sie sich wohl und sind, alles in allem, auch
wohlgelitten. Wie das Werk so der Mensch. »Was für ein origineller Typ!« sagen
die Leute und damit ist alles gesagt. »So einen kannte ich schon.« Gegen solche
Missgriffe hat die Kunstwelt endlich die Provenienzforschung erfunden, die bald
auch Eingang in die Humanwissenschaft fand, von der sie ursprünglich ausging.
Wir, die Echtheitsforscher, wollen wissen, wie alles anfing und wie es dann
immer weiterging mit diesem Ding da, das so unverschämt grinst, als steckte sein
Wert in ihm selbst. Man fragt einen Menschen tunlichst nicht, wo er herkommt,
das gehört zum guten Ton, es sei denn, man weiß schon, wo er herkommt und pfeift
auf letzteren. Bei Werken der Kunst und der Barbarei ist das anders. Ohne
gesicherte Herkunft gelten sie nichts, so wie sich gewisse Ideologen, von denen
wir uns mit Abscheu abwenden, Gemeinschaft vorstellten: Du bist nichts, deine
Herkunft alles. Das ist barbarisch, es ist, um das Wort endlich fallen zu
lassen, authentizitär: Wer sich nicht für die Taten seiner Vorfahren schämt, der
soll sich schämen. »Nicht gesichert!« ruft so einer wohl erregt, »ich habe
nichts damit zu tun.« In einem Land, in dem die Hälfte aller Bewohner, wie man
behauptet, ›migrantische Wurzeln‹ besitzt, während die andere Hälfte nichts
besitzt außer ihren Besitztümern, in einem solchen Land schämt es sich praktisch
von selbst. Man hat die Provenienzforscher im Haus und weiß nicht, wie man sie
wieder loswerden soll. »Was tun die da bloß so lange?«, fragt der Nachbar, »na
was wohl«, klärt ihn ein anderer auf, »die werden schon ihre Gründe haben«. So
nimmt das Leben jede Aufklärung vorweg und verkehrt sie ins Gegenteil, echt.
Eine P. ist, wie der Name andeutet, keine Reportage, sondern eine Simulation,
die entsteht, wenn z.B. die deutsche Qualitätszeitung A einen Bericht der
britischen Qualitätszeitung B über ein Ereignis C referiert, etwa das Erscheinen
eines wissenschaftlichen Artikels im Wissenschaftsorgan D, über den, nehmen wir
an, das australische Qualitätsblatt E ausführlich und ein wenig reißerisch
berichtete, weil zwei australische Forscher an ihm mitgestrickt haben. Das
klingt, so erläutert, naturgemäß krude. Deshalb streut der einzig wahre
Journalismus ein paar Ingredienzien ein, die es dem normalen Leser erleichtern
sollen, das investigative Element des von A gelieferten Artikels zu erkennen und
entsprechend elektrisiert darauf zu reagieren. Nichts liegt näher, als den
gerade hereinschneienden Bericht der Monatsschrift F, in dem es zwar um andere
Dinge, z.B. um anderweitige Forschungen geht, aber doch um Verwandtes in dem
allseits gepflegten Sinn, dass der gleiche Pawlowsche Reflex (»Unerhört!
Aufhören!«) bei der Lektüre zum Zug kommen könnte, mit in besagten Artikel
hineinzuschneiden, so wie man ein paar Möhrenscheiben in ein Gericht
hineinschneidet, weil gerade nichts anderes zur Hand ist. Das Gewicht besagten
Artikels lässt sich dadurch ungemein erhöhen – allein schon deshalb, weil in
diesem actus die alte journalistische Grundregel aufscheint, dass ein und
derselbe Bericht aus zwei verschiedenen Quellen eine Tatsache
konstituiert (man merke sich das Wort, denn es kommt aus dem
Lateinischen und bezeichnet den Akt der Grundlegung, zum Beispiel eines Vereins,
aber auch des antiken Rom, das bekanntlich nicht an einem Tag erbaut und niemals
vollständig abgerissen wurde). Abgerissen wirkt so ein Artikel allerdings immer
noch, insofern der ursprüngliche, im Wissenschaftsorgan D erschienene Artikel
keinerlei Neuigkeitswert für sich beanspruchen kann, sondern es sich, sagen wir,
um einen Forschungsbericht handelt, vielleicht ein wenig reißerisch
aufgehübscht, damit er überhaupt gelesen wird, aber eben doch nur Bekanntes
zusammenfassend. Ein Problem? Keineswegs. Forschung ist Forschung, sagt sich der
interessierte Laie und der Wissenschaftsjournalist spricht es ihm
überflüssigerweise vor, damit er dabei nicht ins Grübeln kommt. Was der
Reportage recht ist, darf der Wissenschaft billig sein, vor allem dann, wenn das
Feld komplex ist und die einschlägigen Forschungsergebnisse je nach Ansatz
widersprüchlich, um nicht zu sagen kontrovers ausfallen. Angenommen, so ein
Sekundär-Forschungsteam fasste ein paar Szenarien, sagen wir, zur
Klimaentwicklung zusammen, die nur ein bestimmtes Spektrum der existierenden
Forschung abdecken, aber doch, wie bei Projektionen üblich, unterschiedlich
dramatische Zukunftsentwicklungen in Aussicht stellen, dann wären die Damen und
Herren Referenten ja mit dem Klammerbeutel gepudert, wenn sie die dramatischste,
sprich: bedrohlichste Variante nicht am Anfang oder am Ende ihres Potpourris als
besonderen Leckerbissen proponierten. Wissenschaftler, die für das
einzementierte Menschheitswohl arbeiten, sind letztlich auch nur Journalisten
und schließen vom Teufel auf Beelzebub, weil es sich so gehört und alle Welt
darauf wartet. Im Artikel des Mediums A schließlich, um den es hier, und zwar
ausschließlich, geht, wird daraus, wenn alles gut geht, das Ergebnis einer
brandneuen Forschungsleistung: Forschung an Erde: Wir sinken! So sinkt
der gewöhnliche Journalismus, er sinkt unaufhörlich und findet keinen Grund
außer dem, dass er den eigenen Untergang dadurch ein wenig hinauszuzögern
gedenkt, was ihm dank einer gediegenen Publikumserwartung immer wieder gelingt.
Sehen Sie, wir haben Pseudopolitiker und Pseudostaatsbürger, warum sollten wir nicht auch in einer Pseudorepublik leben? In der Pseudorepublik geht es zu wie in einer richtigen Republik, nur wenn man scharf hinblickt, erkennt man, dass die Entscheidungen, die an ihrer Spitze gefällt werden, Pseudoentscheidungen sind, vorbereitet in Pseudodebatten von Pseudodebattierenden, ausgeführt von Pseudoorganen mittels Pseudoerlassen und Pseudobefehlen, die auf einen Pseudogehorsam ohnegleichen in der Bevölkerung treffen, denn die hat das Spiel längst durchschaut und beteiligt sich daran mit roten Ohren. »Oh, die Republik ist rot!« rufen die führenden Farbspezialisten des Landes unisono –: Unisono ist das neue Pseudo, aber dafür geht das anarchische Gewimmel unter den Hirnschalen ins Unermessliche. In der Pseudorepublik haben all die das Sagen, die vorher nie begreifen konnten, worum es eigentlich geht. Jetzt haben sie es gerafft und stürmen damit davon, als hätten sie den Gardinenladen geplündert, Sie wissen schon, den großen gleich an der Ecke. Ja, sie trägt geblümt, die Pseudorepublik: geblümte Rede, geblümte Bräuche, geblümte Justiz. Ohne eine solide Pseudojustiz wäre die beste aller Pseudorepubliken nicht lebensfähig. Man merkt das deutlich nach Pseudowahlen, ausgeführt nach dem Prinzip ›Pi mal Daumen‹, vor allem im Hauptstadtrevier. Die Pseudohauptstadt der Pseudorepublik ist vielleicht das größte Pseudo von allen. Man erkennt den Unterschied deutlich auf Fotos vor und nach der Einrichtung. Auf die Frage, wie das geschehen konnte, geben Pseudoeinwohner nur eine Antwort: »Wieso?«
Die Psychomachie ist dem Genie zum Opfer gefallen, das Genie der Psychoanalyse, die Psychoanalyse der Informationstheorie. Die Frage, wer schlägt wen, bleibt immer spannend.
Die Klaviatur der Leiden ist so ungeheuerlich, dass man es nicht
wagt, nur ein paar Takte darauf zu klimpern. Man hält sich
vorsichtig von den kleineren Leiden fern und stürzt sich in die
größeren, als gelte es das Leben – was es auch tut, selbstredend,
was denn sonst? Was denn sonst! Man weiß ja, dass es am Ende darauf
ankommt, sich von ihm zu trennen, in Würde oder mit Heulen und
Zähneknirschen oder einfach nur stumm. Das Trennen will also geübt
sein. In den kleineren Dingen geschieht das täglich, fast ohne
hinzusehen. Im Wegwerfen liegt die Kraft der Routine. In den
größeren Dingen bedarf es einer gewissen Elastizität der Seele, es
wird ihr abverlangt, zugleich vor und hinter der Trennung, zu
beiden Seiten des Schnitts tätig zu sein und das, wovon sie sich
trennt, gleichsam zur Tür hinaus zu begleiten. Wie soll das gehen?
Natürlich geht es nicht, es geschieht aber und sähe man in die
Köpfe und Herzen der Mitmenschen hinein, so sähe man sie
allenthalben und ununterbrochen damit beschäftigt. Da kommt ein
Pudel, der einen lachen macht, gerade recht. Keine Sorge! Auch aus
ihm wird zur gegebenen Zeit ein Ungeheuer, das seine Rechte
verlangt, was nichts weiter bedeutet, als dass er Dinge tut, die
eine gütliche Trennung nahelegen. Die gütlichen Trennungen – wer
über sie berichten wollte, der käme ins Uferlose. Sprach die Ratte
und suchte sich einen Anwalt, einen guten, wie sie beteuert.
Im allgemeinen genügt die gewohnte mediale Durchseuchung, um sicherzustellen, dass ankommt, was ankommen will. Was will nicht alles ankommen in einer Welt, in der jedermann unterwegs ist, um etwas zu erreichen? Wer etwas erreichen will, muss die Menschen erreichen, das heißt, er muss ihnen unbemerkt die Verletzungen zufügen, die sie gefügig machen, äußerlich unsichtbar, doch leise die Punkte markierend, an die man nur zu rühren braucht, um sie springen zu lassen, wenn es soweit ist. Wann es soweit sein wird, hängt natürlich davon ab, wofür sie gebraucht werden, was nicht leicht zu entscheiden ist, weil zu viele Spieler im Spiel sind und die Resultate ebenso streuen wie die Markierungen. Auf diese Weise verrätselt sich die Gesellschaft, ohne ein Rätsel zu werden, durch Überdeterminiertheit. Und sie bewegt sich doch – ein großer Satz, von einem Trotzkopf gemurmelt, öffnet den Blick auf Hinterzimmer, aus denen einhellig herausschallt: Keine Verschwörungstheorie! Und wirklich, da diese Art von Verschwörung niemals aufgedeckt wird, bedürfte es schon einer gediegenen Theorie der Verschwörung, um aufzudecken, was aufgedeckt werden müsste: die durchlaufende Manipulation der Manipulateure mitsamt ihren Übertragungswegen und ‑mustern, die dafür sorgen, dass ein Wille geschieht, wo das Chaos herrscht – nicht ein Wille, aber immerhin, ein Wille, auf Zeit, auf lange, kurze, was weiß man schon. Das Verlangen nach Aufdeckung verhindert die Aufdeckung, weil es sie natural fokussiert: auf Schweinereien natürlich, auf was denn sonst. In der Regel sind es arme Schweine, die da ans Licht gezerrt werden, wenn es denn einmal gelingt, man kann sie schlachten und hat doch nicht viel verstanden.
Die Alten stellen die Fallen auf und die Jungen rennen hinein. Die
Arbeit an den Netzen geschieht mit Gleichmut. Viel Gleichmut ist
hier gefragt. Wen die Gleichmut verlässt, der erntet Befremden, er
nervt. Niemand will jung sein außer den Jungen und die unbedingt.
Ein paar Alte finden den Schein des Jungseins nützlich und ziehen
dem Gleichmut die Suche vor. Welche Suche? Wohin? Man sollte sie
umdrehen, diese Suchenden. ›Seht doch‹, sollte man ihnen sagen,
›seht doch‹. Aber wer hier die Lippen spitzt, hat schon verloren.
Sie sehen ja, so ist es nicht. Es passt ihnen nur nicht, was sie
sehen. Sie sehen die Spitze der Pyramide und darüber Luft.
Q, das Davorliegende. Vor der Quelle, vor der Qual: Wo liegt, was davorliegt, immer davor? Die Kinderfrage, die Erwachsene stumm macht,
stumm und einfallslos, selbst wenn sie vorher nur so sprudelten. So
sieht es aus. Das eben heißt erwachsen sein: der Fragerei entwachsen
zu sein, nur Fragen zuzulassen, die auch beantwortbar scheinen, und
die anderen aufzuschieben, immerfort aufzuschieben, bis sie sich von
alleine erledigen. Gleich werde ich es wissen, aber ich
weiß nicht, ob ich noch wissen will – dabei wusste ich längst, wollte nur nicht darüber reden. Aus Scheu? Weit gefehlt. Wenn die Frage dich stumm macht, dann ist das
Verstummen die Antwort. »Dummkopf! Warum hast du das nicht begriffen?«
Aber die Antwort – du hast sie gegeben! Also hast du sie gewusst.
Du hast nicht gewusst, wie man sich zu ihr verhält, also hast du
dich zu ihr verhalten. Richtig oder falsch? Das ist hier nicht die
Frage. Das kommt später. Oder früher, auch das ist nicht klärbar.
Das Davorliegende ist nicht klärbar. Alles klar? Vielleicht, weil
hier kein Zweifel denkbar ist. Das liegt vor dem Zweifel, es ist klar
oder unklar oder ein Weiteres (Engeres) in sich selbst,
aber es entlässt nichts. Es entlässt auch dich nicht. Denke nur, du
seist entlassen: wie falsch fühlt sich das an! Und ist doch nur ein
Gedanke.
Auf dem Quallfuß erwischt – das tut weh! Die wenigsten Zweibeiner wissen, dass sie
ihn haben: Streckfuß und Quallfuß. Was der eine vorlegt, muss der
andere bewältigen. Das fällt niemandem leicht, es ist in den
seltensten Fällen vorzeigbar, daher bleibt es in der Regel ruhig um
diesen Fuß, bloß in Ausnahmesituationen geht es um ihn. Dann
ist der Mensch jammerig, er behauptet, es gehe ihm nicht gut, alle Welt sei zu ihm
ungerecht, es sei zuviel zusammengekommen: Geht auseinander!
Platz da! Er möchte einmal durchatmen können, ein einziges Mal nur,
das reicht für ein Leben. Und eben das geht nicht. Es geht
nicht! Streck den Fuß, aber lass dich nicht erwischen. »Es geht
nicht zusammen!« Gerade das, gerade das. Es geht nicht zusammen und
es geht nicht auseinander. Es geht gar nicht. Alles, was Zweibeiner
ist, will gehen, es muss gehen und geht. Doch manchmal kann es nicht.
Ist der Mensch Zweibeiner? Warum nicht! Nur das Dritte macht ihm zu
schaffen.
nannte man die nach der Jahrhundertwende an den Universitäten zur
Stabilisierung der Wissenschaft gegen den Lehrkörper ergriffenen
administrativen Maßnahmen, sprich: die feierlichen Absprachen
zwischen Ministerien und Hochschulen, nach denen Forschung und
Lehre sich in festen Zeiträumen innerhalb zu- und ausgewiesener
Zäune bewegen sollten. Das geschah, wie es hieß, zum Zweck der
Ertragsoptimierung, denn auch das Kapital Wissenschaft muss
bekanntlich arbeiten, und tatsächlich steigt der Leidensdruck der
so aus der individuellen Verantwortung in die kollektive
Entlassenen von Fall zu Fall beträchtlich, ohne dass einer wüsste,
wo die Grenze des Ertragbaren denn nun wirklich verläuft. Darüber
hüllen sich alle Seiten in die Toga akademischen Schweigens. Was im
Bereich der optimal zu bewirtschaftenden Großgeräte und -theorien
vermutlich ›Sinn macht‹, wirkt sich in Fächern, in denen das Denken
anhand von Büchern geschieht, die in der Regel über das
Ausleihsystem bequem zu besorgen sind, so aus, dass zügig neben der
verordneten Wissenschaft eine verdeckte, private, fast geheim zu
nennende, vor den Augen der jeweils heimischen Kollegenschaft
sorgsam verborgene zweite Wissenschaft entsteht. Die eine für den
Säckel, die andere fürs Gemüt – die doppelte Venus befeuert die
Qual der Wahl und sichert Qualität durch funktionale
Differenzierung, wie denn sonst.
Das also ist die Qual, sagt der junge Mensch, fast lächelnd, ich
wusste nicht, dass sie so … schleichend kommt, so wenig
aufgeblasen, fast wie das Innere eines Luftballons, dem die Hülle
fehlt. Ganz ohne Hülle geht es nicht, aber diese Qual ist wirklich
ohne Substanz, und was wäre die Hülle sonst? Da habe ich mich
gequält, um der Quälerei durch die anderen zuvorzukommen, was so
nicht stimmt, denn die kam früher, sie ist sozusagen durch
Induktion auf mich übergesprungen, ich konnte es irgendwann selbst.
Ja, ich konnte mich irgendwann quälen und habe alle Prüfungen
bestanden, die sie mir auferlegt haben und von denen sie sagten,
sie kämen nicht von ihnen, da müssten alle durch, sie selbst... sie
selbst. Aber das, was ich jetzt erlebe, das sind nicht sie und
nicht ich. Da muss keiner durch, weil es kein Durchkommen gibt.
Diese Qual könnte jeden Moment aufhören, ich denke sogar, ich
könnte es bewirken, durch ein Wort, eine Geste, durch Aufstehen und
Fortgehen. Sie würde noch ein bisschen nachgrummeln, aber der Bann
wäre gebrochen und ich könnte sie nicht mehr ernst nehmen, das weiß
sie. Ich könnte, sie könnte. Und eines Tages würden wir uns wieder
begegnen. Doch nicht, um uns auszutauschen über die alten Zeiten,
das ewige Weißt-du-noch. Sie wäre nur wieder da, ein neuer Versuch
ihrerseits, mich über das Ziel aufzuklären, das erklärte Ziel, das
verklärte Ziel... Warum spiele ich mit den Worten herum, statt mich
auszudrücken? Der gute Ausdruck, wohin soll er gehen! Wohin geht
der Ausdruck, wenn er den Körper verlässt? Fährt er in andere
Körper wie der böse Geist
in die Säue? Das wäre lächerlich. Dieser seltsame und
selbstquälerische Versuch, die Qual loszuwerden, hilft nur dazu,
sich mit ihr zu beschäftigen. Nichts hat sie lieber. Aber taugt er
wirklich? Da wäre es ja fast besser, man ließe sie gewähren. Daran
ist sie nicht gewöhnt.
Bei der Jagd nach der Kanzlerschaft muss es Sieger und Verlierer geben, das
ist ganz natürlich, es liegt schon in der Natur der Dinge, um nicht zu sagen, es
ist die Seele des Spiels: In diesem Satz sind zwei ideologische Stolpersteine
verborgen, wer sie bemerkt, kommt weiter, alle anderen müssen zurück auf Null.
Apropos Null. Bei einer Aussichtsquote von Null verwandelt sich der
Kanzlerkandidat automatisch in einen Loser, wie das im Deutschen
heißt, der Sprache des Landes Sisyphos, in dem alles heißer gegessen als gekocht
wird – man verbrennt sich dort die Zunge selbst dann, wenn nur rohe Zutaten auf
den Tisch kommen, aus denen der Gast sich sein Essen selbst basteln kann. Ein
Wahlkampf zum Beispiel, der langsam in die heiße Phase übergeht, besteht
praktisch nur aus Ingredienzien, an denen sich jeder bedient, der mitzukämpfen
behauptet, sie liegen so ungefähr über den Tisch ausgeschüttet, dass man sich
kein Gericht dabei vorstellen kann, es sei denn das Jüngste. Bis dahin ist alles
Thema, vor allem das Unausgesprochene –: befragt man von interessierter Seite
das Wahlvolk, so will eine Mehrheit dieSchlacht ums Kanzleramt »gerade
so und nicht anders … bitte kein Themenwahlkampf, bitte, nur das nicht!« Da
lächeln die zum Endkampf angetretenen Kämpfer*innen. Sie lächeln ein bisschen zu
sehr von oben herab, gerechter und mühsamer wäre es, sie würden hinauf lächeln,
der Berg der unausgesprochenen Themen erscheint dem Mitbürger allzu hoch, um
weggelächelt zu werden, vielleicht will das Wahlvolk auch selbst weggelächelt
sein, weil dann die Qual der Wahl sich von selbst erledigt. Denn wer die Wahl
hat, hat die Qual, und wer die Qual hat, beißt sich auch … in den Hintern
vielleicht, jedenfalls manchmal, dort, wo es sich so bequem sitzt, solange man
sitzt und ausschwitzt, was man an Feuchtem intus hat. Ein Kandidat ohne Fortune,
so etwas weiß man, wird niemals Kanzler. Da hilft nur der Ruf nach der Quote,
irgendeiner Quote, gleichviel wofür … Quote ist gerecht. Dass ein Kandidat am
Ende das doch nicht wird, was zu werden er sich vorgenommen, ist … richtig!
Ungerecht. Ein Dilemma. Die Quote, die gute Quote, sie sollte, wie jedes, auch
dieses Dilemma lösen. Wer Kanzler sein will und es nicht werden kann, obwohl die
Chancengleichheit es ihm in die Wiege gelegt hat, warum, in alles in der Welt,
sollte er nicht Quotenkanzler, kurz Quanzler werden? Was spricht dagegen? Der
Vorschlag liegt ab jetzt auf dem Tisch, gleich neben den Ingredienzien zu einem
Festschmaus, Wahlkampf genannt, jeder kann ihn sich greifen wie eine Hasenkeule,
der Kandidat wäre gut beraten, ihn sich rechtzeitig zu eigen zu machen, bevor
der alertere, jedoch ebenso chancenlose Konkurrent ihm doch noch zuvorkommt –
ein geborener Quanzler, der es nur noch nicht weiß, aber bereits aus tiefster
Seele anpeilt.
Man kann davon ausgehen, dass Quanzler auf Halde produziert werden.
Die Quasselstrippe kennen wir gut, wir sind alle dabei, wenn sie loslegt, doch den
Anfang haben wir schon verpasst. Die Quasselstrippe ist bereits in
Fahrt, bevor die Fahrt beginnt, in der Hinsicht ist sie autonom,
nicht reaktiv. Sie reagiert, ohne zu reagieren, darin liegt ihr
soziales feeling, ohne das sie einpacken könnte, ihr
Gequassel vor allem, denn sie strapaziert Nerven, die sie nicht
kennt, bloß aus dem Gefühl heraus, mit ihnen bestens vertraut zu
sein. Der Quasselstrippe gegenüber ist keiner allein, er verschmilzt
mit dem großen Wir, das weiß, wie Gesellschaft geht. Allein wäre
er ihr gnadenlos ausgeliefert, so kennt er sich aus. Dafür wendet
sie sich auch an keinen allein, sie will Mithörer, vor allem solche,
die sich nicht zu erkennen geben. Sie weiß, das menschliche Ohr ist
ein Loch, durch das alles hinein spaziert, was aus ihrem Munde kommt.
Denn sie hat ein apartes Stimmchen und alles, was sie damit formt,
ist artikuliert. Im Grunde will sie nur das: artikulieren –
sie hat diese Fähigkeit einmal in sich entdeckt und hält sie
seither für menschlich.
Im Quastikon stehen die Bahnen still und alle gehen zu Fuß. Grund ist
eine Vereinbarung, getroffen vor langer Zeit: So
weit die Füße tragen, ist Ruh. Im Quastikon ist das menschliche Ruhebedürfnis endemisch, es geht weit über alles hinaus, was in anderen Provinzen davon zu spüren
ist, es ist Gesetz. Wie kommt eine Provinz zu einem solchen Gesetz?
Ganz einfach: durch Provinzialität. Die Oberen haben es durchgesetzt
und die Unteren … die Unteren … halten sich dran. Warum? »Hier
ist Quastikon«, teilen sie breitmundig mit, sie gurgeln ein wenig
nach, um sich Nachhilfe im Quastikantentum zu erteilen, ein richtiger
Quastikant erkennt den Fremden auf dreißig Schritt. Im
Ausland trifft man Quastikanten fast nur auf der Bahn, sie lächeln
verzückt und betonen: »Ich fahre gern.« Wohin? »Das ist nicht so
wichtig, ein Ziel findet sich immer, Hauptsache: weit weg.« Weg
wovon? Da lächeln sie milde, die Quastikanten. So schön kann
Heimweh sein. »Wir haben die Welt verändert«, sagen sie stolz,
»wir haben getan, wovon alle Welt redet, ohne dass etwas geschieht.
Bei uns ist es geschehen und davon erholen wir uns jetzt. Ihr habt
alles noch vor euch, dafür bedauern wir euch. Aber wir helfen gern.«
Der Mitreisende denkt sich: die meinen es ernst. An der nächsten
Station ist er weg. Im Quastikon, denkt er sich, gehen die Uhren
anders. Aber warum? Sie nehmen ernst, was bei uns Geschwätz ist.
Vielleicht war es auch bei ihnen nur Geschwätz, bis sie beschlossen,
es ernst zu nehmen. Muss man sich nicht ernst nehmen? Ist das nicht
der einzige Weg zur Selbstachtung? Was tun, wenn man durch und durch
Geschwätz ist?
Im Quellformat ähneln sich alle Dinge, aber das geht schnell auseinander. Es liegt
an der Größe, denken die Menschen, sie verwechseln Format und
Größe, der Fehler liegt in ihrer Natur. Das Quellformat eines
Politikers zum Beispiel bestimmt nicht die Windel – das wäre ja
absurd. Im Quellformat ist Politiker, wer etwas bewirken will: das
Wirken allein, das alle anderen ausfüllt, reicht ihm nicht, es fehlt
das kleine ›be-‹, das groß werden möchte, größer als alles
andere, riesengroß, zum Staunen groß. Politiker ist, wer staunen
machen möchte. Doch da ihn das mit den Zauberkünstlern und
überhaupt den Künstlern verbindet – eine Verwandtschaft, die
selten geleugnet wird –, muss etwas hinzukommen: das Erschrecken.
Worüber erschrecken die Menschen am heftigsten? Über die
Verwandlung der Welt. Also ist Politiker, wer die Welt verwandeln
will. Ihr den Stempel aufdrücken – so heißt das. Zu Glück
für die Welt sind die verfügbaren Stempel rar. Zum Unglück für
die Welt sind es meist Dummköpfe, die, auf verschwiegenen Pfaden des
Schicksals, an sie herankommen und sie erbarmungslos schwingen. Darin
liegt ihre Chance, Verbrecher zu werden – große Verbrecher, zu
kleinen hätte es nicht gereicht.
Vor dem Querdenker steht der Kreuzdenker, aber er wird nicht mehr gern
gesehen. Er hat sein Kreuzchen gemacht und niemand hält ihn auf:
Dort ist die Tür! Gefragt sind Querdenker, sie sind die
geborenen Abderiten und passen durch keine Tür. Gefangene ihrer
Neugier, können sie es nicht lassen, ihr nachzugehen. Nichts,
behaupten sie mit Nachdruck, hält sie auf. Man könnte sie auf den
Türrahmen hinweisen, aber der ist für sie ›kein Thema‹. Das
Querdenken, glauben sie, hält sich an keine Rahmenverpflichtung.
Sein Fall ist der freie. Verbinde das Unverbundene, das schmerzt
am Anfang, aber am Ende leuchtet es ein. Wem leuchtet es ein? Das
ist eine gute Frage, schwer zu beantworten, denn niemand weiß, wer
dafür in Betracht kommt. Vielleicht sind es neue Leute, eben
angekommen, sie wissen nichts vom Querdenker und seiner Geschichte,
sie halten ihn für den Vordenker und machen ihr Kreuzchen gern. Sie
könnten auch nachdenken, die Guten, aber das Kreuzchenmachen geht
schneller und lässt die Hände frei, man weiß nie, wem man gleich
damit an die Gurgel geht.
Man schenkt, was man hat, man schenkt, was man zu entbehren weiß, ein Tor schenkt, was er
anschließend dringend benötigt, weil der Verlust ihn mental
überfordert, das kommt vor, das geht nicht wirklich ans Eingemachte,
es greift nur ans Zwerchfell, das geht schon. Was nicht geht, das ist
das Querschenken, bei dem einer hergibt, was er gerade empfängt, so
dass Schenker und Beschenkter blitzschnell die Position wechseln, man
könnte auch meinen: ineinander übergehen oder bis zur
Unkenntlichkeit miteinander verschmelzen. Der Witz des Schenkens
liegt aber in dem überwältigenden Gefühl, beschenkt zu werden –
das zur Gegengabe drängende Bewusstsein setzt später ein, vom
Bewusstsein, beschenkt zu werden, trennen es Lichtjahre. Wer
angesichts eines Geschenks gleich daran denken muss, was es ihn
kosten wird, der fühlt sich nicht beschenkt, er kennt dieses Gefühl
vielleicht gar nicht oder er hält das Geschenk für ein Übel. Über
diesen fatalen Zustand ist der Querschenker weit hinaus. »Alles
geschenkt«, denkt so einer und schenkt wie beschenkt, sein Geschenk
ist, beschenkt zu sein und zu schenken, zu schenken und beschenkt zu
werden, er teilt aus, um nicht einzustecken, denn: er mag nicht
einstecken. »Warum einstecken? Die Freude ist kurz und das Leben
geht auch vorbei.« Kundige nennen das: Tantenfieber.
Eine Quietschorgie kommt selten allein, meist sind es mehrere, die
zusammenfallen, denn nur so kommt es zum Konzert. Und nur wenn es zum
Konzert kommt, gelingt die Orgie. Man könnte also, als Analytiker,
zu dem Schluss kommen, die Quietschorgie sei als solche unerträglich
und schreie nach Vollendung in der Menge. Wirklich ist sie, recht
gehört, ein einziger Schrei nach Gemeinsamkeit, eine Inbrunst auf
dem Weg zur Erlösung, die in ihr steckt, aber nicht herauskommen
kann, solange die Vereinzelung andauert. Nun dauert, recht
betrachtet, die Vereinzelung an, solange der Einzelne existiert.
Daher ist die Quietschorgie, wohlgemerkt: recht gehört, ein einziger
Schrei nach Aufhebung der Existenz. Gelingt die Aufhebung im Konzert?
Oder liegt im Konzert das gelingende Eingeständnis, dass Existenz
und Erlösung im Kern eins sind? Wie kann das möglich sein, da sie
doch radikal verschieden sind? Die Lösung des Rätsels liegt im
Kern. Wäre die Existenz eine Nuss, so wären wir alle Nussknacker.
Stattdessen sind wir Türen, die beim Aufgehen quietschen und
quietschen, wenn man sie schließt, der Kern ist die Angel und die
Erlösung der Öltropfen, vielleicht gibt es deshalb so viele
schmierige Existenzen.
Dieses Wort gab es eben noch nicht und jetzt ist es da. Was wie eine creatio ex
nihilo aussehen könnte, entpuppt sich sogleich als Abfolge völlig
stringenter Denkschritte – im nachhinein, wie denn sonst? Nichts
ist je so logisch erdacht worden wie das Quinsel. Oder war es der
Quinsel? Die Quinsel vielleicht? So konservativ ist das Denken
– es weigert sich, nicht aus Überzeugung, sondern aus
Nachlässigkeit, vielleicht auch aus Vorsicht, mit Feminin- oder
Maskulinformen zu beginnen. In welches Abseits käme man da bereits
zu Beginn? Obwohl … es gäbe genügend Leute, die gleich mit dem
Hauen und Stechen anfangen, man braucht sie nur aufeinander
loszulassen. Wäre das stringent? Vielleicht, vielleicht auch nicht.
Was diese Leute denken, ist ohnehin schwer zu ergründen, über kurz
oder lang haben sie sich so ineinander verhakt, dass dem armen
Quinsel die Luft ausgeht, noch bevor es recht zu atmen gelernt hat.
Es atmet also? Willkommen in der Welt der Lebhaften, der Atemholer,
der Lungenblütler, der Sauerstoffverbrenner, der Weltvernichter!
Willkommen, verdammt – wo ist da der Unterschied? Es schweigt. Das
Quinsel schweigt. Was soll man aus ihm herausbringen, solange es
schweigt? Nichts, praktisch nichts. Könnt ihr nicht einmal
aufhören zu schreien? Dieses endlose Geschrei verschreckt das
Quinsel, seht doch, es flüchtet schon. Ein Fluchttier! Also das ist
mir schon fast zu bestimmt. Gerade noch nicht vorhanden und bereits
scheu. Man hätte es wissen müssen.
Wollten Sie nicht
quittieren? Warum sind Sie noch da? Was hält Sie auf? Hier, eine
kleine Unterschrift und Sie sind frei. Sie erbleichen doch nicht? Da
bin ich aber froh. Sehen Sie, ich dachte schon, Sie wollten etwas
sagen, aber jetzt ist alles gut. Wer nichts zu sagen hat, lebt zum
Teil erheblich länger, jedenfalls verrät uns das die Statistik. Sie
haben doch nichts zu sagen? Dann können Sie alles werden, Präsident
um Beispiel, das wäre noch ein Pöstchen. Möchten Sie es? Nein? Ich
kann Sie verstehen. Sie fürchten das böse Erwachen, aber da kann
ich Sie beruhigen. Es wird kein Erwachen geben, nicht für Sie. Wer
nichts gibt, dem wird nicht gegeben, selbst Ihnen nicht, der Sie
alles geben, wie mir Ihr Trainer versichert. Warum stellen Sie sich
so an? Ihr Trainer ist ein guter Mann, besser wäre, Sie nähmen das
nächste Mal eine Frau. Das muss ich Ihnen jetzt nicht erklären,
oder? Wozu braucht jemand wie Sie einen Trainer? Reine Neugier,
müssen Sie wissen, ich wüsste gern, was in Ihnen vorgeht. Sagen
Sie’s nicht, behalten Sie’s! Sie haben einen Mund, das überzeugt mich,
aber lassen Sie ihn zu. Ich will es selber herausbekommen.
Alles, was aus Ihrem Mund kommt, klingt – entschuldigen Sie! – so banal.
Schöne Vokabel übrigens, ›ba-nal‹, man schmeckt das Nasale
heraus und das Basale, da hat man schon, was man braucht, Kopf und
Fuß, das ganze Verhältnis. War es nicht das, was sie einmal
wollten: die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen? Ich erinnere mich
flüchtig, so etwas gelesen zu haben, verstehen Sie, ich habe jetzt
Zeit und lese gerade sehr viel, darunter diese alten Sachen von
Ihnen, ich meine, das, was damals schon alt war, als Sie es für sich
entdeckten. Es war dann ja auch an der Zeit. Sie waren einmal an der
Zeit, erinnern Sie sich? Heute sind Sie am Drücker, so ändert sich
das. Eigentlich hat sich wenig geändert, nur die Verhältnisse, ich
meine, sobald Sie quittieren, sind Sie sie los. Was heißt das, Sie
kommen mit ihnen zurecht? Habe ich das bestritten? Wer, wie Sie, mit
allem zurechtkommt, der kommt auch damit zurecht. Sie sind ein
Kärrner, hat man das Ihnen gesagt? Es kommt nicht darauf an, dass
einer den Karren in den Dreck fährt, es kommt darauf an, wie
er es tut. In der Beschränkung zeigt sich der Meister. Ein Meister
der Beschränktheit zum Beispiel … warum werden Sie blass? Ich habe
doch gar nichts gesagt. Ein Meister der Beschränktheit zum Beispiel
akzeptiert jede Beschränkung, weil er weiß, er kann was draus
machen. Er weiß noch nicht, was er draus machen wird, aber er traut
sich die Aufgabe zu und darauf kommt es an. In diesem Sinn sind wir
alle ein wenig beschränkt, finden Sie nicht auch? Jeder ein Meister
seines Fachs. Drum sitzen wir jetzt auch hier und nicht draußen
unter der Brücke, dort, wo es kalt ist. Erinnern Sie sich noch an
die Penner, damals, als alles anfing? Solidarische Zeiten, wo sind
sie hin? Die Penner von damals, wo sind sie hin? Penner sind immer
von heute, wussten Sie das? Sie haben keine Vergangenheit, sie haben
keine Zukunft, sie haben bloß dieses Heute. Eigentlich sind sie, was
wir immer sein wollten, nur wollten wir nie so sein wie sie. Wir
haben das nicht erkannt. Etwas hielt uns davon ab, diesen Weg zu
beschreiten. Quittieren Sie jetzt, damit wahren Sie Ihre letzte Chance. Danach ist’s aus, das wissen Sie doch. Ich sage nicht, Sie sollten sie nutzen, das steht mir nicht zu, es
bleibt Ihre Entscheidung, ich mische mich da nicht ein. Es tut
übrigens nicht weh, falls das eine Rolle spielt, ich habe mich
erkundigt, natürlich, wo denken Sie hin, ich kann es auch gern
selbst bestätigen.
Das Instrument, Statistiken zu fälschen, indem man willkürlich herstellt, worüber sie Auskunft geben sollen, ist bekanntlich die Quote. Das Problem der Quote besteht darin, dass sie Repräsentanzen schafft, wo Leistung – oder, vorsichtiger gesagt: Fähigkeiten, Bereitschaft, sie zu nutzen, das Leben in den Dienst einer Aufgabe stellen etc. – gefragt wäre. In den Parteien ›hat‹ man daher, wie man sagt, ›kein Problem‹ mit ihr, jedenfalls, solange es um repräsentative Posten geht und man darauf vertrauen kann, dass Politik, die ›für die Menschen‹ gemacht wird, von den gleichen Menschen gutgeheißen und kontrolliert werden sollte. Auch die Wirtschaft bietet eine Fülle lukrativer Stellen, die im Prinzip, soll heißen in der Realität, jedermann ausfüllen kann und in denen es meist um Kontrolle geht. Hier können Quotierungen, gesellschaftspolitisch gesehen, höchst wünschenswert sein, im übrigen sind sie gleichgültig. Anders steht es um Bereiche, in denen, zumindest dem Anspruch nach, die ›reine Leistung‹ zählt: dazu gehören sicher die Wissenschaften, auch wenn der Rest der Gesellschaft sich dabei ein Lächeln abquält. Dort findet man die falsche, die verschleierte, die Quote durch Unaufrichtigkeit: das willkürliche Hoch- und Herunterreden erbrachter und in Aussicht gestellter Leistungen durch Auswahlkommissionen, die nur der Wissenschaftlichkeit verpflichtet sind und dabei schön sein, das heißt: Resultate vorlegen wollen, die auch gesellschaftspolitisch ›vertretbar‹ sind und einen Sinn machen, vielleicht sogar zwei. Oder drei? Oder vier? Etwa die, dass jede dieser Auswahlen auf Auswahlen fußt, die ihnen voraus gehen und denen entsprechende Auswahlen voraus gegangen sind? Leichte Verschiebungen der Skalen, uneingestandene Präferenzen, Typusselektionen, die ganze anonyme Verteilung von Rücken- und Gegenwind für Leute, die keine Ahnung davon haben, warum gerade sie die Lieblinge sind, während andere nicht von der Stelle rücken? Hier geschieht, was stets geschieht: das Bild der Quotenfrau bliebe unverständlich, wenn nicht der Quotenmann ihr vorausginge, an dessen Zustandekommen, machen wir uns nichts vor, das Geschlecht und seine Vorlieben ebenfalls kräftig beteiligt sind, übrigens schon bei Mutter. Das Besondere der Quotenfrau besteht darin, dass sie gewollt wird. Eine Praxis, die ansonsten zwar unausrottbar, aber nicht ›angestrebt‹ und nicht gemeint ist, jedenfalls nicht im Allgemeinen und im Ergebnis, wird hier forciert und offen gefeiert, um, ja gewiss, Statistiken zu fälschen.
In Qumran endet das Christentum und es beginnt die judeo-christliche Geschichte – nicht zu verwechseln mit unserer jüdisch-christlichen Tradition, einem Identifikationsangebot wohlmeinender Geschichtsdesigner, und gleichfalls nicht zu verwechseln mit dem jüdisch-christlichen Erbe als produktivem Ergebnis einer langen kulturellen Kohabitation, die zwar getrennte Spurensuche ermöglicht, aber keine getrennten Ergebnisse liefert, jedenfalls nicht als ›gesicherte‹, was immer das heißen mag. Gesicherte Erkenntnisse sind das A und O der ursprünglich abendländischen Wissenschaft, die stets von Ausgrabungen profitierte, meist bevor die Staaten und ihre ideologischen Handlanger symbolischen Mehrwert aus ihnen sogen. – Was immer ›wir‹ über den vorgeschichtlichen Menschen wissen, wissen wir durch Ausgrabungen, wenngleich nicht von ihnen, dieser kleine Unterschied muss bedacht bleiben. In diesem Sinn bildet auch die Vor- und Frühgeschichte der Religionen eine Einheit. Sie kann nur ausschnittweise exhumiert werden, wobei sie selbst so etwas wie einen Humus bildet, in dem vieles möglich scheint und vieles so nicht vorkommt, was vor der Entdeckung als unverzichtbar galt. Der Mensch ist das Tier, das sich ausgräbt. Was er dabei findet, ist geeignet, ihn über sich zu belehren – kein Fitzelchen ist verloren, sofern es geborgen wird, es ist alles wir. Ein paar Pergamentrollen, und schon sitzen wir wieder, wie damals, beisammen, die ungeheure Kluft zweier Jahrtausende hat sich geschlossen und die Dogmatiker haben das Nachsehen, jedenfalls einen Augenblick lang, denn sie verwalten das Himmelreich. Was der Religion billig, das ist der Darwin-Fraktion teuer: vor den ungleich größeren Zeiträumen, die sie beackert, steht jede Generation anders ratlos, man freut sich, wenn ein Zahnfund am falschen Ort den ertüftelten Gang der Evolution durcheinanderwirbelt, und wünscht sich nichts sehnlicher als Aufklärung pur, schließlich will man seine Verwandtschaft kennen, auch wenn man Sicherheitsabstand wahrt. Das gibt der Theorie etwas Anheimelndes, sie spekuliert darauf, den Leuten das Befremdliche näherzubringen, stattdessen spüren sie den Spiegel und weichen zurück.
»Eine Zeitlang sah es so aus«, sagt G. und rührt eine Nadelspitze
Zucker in seinen Tee, »als sei das Radfahren als gesellschaftliche
Metapher endgültig passé. Aber seit man diese Erlebnisparks für
Radfahrer eingerichtet hat, auf denen sie pfeilartig wie Boten
Apolls mit starrem Blick aneinander vorbei in die Zukunft rasen,
bin ich mir dessen nicht mehr so sicher.« »O ja«, sinniert Adler,
»da wäre viel zu bemerken. Was die Leute Karriere-Dschungel nennen,
ist in Wahrheit ein Gewirr aus Radwegen oder die
Kreuzungsfreiheit als Illusion.« »Wie meinen Sie das?« will G.
wissen. »Wie ich es sage. Die Idee dabei ist, die Augen so starr
geradeaus zu halten, dass alles, was von der Seite naht, gar nicht
erst in den Blick kommt. Das gibt ein angenehmes Gefühl der
Sicherheit und die Empfindung, aus der Gegenwart direkt in die
Zukunft hineinzupreschen.« »Was öfter vorkommen soll.« »Gestern hat
mich einer, der durch einen Fußgängerpulk hindurchschoss, als sei
er Luft, fast gestreift.« »Dieses ›fast‹ beschäftigt die Leute.
Einmal hörte ich, wie sich eine ältere Frau über die Polizei
beschwerte. ›Sie sieht nichts. Sie tut so, als gäbe es diese Leute
nicht. So ist es immer.‹ Mein Gerechtigkeitssinn ließ mich
einwenden, dass es eigene Polizeifallen für Radfahrer gebe -
umsonst. ›Wer da hineingerät, ist kein Radfahrer, sondern...‹ Sie
kramte nach dem richtigen Ausdruck, ich sprang ihr bei: ›einer, der
es eilig hat?‹ Da sah sie mich an und ich entdeckte die Entrüstung
in ihrem Gesicht.« »So ist das. In der Jugend haben sie es eilig
und im Alter rufen sie die Polizei.« »Nichtsnutze. Sie drängen sich
an der Schuld vorbei wie an einem umgekippten Mülleimer: Nur
weiter.« »Es sind Zeitlawinen. Ein Fuß oder ein Schrei hat sie
gelöst, jetzt rasen sie zu Tal. Wer ihren Weg kreuzt, ist schon
verschwunden. Mag sein, er erwacht in einer anderen Welt.«
Radikal sein, an die Wurzeln gehen, ist an einige Voraussetzungen
gebunden, zu denen, nicht zuletzt, das Sich-Bücken gehört: eine
menschliche Geste, in der sich Furcht und Aufmerksamkeit
unentwirrbar vermengen. Man nennt das gemeinhin Verehrung – für die
Ursprünge, das Unscheinbare und Kleine und doch so unendlich
Kostspielige. Hier liegt der Hase im Pfeffer. Das Spiel mit
den Kosten, in diesem
Fall zumeist Unkosten genannt, bringt das Radikalsein in Gang und
hält es in Schwung. Welch ein Aufwand, radikal zu sein! Und doch,
wie minimal dieser Aufwand. Jeder Radikalismus ist ein
Minimalismus, der sich als Maximalismus verkleidet und seine Kosten
nach außen trägt. Dort ruhen sie, träge, bis sich einer der Sache
annimmt. Dann explodieren sie.
Dem betulichen Kino folgt das rapide auf dem Fuß, das rapidere dem
rapiden. Aber das täuscht, denn die Betulichkeit steht den Rapiden
überall auf den Hacken. Im Roman ist es dasselbe: je schneller die
Lektüre vorankommt, desto langsamer schleift das Verstehen
hinterher. Da es aber nicht zurückbleiben kann, da es immer zur
Stelle ist, egal, ob man es brauchen kann oder nicht, fordert es
seine Recht: jetzt, sofort, auf der Stelle. Das hohe Tempo erzeugt
Langeweile – versteht man nichts, ist es nichts, hat man schon
verstanden, ist es auch nichts. Es schadet auch nichts, denn wenn
man jetzt, just in time,
alles mitbekommt, solange nur der Faden nicht abreißt, solange
nichts unterbricht, dann sagt man anschließend »schön war’s« und
geht seiner Wege. Darin klingt Dankbarkeit an, die Dankbarkeit
dessen, der schon vergessen hat, was für ihn getan wurde, was ihm
angetan wurde, was er sich selbst zugefügt hat, als er sich
auslieferte. Man ist mitgegangen, daran kann doch nichts Falsches
sein, es hat uns köstlich amüsiert und jetzt wollen wir damit in
Ruhe gelassen werden. Ein Jegliches zu seiner Zeit. Das
Unbegriffene, das einem nachgeht, ist lästig, solange keine
Denkernatur sich seiner annimmt. Und das kommt seltener vor, als
man denkt, sofern das denkbar erscheint. Deshalb ist Betulichkeit
die natürliche Gangart derer, die gerne hasten. Sie rennen vor, um
zurückzufallen, es sind die geborenen Trödler.
Ein Land, in dem die Automobilproduktion brummt, bringt keine Gedichte hervor, und wenn es welche hervorbringt, dann will niemand sie lesen. Nichts regelt das Denken sinnreicher ab als der seriell gebuchte Urlaub unter exotischer Sonne, ein jährlicher Zwischenstopp in einer psychiatrischen Anstalt unter dem Einfluss klug dosierter Medikamente kann nicht besser anschlagen. Wer das ganze Jahr drin ist, muss, so oft es geht, raus: das leuchtet ein und bringt an den Tag, was einer unter Leistung versteht und was draußen los ist. Der Doofe Rest sitzt vor der Glotze oder schaufelt Spanferkel in sich hinein. Das Land mit den fettesten Etats schickt seine Professoren zu den begehrtesten Symposien, das ist doch klar, den Rest darf jeder sich ausmalen. Soweit die Grundlagen, allein die Regel reicht weiter, bis jenseits des Horizonts, das ist wichtig zu wissen, weil Horizontweitung zu den Pflichtübungen gehört, die jeder absolvieren muss, der etwas werden oder bleiben will, also jeder. Auch der geweitete Horizont bleibt Horizont. Ein bisschen ausgeleiert vielleicht, aber im Kern ungefährdet. Man schickt sich in die Welt, man schickt sich um die Welt. Man schickt sich.
Ein Jahrzehnt als Befreiung deklarierter Libertinage und anschließend dreißig Jahre ›Frauenbewegung‹, um die Preise wieder in die Höhe zu treiben – die Proportion macht nachdenklich und würde es noch mehr, hätte nicht der misstrauisch beäugte Zuzug aus anderen Kulturen die sexuelle Konkurrenzsituation längst auf neue Füße gestellt. Da hilft nur Dame Justitia: neue und erweiterte Straftatbestände, die sich jenseits der ›klassischen‹ Missbrauchs- und Vergewaltigungsdelikte tief in die Bereiche des Unbezeug- und Unbeweisbaren hineintasten, als blühe gerade dort in berückender Selbstbestimmtheit die blaue Blume Weiblichkeit. Nur war und ist Venus nicht überall mit dem Recht im Bunde, sie führt, wie Literaturen in aller Welt bezeugen, ihr eigenes Recht mit sich und die Jurisprudenz ist gut beraten, ein gewisses Maß an Anerkennung dieser Macht gegenüber walten zu lassen. Es wäre daher nicht schlecht, wenn auch der Gesetzgeber hier tatbestandsweise ›Prudenz‹ walten ließe, statt den kontinuierlichen Verschärfer zu geben. Jeder Brauch führt seinen ganz eigenen Missbrauch mit sich, der sich zwar eindämmen, aber nicht eliminieren lässt, es sei denn, die Bräuche ändern sich wieder – um den Preis neuer Missbräuche. Bekanntlich ist das Gros der sexuellen Bräuche alt und relativ verbreitet, die hochgepeitschte Änderungserwartung daher in gewissen Fällen kaum mehr als einer der vielen Wege ins Nichts, die mit dem schönen Namen der Emanzipation zu dekorieren man sich einmal angewöhnt hat.
Man kann von Bildern nur metaphorisch reden, das heißt in Bildern.
Man kann diesen Sachverhalt bildreich verschleiern, aber am
Ende wird man auf ihn zurückkommen. Man redet über Bilder, man
spricht über Bilder, man redet, weil einem dieses oder jenes Bild
zum Reden Anlass bietet: das sind drei unterschiedliche Weisen,
sich redend auf Bilder zu beziehen. Im ersten Fall geben Machart,
Motiv, Preis, Geltung, Herkunft des Bildes den Ton an, im dritten
die Befindlichkeit des Betrachters, seine Ziele, Interessen (auch
theoretische), Gefühle, sein Desinteresse, seine
Verschleierungsabsichten, sein Ausweichen vor Gesprächen, die
stattdessen geführt werden müssten, das flüchtige Stop and Go der Wahrnehmung, seine
Eitelkeit, seine Prahlsucht, sein Redebedürfnis – all das wandert
in die verbale Gestalt des Bildes hinein und macht es genieß- oder
ungenießbar. Und all das hat mit dem Bild, streng genommen, nichts
zu tun oder nur insoweit, als es die geduldige, unendlich
gleichgültige Folie darstellt, auf der es sich vollzieht und die
vielleicht bereits vergessen ist, wenn die Rede ihr Zentrum
erreicht, falls sie so etwas überhaupt besitzt. Der zweite,
mittlere Fall meint das Im-Gespräch-Sein, den erreichten
gesellschaftliche Status eines Bildes: es ist, wenn es soweit
kommt, eine Art Person geworden, jemand, der mit am Tisch sitzt –
im Modus der Abwesenheit, versteht sich, damit man über ihn
sprechen kann, so wie ein Jubilar anwesend-abwesend ist, wenn die
Worte feierlich werden, oder wie ein Mörder realiter abwesend sein
muss, damit das Gespräch über ihn so recht in Gang kommt. Ein
solches Bild kann noch immer ein Nichts sein, eine Null, aber es
hat etwas bewirkt – es hat erreicht, dass man über es spricht, es
hat, in der Narrensprache, Karriere gemacht. Vielleicht ist es
jemand, über den man zu Recht spricht, eine richtige
Persönlichkeit, jemand, den man nicht kennen kann, ohne sich auf
die eine oder andere Weise zu ihm zu verhalten. Diese Art des
Sprechens ist unerschöpflich und unbegrenzbar, sie hat ihre Zeit
und sie hat ihre Phrasen. Sie verfährt nach Mustern, die jedem
vertraut sind, aber in jedem Zirkel anders interpretiert werden –
wer den Ton nicht trifft, wer die augenblickliche Valenz der Wörter
nicht richtig taxiert, wer nicht in diesem Augenblick dazugehört,
woher er auch kommen mag, erntet das Schweigen, das er fürchtet wie
der Düvel das Weihwasser. Reden wir also vom Bilde.
Seit die Deutschen in Europa auftauchten – das ist lange her –, gründen sie Reiche, aber vergeblich. Es liegt ihnen im Blut, vielleicht auch in einer anderen Flüssigkeit,
die nicht herauswill, sie können nicht anders. Es ist ein wenig ihr Hobby, schrieb einer aus dem Tross ihrer ungleichen Vettern, als die noch etwas von der Sache verstanden. Daher nahmen die Westdeutschen es als Glücksfall, dass Frankreich nach dem Total-Desaster des Dritten Reichs aus nüchterner Überlegung ihnen das nächste Projekt auf die Reißbretter schob – die Zeit schien reif dafür und das etwas anders genannte Reich blühte, vor allem deshalb, weil es ein bisschen zu sehr von dieser Welt war – als Wirtschaftsunion –, und auf der anderen Seite nicht ganz, weil die Krönung, der
gemeinsame Staat, nicht gelingen wollte, obwohl alle wahren Europäer
sich eine Zeitlang danach verzehrten. Immerhin reichte die
Konstruktion, um gemeinsam reich zu werden, zumindest, bis sich die
Habenichtse aus dem Süden und Osten mit an den Tisch setzten, die
einen, um sich am vorhandenen Reichtum zu bereichern, die anderen, um
teilzuhaben an Europas Reichtum – eine subtile Differenz, die etwas
über Mentalitäten aussagt, aber auch über die inzwischen
ergriffenen Vorsichtsmaßnahmen der anderen. Der Osten braucht
Europa, der Süden verbraucht es, der Norden … Schweigen über den
Norden, er verabscheut Europa und will es doch, er liebt Europa und
träumt davon, es neu zu gründen, wie einst die Sachsen das Reich der
Franken. Das ist zwar ein Professorentraum, aber man kann nie wissen.
Wenn Professoren in Träume verfallen, dann träumt irgendwann die Gesellschaft,
zumindest ihr studierwilliger Teil. Derweil geht das Leben weiter und
pflegt seine hässlichen Segmente. So ein Reich macht einen gewissen Teil der
Bewohner reich und die anderen taub, sie wollen nicht glauben, wie
ihnen mitgespielt wird, und wenn der Professor – Sinn bleibt Sinn –
die Auskunft auf dem Silbertablett serviert.
Nach der Versicherung des Herrn Nietzsche, er sei ein Verhängnis, sind andere gekommen, die ähnliches versichern zu müssen glaubten, und wieder andere, denen man es abnahm, ohne dass sie es eigens versichern mussten. Dieser Reigen fasziniert die Menschen noch immer. Er ist sogar zu einer Art Perpetuum mobile des Lehrbetriebs geworden und die jungen Damen und Herren, die offen sind für das Abenteuer, glauben ihm unbesehen. Geht man zu den Ökonomen, so findet man keine Spur von jenen verhängnisvollen Herren. Es ist, als habe es sie nie gegeben. Glaubt man den Moderneforschern, so ist ›die Moderne‹ in toto verhängt, eine von oben sich in das Leben und Denken der Menschen drängende Macht, der Widerstand zu leisten zwecklos ist und allenfalls mit blutigen Massakern geahndet wird. Es gilt als inhuman, dem Verhängnis die Stirn zu bieten und es auf seine Denkfehler aufmerksam zu machen: sie haben ›nichts zu bedeuten‹. Dagegen gilt es als human, das angeblich Verhängte als Verhängnis zu deuten, als etwas Unentrinnbares, dem man sich so wenig entziehen kann wie dem Straßenverkehr und dem Zahnarzt. Aber der Straßenverkehr und der Zahnarzt wissen nichts von dieser Moderne. Dem begegnet die Rede von den zwei oder drei Kulturen, die gleichsam über den Kulturen schwebt und aus der Arbeitsteiligkeit der Gesellschaft auf ihre Unverbundenheit schließt. Dieses Unverbundensein ist ein großes Geheimnis. Sie macht die Menschen nachgiebig gegenüber Erfolgen der anderen Seite und multipliziert diese damit: erst die Beistimmung von Leuten, die ohne Urteil beistimmen, lässt Theorien gültig erscheinen und setzt Trends in Gang, die Tausende von Kilometern entfernt Menschen verhungern oder Megavermögen anhäufen oder zur Kalaschnikow greifen lassen. Es bleibt aber Arbeitsteilung. ›Kulturen‹ entstehen, wenn Theorien frenetisch werden und auf die Gefühlswelt der Leute übergreifen, die mit ihnen in Berührung kommen und ihrerseits Gefühle ›vermitteln‹.
Das Wort Reizwäsche reizt die Kundschaft, es ist aber auch zum Lachen. Es stammt aus einer anderen Epoche, es muss unter Umständen erfunden worden sein, die noch der Erfindung harren. Warum so streng? Wäsche reizt, das ist ihre Bestimmung. Vor allem reizt sie die Haut, die sie ertragen muss – tagaus tagein, selbst nachts wird es nichts mit der Freiheit. Da ist es besser, sie arrangiert sich. Wäsche ist Macht – und nicht die geringste. Am besten, man fühlt sich wohl in ihr, das erleichtert vieles. In einem Korsett zum Beispiel –
»... Wissen Sie, was ein Korsett ist? Lassen Sie sich nichts vorgaukeln, Sie wissen es nicht. Sie werden es nie erfahren. Warum? Es würde Sie verunsichern – sicher, das ist das Wort, ich habe lange danach gesucht. Wer möchte schon eingezwängt leben? Sie? Im Ernst? Dafür reizen Sie gern? Aber wen? Sie suchen noch? Suchen Sie nicht zu lange, dort kommen sie schon. Alle in Reih und Glied, wie die Schöpfung es ihnen vorschreibt. Ein Wort unter Modeschöpfern – ich weiß nicht, wie ich’s vermitteln soll, aber ich habe den Eindruck, ich habe den starken Eindruck, Sie üben noch. Geben Sie her. Geben Sie’s einfach her, ich trage diese Dinge schon länger. Ziehen Sie sich ordentlich an, dann kann Ihnen nichts passieren. Was mit mir passiert? Warum fragen Sie? Das geht Sie nichts an, scheren Sie sich zum Teufel. Und gehen Sie keinem an die Wäsche, der Sie zum Teufel wünscht. Das ist ein Rat von mir, Sie können ihn annehmen oder zum vorigen in die Tonne stopfen. Wie ging er nicht gleich? Was, Sie haben ihn vergessen? Sie vergessen meine Ratschläge? Ich weiß, jetzt mogeln Sie, meinen Rat vergißt keiner so schnell. Sie wollen mich doch bloß reizen. Wie wollen Sie das bewerkstelligen, ganz ohne Reizwäsche? Am besten, Sie fahren aus der Haut und schenken sie Ihrer Bank. Wussten Sie, dass Ihre Bank Häute sammelt wie andere Leute Briefmarken? Banken sind notleidend durch die Bank: Sagt Ihnen der Spruch etwas? Wer seine Haut retten will, der gehe hin und rette die Bank: So sieht es aus. Nun, Sie haben es in der Hand, eine Geste von Ihnen und die Welt geht einen anderen Gang. Das war übrigens mein letzter Rat: Eine Bank, die nicht unter die Haut geht, ist die Schulden nicht wert, die man bei ihr aufnimmt. Ziehen Sie sie ab und Sie werden sehen, im letzten Hemdchen steckt immer ein Gläubiger. Vielleicht auch nicht, dann eben sein kleiner Finger.«
So schreiben, dass es den Leser kitzelt: er lacht, er wehrt sich,
er schlägt nach etwas, das er nicht sieht, er wird wild, er springt
aus dem Bett, das er erst später zu verlassen gedachte, er rennt im
Kreis, er weiß sich nicht anders zu helfen als... Als? Gute Güte!
Er wird doch nicht? Ja, er wird, er hat schon.
Im letzten Jahrhundert war es unter Europäern üblich, Ideologien als Religionsersatz zu titulieren. Das war eine angemessene Sicht in Zeiten, die für alles Ersatz schaffen mussten und zu schaffen wussten: vom Kaffee über den Sprit bis zum Wohnraum und der Krankenkasse für zu groß gewordene Krankheitserwartungen. Die allgemeine Substitutionspraxis machte vor den Sinnfragen nicht halt, sie durchdrang sie von einem Ende bis zum anderen. Nie wurde die Welt der Welterklärung so erklärt wie in den Zeiten einer gesteigerten Erklärungsnot, nie diktierte die Ungeduld so ihren Rhythmus und ihre Inhalte. Das neunzehnte Jahrhundert betrachtete die Religion als eine zwar archaische, doch völlig intakte Ideologie, der eine neue Praxis den Garaus machen würde. Das zwanzigste sah in ihr ein verendetes Wissen, das durch eine Praxis der Praxis ersetzt werden müsse. Wann immer sich diese als verheerend erwies, versuchte man sie zu retten, indem man aus dem Kadaver Teile herausschnitt und für den allgemeinen Verzehr freigab. Man könnte daraus schließen, es sei leichter, sich eine tote Religion anzueignen als eine lebende. Das heißt: von der Hand in den Mund leben. Andererseits fällt es nicht schwer, eine ersetzende Praxis als Praxisersatz zu denunzieren und ein wenig zu loben, denn eine gesunde Ersatzpraxis fordert den Menschen weniger als eine Praxis, aus der es kein Entrinnen gibt. Wie ist das möglich? Wie kann das Schicksal des Menschen unentrinnbar sein, wenn es so leicht fällt, den nächsten Flieger zu besteigen und abzuhauen? Die Geretteten blicken auf die Menschheitsentwicklung als eine lange Kette von Verfehlungen und Verirrungen zurück, die an der eigenen Haustür endet. Die abgewandte Seite des Hauses ist fensterlos, einige schwadronieren davon, die Aussicht auf den menschenfreien Planeten sei möglich, aber nur für starke Nerven geeignet. Zum Glück sagen es die Statistiken anders. Für die heutige Menschheit sind alle Europäer Schweizer. Sie sollten es lassen, mit Raketen um sich zu werfen, um irgendetwas ›durchzusetzen‹.
Dass sich das religiöse Leben durch Paragraphen regeln lässt, wirft ein bezeichnendes Licht auf das religiöse Gemüt: sich selbst und seinen Kollektiven überlassen tendiert es dazu, maßlos zu werden, die gesetzte Ordnung mit Missachtung zu strafen, falls ihm nicht rechtzeitig Grenzen gesetzt werden. Zu seinen Besonderheiten zählt, dass es nicht von heute auf morgen maßlos wird – davor bietet die Religion einen gewissen Schutz –, sondern in Wellen, die einen langen Vorlauf besitzen und manchmal unbemerkt bleiben, bevor sie eine bedrohliche Höhe erreicht haben. Die Woge nimmt den Einzelnen mit, er fühlt sich getragen und gerade das verlangt er von seiner Religion. Was sollte falsch daran sein? Ein Staat, der hier nicht eingreift, gibt sich verloren, vielleicht nicht gleich, vielleicht nicht von heute auf morgen, er mag sich eine Zeitlang in seiner Liberalität sonnen, doch die Tage dieser Sonne sind bereits gezählt und irgendwann senkt sich Nacht über das Gemeinwesen.
Man fühlt sich nicht schuldig, man sucht nach der Schuld. – Falsch, ganz falsch. Die Schuld sucht nach dir. Aber erkennt sie dich? Sie sieht dich an, sieht durch dich hindurch: Du bist ein Kandidat. Bist du ein geeigneter Kandidat? Bist du ein guter Kandidat? Diese Fragen passieren dich, ohne dass du sie abwehren könntest. Unwillkürlich straffst du dich, es fehlte nicht viel und du kämmtest dein Haar: Du willst ein guter Kandidat sein. Du bist bereit, aber nicht ganz, denn du fühlst, etwas stimmt nicht. Auch die Schuld zögert. Ja, sie zögert. Dieses Zögern der Schuld wird selten beschrieben. Es hat nichts Entlastendes. Es zählt also nicht in den moralischen Geschichten, die erzählt werden wollen. Mag sein, sie kennt dich bereits. Im Grunde seid ihr alte Bekannte. Nein, du machst ihr nichts vor. Und sie geht vorbei, ein Tiger im Busch, der seine Beute verschmäht – aber nur dieses Mal. Morgen fällt sie dich an. Oder irgendwann.
Ist man, wie die Kenntnis des Universums es nahelegt, vom
Übergewicht der toten Materie überzeugt, dann begreift man sie
bereits als gewaltige Responsionsarena, die Überzeugungen eingibt –
was wurde vom Geist jemals mehr erwartet? –, und die Initiative, jene zweite oder vielleicht dritte Wirklichkeit auszubilden, die man die menschliche nennt und die sich nicht in
sozialen Ordnungsvorstellungen erschöpft, sondern sich darin allenfalls abzuzeichnen
beginnt, bekommt durch sie den größten Schub. In dieser ›Arena‹ erscheint jede biologische
Ordnung bloß als Intermezzo, durch ein paar lumpige Milliarden
Jahre in der Zeit und durch diese extrem unwahrscheinlichen
physikalischen Bedingungen begrenzt, die mittlerweile in jedes
Schülerhirn Eingang finden. Was wir Bewusstsein nennen, tritt
ganz allein der anorganischen Kulisse der Welt gegenüber und findet
in ihr sein angemessenes Gegenspiel. Wer dann die Materie als
Intermezzo der Leere begreift, ist dem Mystizismus bereits
verfallen wie irgendein religiöser Geist vor ihm. Der als Löser der
Welträtsel auftretende Soziologismus wirkt so unbegreiflich, dass
man sich fragt, wie Generationen von Wissenschaftlern ihm erliegen
konnten. Währenddessen überziehen andere Disziplinen ihr Konto,
insofern erübrigt sich die Antwort.
Generationen von Überzeugungstätern haben den Glauben im Namen des Wissens überwunden. Deshalb glauben ›wir‹ zu wissen. Dieses ›wir‹ ist verräterisch. Es ist die Stelle, an welcher der Glaube einsickert oder besser: das Glauben. Zu wissen glaubt man im Plural, es ist eine Beschäftigung, die man in Gemeinschaft mit anderen ausübt, die das Wissen mit einem teilen, so wie man den Glauben des anderen teilt. So wie? Nicht ganz, denn wenn ich sage, niemand weiß, was ich wirklich weiß, dann liegt darin ein anderer Vorbehalt als der, den ich meine, wenn ich feststelle, dass niemand weiß, wie es in mir aussieht. Der Wissensvorbehalt funktioniert nur unter der Prämisse, dass ich etwas weiß, was ich nicht preisgebe – etwas, angesichts dessen nichts von dem, was ›wir‹ zu wissen glauben, als Wissen durchgehen kann. Es kann, als falsches Wissen, zwar geglaubt werden, aber nicht im ausgeklügelten Modus meines Zu-Wissen-Glaubens. Glauben wir also, was das Wissen zu glauben uns nötigt. Ohne diese Nötigung ist nichts zu glauben. Glauben ist nicht wissen, Wissen ohne zu glauben bleibt Wissen, glauben ohne zu wissen bleibt Glauben. Ist das, was einer glaubt, ohne dass er es zu wissen glaubt, Wissen, wenn es anderswo als Wissen geglaubt oder ›angenommen‹ erscheint? Die Frage erscheint müßig, ein Spiel mit Worten, gespielt um das, was Leute, die weiter sind, etwas wegwerfend den ›subjektiven Rest‹ nennen, wo es doch darauf ankomme, mehr allgemein zu sprechen und zu denken, vor allem letzteres. »Ich meine das jetzt mehr allgemein«: darin steckt mehr Unglaube, als einer zuzugeben bereit ist, ein innerliches Beiseitetreten, das dem Allgemeinen den Raum gibt, den es benötigt oder zu benötigen scheint, um sich auszubreiten, um wirklich allgemein zu sein mit allen Konsequenzen, die so etwas hat. Welche hat es denn? Es sind die üblichen: Schließ dich an, sei du selbst. Sei es ganz. Wirf über Bord, was in Wirklichkeit nicht du bist, sondern der Vorbehalt, den andere in dir aufgerichtet haben. Vergiss ihn. Vergiss die Reserve. Das hier ist die Wirklichkeit. Na, wird doch schon... Wer innerlich beiseitetritt, um das allgemeine Spiel zu spielen, um die Erwartungen zu erfüllen, die an ihn gestellt werden, hört nicht auf zu glauben, er glaubt nur anders. Er glaubt an die Schwäche, an die Unbestimmtheit, die ihn ›innen‹ erfüllt. Er will aber nicht schwach sein, er will in seiner Schwäche stark sein und behauptet deshalb, ›da drinnen‹ sei nichts, das Drinnen selbst sei eine Fiktion, ein Spiel der Sprache, die den Spieler narrt und um die Pointe bringt, falls er sich ihr überlässt. Er behauptet das, wie man etwas behauptet, und es ist eine Be-Hauptung: ein neues Haupt für Jedermann, der sonst erkennbar kopflos herumliefe, weil er nicht wüsste, was er nun glauben sollte.
Dass, wo die Not am größten, auch die Rettung am nächsten ist,
beteuern die Geretteten gern, die nicht Geretteten schweigen sich
über diesen Punkt auffällig aus. Was aus dem Mund des Einzelnen
zaghaft klingt, das klingt anders im Chor. Wir werden den Ausweg
schon finden; dass wir es bisher nicht konnten, ist bereits so etwas
wie ein Zeichen, außerdem haben wir viel herausgefunden,
und wenn es den Kern der Sache nicht trifft, trifft es doch den
Nerv und verbreitet Hoffnung. So reden viele und die meisten denken
so, vor allem wenn es um Menschheitsprobleme geht, die schleichend
oder in weiter Ferne sich ankündigen. Dass die Politik gern
Programme aufstellt und Ziele beschließt, hat mehr mit der Hoffnung
auf den findigen Bastler zu tun, als sie zuzugeben bereit ist. Findet
sich keiner, räumt man das Feld schweigend. Die Kürze des
Menschenlebens – von der des Gedächtnisses zu schweigen – deckt
vieles, vielleicht das Meiste von dem, was schiefgeht. Früher oder später fordert der starre
Blick nach vorn seinen Tribut. Wer mit
untauglichen Mitteln das Unmögliche versucht, wird leicht für einen
tragischen Narren gehalten, dessen Tragik niemand sieht, also für
eine Travestie. Währenddessen geschieht alles, was er verhindern
wollte, aber es entgleitet ihm und am Ende findet er eine gewisse
Zufriedenheit darin, an etwas zu zerschellen, dessen Natur ihm sein
hektisches Bemühen zur Hälfte verborgen gehalten hat.
Die Reue ist überall zuhause. Aber besonders in Häusern, denn jedes
Haus bietet der Reue Unterschlupf. An Türen und Fenstern, Wänden
und Mobiliar stiftet sie Stätten des dunklen Gedächtnisses und
verfinstert die schönsten Gegenstände des Handwerks. Sie verschont
nicht einmal den Schmuck oder altes Porzellan. Nur die Tapeten, von
der Reue gebleicht und begehrt, vermögen die reuigen Menschen für
eine Weile zu schützen. Das Labyrinth der Ranken und Muster zieht
sie an und beschwichtigt ein wenig den Gram der Bewohner durch ein
Sausen und Schweifen, das ablenkt und tröstet. »Die Reue hat ihre
Musik«, pflegte der Jacobiner Tirralieur, ein Meisterhenker am
Place Grave, über dieses Geräusch zu sagen, wenn er nach seiner
Arbeit bei Mutter Tulip seinen Wein trank (nur Weißwein). Dann
lauschte er der bunten Gascogner Tischdecke, in der die Reue so
sausend pfiff, dass er glauben mochte, es reue selbst die Reue,
Reue erweckt zu haben.
Doch leider bleibt jede Reue nicht lange in den Tapeten.
Zurückgekehrt fällt sie wie Schnee über ihre alten Nester und die
Bewohner ziehen erneut ihre Taschentücher. - PM
»Zermürbend« nennt G. eine Gesellschaft, in der die Vielen um die
Wenigen kreisen, die es rechtzeitig geschafft haben, sich neben den
Geldtöpfen zu postieren, zermürbend und wenig stimulierend, es sei
denn, man nimmt die Anstrengung dafür, ebenfalls in die Nähe der
Töpfe zu gelangen – ein lebenslanger Prozess, in dem die Fliegen
erschöpft von den Wänden fallen und die Brote Schimmel ansetzen,
bevor es gelingt, sie zu Munde zu führen. »Zu Munde! Eine herrliche
Phrase, die Sie da im Munde führen.« Nun, es mundet nicht und das
ist der Kern der Sache. Der Mund bleibt zu. Man mag es das Rad des
Ixion nennen oder nur ein Hamsterrad, was den Vorteil hat, dass es
einem täglich vor Augen steht und man seinen Bewohner kennt, der
einen nichts angeht und der das auch ausstrahlt. Ausstrahlung – darum geht es in diesem
zermürbenden Spiel, es ist ein Kampf um Ausstrahlung, eine täglich
verlegte und am Ende verlorene Arbeit, die sämtliche Energien
schluckt, als hätten sie nie existiert. Wer nichts ausstrahlt, den
strahlt auch nichts an – eine der Grundregeln der
gesellschaftlichen Physik, die von den Anfängen her in den
Kinderschuhen steckt, während die Sache ungerührt in ihr nächstes
Stadium tritt.
»Wenn ich einmal alt bin –« geheimes Lustwort, in dem die
Selbstretter sich ein Bettchen bereiten, das keiner sehen darf und
das bereits muffig wirkt, während es unangerührt die Stunde des
hohen Besuches erwartet. Die Segnungen der Altersmedizin treffen
auf die unerhörten – und ungehörten – Hoffnungen einer bereits
zurückgefallenen Jugend, die weiterhin meint, sich erhalten zu
müssen und dafür die Quittung empfängt: Arztrechnungen ohne Zahl,
mit der Hoffnung auf reichere Ernten. Die Forschung weiß, was sie
der Klientel schuldet. Jedes Hinausschieben der Grenze sorgt
vorneherum für Entlastung und erregt den perversen Wunsch,
irgendwann, in ferner Zukunft, endlich dort anzukommen, wo es nur
noch weitergehen kann, in kleinen Schritten, von Tag zu Tag, so
dass sich das ganze aufgestaute Pensum eines versäumten Daseins
gemächlich abarbeiten und also erfüllen lässt. Hinein in die
Erfüllung! Das ist ein bequemes Zimmer für Schwerstversehrte, von
dem die Gesunden träumen. Sie träumen nicht umsonst, sie werden
dafür bezahlt und es geht ihnen gut. Die Erde ist ihr Revier, sie
umkreisen es ohne Unterlass.
Viel ist über sie geschrieben worden, die menschenverzehrende, und
viele haben sich nach ihr verzehrt. Was aber auf Dauer mehr
interessieren dürfte: Wie konnte die etwas hausbackene Vorstellung,
dass die Welt zwölf Stunden am Tag Kopf steht, aus dem Gefängnis
der populären Verdrehungen des Kopernikanismus mit einer solchen
Vehemenz ausbrechen, dass man zweihundert Jahre lang unter
ungeheuren Opfern der Versuchung nachgab, die Welt vom Kopf auf die Füße
zu stellen? Die heutige Astrologie lässt dergleichen Leidenschaft
nicht mehr zu; wer beim nächsten Trip an die Grenzen seines
Universums gehen möchte, der revoltiert nicht, er ›zeigt, dass es
geht‹. Die Revolutionsära war zu Ende, als die ersten Popsongs
auftauchten, in denen ein fröhliches Gedudel
Bewusstseinserweiterung verhieß. Dass man unter Wasserwerfern noch
einmal Revolution spielte, mehr noch, dass man ihr Erbe zwei
Jahrzehnte später hinwegfegen konnte, indem man sie parodierte,
zeigt, dass die astrologische Binsenweisheit endlich die Köpfe
erobert hatte. Die Zeit ist reif, das Wasser vom Mars zu holen, es
ist der nächste Weg und man lernt immer dazu. Die Verschwendung an
den Grenzen der Welt ist gewaltig, die Menschen verstehen nicht die
Macht des Gesangs, nur als Josephine sie einstmals verließ,
durchfuhr sie ein Seufzer. Seither ist man weiter.
Viele Theorien stellen hier die Körperlichkeit in den Vordergrund, den Tanz, das Sich-Wiegen, die verschiedenen bekannten Körper-Rhythmen oder Körper-Zyklen, was sicher nicht unerheblich ist, aber die mentale Seite abdunkelt oder als eine bloße Funktion der anderen Seite erscheinen lässt. Doch auch das Bewusstsein rhythmisiert, und zwar spontan, wie jeder bestätigen kann, der bereits zu Zeiten Bahn fuhr, als die Schienen noch nicht zusammengeschweißt waren und man die Übergänge mit dem Körper wahrnahm. Da ließ sich beobachten, dass aus dem monotonen tam tam tam rasch ein tam-ta-ta-tam entstand, das nach relativ kurzer Zeit in ein ta-ta-tam-tam übergehen konnte und wirklich überging und so fort. Das schläfrige oder eingelullte Bewusstsein wechselte die rhythmische Interpretation des physikalischen Phänomens nach Spontaneitätsregeln, die, wer weiß, denen eines Gedichts gar nicht so unähnlich sind.
Was bedeutet das? Rhythmen sind synthetische Leistungen des Bewusstseins, sie werden nicht einfach wahrgenommen, sondern mental erzeugt. Was da erzeugt wird, sind zweifellos Zusammen(ge)hänge: etwas kettet sich aneinander, gibt sich mittels Wiederholung und Variation eine Binnenstruktur. Die stimmlich interpretierte Sprache kann so gut wie der Schienenstrang zum physischen Auslöser solcher Prozesse werden. Dazu bedarf es bekanntlich nicht einmal des lauten Sprechens. Auch ›Stimme‹ lässt sich, wie musikalische Phänomene allgemein, intrinsisch reproduzieren.
Sprache und Denken, Sprache und Gedachtes hängen aber bekanntlich zusammen, sie sind intim verschwistert. Ein sinn-loses oder -leeres Rhythmisieren von sprachlichem Material erscheint daher nahezu ausgeschlossen. Die Bedeutung reißt den Rhythmus, der Rhythmus die Bedeutung mit sich fort. In pragmatischen Situationen – und unter Pragmatikern – ist das wenig mehr als ein angenehmes oder störendes Hintergrundrauschen. In bestimmten Menschen – nennen wir sie Dichter – erreicht das Rauschen eine beträchtliche Stärke, es interveniert an den verschiedensten Stellen, vielleicht sogar durchgehend, sobald der Gebrauch der Sprache sich über das alltägliche Sprechen erhebt, also, sagen wir, eine gewisse Eigendynamik entfaltet. Solche Interventionen lassen den Sinn des Gesagten nicht unberührt, sie modifizieren und differenzieren ihn, indem sie synthetische Einheiten herstellen, die nicht auf der Ebene der unmittelbaren Wort- und Satzbedeutungen liegen.
Und auch das Umgekehrte findet statt. Ein Rhythmus lässt sich, wie in den festen Formen der Poesie geschehen, mit ganz unterschiedlichem Wortmaterial unterlegen: so kann der einmal gefundene Rhythmus weiterlaufen, solange die Gedankenausbildung im Prozess des Formulierens noch nicht abgeschlossen wurde – wenn es sein muss, über einen langen Zeitraum, wie zur Gewähr dafür, dass in einem bestimmten Tiefenbereich ein und dieselbe Sache weiterhin gegenwärtig bleibt und ›verhandelt‹ wird.
Eine Moderne, die auf sich hält, kommt immer nach der Moderne, sie
ist ›irgendwie weiter‹. Das verbindet die ersten mit den letzten
Modernen, denen die allerletzten folgen, die mit Sicherheit
wissen, dass sie ›bereits anders‹ sind, nicht so befangen irgendwie
– anders als alle anderen, aber auch ein wenig anders als man
selbst. Deshalb liegt allen so viel daran, festzuschreiben, was es
mit der Moderne und den Modernen so auf sich hat. Jede Beschreibung
ist ein Stück Abgrenzung, als Reflexion getarnt, ein Stück
Selbstbehauptung gegen alle, die bereits so grandios modern waren,
dass man selbst dagegen ein wenig alt aussieht oder aussähe, hätte
man nicht Gründe, so zu sein, wie man aussieht, obwohl dieses
Aussehen, wie jedes Aussehen, täuscht. ›Wie langweilig, diese
Moderne, welche Trottelei, ihr zu folgen!‹ Ein Aufruhr
ohnegleichen. Die ungeheure Erregung, die das Gähnen begleitet,
muss erst einmal gemeistert werden können, am besten durch
Lebensarbeit, in deren Verlauf sich eine neue Generation von
Gegenwartsspezialisten formt, die genau weiß, was noch oder wieder
erlaubt und nicht erlaubt ist, was sich hier und heute ziemt und
was als unziemlich verschwinden muss, ›Zwerge auf den Schultern von
Riesen‹, wie ihr Lieblingsbild lautet. Das ist eine durch Alter nur
mühsam geadelte Heuchelei, die überdies eine handfeste Drohung an
die Nachrückenden enthält: Was
wäret ihr, falls ihr euch einfallen ließet, von diesen Schultern
herabzuklettern und eigene sein zu wollen? »Nach uns wird
kommen / Nichts Nennenswertes.« Aber die Riesen, liebe Kinderlein,
sind es doch nur aus einer gewissen Perspektive, es sind Gipsbüsten
oder einfache Steckenpferde, gegen einen eingebildeten
Sonnenuntergang gehalten. Auf ihnen lässt sich, bei einiger
Rücksicht auf den Zwirn und um den wohlbekannten Preis der
Lächerlichkeit, trefflich reiten, wie auch immer. Wer den
Weber deutet, wie soll der je aus dem Schneider kommen?
Lessings Ringparabel endet, wie jeder weiß, der lesen kann und
gelegentlich wirklich liest, mit einem Patt. Wenn keiner weiß,
welcher der ererbten Ringe der echte ist, bleibt nur, dass alle sich benehmen, mit der Aussicht, dass der wahre sich schon am Ende
erweise. Bereits Wagners Ring räumt mit diesem Gesäusel auf und
was später als Ideologie auf den Plan trat, fackelte nicht lange,
als es galt, in finale Kämpfe einzutreten, ehe die Atombombe dem
Treiben notdürftig Einhalt gebot. Man kann darin einen Fortschritt
sehen, in den Augen der meisten ›macht‹ diese Perspektive
›Sinn‹.
Gnadenlos ist der Gnadenlose. Das leuchtet objektiv wie
subjektiv ein und wirft, wie immer, ein seltsames Licht auf die
Ergebnisse der natürlichen Auslese. Was aber zurückbleibt, was
vor Menschen und Göttern
angenehm macht, das ist ohne Zweifel das Geld. Es haben oder
nicht haben macht den Unterschied. Die Menschen fühlen sich wohl,
wo das Geld sich wohlfühlt, vorausgesetzt, man erlaubt ihnen, es zu
erwerben. Insofern war die Zeit über die Religionsparabel
hinausgeschritten und hatte sie absorbiert. Das galt, bevor der
eliminatorische Zug erneut ans Licht trat – nicht gegen
irgendeinen, sondern just den Gegner, von dessen
Unüberwindlichkeit die Parabel einst ausging.
Die Quellen der
Religion erschöpfen sich nicht wie Ressourcen, die der Wüstensand
birgt oder das Polareis. Die ganze sorgfältig beachtete Trennung
von Religion und Politik fällt dahin, sobald sich das religiöse
Gemüt beleidigt oder herausgefordert oder entehrt fühlt – von was
auch immer. Plötzlich entsteht eine Grenze, über
die viele, legal und illegal, hierhin und dahin wechseln, ein
täglicher Strom, der sich vom nächtlichen in mancherlei Hinsichten
unterscheidet. Wer glaubt, das ließe sich, einmal in Gang gekommen,
auf eine religiöse Richtung oder das, was man, biologisch versiert
wie eh und je, ›Auswüchse‹ nennt, beschränken – was glaubt denn
der? Das liberale System geht, stolpert, ringt sich neuen
historischen Kompromissen entgegen. Wie sie aussehen werden und wer
sie, nach welchen Kämpfen, aushandeln wird? Das weiß keiner.
Wer die Vereinigten Staaten von Europa wünscht, wer sie gern herbeihandeln möchte und, wer weiß, durch sein Handeln tatsächlich hier und da befördert, der muss sich auch fragen, wie dieses Europa, sollte es einmal die Welt bereichern, in ihr zu handeln gedächte. Wenn die Ratio seiner bisherigen Existenz das Nichthandeln ist, das Auseinanderbrechen der Interessen und Strategien an bestimmten neuralgischen Punkten, und wenn dieses Nichthandeln den ewigen Stein des Anstoßes bildet, dann muss sich das neue Handeln gerade um diese Punkte herum bilden. Besitzt Europa dann neue Interessen, von denen das heutige nichts weiß? Wird es vorsätzlich die Quellen der historischen Erfahrung verstopfen, aus denen seine nationalen Strategien sich speisen? Oder wird sich das jeweils stärkste strategische Moment durchsetzen, machtvoll gesteigert durch die Möglichkeiten, die der neue Staat dann bereitstellt? Wäre dieses Europa also nur das Vergrößerungsglas der heute im ›Ernstfall‹ entscheidenden nationalen Laster, zum Schrecken seiner Bewohner und vielleicht seiner ›Partner‹? Es bliebe ja nicht beim Anblick. Alles wäre wirklich und kein zu erwartendes Desaster hielte sich in den Grenzen der Zweitklassigkeit. Andererseits ließe sich manche Schwäche durch Stärke decken und schlüge daher nicht so durch, was immer das heißen mag. Eine Ordnungsmacht zuviel – diese Formel für neues Unglück und neue Weltkatastrophen möchte man gar nicht anfassen. Man bekommt sie auch nicht weg. Die heutige Welt ist zu sehr auf die strategische Schwäche Europas gebaut, als dass jener künftige Zustand verlässlich oder nur ›vernünftig‹ zu kalkulieren wäre. Ihn anzustreben enthält also ein Risiko, das eingegangen werden muss, wenn man weiter kommen will. Und weiter kommen – darum geht es doch, oder?
Wenn das Risiko zu groß geworden ist, geht es petzen. Es weiß, was
es damit in Gang setzt, aber es kann nicht anders: darin liegt
seine Größe. Sollen die Helfer doch anrücken! Schließlich liegt der
Sinn des Risikos darin, sich die Reserven der anderen zuzuführen –
wo liegt das Risiko? Seine Größe liegt in der Kleinheit, im
Rhythmus, nach dem es sich aufbläht und zusammenzieht. Um das
riskante Leben zieht sich das andere zusammen wie eine Gummihaut,
weil alle die Streuwirkung fürchten, die eintritt, sobald es
platzt. So ruht es sicher wie in Abrahams Schoß, während es
voranstürmt. Mögen die Spießer noch in Jahrzehnten bezahlen, was
hier geschieht: Dieser Rausch war echt.
Auf wundersame Weise, Frau Specht, gleichen sich unsere Profile: Sie mit dem hämmerndem Kopf, der Ihnen, wie ich mir vorstelle, von Zeit zu Zeit fürchterlich brummen muss, ich mit dem hämmernden Fingerchen auf Tasten so hart und zart, dass ich mir vorstelle, sie entgleiten mir eines Tages und ich hämmere tastenfrei in die Welt. Man kann alles beschriften außer der Schrift und ihren Werkzeugen, die nur eine Aufschrift vertragen und das ist sie selbst. Man kann sich in eine Schriftrolle verwandeln, das ist, alles in allem, nicht befremdlicher als eine Hosenrolle oder eine Rolle mit der Aufschrift: Achtung, Betrolle! Als ich jung war, übten alle die Rolle vorwärts, sie war vorgeschrieben und ergab sich aus der natürlichen Bewegung der Körper. Den ungezwungenen Vorwärtsdrang des jungen Menschen sacht in eine Rolle rückwärts zu überführen, darin besteht die Kunst der Menschenführung. Wir haben sie geübt, Sie und ich. Aber was ist darüber aus uns geworden? Vorwärts, grölten die alten Etats, aus denen man uns, oft unter Gebühr, bezahlte. Und: vorwärts, so geht es, auch mit uns, nur das Vorankommen stockt. Bei Licht besehen: was ist dran am Vorankommen? Wollen wir das? Nicht nur die Träne quillt, auch das Leben. Neuer Baum, neuer Wurm. So sieht es aus.
Die Rollengesellschaft hat es, immerhin, fertig gebracht, das
Theater zu musealisieren. Dasselbe gilt in verschärfter Form für
die Oper; dass der Mensch vor dem Schicksal singt, macht ihn
unvermittelt zum Scheusal und nervt – die Athleten des Wohlklangs
besitzen, frei nach Hölderlin, ein Organ zuviel vielleicht. Das
Proben der Alltagsrollen ist schwer genug und die meisten kommen
kaum darüber hinaus. Das Stück ist aus, wenn das Leben beginnt. Es
sagt ihnen aber keiner und sie schauspielern weiter. »Was sucht
ihr?« könnte man fragen, doch man weiß die Antworten bereits. Sie
klauben Brocken herumfliegender Rollen vom Boden und bewerfen jeden
damit, der ihnen ›blöd kommt‹. Es könnten auch Nüsse sein, das wäre
verständlicher. Das kleine Fernsehspiel hilft da weiter, Abend für
Abend, Genre für Genre. An dieser Krücke gehen sie alle. Nehmt das
gute Stück aus der Gesellschaft der Freien und der Bewussten heraus
und sie kriecht euch auf allen Vieren. Das wissen alle und alle
verstecken es. – Dass einmal die Lichter ausgehen könnten, diese
Obsession des Industriezeitalters schürt die panische Revolte gegen
das Selbst, von dem, gebieterisch oder nicht, die Aufforderung
ausgeht, es zu tun statt
darauf zu warten, was immer es sein mag. Nein, meine Damen und
Herren, Dasein heißt keine
Rolle spielen, die Rolle ist ein einfaches Reflexionsmedium, man
zerstört es, wenn man die Distanz zum Leben beseitigt, wenn man die
Distanz im Leben beseitigt, weil man beiderseits des Vorhangs oder
der Mattscheibe ›nur‹ leben will. ›Zeigen, wie man Konflikte löst
oder an ihnen zu Grunde geht‹, diese stereotype Beschreibung einer
Praxis, die den Konflikt schürt, ohne an ihm zugrunde zu gehen,
setzt Deutungshoheit – man will auch den Letzten erreichen, um ihm
zu zeigen, wo’s langgeht. Der kleine Zusatz fehlt in den
Selbstbeschreibungen der Macher. Er ist aber wesentlich. So rennen
sie alle, innerlich oder äußerlich oder innen wie außen, nur der
kleine Traber läuft Gefahr, unter die Räder zu kommen. Dieser Mensch also, einer unter vielen, die
ich ebenso wenig kenne wie ihn, will mir zeigen, wo es langgeht:
Ich nehme die Drohung ernst.
Jemand spielt die Rolle des Gestörten und kommt damit durch. Warum? Unser soziales Dasein ist durchsetzt mit psychischen Störungen – gleichgültig, ob sie bei anderen oder bei mir selbst auftreten, ›ich‹ bin im Bilde, oberflächlich im Bilde, soll heißen, ›ich‹ lege mir die Sache zurecht, solange ›ich‹ damit durchkomme, also ziemlich lange... Erst bei völliger Ratlosigkeit ziehe ich einen Spezialisten zu Rate, sofern die Sache mich etwas angeht und ich dazu befugt bin. Diese Befugnis, eine Dysfunktionalität zu beseitigen – denn darum handelt es sich –, liegt also nicht in meiner Hand, sie ist rechtlich geregelt, in Arbeits- und sonstigen Verträgen begründet, wenngleich in den seltensten Fällen fixiert. Begrenzt wird sie durch die Freiheit des Individuums und seine Persönlichkeitsrechte, die ein gewisses Maß an Dysfunktionalität einschließen. Kein Mensch ohne Marotte, keine Marotte ohne den dazugehörigen Menschen. Erst die Marotte macht den Menschen ›eigen-tümlich‹, das heißt, sie stattet ihn mit Eigentumsrechten bezüglich seiner Person aus. Angesichts seiner Marotten sagt der Mensch »Ich bin ich« und wendet sich seiner Arbeit zu. Marotten erleichtern das Leben, denn sie schaffen Entlastung: überall dort, wo ich nicht funktioniere, springt ein anderer ein, ob aus Lust, aus Funktionsdrang, aus Überzeugung oder Verpflichtung oder aus reiner Not, spielt keine Rolle, es ist nebensächlich, Hauptsache, die Angelegenheit belastet mich nicht länger, ich bin sie los. Habe ich nicht recht? Aber sicher! Die Störung ist behoben, die Sache abgetan: Wo bleibe ich? Ich habe gestört, das ist wahr, mein Zurücktreten hat den Schaden abgewendet, die störende Instanz, also ich, bleibt, aber sie stört nicht länger. Etwas bleibt: meine Inkompetenz in dieser Sache, ich habe sie mir erworben, als Ruf, als Warn- und Merkzeichen, das mir jetzt anhaftet, gleichgültig, wie weit meine Kompetenz noch reicht. Nur ein Milieuwechsel bringt es zum Verschwinden, wo man nichts von mir weiß, bin ich in der Wahl meiner Marotten frei – ich kann bestimmen, in welchen Grenzen ich funktioniere, ich kann simulieren, ich sei der und der, Inhaber der und der Marotten, ohne als Simulant zu gelten, es sei denn, die Funktion, um deren willen das neue Milieu mich aufgenommen hat, verlangt gebieterisch, dass ich funktioniere. Ich muss simulieren, falls ich nicht als Automat gelten will, je farbiger die Person, die ich mir gewählt habe, desto mehr gleitet an mir ab, desto mehr ›lasse ich mich gehen‹. Wohin geht einer, der sich gehen lässt? Er geht seinen Weg, sagt man, Bewunderung und Erbitterung halten sich darin die Waage; sobald die Erbitterung überwiegt, heißt es, es wäre besser, er ginge seiner Wege. Das ist eine Frage der Perspektive, aber auch der Behandlung; ein geschickter Persondarsteller dosiert seine Marotten je nach Umgebung und Anlass, am besten individuell. Gerade das nennt man: er spielt seine Rolle. Nun, er spielt nicht, er probiert, und was er probiert, ist keine Rolle, sondern ein Rollenversagen, ein Entzug, eine Dysfunktionalität – er will, er muss herausfinden, wie weit er darin gehen kann, wie weit er zu gehen hat, um als der und der und damit überhaupt zu gelten. Ein gefügiges Werkzeug will niemand sein, es ist ehrenrührig, dafür zu gelten, und dennoch sind sie es alle, denn wer die rote Linie überschreitet, gilt als gestört, das heißt als Person minderer Zurechnungsfähigkeit, er hat überreizt und droht der Bedeutungslosigkeit anheimzufallen, aus der er sich herauszuarbeiten wünschte. Doch zwangsläufig ist das nicht. Auf dem Klavier der Aufmerksamkeit lässt sich spielen – und wer genießt mehr Aufmerksamkeit als der Gestörte? Vorausgesetzt, er ist durch Recht und Gesetz unangreifbar, noch besser: durch die Art seines Metiers. Das kann bis zur professionellen Verwechslung gehen, wie der Beruf des Schriftstellers hinreichend belegt. Hinter (fast) jeder Störung steckt ein Geltungswunsch, wer ihn findet, hat das Mittel gewonnen, den anderen zu beherrschen, er ist ›kompetent‹. – »Nein, als gestört würde ich mich nicht bezeichnen.« Noch Fragen?
Alles was recht ist – warum stockt die Rede? Warum schon hier? Von den Intellektuellen ist geblieben, was immer ihr fragwürdigster Teil war: die Nähe zur Macht und die Nähe zum Verbrechen, vorausgesetzt, die Gesinnung stimmt. Unter allen Verbrechensmotiven ist ›aus Gesinnung‹ das rätselhafteste geblieben: kriecht es denn aus ihr hervor, um sich wie eine Krake auf das Opfer zu stürzen, das nicht weiß, wie ihm geschieht? Oder ist Gesinnung nichts weiter als eine Handfeuerwaffe, auf den Nächsten gerichtet, weil er der Nächste ist, also näher dran als andere? Aber dieser Nächste ist selbst ein Konzept und nicht einfach der Nächstbeste, der dir über den Weg läuft, es sei denn, du läufst gerade Amok oder leidest unter zeitweiliger Amnesie oder Begriffsverwirrung oder bist überhaupt verwirrt. Doch selbst Verwirrte sieben ihre Opfer umsichtig aus der Menge, bevor sie draufhalten. Gemordet wird immer. Auch regiert wird immer. Was liegt näher als die Verbindung von Macht und Blut? Es sind dumpfe Phantasien, die sich hier ausleben, ein System, das zwischen Macht und Verbrechen eine halbwegs reinliche Scheidung versucht, bringt sie alle gegen sich auf. »Man kann nichts machen, Tod den Schweinen.« Das ist, als Filmparole, die ewige Rache der Erhitzten an Dostojewski, dem sie nicht verzeihen, dass er hartnäckig die ermordete Pfandleiherin zeigt: weiß er nicht, dass der Minister gemeint war? Zumindest der Polizeiminister oder der Vernehmungsbeamte oder der Zellenaufseher oder, wer weiß, der Schriftsteller, der das alles weiß. Sie morden Dostojewski, sie kennen ihn längst nicht mehr, aber sie morden weiter, in sämtlichen Videoformaten, mit denen Gehirne sich fluten lassen.
Nicht die Ankunft aller abgesandten Gegenstände, ob mit Gnade oder
Güte oder Blindheit des barbarischen Wissens erfüllt, bleibt im
Sinne des Gottes glücklich im Geiste ihrer Empfänger bestehen.
Andere Durchkreuzungen, die objektiv unbekannt sind, fahren
unentwegt in das gewünschte Glück jener Ankunft und stricken darin
wie die Spinnen ihre Abwandlungen, so als verwandle sich eine
Landkarte in eine Irrkarte und die Flüsse, Gebirgszüge, Straßen und
Städte glichen darin Naturerinnerungen von Gedanken und
Behauptungen, ja wechselten nach der Macht einer anderen Kunst,
einer unentwegt neueren Kunst als der augenblicklichen, ihre
Plätze. Daher Erstaunen, Streit, Hass und Kriege, aber auch lange
Wanderungen des Denkens in grüner Finsternis der Urmutter der
Wälder. Die Verwirrung des Wandels der Wirklichkeit ist der Grund
der Gewaltsamkeit unter den wilden Tieren, denn unter ihnen wird
zeitlich versetzter geblickt als bei uns, und wer etwas Fettes am
Morgen im Waldland erspäht hat, weiß nicht, was gestern bereits
wider die Mahlzeit gestiftet wurde.
Augenblicklichkeit ist die luftig leichte Grundierung eines ewigen
Wechsels auf allen Dingen. Schillernd wie Gift glänzt die
Gewissheit auf allen Blättern. Übrigens erzeugt ein Urverhalten aus
dem Geist grundsätzlicher Unkenntnis des fremden Ursprungs alles
Seyenden außerhalb unserer selbst die großen und kleinen
Verirrungen, die Gesetze und Konstitutionen des Staates als
Ackerboden vermeintlicher Wirklichkeit. Man zähle die Sklaven, ruft
der Gnostiker Homomaris, sie bestimmen die Erstarrung der Barbarei
nach den ausgestreuten Samen der Hoffnung. Selig das Vertrauen,
fährt er fort, auf den Zerfall eines Augenblicks. Oh, wer den Augenblick
kennt und den Stoff seiner Siege, der findet in Höhlen am Waldrand
das Zauberlicht der unterirdischen Sonne der freigeborenen Bären
und Eremiten. Ein immerwährender Wandel des Weltgeistes spottet dem
Stoff der Dinge, verletzt und beackert den Geist des Betrachters
mit der Pflugschar gemalter Stiere und stiftet die Ehrenschöpfung
der Landschaftsmalerei und der Stillebenkunst an jedem beliebigen
Ort.
In der Geschichte der Blicke, der historia coruscationum, haben die
Dinge so häufig gewechselt, wie Blicke sie getroffen haben oder wie
die in Einzelne zerfallende Menge aller gelebten und lebenden
Menschen, die je, der Verpflichtung der Blicke folgend,
Gewissheiten verfallen sind, die nichts als Erbschaften anderer
Blicke waren. Und so ergibt sich vielleicht, dass der Mensch als
Einzelner selbst eine Rücksendung ist. - PM
Man schlägt die Frauen ans Kreuz der Quote und ruft: »Rührt euch!« Und siehe,
sie rühren sich, jede auf ihre Weise, und es ist rührend anzuschauen. Manche
wird mit ihren Problemen vor der Zeit fertig und blickt wie aus einem
Heiligenbildchen auf den Alltag herunter, als wollte sie sagen: »Da, seht ihr?«
Nein, sie lächelt nicht, vielleicht fröstelt sie, aber sie ist gut gebettet und
hütet sich vor Geständnissen. Wie die Quotenfrau sich vor Geständnissen hütet,
so hütet sich die im Bann der Quote stehende Frau davor, Geständnisse
überzubewerten. Wer etwas zu gestehen hat, dem geht es gut. Was gibt es da zu
gestehen? Die im Bann der Quote stehende Frau blickt auf die Quotenfrau mit
einer Mischung aus Mitleid, Verachtung und Verständnis: Wer wäre nicht schwach
geworden an ihrer Stelle? Warum jetzt so hart? Muss Schwäche geahndet werden?
Vielleicht, ja, es wird schon so sein, aber: die geahndete, in Härte verwandelte
Schwäche, sie bleibt eine, hinter der man die Schwäche ahnt. Die
Unerbittlichkeiten der Sprache sind niemals grundlos. Cherchez la
femme! So nimmt sich die Komödie der Quotenfrau an wie früher der Heiligen
oder derer, die sich zu früh dahin auf den Weg gemacht haben. Sie ist die Beste,
die wir bekommen konnten, nun muss sie unsere Beste werden, damit alle
etwas von ihr haben. Vor allem sie selbst, denn, Hand aufs Herz: Was hat sie
davon? Was, zum Teufel, hat sie davon? Nun, sie ist bereits wieder auf und
davon, denn sie hat diese Möglichkeiten, von denen andere träumen, und Träume,
sagt sie, kann sie sich nicht leisten. Das ist eine seltsame Phrase für
eine Frau, die alles erreicht hat, im Leben und anderswo: sie kann sich Träume
nicht leisten. Will sie es denn? Wenn die Träume abgeräumt sind, steht der
Kitsch in der Tür und schwenkt sein Willkommen!
Rüpelszene mit Bild, unbedingt einem Bild, ohne Bild keine Rüpelszene, am besten
mit Axt. Das Rüpel-Emblem ist die Axt, unbedingt eine Axt, für den gefrorenen
See, innen und außen, beiderseits, denn der Rüpel, was treibt er anderes, als
das Eis, das ewig sich schließende, mit der Axt zu öffnen, nur für Momente, nur
für Momente, aber die Wunden, die er schlägt, die er dabei schlägt, sie heilen
selten, sie heilen fast nie. Ein Rüpel verspricht keine Heilung, das wäre nicht sein Metier,
sollte er etwas versprechen, dann sind seine Worte Schall und Rauch, nicht dafür
wird er gebraucht. Wird er gebraucht? Wer um alles in der Welt braucht so ein
Untier? Ein Untier, gewiss, weder Tier noch Mensch, ein Unmensch, so nennt man
ihn hier und dort, dann schlug die Axt tief. Man sieht ihn gebückt, offenen,
leicht stieren Auges, man kann ihn riechen, Schweiß perlt an seinem Brustkorb
herunter, der Schweiß der Imagination, denn es bleibt kühl um ihn und er selbst
übernimmt sich nie, lässig schwingt er die Axt. So, kurz vor dem Aufschlag, hält ihn
der Zeichenstift fest. Eine Rüpelszene, am besten von Mersmann, der sich aufs
Sujet versteht, kommt selten allein, denn einer, der die Axt zu schwingen weiß,
trifft mehr, als die Kamera gutheißt.
Ausgebreitet als zweifarbiger Pfannkuchen, vorne in Wellen und
rosig vom Backofen, hinten so blau wie das ewige Meer, legt sich
der Ruhm zum Genuß der Eitelkeit über den Magen des Herzens. Hat es
denn nicht schon die Knie des Herzens gegeben? Der Hintergrund
prangt in der Röte des Abends. Zweibeinige Rosen decken den Tisch
und gebärden sich in gefälliger Rührung vor den Furchen und Falten
all derer, die ihren Ruhm durch Frechheit und dreiste Reden erlangt
haben. Die greisen Berühmtheiten stehen vor den verstaubten,
noch einmal ans Licht gezerrten Tischen der Folterwerkzeuge und
betrachten mit Tränen in den Augen all die Gummizangen ihrer
politisch gefärbten Leiden, die weichen Streckbretter mit
künstlichen Foltergewichten, deren Polster sie einstmals selber
entworfen haben.
Unablässig schleppen sie ihre Kränze an zeitgenössische Denkmäler
und ordnen besorgt die Schleifen. Sie haben gehört, die Moderne
gehe zu Ende.
Mit dauerentrüsteten Mienen, hier und da noch Spuren von
Geifer an den geübten Lippen, geben sie zu erkennen, dass sie
unruhig geworden sind im Spiel ihres ruhmvollen Sykophantentums.
Sie wissen augenzwinkernd, dass sie zwischen den Gummibändern
ihrer Gemeinsamkeit niemals wirklich verlassen, niemals
wirklich verjagt und niemals wirklich einsam gewesen sind. Zur
Einsamkeit fehlte ihnen das wahre Talent und die ehrlichen Werke.
Alle haben sie unter dem dauernden Sturm durch die offenen Türen
der Zeit, wie betrunkene Lanzknechte, das Gleiche gesungen, bis
alle das Gleiche erlebt, gehört und gesehen hatten.
Nun blickt man erstaunt auf eine boshafte Jugend, die frech
widerspricht, deren Väter aber zugleich ein ganzes Regime
gewaltsamer Schwachköpfe beiseite geschafft haben. Von der
Nicolaikirche niemals ein ernsthaftes Wort. Für die klugen
Verzögerer sind das ›drüben‹ bloß schlechte Jagdhunde, die schon
einmal die Beute gefressen haben. Für höfliches Apportieren und
Herrschaftstreue auf immer verloren. Das macht die Schlauberger so
empfindlich. Wieviele mögen es sein, fragen sie sich bei Tag und
bei Nacht, und das, obwohl kaum jemand, der halbwegs bei Verstand
ist, die Fenster aufmacht, wenn da draußen trotzig die alten Lieder
geflüstert werden. Aber wohin will die abgelaufene Zeit? Nach
Europa natürlich, in die Erlösung aller, was immer das sein mag,
und zuletzt in den Klimaschutz, denn wer als abgestorbener Demiurg
die Welt nicht verlassen kann, will sie wenigstens
halbwissenschaftlich kaputt gemacht haben. Das ist das tiefste
Motiv der Gegenschöpfung, denn bei uns ist alles von Gestern,
besonders die Zukunft.
Die Asservatenkammern sind täglich geöffnet, der alte Krieg wird
täglich beschworen, der alte Frieden täglich gestiftet. Aber die
Ruhmbegierigkeit ahnt, dass, wenn sie nicht gleich dem Hautgout
eines Hasenrückens den Totenduft hat und immerwährende Reue
verbreitet, die Gegenwart von ihr nicht mehr bewegt werden kann.
Für immer läßt sich der Dämon der Zeit, der Zeit mit Zukunft, nicht
verdrängen, er kann aus ruhmreichen Kränzen Fallstricke
machen.
Dann werden die ersten Propheten wie zu den Zeiten Konstantins
auftreten und sie brauchten diesmal bloß Guten Morgen zu
sagen, das wäre bereits im Lande des alten Ruhms ein so neues
Signal, dass es wildes Erstaunen erwecken könnte. - PM
Es rumort gewaltig, die Seismographen sagen Beben voraus, gegen die gehalten die
Vergangenheit nur Idyllen enthält, aber das tun sie immer. Dieser Rumor, mit
Verlaub sei es gesagt, ist nichts als... nichts als... natürlich, nichts als
dieses nichts als, an dem sich jede
Kohorte die Zähne ausbricht, ein Auf-ein-Neues, das, äußerst selten eingelöst,
alsbald zum Alles andere als übergeht,
vom Frühstück zur Vesper, man sitzt schließlich nicht immer so beisammen und
noch ist Sommerzeit, auch wenn die Abende kühler werden. Jeder Klamauk ist
genehm, sofern es darum geht, den Abschied hinauszuzögern, da habt ihr euren
Rumor. Aber warum Abschied? Das wüsste einer zu sagen, den ihr mit Aufträgen
dahin und dorthin geschickt habt, damit er nicht an euren Tischen Platz nehmen
konnte. Diese Aufträge, an sich unbedeutend und nicht der Rede wert, haben ihn
an Orte gebracht, die ihr kaum vom Hörensagen kennt, und nun weiß er manches.
Aber ihr hört ja, es hat nichts zu bedeuten, und ihr habt euren Rumor – feiert
also ruhig weiter in die Nacht hinein, jemand wird den Müll schon beseitigen.
Geben Sie mir einen Russenfresser und ich sage Ihnen, woher er kommt. Warum ich das weiß? Es frisst sich durch, wissen Sie, es frisst sich durch. Es gibt, wenn Sie mich fragen, einen zu Kreuze kriechenden Hochmut, der sein Kreuz hinter sich hat, gewissermaßen hat er’s im Kreuz, und diese Bewegung... o diese Bewegung! Oft, wenn ich die Augen schließe, sehe ich sie, aber ich kann’s nicht mit ansehen, es krümmt sich mir durch und durch, mir ist, als werde der innere Mensch durch den Fleischwolf gedreht, aber es kommt nichts heraus, verstehen Sie, es kommt nichts heraus. Und, ganz im Vertrauen: Was soll denn herauskommen? Sie, also Sie wissen schon, wen ich hier meine, sie stopfen immer nach, aber die einfachste aller Fragen stellen sie nie.
Meine Freundin Sahra hat ein Mundwerk, das reicht locker von hier bis
Wladiwostok. Woher ich das weiß? Sie sind gut! Ich höre es alle Tage.
Was sie mit diesem Mundwerk zuwege bringt, wissen die Götter, ich weiß
es nicht. Die Menschen behaupten, es seien kluge Dinge dabei, aber das
behaupten sie immer. Man muss sich nur anhören, was sie selbst so
daherreden. Woher soll’s denn kommen? Meine Freundin Sahra zum Beispiel
hat nichts gelernt, aber das beherrscht sie aus dem Effeff. Sie hat es
sogar studiert, niemand beherrscht ein Nichts aus Worten so gut wie
sie. Sie beherrscht es so gut, dass es fast schon an Taten grenzt. »Sie
tut viel für unser Land«, hört man landauf landab. Aber das Land tut
auch viel für sie: Es hört ihr zu. Breithügelig sitzt es da, die
Schenkel übereinander geschlagen, die Arme in die Hüften gestemmt, wie
es sich gehört, und sieht zu, wo ihm der Atem bleibt. Die
Sahraschnikowa, wie ihre Freunde sie nennen, besitzt einen langen Atem,
er reicht weit über ihr Mundwerk hinaus und beweist täglich, wie klein
doch die Welt ist. »Wie klein ist sie denn?« wollen die Freunde wissen.
Die Sahraschnikowa lächelt und beweist, dass sie auch schweigen kann.
Ist die Welt erst tot, wird meine Freundin Sahra die erste sein, die es
hinausposaunt in die Weiten des Alls, und alle schwarzen Löcher werden
es mit der Angst bekommen. »Sind wir jetzt auch tot?« werden sie
fragen, und: »Wie lang wird es dauern?« Nicht allzu lange, denn wenn
die Trompeten des Jüngsten Gerichts erst einmal Sahras Kommen
verkünden, fallen die Unterschiede und mit ihnen die Löcher in sich
zusammen und es wird sich erheben, was sich aufs I-Tipfelchen gleicht:
der Große Hase, auch genannt Der-aus-dem-Klee-kommt. Woher sollte er
sonst auch kommen? Seit ihm der große Sprung gelang, sucht er, so geht
die Sage, sein Glück im Grünen.
Zunächst einmal: Es heißt Sarkossí. Wir haben diesen Fall nicht übersehen, es fällt uns nur noch nichts dazu ein. Der geneigte Leser, die geneigte Leserin wappne sich daher mit Geduld. Der Artikel wird kommen und Sie werden staunen über soviel Eleganz, soviel Beredsamkeit, soviel Aufrichtigkeit und Leidenschaft auf Feldern, wo man dergleichen vor der Hand nicht vermutet. Ein Glück, dass man auch hinter der Hand leben kann – und gar nicht schlecht. Manche leben besser hinter der Hand als davor und dies nicht nur, weil sich ein Gähnen dort leichter unterdrücken lässt. Die leichte Unterdrückung ist vielleicht eine Spezialität des Hinter-der-Hand-Lebens und ‑Regierens. Vor allem das Denken bleibt abgeschattet, während die Geste in herrischer Pracht nach vorn tritt. Die gute! Wir sahen sie gestern, wir sehen sie heute, wir sehen sie schon im Futur und würden gern selbst hinter die Hand flüchten, wäre, ach wäre der Artikel bereits geschrieben, der dies alles möglich machte. Und wäre es ein Artikel zuviel, der eine, der das Artikelfass zum Überlaufen brächte, aber daran will keiner denken. Warum auch? Zum Denken braucht es Philosophen, wohl dem, der sie im Überfluss hat, so dass er im Ernstfall davon abgeben kann.
Sarkossi, der große Kleine, wie die kleinen Großtuer ihn ihn nennen, hat die Welt neu geordnet, zumindest schwebte ihm so etwas vor. Ein probates Mittel, die Welt neu zu ordnen, besteht darin, sie zu teilen. Man zieht eine Linie von Nord nach Süd, von West nach Ost, und schon hat man etwas erreicht. Die Sarkossi-Linie verläuft von West nach Ost, demnach existiert eine Welt nördlich und eine südlich davon. Im Norden ist man zu Hause, im Süden wird renoviert.
Südlich der Sarkossi-Linie ist alles erlaubt. So flüstert man hinter vorgehaltener Hand, er selbst habe einmal angeordnet, die dort vermuteten Reichtümer... – es flüstert sich gut in einem freien Land. In einem freien Land lässt sich gut in allen Lautstärken flüstern, da einem niemand zuhört. Jedenfalls gilt das nach offizieller Lesart. Dennoch geraten immerfort geheime Aufzeichnungen in die Medien, ohne dass geklärt werden könnte, wie so etwas möglich ist. Den Informanten, sollten sie je vor Gericht erscheinen, drohen furchtbare Strafen. Wofür? Das ist die Frage und sie harrt der Beantwortung.
Was die erwähnte Sarkossi-Linie angeht, so existieren keine Karten, aus denen man ihren Verlauf entnehmen könnte, selbstverständlich nicht, da es sie offiziell nicht gibt. Nachweisen lässt sie sich nur anhand gefühlter Überschreitungen, z.B. wenn die Landespresse einen mit Pomp empfangenen Staatsgast als Potentaten oder Schurken bezeichnet und müde Witze über ihn reißt. Insofern läuft die Linie mitten durch Sarkossis Regierungspalast hindurch, man weiß nur nicht genau, wo sie hinten wieder herauskommt.
Das breitere Publikum nimmt die Linie erst aus der Ferne wahr, tief im Midi, dort, wo Sarkossis Jagdgeschwader die Schallmauer durchbrechen und immer wieder Mörtel und größere Brocken Gesteins auf die Häupter durchbruchwilliger Möchtegern-Einwanderer herunterstürzen. Das muss, wie manches andere, nichts bedeuten. Generell könnte das Gros der Kommentatoren gut damit leben, die Sarkossi-Linie dem Publikum als Grenzfluss zwischen Bedeutung und Nichtbedeutung zu verkaufen. Ungereimt wäre das nicht, da alles, was südlich von ihr geschieht, nicht die Bedeutung besitzt, die ihm im Norden zweifellos zukommt.
Dem Süden Bedeutung absprechen, darin besteht weitgehend seine Bedeutung, jedenfalls im Norden. Die Sarkossi-Linie drückt aus, was die Menschen denken, sobald sie etwas für undenkbar erklären. Jedem seine kleine Sarkossi-Linie, das war Teil eines Sozialprogramms, das dann wegen größerer Verpflichtungen zurückgestellt wurde. Mancher wackere Bürger betrachtet nachdenklich seinen Bauchumfang und fragt sich, was wohl wäre, wenn die progressiven Kräfte sich durchgesetzt hätten.
Es ist nicht nötig, den Begriff des Heiligen in die Kunst hineinzutragen: bemerkenswert
sind eher die Versuche, ihn aus ihrer Beschreibung zu entfernen.
Sie sind es nicht, weil sie so überaus gelungen wirken oder ein
Hauch von Unabdinglichkeit sie umwittert, eher aufgrund ihrer
nachhaltigen Unbedarftheit in Verbindung mit einer gewissen
Persistenz und – sagen wir es ruhig – Penetranz. Der Kultus soll
nicht das letzte Wort in Fragen der Kultur besitzen, so nicht und
jetzt nicht. Vor allem so nicht: die rituelle Reinigung einer
Fläche, die Herstellung eines Bezirks, der anders ist und in dem
andere Gesetze, vielleicht überhaupt Gesetze und nicht bloß
Notwendigkeiten den Verkehr regeln, die Verlangsamung und
Ausdünnung des Verkehrs selbst an solchen Orten, die Reduktion des
Umgangs an solchen Orten auf ein paar Gesten und Worte, die damit
einhergehende Kanonisierung von Worten und Blickrichtungen, ihre
sachte, durch Einführungsriten verstärkte und normierte Verwandlung
in seelische Intensitäten, in Gefühlsqualitäten und schließlich in
Gesehenes, das heißt in
etwas, das gleichermaßen am Anfangs- und am Endpunkt einer Bewegung
steht, die doch als unaufhörlich gedacht ist und also wiederkehren
muss wie die Speiche eines Rades: immer und immer wieder, in einer
Zeit, die eigens zur Wiederholung genötigt wird, kalendarisch, mit
Hilfe der Schrift und des Zeichens, das jemand setzt und das jetzt
auf immerdar korrespondiert – das ist zwar anlässlich eines jeden
Museumsbesuches zu besichtigen, aber es soll nicht sein, es soll
nicht sein. Warum? Weil in der Negation die Kraft des Bewahrens
steckt, die durch keinen Glauben an die künstlerische Sendung
gedeckt wird. Destruieren wir ein bisschen, weil es so schön ist
und den Zauber erneuert, der ohnehin die Sprache verschlägt. Ein
Dummkopf, wer sich dabei etwas denkt. Soll er doch wegbleiben,
solange der Weizen blüht.
Man hat aus dem Ahnherrn der Systemtheorie einen Heiligen gemacht,
zu Recht, denn die Anzeichen einer nichtalltäglichen Gestörtheit
geistern durch die Seiten seines, wie alles Große, unabschließbaren
Projekts. Man sieht, wie der von der Verwaltung eingesetzte
Sparkommissar seinen Plan ausarbeitet, wie er durch die Abteilungen
eilt, um ihn umzusetzen, wie er hier Erfahrungen sammelt, die er
dort anwenden kann, wie er sich kurz über die Eigenheiten des
jeweiligen Gebiets belehren lässt, um alsbald den Stift in die Hand
zu nehmen und das neue System mit ein paar Strichen den
Gegebenheiten anzupassen, man verfolgt die Schulungen des
Personals, sieht die notwendigen Freisetzungen und die gewonnene
Freizeit der Fachkräfte, die von sich aus nie geglaubt hätten, dass
man beim Einkauf der Problemlösungen so zusammenlegen und die
Preise drücken könnte. Schließlich entdeckt man die jungen Leute,
die mit dem System groß werden und es für ›ganz normal‹ halten,
denen die hier und da sich hartnäckig haltenden Widerstände schier
unbegreiflich vorkommen. Ihre sommerlichen Flüge sind früh gebucht
und im Herbst legen sie Ergebnisse vor, die sich sehen lassen
können. Man könnte sie in der Handysparte einsetzen, die nach wie
vor Ärger bereitet.
Neologismus, gebildet aus dem Namen eines weithin bekannten
Parteimitglieds und der weltbekannten Zirrhose, einer
Organerkrankung, die gemeinhin auf Entzündung, Schrumpfung und
endlich Vernarbung des befallenen Organs hinausläuft. Eine Partei,
die sich eines ihrer Mitglieder entledigen will und dazu nicht in der
Lage ist, weil das Mitglied fest in ihrem Meinungs- und
Gesinnungsspektrum verankert ist und sich, wie man so sagt, nichts
zuschulden kommen ließ außer einer dezidiert geäußerten Meinung,
die nicht jedermanns Geschmack entspricht, hat im Grunde nur eine
Wahl: Sie muss sich in einen Schrumpfungsprozess begeben, der so
lange anhält, bis das missliebige Mitglied sich (zusammen mit vielen
anderen) vollständig außerhalb ihres Spektrums befindet. Das ist
deswegen schwierig, weil Parteien, außer aus Programmen und
Mitgliedschaften Mitgliedschaften, vor allem aus kollektiven
Gedächtnisleistungen bestehen, aus denen sie ihre vieldiskutierte
Identität beziehen. Programme mögen wechseln und die Phrasen, mit
deren Hilfe sie ans Volk ausgeteilt werden, sich gleichen oder auch
nicht – der entscheidende Faktor ist die ruhmreiche Vergangenheit,
die alle zusammenschweißt und Neumitglieder wie Wähler blendet. So
kann es kommen, dass die Figur des Gehassten, statt aus der Partei zu
verschwinden, zu Überlebensgröße anschwillt und bei einer
wachsenden Gemeinde ganz allein oder im Verein mit einem Häufchen
Getreuer für diese Vergangenheit und damit für die Partei selbst
einsteht, während die gegenwärtige Führung, allen
Abstimmungsmodalitäten zum Trotz, nach und nach als ein Haufen
Abtrünniger betrachtet wird, der unfähig oder unwillens ist, den
›Markenkern‹ der Partei zu bedienen. Das Problem des Markenkerns
besteht in Folgendem: Eine gut geführte Partei ist weder Produkt
noch Marke, hinter deren Fassade erfahrene Macher einem
›Erfolgskonzept‹ folgen, sondern ein Teil des
Selbstfindungsprozesses der Gesellschaft im Hinblick auf Fragen der
politischen Gestaltung des Landes. Nur vordergründig bemisst sich
daher der Erfolg einer Partei an der Zahl der Stimmen, die sie auf
sich vereinigt. Mit der Zahl der Stimmen steigt vielmehr die
Erfolgserwartung der Gefolgschaft (und des Publikums): Erfolg
bedeutet Machtausübung zu politischen Gestaltungszwecken. Der bloße
Machterwerb oder Machterhalt befriedigt niemanden außer den
Postenjägern. Wer die langfristigen Ziele einer Partei aus den Augen
verliert, der mag von Erfolg träumen, aber er wird ihn auf keine
Weise erringen. Sarrazirrhose ist das logische Schicksal einer
Partei, die von Postenjägern gekapert wurde und mit
Schein-Auseinandersetzungen um Parolen, denen jeder Sachgehalt
abgeht, versucht, ihre düpierte Anhängerschaft zu überlisten.
»Ach, Homomaris«,
seufzt die kleine stille Frau mit dem um die Schultern gelegten
Kätzchen, und es klingt wie eine Erinnerung. Das Gegenteil ist der
Fall, sie ist Wahrsagerin und weissagt die Zukunft. Neben ihr hängt
ein Bild mit einem kleinen gelben Fleck darauf, man kann nicht
unterscheiden, ob er zum Bild oder zur Unterlage gehört oder zu
beidem, das Bild ist blau, fast monochrom, mit einem
Schuss Lila, das die Wange
des stillen Gottes färbt. Über seine Stirn wächst ein Gezweig, es
könnte fast Lorbeer sein, doch das hier ist Saturn, der Gott der
Bücher, und die Blätter sind einzeln auf der Stirn befestigt, wie
Pailletten oder Paillons, das wäre nur so ein Vergleich. Direkt
neben seinen mächtigen Brüsten und Flügeln ohne Zahl wird es
wirklich, da wachsen die Homunculi in Reih und Glied aus den
Regalen. Ein Mann, der zu ihnen emporblickte, verwandelte sich
augenblicklich in eine Statue des heiligen Christophorus, bestimmt,
sie über die Alpen zu tragen, doch ein loses Gewirr von
Körperteilen, von Armen und Beinen und Krügen bremst seinen
Schritt. Es hätte auch keinen Zweck, armlos, wie er sich darstellt,
trüge er nichts außer sich selbst. Auch das wäre unter Umständen
des Guten zuviel.
S., ein Theatraliker, wie er im Buche steht, reicht herum – das ist sein gutes Recht, ein anderes kennt er nicht, will er nicht, braucht er nicht, er würde es auch nicht anerkennen, sollte es ihm auf offener Straße begegnen, zöge er seine Beretta und schösse es nieder: so steht es, so geht es, wenn man davon absieht, dass es so nicht geht. Auch Sauerbier weiß, dass es so nicht geht, deshalb hat er immer noch eine Kugel im Lauf.
Die Säume, liebe Kinder, die Säume, wer säumt denn da? An Rändern
gehen, an Rändern stehen, in Abgründe glotzen, den Kitzel erfahren,
das Kind mit dem Bade ausschütten, rasche, scharfe Entscheidungen
treffen, am laufenden Band, sich abnabeln und an die Speichen des
großen Rades fesseln lassen, das ist doch was. Herrgott, dagegen
kann man nicht an, das liegt, wie es liegt und kommt heraus, wie es
will. Das Durchfahren ist eine Sache, das Aus-der-Haut-Fahren eine
andere, doch am Horizont, da verschmelzen sie, da kommt zusammen,
was immer zusammen gemeint war. »Fahr nicht durch«, hörte man in
seiner Jugend öfters, eine bittende, leicht genervte Stimme mischt
sich ins Erinnern, ein Zagen, eine Ängstlichkeit, die den Kitzel
steigert, je nach Belieben. Ja warum denn nicht! Diese Öffnung,
gerade diese, die sich hier auftut, da musst du durch, alles andere
gilt nicht, es kostet nur Zeit und ließe dich säumig werden, wer
wollte das schon. Säumig sein, trödeln, die Stelle verpassen – ach
du Schreck. Dass man den Schrecken duzt, hat viel damit zu tun,
dass er so vertraut ist, weil man ihn nie versäumt, weil er
subkutan mitreist und die Druckstellen bestimmt, die Orte
gesteigerter Unruhe, an denen – auf der Stelle – gehandelt werden
muss. Der Schreck geht immer an Säume, in ihm erneuern sie sich
inständig, man könnte fast sagen, dass sie ihm erblühten, empfände
man dieses Bild an dieser Stelle nicht als ausgesprochen
lächerlich, obwohl es sich, beim zweiten Hinsehen, beinahe
rechtfertigt: Säume sind der Blütenbesatz des Daseins, seine
schnelle Abbreviatur, in der es sich zur Anschauung bequemt – für
wen? Für den Zeitsinn, wen denn sonst.
Wer sechzig ist und nach Ämtern giert, was ist so einer? Ein alter Sack, dem die Hose aufsteht, so dass ein gesundes Zimmermädchen schreiend davonläuft und die Polizei verständigt? Sie sind verständigt, diese Zimmermädchen, so oder so, sie wissen, was es geschlagen hat, wenn erst die Jagd auf sie beginnt. So einen ans Messer zu liefern, kann nicht schlecht sein, vielleicht ist es eine gute Tat, jedenfalls wird man sehen, was sich herausschlagen lässt. Die Trennung von Amt und Schreibtisch erscheint als die natürliche Folge einer Ausschweifung, die ihren Höhepunkt in einer vergangenen Zukunft findet. Sie erscheint und alle Bahnen ordnen sich neu. Wenn selbst die bis dato Übersehenen nicht bereitstehen, am Werk der Vollendung mitzuwirken, was soll man dann von den alten Freunden halten, die einen ermuntert haben, alles zu geben, wo man sich doch schon verausgabt hatte und erwarten durfte, dass sie den Rest dazulegen? Nicht viel, nicht zu viel, vielleicht gerade so viel, wie nötig ist, um von ihnen Abschied zu nehmen, also ein Händchen, vielleicht zwei, falls sich in einem davon noch ein Umschlag befindet, eine Extra-Gabe, mit der man nicht gerechnet hat und die einen jetzt beinahe rührt. Nicht zu sehr, der Chauffeur wartet schon und seine Augen verraten nichts.
Der Alltagsdeutsche, im Begriff, das bequeme Kollektiv zu verlassen, wirft
einen Blick zurück und verzichtet. Worauf? Auf die Freiheit?
Mitnichten. Auf die Schicksalsgemeinschaft? Das wäre... Aber
immerhin, es wäre... ein Kriegs-, ein Nachkriegsfall. Nein, im
Verzicht auf die Freiheit liegt kein Segen, das spürt er, und auf
den Segen kommt es doch an. Also woher sie nehmen? Besser, man
vertilgt sie im Kreis der Seinen, unter langsamem Kauen, während
die Flasche die Runde macht.
Selbst-bewusst-sein: das sind schon drei, höhnte
der Philosoph, um anzudeuten, dass hier kein ›Anfang‹ zu finden
sei. Aller Anfang ist einfach – so denken viele, die keinen Anfang
finden oder einfach anfangen möchten, koste es, was es wolle. Dabei
sollte die Dreizahl ihnen zu denken geben, so wie der Dreischritt problemlos
ihr Denken meistert. Der Kampf dieses Philosophen galt dem
klassischen Satz der Logik, tertium non datur, die Idee der
dreiwertigen Logik gab ihm Selbstbewusstsein und, dies vor allem, eine
Aufgabe unter seinesgleichen – sie ließ ihn kenntlich werden. Die Überzeugung,
aller Anfang müsse einfach sein, leitet sich meistenteils vom Wunsch her, er möge
leicht vonstatten gehen. Doch wann etwas anfängt, ist nicht gewiss, es ist
niemals gewiss und daher erübrigt sich die Frage nach dem Anfang, es
sei denn, man gibt zu, dass sie nicht so leicht zu beantworten ist.
Die leichten Anfänge sind gesetzt, weil etwas an der Zeit scheint,
nicht, weil alles mit ihnen anfängt. Selbstbewusstsein ist nicht
gesetzt, es ist gegeben, es ist immer da oder niemals, obwohl es
sich, wie alles Leben, entwickelt. Wer mit dem Selbstbewusstsein
anfangen will, läuft Gefahr, es zu verlieren. Die einen sagen, er wird
den Anfang nicht finden, die anderen sind sich da nicht so sicher.
Bestimmte Frauen mögen es nicht, dass in manchen Berufen nur zählt, wer sich selbst über die Schwelle getragen hat und nun dasteht als jemand, der eine gewisse Sicht auf die Dinge sein eigen nennt, ohne dass man ihn einem Rudel zurechnen könnte. Sie mögen es nicht, weil man sie, eher aus Versehen, hereingelassen hat und sie jetzt die Aufpasserinnen mimen, auf dass alle sich an die Regeln halten, an die sie selbst sich eisern halten müssen, um nicht aufzufallen, auch wenn es schwer fällt. Die Devise, nicht aufzufallen, verträgt sich nur schwer mit dem Selbstbewusstsein einer Frau, die um ihre Gaben weiß; umso deutlicher weiß sie die Grenze zum Auffälligwerden zu markieren. Erlaubt ist, was sich ziemt. Den Eisernen wird alles auffällig und sie benützen dafür das Ausschlusswort ›selbsternannt‹. Wer selbsternannt ist, bestimmen sie und sie sorgen dafür, dass so jemand entfernt wird, prompt oder sachte, peu à peu. »Das ginge ja noch. Aber seit in der Kritik die Quote regiert, wimmelt es in der Literatur von selbsternannten Schriftstellern. Neulich las ich eine bewegte Litanei über den selbsternannten Revolutionsführer Lenin und begriff, die Revolution ist ein ordentliches Berufungsverfahren, das der Betreffende seinerzeit geschwänzt hat. Vermutlich wollte er sich dem Stress nicht aussetzen und dafür bringen wir ihn jetzt vor Gericht.«
Der arme Sünder, zur Selbstkasteiung schreitend, wovon nährt sich
der? Nein, nicht wie die Vöglein im Walde und die Lilien auf dem
Felde, nicht von den verirrten Speisen der Reue und der Ergebung,
nicht von der Wehklage und nicht von der Sammlung, nicht von der
Gnade und nicht vom Selbst. Er sammelt alle Bosheiten, die andere
jemals gegen ihn und seinesgleichen losgelassen haben, das
gedankenlose Gewäsch von Leuten, die täglich die Grenzen ihrer Welt
abstecken müssen, um in ihr einherschreiten zu können, den
hochmütigen Humbug professioneller Verleumder und die galligen
Spitzen Nachdenklicher, die das Recht beanspruchen, sich den Rest
der Menschheit vom Leibe zu halten und ihre Anbetung dessen, was
ist, mit treffenden, leider zu tief oder zu leicht ritzenden
Bemerkungen über alles zu dekorieren, was nicht sie sind. Er
sammelt diese Bosheiten wie andere Kulturwesen Briefmarken, er
besitzt eine wohlgeordnete Kollektion davon, die er täglich befühlt
und Interessierten gern zeigt; er möchte nicht tauschen, er fühlt
sich komplett und wünscht, dass andere davon Kenntnis erhalten. In
gewisser Weise – alles ist ›in gewisser Weise‹, warum nicht auch
das? – ist er der erste komplette Mensch. Er hat sein Pensum
erfüllt, er hat es, Punkt für Punkt, abgearbeitet, und wenn ihm
jetzt gelegentlich die Maßstäbe verschwimmen, dann deshalb, weil
die Grenzen der Sammlung so weit gesteckt sind, dass er sie, nicht
erst seit heute, aus den Augen verloren hat. Schließlich will er
den Überblick und nicht irgendeine Zahnpasta-Nettigkeit, die ihn
entlastet. Seine Briefmarken, weit entfernt davon, ihm zur Last zu
fallen – er weiß, manche darunter sind von zweifelhafter
Authentizität, aber das steht auf einem anderen Blatt –, geben ihm
etwas, eine Befriedigung, die er lange vermisst, einen Schauder,
ein anderer als er selbst zu sein, ein Ziel, das hinter ihm liegt,
eine Hoffnung, die nicht auf die Zukunft gerichtet ist, sondern
darauf, nicht gemeint zu sein. Er hat es erreicht – es ist nicht länger das
Paradies der Werktätigen oder der Frauen, es ist nicht die Psyche
und nicht das Reich der Vernunft, es ist das Erreichte. In ihm
sitzt er wie die Made im Speck. Manchmal wundert er sich über den
Brechreiz, den sein Anblick auslöst, aber er weiß: Diese da
erreichen nichts.
Ständig selbst sein zu müssen, das nervt, auch wenn die Bedingungen
günstig stehen. Selbst das ständig im Mund geführte Bekenntnis zur
Selbstständigkeit nimmt sich auf dem Papier weniger nachdrücklich
aus als auf Sitzungen, die das Selbst, wie man weiß, in nicht
geringem Umfang fordern – vielleicht auch erfordern, das mag die
Sprachwissenschaft hinterdenken. Das Hintertreiben hingegen sollte
man ihr nicht ohne weiteres und auf längere Zeit überlassen, seit
man weiß, dass sie ständig selbst das hintertreibt. In ihrer
natürlich-sanften Gegnerschaft zur vermuteten Sprache nimmt diese
von Hektikern der öffentlichen Rede gern ›beamtet‹ genannte
Disziplin mitunter Positionen ein, die den, der selbst ständig
agieren und selbständig entscheiden muss, an Disziplinlosigkeiten
erinnern, die ihn fast die Existenz gekostet hätten. Diese hier
kosten nichts als den faden Geschmack des Erfolgs, eine
funktionierende Rechtschreibung zugunsten des vertrauten und in der
Praxis lästigen »Alles geht« ganz ohne Not entsorgt zu haben: Geht
doch!
Lässt sich das Selbst verpflichten, und, wenn ja, worauf? Das ist
der Kern aller im Grunde nicht lösbaren Fragen, des Pudels Kern
gleichsam. Das Selbst ist eine unhandliche Größe, unruhig und
bestimmungslos: vielleicht ist das seine Bestimmung, ohne
Bestimmung zu sein. Bestimmung durch wen, durch was? Durch die
Sprache? Die Sprache ist selbst eine anonyme Macht, vielleicht die
Macht schlechthin, das Böse, das gelegentlich Gutes bewirkt, alles
Gute, immerhin, wie man es sich wünscht, gegenseitig und immerfort.
Doch wünscht man es nicht sich selbst, so weit im Läppischen
vergreift sich keiner. Das Selbst steht außerhalb alles Guten, es
steht nicht in Rede, es ist nicht müßig, es ist nicht beschäftigt,
es zählt nicht. Nein, es zählt nicht, weder im aktiven noch im
passiven Sinn. Es löst sich ab, manchmal, schweigend, es treibt
davon und das liebe Ich rennt in putzigen Sprüngen hinterdrein,
nachdem es schnell ein paar Marken gesetzt hat. Wo Ich war, soll es
wenigstens eine Zeitlang ... nach mir riechen, das ist die kürzeste
Theorie des Unterbewusstseins und die strengste. Alle Erforscher
des Geruchs erforschen im Grunde das Schweigen, aber sie können
darüber nichts sagen. Das Ich, dem es gelänge, die Leine des Selbst
zu kappen, würde an dieser Stelle beredt. Das soll nicht sein.
»Verpestete Luft« sagen die Leute, wenn ein Ich im Raum steht, dem
das Selbst abhanden zu kommen droht. Dieses Ich ›steht in
Verwesung‹, so wie man in Verhandlungen steht. Sein Blick funkelt
strategisch, doch seine Bewegungen sind müde. Es ist ein alter ego,
es weiß von keinem zweiten. Dabei ist es schon unterwegs.
»Es geht um den Glauben.« Was sonst? Wann immer es um etwas geht, geht es ›in Wirklichkeit‹ um den Glauben. Um welchen Glauben? Ist er angesagt, nicht angesagt, verabschiedet er sich gerade unter Getöse oder ist er noch nicht ganz angekommen? »In der Regel geht es um praktische Dinge.« »Glauben Sie?« »Ich weiß nicht recht. Ja doch, ich glaube schon.« »Ja oder nein?« »Ja sicher.« »Ganz sicher?« »Ganz sicher. Kommen Sie, examinieren Sie, wen Sie wollen. Wer ist schon ganz sicher? Ein Verrückter vielleicht.« Ein bewegliches Figürchen, quecksilbrig, nirgendwo völlig festgelegt, es sei denn unter Martern oder unter dem Eindruck von Martern, und gäbe es nur das zermarterte Gehirn, das am Ende den Befund aussondert: Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Ich könnte auch anders, aber warum? Es würde nichts ändern. Ein Selbstbefund, und kein erheiternder. ›Der kann nicht anders‹ heißt: jemand hat seine Form gefunden. Er ist ein Getriebener, sei es der Umstände, sei es seiner selbst. Unter der Hand ist aus dem ›Ich glaube‹ ein ›Ich bekenne‹ geworden. Wer bekennt, glaubt nicht bloß, sondern nimmt die Folgen dessen auf sich, woran zu glauben er sich entschlossen hat. Die Leute betrachten, was so einer anstellt, als Exzess. Der Entschluss zu glauben überschreitet den reinen Glauben und stellt ihn von einer anderen Seite aus her. Demgegenüber ist Glaubenwollen das Normale. In der Regel wird es für den Glauben genommen, aber auch das ist ein Irrtum. Wer glauben will, will mehr als bloß glauben. Er will, das Geglaubte möge reell sein, er will an die Wahrheit dessen glauben, woran er glaubt, und es misslingt. Glauben und Unglauben verschmelzen zur Standfigur des Gläubigen. Wer glauben will, kann vieles anstellen, um seinen Glauben unter Beweis zu stellen. Doch in dieser Angelegenheit, die nur ihn etwas angeht, versagt er immer aufs Neue. Mag sein, dass er das Hochgefühl eines Erfolgs für die Sache nimmt, aber die Sache entgleitet ihm, sie war in den Erfolg nicht eingeschlossen, sie entzieht sich. ›Wer’s glaubt, wird selig.‹ So drückt der Volksmund sich aus und mancher möchte es glauben.
Der Rechtschreibung haben wir uns entledigt und jetzt erledigen wir
den Rest. Das klingt gefährlicher, als es ist, aber man sollte uns
nicht unterschätzen. Manch einer sieht uns, in die Ecke gedrängt,
zusammengekauert, und hält uns für erledigt, nur weil wir einen
Aussetzer hatten, aber das geht vorbei und wir sind wieder fit.
Dieses ewige Fitsein haben wir den anderen voraus, dafür hassen sie
uns und wollen uns los werden, was Unsinn ist, denn wir sind
ersetzbar, überall und auch jetzt. Wir sind Hunde aus der Rotte
des Ildefondo, den
niemand kennt, ein unerhörter Vorteil für den, der ihn zu nutzen
weiß. Andere haben Einfälle, aber wir wollen etwas erreichen, dafür
sind wir angetreten, dafür putzen wir Klinken und stopfen
Mäuler. Wir sind das ewige Jetzt, wir sind die Gefahr, der sich die
Alten und Kranken ausgesetzt sehen und vor der sie sich fürchten,
obwohl sie nicht von Gewicht sind, eher ließe sich sagen, wir
lassen den, für den wir uns interessieren, alt aussehen, wir sorgen
dafür, dass er sich krank fühlt, allein durch Nähe, soweit reicht
unsere Macht. Wer sich gesund fühlt, kennt uns nicht, er weiß
nicht, wovon die anderen reden und meint, sie sähen Gespenster. Was
nicht falsch ist, nicht falsch, aber natürlich naiv – auf beiden
Seiten. »Gehen Sie«, sagt die Dame am Häppchentisch, »meinen Sie
nicht, dass Sie übertreiben?« Da ist etwas dran. Wir werden
sichtbar durch Übertreibung. Deshalb verkehren wir gern in Kreisen,
in denen man sich durch Übertreibung schuldig macht, zum Beispiel an
Universitäten, wo die Übertreibung als Todsünde gilt. Allerdings
fällt dort das Spiel fast zu leicht, wir geraten ins Gähnen und
machen Fehler aus Langeweile. Wenn das Semester noch frisch ist und
alle in die Arena strömen, gehen wir aus uns heraus und beißen in
die Menge.
Die Freiheit zeigt sich in zweierlei Gestalt unter den Menschen: als Summe der Gesetze und Regelungen, die dem reibungslosen commercium omnium dienen, und als Religion mit Tempeln und Riten, Opfern und Feldzügen wider ihre Feinde. »Gut«, sagt W., »aber wenn das so ist, dann verstehe ich nicht, wie es mit ihr so weit kommen konnte.« »Wie weit?« fragt der Verteidiger der Freiheit, man merkt, dass es ihm schwer fällt, die Contenance zu wahren. »Dass es in ihrem Inneren soviel Reibereien gibt, nur der Krieg gegen die Feinde läuft wie geschmiert.« »Ich weiß nicht, woher Sie Ihre Eindrücke nehmen, aber Sie sollten froh sein, dass die äußeren Feinde so schwach und die inneren so erfolglos sind.« »Vielleicht meinen wir ja dasselbe. Aber sehen Sie, womöglich sind die Verteidiger des ungehinderten Kommerzes ihr eigener Feind. Wie soll man mit ihnen Geschäfte machen, wenn sie sich immer und überall durchsetzen müssen? Es ist kein gutes Geschäft, die Hand in einen Aktenvernichter zu stecken. Haben Sie so ein Ding? In meinem Büro steht noch eines. Man gibt einen Vorgang hinein und bekommt nichtssagendes Papier heraus. An die großen Schredder da draußen kann ich nur mit Beben denken.« »Aber das ist ganz natürlich. Ein Vorgang ist abgeschlossen, ein anderer beginnt. Alle starten neu wie am ersten Tag.« »Doch die Erinnerung bleibt. Übrigens auch an das, was man selbst einmal war. Sie wird nur undeutlich.« »Wenn die Erinnerung Sie quält, gehen Sie zum Therapeuten. Nein nein, ich verstehe, was Sie meinen. Menschen und Länder sind wie Geschichten, sie gehen ungern zu Ende. Im Grunde fürchten sie den Neuanfang.« »Vielleicht haben Sie recht und es ist alles eine Frage der Furcht. Aber wovor? Wenn der Herr so streng ist, warum sind seine Sendboten so lax, sobald sie einmal am Drücker sind? Fürchten sie nichts?« »Sie fürchten sich und sie fürchten sich nicht. Ehrlich gesagt, wissen sie nicht, was sie von der Sache zu halten haben. Es ist der Erfolg, der Zweifel in ihre Herzen sät, und sie stehen für nichts. Das ist ganz natürlich.« »Welcher Erfolg?« »Sehen Sie, in Ihrem Herzen sind Sie einer von uns. Sie wissen nichts davon und das ist gut so. Mit dem Herzen stehen wir alle auf Ihrer Seite.« »Auf meiner Seite? Welche sollte das sein? Wir bewohnen dasselbe Haus, ich weiß davon nichts.«
Kein Sensorium haben ist sensationell, vor allem für etwas, vor dem alle Welt auf dem Bauch liegt. Das Sensorium ist der eigentliche Tyrann, Zusteller aller Schmerzen, die einem zugedacht werden, gleichgültig, ob man als Einzelner oder als Menge adressiert ist. Ohne Sensorium schweigt der Chor der Quälgeister, er mag sich abquälen, wie er will. Ohne Sensorium schweigt das Orchester der Dinge, das auf Überwältigung aus ist, denn es wurde seiner wirksamsten Waffe beraubt, des Erhabenen. Erhaben ist, was dich taumeln lässt. Was ließe dich taumeln, wenn nicht Keulenschläge? Ohne Sensorium gestaltet sich jeder Museumsgang leicht, er gleicht dem Weg zur Cafeteria: Da vorne, gleich links, dort muss sie sein. Das Museum bietet sich deshalb als Beispiel an, weil es, anders als der geliebte Mitmensch, keine Pausen einlegt, sondern Sensorium pur fordert, und zwar unterschiedslos. Vom Belangvollen zum Belanglosen ist oft nur ein Schritt. Doch ihn zu gehen erfordert sensorische Energien, die beim Betrachten der wirklich wichtigen Dinge fehlen. Stets fallen die kleinen Tyrannen lästiger als die großen. Den Zumutungen der Macht fügen sie die Illusion hinzu, man könne sich ihrer leicht erwehren, leichter jedenfalls als jener fernen Instanzen, als deren ausführende Organe sie sich in Szene setzen. Keine Chance: das Sensorium war bereits tätig und der Einbrecher ist im Haus. ›Was unter die Haut geht, sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen‹ – so ähnlich müsste eine Maxime lauten, die den Umgang mit dem Sensorium regelt. »Hat berührt!« – »Aber das ist ja furchtbar!« Vielleicht nicht furchtbar, aber zum Fürchten. Das Sensorium setzt die Grenze, es gleicht jenen stromgeladenen Drähten, mit denen der Bauer seine Kühe auf der Weide beisammenhält. In der Sensibilität will keiner sich übertreffen lassen. Das wirft ein seltsames Licht auf die geliebte Kultur, in der sich alle guten Geister sammeln, um unter den Schlägen der Hartgesottenen zusammenzuzucken, der von allen guten Geistern Verlassenen, die vorgeben, an der Kultur nur die Diversität zu schätzen, die gezielte Neutralisierung all dessen, was den Sensiblen gut und teuer ist. Man begegnet ihnen sensibel, statt sich daran zu erinnern, dass man sich solcher Leute nur per Scherbengericht erwehrt. Alle Kultur ist divers, aber eine Kultur der Diversität gibt es nicht, kann es nicht geben. Allein Gewalt hält zusammen, was nichts verbindet. Das freut die Nutznießer der Gewalt und verheißt ihnen herrliche Zeiten.
Wie konnte sich der Feminismus, diese breite, gut aufgestellte Veränderungsfront, von der Schwulenbewegung so die Butter vom Brot nehmen lassen? Denn machen wir uns nichts vor: bei dem, was heute Frauenbewegung heißt, handelt es sich um kaum mehr als einen Nebenstrang des one world movement for free sex and against gender discrimination, das mit genuinen Frauenproblemen so wenig am Hut hat wie eine Haifischflosse mit der Flugfähigkeit eines Seidenreihers. Wie konnte das geschehen? Ganz einfach: So wie eine jüngere an einer älteren Ideologie zehrt, um sie schließlich durch langdauernden Kräfteentzug – nein, nicht zu ersetzen, denn dafür reicht auch die Kraft der neuen nicht, aber soweit zu schwächen, dass sie keiner eigenen Regung mehr fähig ist, sondern willenlos den Impulsen der anderen Seite folgt, so wie eine Religionsidee inmitten einer bereits ausgebildeten Religiosität zündet, weil sie den Leitgedanken vereinfacht und dadurch eine größere Geradlinigkeit in der Durchsetzung von Interessen gewinnt, so löst sich das Geschlechterproblem, sobald das Menschheitsinteresse der Fortpflanzung durch einen Trick aus ihm herausgelöst wurde. Dieser – ziemlich banale – Trick lautet: Macht es auf die männliche Tour. Er könnte auch heißen: Alle Definitionsmacht den Männern, aber das wäre denn doch zu dreist und könnte Misstrauen erregen, vor allem, weil das weibliche Männerbild aus naheliegenden Gründen nicht zwingend schwul geprägt ist, obwohl das nur den gesellschaftlichen Gegebenheiten entspräche und durch die entsprechende Frauenideologie längst sanktioniert wurde: Männer machen die Definitionen und Frauen entziehen sich ihnen. Wie naiv ist das denn? Der nicht festgelegte Mann – voilà, da ist er, gut durchdekliniert, und fordert seine Rechte. Und da er von Mutter Natur mit einer etwas kräftigeren Stimme ausgestattet wurde und in Politik und Gesellschaft gut vernetzt ist… Als die Frauenbewegung auf das Konzept ›Gender‹ setzte, also auf das soziale Geschlecht, gab sie sich auf: warum? Eine Grenzüberlegung löst das kleine Rätsel im Handumdrehen. Wenn Frauen reklamieren, sie seien keine Frauen mehr, sondern etwas anderes, Männer etwa, bringen sie das Problem, das zu lösen sie angetreten sind, zum Verschwinden – durch Selbstaufgabe. Ophelia geht ins Wasser, um verstanden zu werden, und erntet Erfolg: Kulturtragende verstehen sie mit jeder Aufführung besser, vor allem in der Theaterpause, zwischen den Akten, sobald ihre Stimme vielfältig im Foyer widerhallt. Wenn hingegen biologisch unauffällige Männer behaupten, sie seien keine Männer mehr, sondern anders – Zwischenwesen oder Frauen oder Selbstdefinierte –, dann holen sie sich Definitionsmacht in genau diesen Bereichen und füllen sie aus. Frauen … wo bleiben die Frauen? Sie bleiben als Hilfstruppen oder Nachahmerinnen oder ›Karrierefrauen‹ oder Konsumtanten weiter im Spiel oder in einer Rolle, über die viel gelacht wird, während der generöse Beifall nicht nachlassen will: Puffmütter im Männerzoo, den Akrobaten des Geschlechts Manna und Erfrischungen spendend und ihre derb-zarte Erotik lobend – über den grünen Klee, weit über ihn hinaus.
Das öffentliche Sich-Äußern besitzt eine Kraft, die nach innen
geht: nicht als Resultante der Stimmen, die darauf antworten,
sondern als unerwarteter Effekt einer Entblößung, die sich selber
vorantreibt. Sie ist weniger harmlos als die des Körpers – die
wiederum nicht so harmlos ist, wie den Leuten suggeriert wird –,
vor allem deshalb, weil sie zu keinem natürlichen Abschluss kommt.
Es entblößt sich ja nicht das Selbst, das vielleicht nicht mehr ist
als eine gut versteckte Blöße, es entblößt nur... was? An dieser
Frage kommt es zu keinem Abschluss, es gleitet an ihr entlang in
einen Bezirk, den manche Leute das Offene nennen. Man erkennt es am
separierten Tierblick. So verwandelt sich der öffentliche Mensch
inmitten seiner Gesinnungen und Funktionen in ein jagdbares Wild,
angetan mit einem Sprach-Körper, der einem Fuchsbau ähnelt. Dieser
Sprach-Körper ist immerfort im Umbau, jede Inspektion trifft, neben
dem Vertrauten, auf neue Einsprengsel, unvermutete Inseln des
Unvertrauten, Stege und Übergänge, Durchbrüche, wo beim letzten Mal
noch Wände standen, und Wände an Stellen, an denen das arglose
Gemüt auf nichts zu stoßen gedenkt. Wände aus nichts... Sie sind
vielleicht der prägendste Part der sich öffnenden Rede.
Gebieterisch schreiben sie die Umwege vor, die gegangen werden
müssen, während der vorausbedachte Effekt ungewiss bleibt und sich
rasch ins Gegenteil kehrt.
Siebgeber ist ein Fuchs, der mit links denkt, denn er weiß: alles Rechte ist Abspaltung, die den Zwang zu weiteren Spaltungen in sich trägt. Was rechts ist, kann nur von links her begriffen werden, es weiß nichts Rechtes über sich selbst, außer, dass es im Recht ist. Das Im-Recht-Sein ist seine beste Waffe, damit rollt es die Linke auf, vielmehr: es schlitzt sie auf wie die berühmte Sardinenbüchse und heraus purzeln neue Rechte. Rechte für wen? Wann immer sich eine neue Rechte formiert, beruft sie sich auf Gründungstexte, die dem Einspruch gegen eine Linke ihr Dasein verdanken und damit der Linken selbst, die ihr voranging, oft in ein und derselben Person, Beispiele sind bekannt. Fatal für die Linke, dass sie ohne diesen steten Ideenstrom längst verknöchert wäre, so wie jedes ›linke System‹, einmal stabilisiert, ins Stadium der Verknöcherung übergeht. Die Rechte lebt von der Linken, die Linke schöpft sich von der Rechten zurück. Das lässt den stereotypen ›Kampf gegen Rechts‹ als Quintessenz einer im Geiste vereinigten Linken so bizarr erscheinen: Er verstopft die Quellen ihrer Inspiration, er lässt sie am Ende überflüssig erscheinen, weil niemand da ist, der den Rechten auf die Finger sieht, wenn sie sich auf ihre Kosten die Taschen vollstopfen. Wenn, was immer die Hand eines Rechten berührt, rechts und damit ›kontaminiert‹ ist, dann ist die Welt rechts und die Linke außer sich.
Der arme Herr Sieferle war so mutig, ein paar Seiten zu hinterlassen, auf denen das Vaterland nicht als auswärtige Größe firmierte, sondern als das eigene, jedenfalls schimmert etwas davon zwischen einigen analytischen Sätzen hindurch, deren Inhalt im übrigen jedem Leser vertraut gewesen sein sollte, der ein paar Jahrzehnte deutsches Feuilleton auf dem Buckel hatte – und das Feuilleton stürmte. Eine der Sturmspitzen ging so weit, noch dem Toten einen Prozess an den Hals zu wünschen. Voilà. Wenn das Totengericht tagt, hat der Patriot gute Karten. Alle guten Geister waren und sind Patrioten, bloß das Vaterland wechselt. Wen kümmert das Vaterland, wenn nur ein Herz dafür schlägt? Man muss kein großer Denker gewesen sein, um in den Ewigen Jagdgründen sein Auskommen zu finden. Es genügt, ein paar Denunzianten aufgescheucht zu haben, die mit dem Denken Schindluder treiben – sie meinen Menschen zu denunzieren, aber sie denunzieren das Denken selbst. Pech für sie: Das Denken rächt sich nicht, es geht über sie hinweg.
Man muss mit den herrschenden Kräften rechtzeitig Mitleid haben,
denn ihr Geltungsanspruch klingt bereits hohl. Das gilt für jede
siegreiche Sache, als gute erklimmt sie das Treppchen, unter
Hohnsprüchen trollt sie sich von dannen. Leute, die länger
verweilen wollten, haben daraus den Fortschritt gezimmert, die
permanente Revolution, die auf Dauer gestellte Reform. Genützt hat
es nichts, sie mussten und müssen herunter, weil das Privileg, auf
der richtigen Seite zu stehen, nur auf Zeit verliehen wird. So
lebte die Arbeiterbewegung, ohne sich darüber verständigt zu haben,
von der Überzeugung, dass die Arbeit nicht ausgeht, so agierte der
Feminismus unter der Annahme,
dass Kinder immer geboren werden, von wem und unter welchen
Bedingungen auch immer – Annahmen, die prima vista nicht falsch sind, aber
irgendwann ihr vertracktes Gesicht zeigen, nachdem sie es lange
unter den Masken der patentierten Probleme verbargen. Was sich vor
wenigen Jahren Globalisierung nannte, hört heute auf andere, weit
weniger schmeichelhafte Namen, es gibt einen Manichäismus der
Geduld wie der Ungeduld, beide müssen herunter. Wie die Straße der
Sieger ins Nichts führt, so erweist sich der Siegerpodest als
Startrampe ins Abseits. – »Beiseitegeworfen«, durchfährt
es Homomaris, den
Gnostiker von Lichtel, er denkt von Haus aus und schert sich wenig
ums Budget.
Der klassische Sinnvollschenker wird nicht geboren,
sondern wiedergeboren, er lebt nicht, sondern er ist erfüllt von Leben. So einer ergibt sich nicht,
schon gar nicht von selbst, er wird ausgegeben, am besten mit
vollen Händen, links, rechts, wie auch immer. Er ist eine Art Zugabe,
mit der eine Gesellschaft manche ihrer kleineren Krisen meistert.
Viele z.T. prominente Wissenschaftler sind Sinnvollschenker. Sie
tragen das gestickte ›SV‹ an verborgenen Stellen ihrer Kleidung,
doch den Blicken aufmerksamer Zeitgenossen entgehen sie selten.
Viele Sinnvollschenker sind Künstler oder werden von
der Gesellschaft
als solche gehalten. Man erkennt sie an ihrem gekonnten
Zeitmanagement, daran, dass sie stets zur Verfügung stehen, wenn
man ihre Dienste benötigt. Als Aktionskünstler wirken sie gern
›verstörend‹, dafür gibt’s Bares auf die Hand und man kann sie
wegräumen oder sie trollen sich, ohne dass man sie darum
bitten müsste. Sie beanspruchen nicht viel Raum, aber er muss
öffentlich sein, sonst fällt ihnen wenig ein. Die Ausbildung des
Sinnvollschenkers/der Sinnvollschenkerin ähnelt in mancher Hinsicht
der des Schamanen/der Schamanin und vollzieht sich im Verborgenen;
innerlich und äußerlich verändert, erkennt man sie kaum wieder,
wenn sie die Bühne der allgemeinen Aufmerksamkeit betreten.
Es gehört zu den Eigenschaften des Sinns, stets halb voll oder halb
leer zu sein, man kann den Mangel beklagen oder sich mit der
Aussicht auf künftige Sinnerfüllung über die Gegenwart trösten,
aber Sinn bleibt Unsinn, Unsinn macht Sinn und das nicht schlecht.
Im Gegenteil, er macht seine Sache gut, gäbe es mehr Unsinn auf der
Welt, so liefen die Dinge gelegentlich besser, aber auch hier macht
sich rasch das eiserne Gesetz des Mangels bemerkbar.
Dementsprechend beschränkt sich die Arbeit des Sinnvollschenkers
darauf, den Mangel nicht länger als das erscheinen zu lassen, was
er doch ist, sondern als etwas anderes, ein abgekartetes Spiel z.
B. oder eine Voliere, in der auf Knopfdruck Vögel zu zwitschern
beginnen, die man so nicht sieht, es sei denn, man stellt sich auf
Zehenspitzen oder färbt sich per Langzeitversuch die Nase.
Besonders Geldleute sind anfällig für diese Künste und bewundern
sie dankbar. Politiker täuschen gern Bewunderung vor, doch etwas
daran stört die Leute. Recht haben sie. Aber man täusche sich
nicht: Niemand geht unangefochten durch das Tal der minderen
Aussichten und mancher, dem die Leere ins Gesicht geschrieben
steht, lebt heimlich in Fülle. Jeder Mangel wird irgendwann zum
Störfall und wer ihn an die Außengrenze verlagert, hat inwendig gut
lachen.
Die Geste des radikalen Schwätzers besteht darin, das, was sich von selbst versteht, aus dem Zirkel, in dem es sich von selbst versteht, in andere hinüberzutragen, in denen es zur Pfauenfeder taugt, aber zu nichts anderem. Dort wird jetzt verstanden, was nicht verstanden wird, das heißt, mit jenem kleinen »Aha« und einem winzigen Anflug von Ironie in der Stimme, der sagt: Ich zitiere hier, du weißt schon wen. Das notorische Zitiertwerden vervielfacht das Geschwätz, so dass es von allen Seiten auf seinen Urheber zurückprasselt. Infolgedessen befindet er sich in einer ewigen Aufbruchssituation – er muss dem entkommen, was er anrichtet. Das ist nicht so einfach bewerkstelligt. Aus diesem Grund legen manche Bücher Wert auf die Feststellung, in ihnen sei das eilige Schreiben dem Denken endlich entwischt: Triumph der Artistik, Vollendung des fast Unmöglichen, dessen, was leicht von der Hand geht und schwer zu erreichen ist. Es sind die letzten Bücher, zusammen bilden sie das Corpus der letzten Hand und des letzten Fußes. Ihr Marschbefehl lautet: »Vorwärts immer, rückwärts nimmer. Du musst dein Schreiben ändern.« Das ist leicht zu erreichen, aber ganz unmöglich.
Mit den Söhnen ist das so eine Sache. Je erwachsener sie werden,
desto kindhafter wird ihr Spiel. Sie werden undeutlicher in ihren
Regungen, jedenfalls in denen, die sie auf die Welt da draußen
verweisen würden, sie zeigen Ermattungserscheinungen an ihrer
kostbaren, über so viele Jahre ununterbrochen trainierten
Muskulatur – gerade dort, wo die Kraft sitzen müsste, die sie
fortbringt. Aber das wollen sie nicht, sie sitzen ruhig auf ihrem
Fett und überschlagen die Barschaft: Reicht es, reicht es nicht?
Und reichte es auch, sollte gerade jetzt der Aufwand lohnen? Sie
wollen alles richtig machen, darin liegt das Übel. Sie wollen schon
jetzt alles richtig machen, nicht erst in einer Zukunft, die
draußen wartet und Schimmel ansetzt, gleich wird sie davonrollen
auf ihren goldenen Speichen. – Der Ärmste, er fühlt sich
beschenkt, es ist ihm eine Ehre, ein wenig im Haushalt auszuhelfen,
in ihm kehrt der Großknecht vergangener Zeiten wieder, den sich
keiner mehr leisten kann. Weite des Ostens, Traum jedes
Junggesellen! Ein kleines Business in Singapur kostet nicht viel,
menschlich gesehen, dadurch löst sich niemand zu Hause ab, seid
unbesorgt, Mütter.
Zweifellos hat nichts die Verhältnisse im Yagir ähnlich drastisch verändert wie
der Beschluss der Instanzen, die Solidarität der Geschlechter
aufzuheben. Das geschieht, da man hier in der Wahl der Methoden
wenig zimperlich vorgeht, rückwirkend, so dass einer sich
vergeblich nach Beispielen für gelungene Paarung in ferner
Vergangenheit umblickt. »Alles Lüge!« Im Yagir merkt man sich
solche Sprüche und ist bestrebt, das Leben nach ihnen auszurichten.
Das geht meistens daneben. Aber wer lange hier gelebt hat, weiß:
daneben geht auch ein Weg. So existiert gleich neben dem – unter
Kennern: exzellent! – ausgebauten Straßennetz ein Geflecht aus
Trampelpfaden, dessen Gesamtstruktur keiner kennt, obwohl sich alle
in großer Geschwindigkeit und nahezu geräuschlos auf ihnen bewegen.
Man stelle sich ein Luftbild des Yagir vor, mit dichtem Verkehr auf
allen Straßen und etwas wie Nebel auf Strecken, die auf den ersten
Blick frei scheinen. In solchen Abschnitten versickert
der Verkehr; die Leute nehmen ihr Bündel und trollen sich. Es sind
glückliche Naturen darunter, die kaum ihre Geschwindigkeit
drosseln. Manche, die vom Schutz der Baumriesen träumen, ergeben
sich mit einem gewissen Aufatmen dem Trott, einige wissen schon,
dass sie krepieren werden und finden keinen Anschluss. Von Zeit zu
Zeit liegt eine vermoderte Leiche im Holz und die Instanzen tanzen
den Was-tun-Tango. Ein unbeteiligter Beobachter könnte leicht den
Eindruck gewinnen, nach derlei Exzessen sei der Andrang auf den
Pfaden besonders groß. Nur die Jugend, wie immer, tummelt sich auf
den Straßen. Sie bevorzugt die kleinen Demonstrationen –
Kabinettstückchen, die beweisen sollen, was alles in den Lücken
zwischen den daherbrausenden Fahrzeugen möglich ist. Es passiert
viel, vor allem die Zahl der Kopfverletzungen gibt zu denken.
Dennoch bleibt die Überlegung richtig, dass die Straßen auch im
dichtesten Verkehr vor allem leer sind. »Woher diese Leere?« »Das
Tempo, ihr Lieben, das Tempo.«
Der Sommer hätte schön sein können: mit diesem etwas stürmischen Anlauf,
paradiesischen Sonnenzeiten, feuchten Abkühlungen am rechten Fleck und
ordentlichen Hundstagen, damit der innere Schweinehund was zu seufzen bekommt …
sie hätte baumeln dürfen, deine Seele. Was sie dann auch tat: am Strick,
geflochten von Klima-Liesl, der bezopften Kinds-Heiligen aus dem Norden und
ihren Machern – so heißen sie doch, nicht wahr? Heilige dieses
Weltformats werden gemacht, das kommt gleich nach ›gemach‹ und bedeutet: ›Schaun
wir mal, wer diesmal dahinter steckt‹. Wirklich erkennen einige historisch
beschlagene Zeitgenossen in ihrer frenetischen Anhängerschar die Wiedergänger
jener Flagellanten, auch Selbstgeißler genannt, die im Herbst 1260 zu Perugia
mit ihrer ersten Friedensdemo Schneisen ins öffentliche Bewusstsein schlugen:
Tut Buße, rettet die Welt, der Zorn Gottes ist nahe (wer spürt ihn
noch nicht?) – eine Bewegung aus Kindern und allerlei alten
weißen Männern und Frauen, der sich in der medial gebotenen Windeseile führende Politiker
der meisten Parteien beigesellten: der übliche Haufe, der niemals fehlen darf,
sobald eine Menge nach Führung verlangt, vor allem Nasführung. So
entstehen Steuergesetze. Denn dort entlang – immer der Nase nach – geht’s doch,
seien wir ehrlich, wir kennen uns da aus und erledigen die Sache mit links. Kein
Zweifel, wir könnten’s auch mit rechts. Doch das geht nicht, jedenfalls nicht,
solange die Rechten dort sitzen und sich als Klimaleugner profilieren. Das weiß
doch jeder: Rechte leugnen Klima. Unser aller Klimaforscher, die
roboterhaft die Welt mit Weltschadensmeldungen fluten, bringt das Thema seit
Jahren in Rage. Eine wachsende Clique von Unbelehrbaren, Ewiggestrigen,
Menschheitsschändern leugnet den indiskutablen Ausgangspunkt unserer, i. e.
unser aller Forschungen. Das ist unerhört. Klima steht links. Im Sommer
der Tat erscheint ihr Forscher-Mut grenzenlos. Ängstlich zum Himmel schielend,
auf dass nicht ein Sommerwölkchen ihnen die Suppe versalze, in ihrer Linken die
ehernen, leicht angeschmolzenen Tafeln des ›Weltklimarats‹, in der Rechten – es
gibt sie also, die gute Rechte! – ein paar Kostenkalkulationen für soeben
genehmigte plus künftig zu genehmigende Forschungsstätten zur Rettung des
Weltklimas schwenkend, im Mund die obligate Zigarre für Andersdenkende und in
den Augen … dieses Glitzern, das nur Eingeweihte zu deuten wissen, jagen sie
Prophezeiungen in die Arena, als handle es sich um toll gewordene Hunde. Es sind
aber nur Aussagen. Hoppla … wissen Sie, was Aussagen sind? Nein? Kommen Sie, ich
sag’s ihnen. Jemand sagt ›aus‹ (er könnte auch ›basta‹ sagen, es käme aufs
Gleiche heraus) und keiner will es genau wissen, weil die Aussagekraft den
Aussageinhalt so übersteigt, dass nur Inhaltsfetischisten und Selbstmörder sich
den Tort antun wollen, nachzusehen, was noch alles in der Tüte steckt. Gewiss,
sie hat Kraft, unsere Wissenschaft, auch wenn sie jetzt unser aller
Wissenschaft ist, sie wirkt irgendwie okkupiert und das ist vermutlich gut so.
Nemo contra scientiam nisi scientia ipse. Was das heißt? Ach kommen Sie…
Opfern wir der Sonnengöttin eine Schale und schielen wir ins Mediterrane, wo sie
seit altersher männlich konnotiert ist und mildtätig über die Strände wacht, auf
dass kein Fitzelchen Haut dem großen Weltbrand entgehe.
Diese Theorie ist mir an Herz gewachsen, sie behagt mir. Jene
andere dort sagt mir nichts, sie mag für Leute Gültigkeit besitzen,
die ich nicht kenne. Ich stelle sie mir hässlich vor, mit einem
Schuss Spießertum durch die Brust. Ich anerkenne, dass es sie gibt.
Nie würde ich Hand anlegen, zu widerlegen, was so offenkundig
verkehrt ist, dass es mich selbst schon auf die Distanz verletzt.
Ich bin dort nicht zu Hause, das ist eine andere Gang. Mag sie ihren Straßenabschnitt
tyrannisieren, ich gestehe ihr das Recht, so zu handeln, zu.
Eigentlich müsste für mich etwas abfallen, ein Sonderbonus für
meine Langmut. Denn, unter uns, allein das Zuschauen tut weh. Alles
daran ist widersinnig im Exzess. Ich könnte die Polizei
verständigen oder das Ordnungsamt. Ah, da kommen sie die Straße
herauf. Gute Jungs, klare Muskeln, der Gesichtsausdruck stimmt. Man
wird sich wohl anfreunden müssen. Ah, welche Aufschlüsse!
›In unserer Kultur‹ – damit beginnen die Lügen. Dass unsere
Kultur existiert, ist die erste, keine gewöhnliche, ein zweckvolle,
gleichwohl: eine Lüge. Man kann den Umstand mit Hilfe eines
›differenzierten Kulturbegriffs‹ wegoperieren, aber die Tatsache
bleibt. Dass man sich einigt, ist kein Zeichen von Kultur, sondern
entschiedener Abkehr von ihr. Patrioten und Schwätzer haben nur
gemeinsam Kultur, sie rechnen mit Graden solider Durchseuchung.
Alles, worauf man sich einigen kann, fällt unter den
differenzierten Kulturbegriff. Auf den Ketten unbrauchbarer
Unterscheidungen rollt er dahin, sinkenden Sonnen entgegen, die er
für ferne Welten – oder Kulturen – hält, in denen er sich
wiederzufinden begehrt.
Was wir Gesellschaft nennen, lebt vom Betrug, das muss wohl so sein
und sollte niemanden aufregen. Was wir Betrug nennen, lebt von der
Gesellschaft und redet ihr ununterbrochen ein, sie möge sich nicht
an den falschen Stellen aufregen, denn die wirklich großen
Durchstechereien fänden andernorts statt. Die Gesellschaft lebt von
der Gesellschaft, der Betrug vom Betrug, die Moral von der Moral
und die Geschichte von der Geschichte. Diese
Selbstverschlingungssysteme sind es, die den Menschen quälen und
ihm die Empfindung vermitteln, er lebe in einem Käfig und draußen
lache das Leben und die Sonne sowieso. Die lachende Sonne gibt,
immerhin, zu denken – zwar nicht denen, die sie anbeten und lange
Reisen unternehmen, um ihren Audienzen beizuwohnen, aber sie gibt
zu denken. Dass, was uns ernährt und vernichtet, mit Sicherheit
abgewrackt wird, aber erst, nachdem wir von ihm alle Qualen
erdulden durften, böte den Glanz einer eleganten Lösung, bei der
man sich auf Gesichtshöhe mit dem Wesen befände, das dafür sorgt,
dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Aber dieses Wesen
wankt, es weicht zurück – eine fatale Bewegung, denn hinter ihm
steht der nächste Abgrund, in den es taumelt und in dem es vergeht.
Das alles geschieht im Denken, im unablässig vorwegnehmenden
Denken, das in der reinen Denktätigkeit auch das reine Wesen
untergehen lässt, dem einen natürlichen Untergang zu prophezeien
müßig wäre. Das System der Bedürfnisse trägt und demütigt, es ist
das System der Demütigungen, das die Unbedarften der
Gattungsbranche ›Leben‹ nennen und das sie gern ›zu sich‹ befreien
würden.
Die Fahndung nach den entlegensten Sorten hat den Planeten, wenn
man so sagen will, groß gemacht: jetzt, wo es mit ihr nicht mehr so
fortgehen will, verlegt man sich auf ertragreichere Praktiken, als
da sind das Einkochen, Tiefgefrieren und Wegschließen, denn, so
sagt man, die künftige Menschheit hat ein Recht darauf, zu
erfahren, wie alles war, als es noch war. Wie immer man es dreht:
Sortenfahnder zu sein ist nicht attraktiv, die Jungen misstrauen
der Kunde und trainieren für Olympia, wo sie auflaufen werden. Die
alten Hasen sehen es wohl, sie sind wendig und schnell, sie können
um Ecken sehen, gerade damit ecken sie an. Manchmal begegnen sich
zwei und es entschlüpft ihnen ein Gruß. Das hat es in besseren
Zeiten nicht gegeben, es tut ihnen leid. Sortenfahnder sind
Einzelgänger, ihre Routen führen durchs Unterholz, Brandrodung
fürchten sie, aber sie hält sie nicht wirklich auf, es sei denn den
einen oder anderen, der dabei umkommt. Manch einer gibt eher sein
Leben für eine Sorte als einen Pfifferling auf die Zukunft: er hat
genug gesehen, und wer kann so etwas schon von sich sagen.
Nicht Demokraten wollten sie sein, sondern Sozialdemokraten, als sei die Gesellschaft das Tüpfelchen auf dem i, sie ist aber der Strich, der durch sämtliche Rechnungen geht und sie ausstreicht, sobald die Zeit dafür reif ist. Das hat die Sozialdemokratie schmerzlich erfahren müssen, wann immer sie den gesellschaftlichen Lernprozess an die erste Stelle setzte. So wurde aus ihr endlich eine Partei der Schulmeister und Schulmeister*innen, der Schulstrategen und Schulstrateg*innen, am besten mit abgebrochenem Studium und wenig Aussicht, die halb erworbene, halb verweigerte Bildung im Beruf zu vollenden. Sie wollen weitergeben, was sie nicht erworben haben, in ihren Ohren klingt ›Bebel‹ wie ›Hebel‹, sie meinen, etwas in der Hand zu haben, sobald es ihnen um die Ohren fliegt: ein Irrtum, ein großer, ein übergroßer, durch Verantwortung leichtfertig kompensierter Irrtum. Denn auch Verantwortung will verantwortet werden, und davor steht, was nur wenigen in den Kopf will, Einsicht. Das soziale Band ist kein Gummiband, mit dem man Haarschöpfe bindet, es regt sich in der Not, die vorbedacht sein will. Wer keine andere Not kennt als seine Examensnöte, dem fehlt das Organ des Wirklichen, er ist zu allen Possen bereit, die von anderen aufgelegt werden, er ist ein Mitmacher, kein Gestalter. Eine Partei von Mitmachern taugt zum Doppelgänger, zum alter ego der anderen, vorausgesetzt, sie ist bereit, sich auf sie einzulassen, soll heißen, gemeinsam mit ihnen das süße Gift der Macht zu saugen, von dessen ›längerfristiger‹ Wirkung die Leichen am Rand der Geschichte zeugen. Längerfristig, so will sie wirken, die Fristen setzen andere.
Die Spatzen sind die wahren Raumfahrer, wie schon der Name verrät – spatium, der Raum, man beachte das Neutrum. Man sollte sie spacers nennen in jenem Idiom, dessen erlesenste Sprecher ohnehin mehr in Raumnähe kreisen, als dass sie auf Erden wandelten, es sei denn, es handelt sich um seltene Erden, auf denen in kritischen Momenten ihr Daumen ruht. Die Spatzen, um auf sie zurückzukommen, kennen als Umwelt nur Welt, Welt ohne Theorie, Welt pur, ›Weltinnenraum‹, wie der selige R. das nannte. Sie putzen weg, was ihnen gefällt, den Rest lassen sie liegen. Doch nicht darauf kommt es in ihrem Fall an. Sie sind schon weg: das rückt die Sache ein gutes Stück näher. Nichts macht sie zutraulich, was so erscheint, ist mehr als ein Missverständnis, es ist das Malheur der Dummen, die unfähig sind, die Spatzen-Existenz zu begreifen. Wo immer sie sich gerade aufhalten, befinden sie sich in einem neutralen Raum mit verschiebbaren Grenzen, in Fluchten aus Räumen, die ineinander über- und aufgehen. Sie siedeln nirgends und machte sie einer auf das Universum aufmerksam, sie überflögen es mit einem gleichgültigen Flügelschlag. So leben sie die Gesetze der physikalischen Welt, ohne sie zu realisieren, sie leben nicht nach ihnen, sondern ›irgendwie‹ davor. Dieses Irgendwie, unter Menschen Ausdruck mangelnder Bestimmtheit, bedeutet, auf ihre Existenz bezogen, äußerste Präzision. Nein, Menschen sind nirgendwo Spatzen – obwohl...
Man spaltet eine Gesellschaft, indem man ihr nimmt, was sie gibt, zum Beispiel Gesellschaft. Das ist leichter getan als gesagt, man braucht nur ein kleines Tabu, angerührt mit ein bisschen Verleumdung, einen Schuss Hetze sowie eine Regierung, die vorgibt, diesem Treiben ein Ende setzen zu wollen, und es dadurch auf den Höhepunkt bringt. Wer regiert, erzeugt Einheit durch Spaltung, er sorgt durch sein Handeln dafür, dass, was widerstrebt, unten liegt und nicht, jedenfalls für die Dauer dieser Regierung, in Betracht kommt, es sei denn, eine Explosion fördert es unversehens zutage. Gesellschaft hingegen existiert dort, wo jeder sich auseinandersetzt, das Aufeinandersitzen macht aggressiv und befördert die Abschottung. Wer den Feind in sie hineinträgt, der ist schon ihr Feind, deshalb sagen viele, die ›Staat‹ meinen, ›Gesellschaft‹: sie wollen gängeln und gegängelt werden und keiner ist da, der ihren Wunsch erfüllt. Welch ein Horror! Der Hass aufs ›isolierte bürgerliche Subjekt‹ füllt Bibliotheken, dabei ist er nichts als Hass auf die Gesellschaft, in der man sich unwohl fühlt, weil die anderen auch etwas zu sagen haben und denken, was ihnen in den Kram passt. Den Staat als Feind ansehen und nichts als Staat im Sinn haben: das ist die Paranoia der progressiv Progressiven, die den Fortschritt dort verorten, wo sie selbst forttrotten – wer weiß, wohin, wer weiß wozu? Sie haben die Lösung für Probleme, die noch erfunden werden müssen, und geben dem gern eins aufs Maul, der ›zur Sache‹ redet.
Ich habe immer die Köpfe beneidet, die Tag für Tag, halb voll oder halb leer, mit gleichem Neigungswinkel sich an ihre Verrichtungen machen, um davon abzulassen, sobald die Stunde naht, in der man sich zurückzieht, um anderen Tätigkeiten nachzugehen. Sie leisten ihr Pensum, kein Zweifel, und fast immer kann sich das Resultat sehen lassen. Spricht man zu ihnen von der Spannung, unter der man selbst steht, von der Unfähigkeit, sie nach Belieben ab- oder aufzubauen, dann lachen sie und freuen sich über das gelungene Wortspiel und es fehlt nicht viel, dass sie dich für einen Windbeutel halten, der seine Mitmenschen mit hohlen Worten an der Nase herumführt. Beneide ich sie wirklich? Das lässt sich schwer sagen. Was ist schon wirklich? Ihre Ruhe zum Beispiel, um die ich sie wirklich beneiden könnte, wirkt sie nicht ein wenig aufgesetzt? Bleibt sie nicht zu sehr ans Tagwerk gebunden und weicht des Nachts, wenn es nichts zu tun gibt, einer höllischen Unruhe, deren Nachklingen sie für Träume halten, weil sie nicht anders können als sie mit Bildern zu versetzen? Was sind schon Träume? Nein, ich beneide sie nicht. Aber nicht deswegen, weil ich mich selbst für beneidenswert hielte, sondern weil sie alle um Mitleid bitten, zu ihrer Stunde, an ihren Tagen und, was soll ich sagen, ohne alle äußere Einwirkung, ganz aus sich heraus.
Wir
befinden uns, erdgeschichtlich betrachtet, im Sperm. Wer das nicht
begriffen hat, versteht z.B. nicht, warum die Anzahl der Spermien pro
Erguss als Indikator firmiert. Sinkt die Zahl, wie es der Fall zu
sein scheint, so hat das etwas zu bedeuten. Nur was? Darüber
streiten sich die Experten. Immerhin: Das kann nicht in Ordnung
sein, soviel steht zu vermuten. Unter gesunden Verhältnissen
dürfte die Anzahl der Spermien steigen, das leuchtet dem Mitmenschen
ein, vor allem dem jungen, der den Hals nicht vollkriegen kann. Was
allseits verschwiegen wird: Diese Zahl erscheint erst im Sperm. Wir
wissen nicht, wie gesund oder krank Erdalter waren, die diese
entscheidende Zahl nicht kannten. Der Abstand Mensch/Tier verblasst
angesichts einer unüberbrückbaren Wissensscheide, an der die
Geister sich scheiden: Schwarmgeister versus Spermgeister. Was war
das Wissen vom Menschen, vom Leben allgemein, solange die
entscheidenden Daten fehlten? Schwärmerei! Nun, der Wissenschaft vom
Sperma sei Dank, sind sie zur Stelle, und die Spermgesellschaft
etabliert sich in ihrem eigenen Saft. Leider, leider, geht es bergab,
seit erst das Wissen begann. So fragil ist alles, durch die Brille
der Erkenntnis betrachtet.
Die F***book-Sperrung eines
jap***ischen M***s mittleren Alter*s, dessen geschlechtliche Orientierung bis zu
diesem Tage keinerlei Anlass zu Spekulationen gegeben hatte, wirkte sich
so aus, dass seine Nachbar*in, eine [in sich] runde Person, eines Morgens die
Feuerwehr und gleich darauf die Polizei rief, weil eine entsetzliche Aura,
welche seiner Wohnung entströmte, sie zu den schlimmsten Befürchtungen trieb.
Die Polizisten, die der Feuerwehr gewaltsam Zutritt zur Wohnung verschafften,
berichteten später, dieser Einsatz habe ihr Leben komplett verändert. (Das kann
eventuell fake news sein, Vorsicht bei der Weitergabe!) Einer ließ sich
zu der Bemerkung hinreißen: »Dort, wo wir herkommen, gibt es solche Menschen
nicht.« Er wurde vom Dienst suspendiert und zog in eine andere Stadt, angeblich,
nachdem er der an seine Hauswand gesprühten Hass-Parolen nicht länger Herr wurde
und unter Koliken litt. Ein Polizeisprecher, der den Vorgang so nicht bestätigen
wollte und stattdessen einen halbstündigen Vortrag über die gesellschaftlichen
Ursachen von Integrationsfeindlichkeit abspulte, stürzte Tage später auf der,
sofort in Umlauf kommenden Gerüchten zufolge, aus drei harmlosen Stufen
bestehenden Treppe zu seinem Apartment und verstarb Stunden später im
Krankenhaus. Der gesperrte
M*** mittleren Alter*s hingegen blieb in seiner Wohnung und lebt dort,
vermutlich in Freuden, noch immer. Befragt, welche Handlung seine Sperrung ausgelöst habe, gab er zu
Protokoll: »Ich habe einer Mücke gedroht.« Eine Antwort auf die Frage,
womit er ihr gedroht habe, verweigerte er unter Hinweis darauf, sein
neues, ebenso strenges wie streng geheimes Geschlecht verbiete ihm, auf
Provokationen dieser Art einzugehen. Außerdem existiere ein richterliches
Dekret, an das er sich, wie jede*r anständige Staatsbürger*, für eine gewisse
Zeitspanne zu halten gedenke. Einer Reporter*in, die ihn telefonisch bedrängte,
den Inhalt des Dekrets ihren Leser*innen zu verraten, schickte er, während sie
redete, eine aus den Worten »Sie sind eine Mücke« zusammengesetzte SMS. Die
Reporter*in bekam daraufhin eine*n Herzanfall* und befindet sich nunmehr im
landestypischen Trauma-Gewahrsam*******.
Ich weiß nicht warum, aber trauen Sie mir zu, in diesem Krautgarten wildern zu gehen? Die Luft ist rein, die Kugeln fliegen, piff-paff, oder wie das heutzutage heißt, sie fliegen, wie sie wollen, es sind meine Ohren, die sie durchlöchern, daran können Sie den Hörsturz ermessen, der mich mitnimmt, denn er ist unterwegs zu anderen Ufern, an denen manch Heilkraut wächst, lebenslang, also lang, so lang wie kurz, also gut. Wo standen wir gerade? Dass man uns hätte stehen lassen! Während wir standen, sind wir weiter getrieben, ein ganzes Stück, vielleicht auch ein halbes. Stückwerk sind wir und Stückwerk vollbringen wir, hier wie dort, hüben wie drüben, im Spiegel bewegt sich, was sich bewegt, nicht mehr, nicht weniger. So in den Spiegel hineinzukommen ist nicht einfach, mancher starrt ein Leben lang hinein und alles, was herausstarrt, starrt ihn nieder. Ein starres Lied! Aber ein kürzliches.
Je mehr Definitionen des Spiels man gelesen hat, desto mehr fällt
einem auf, dass der wichtigste Zustand, den es gewährt, dabei fehlt:
Selbstvergessenheit. Der Mensch spielt nur da ganz, wo er seiner
vergisst – nicht nur die Sorgen und Bedrückungen des
wirklichen Lebens, wie es gelegentlich heißt, sondern buchstäblich
sich selbst. Man könnte einwenden, das sei nichts besonderes, die
meisten Menschen kämen ohnehin aus diesem Zustand nicht heraus,
sonst müsste man sie nicht so oft ermahnen, besser auf sich
aufzupassen. Aber das Selbst ist nichts, worauf man aufpassen müsste,
es meldet sich … von selbst, wie sonst. Es ist ja keine
Besonderheit, dieses Selbst, es ist nur einfach da und sorgt dafür,
dass der Mensch nicht ganz in seinen Zuständen versinkt. Bei sich
selbst sein heißt selbstversunken zu sein, ins Selbst versunken, um
es deutlich auszusprechen, also ganz das Gegenteil des Spiels. Spiel
ist Vergessenheit. Nicht bloß das Selbst ist vergessen, auch die
Welt. Es gilt der nächste Zug oder wie das, je nach Spielart, gerade
heißt. Zug um Zug ins Nirwana des Sieges, diesen Sonnenaufgang der
Zeitlosigkeit.
Dass das Spiel eingedost wurde, zählt zu den Tücken des industriellen Zeitalters. Das postindustrielle holt es hervor und und befreit die Klänge, die nicht im Traum daran denken, zum eigenen oder zum Wohle aller einander die Hände zu reichen. »Wir sind das Wohl«, rufen sie und schiffen sich ein nach Cythera, der Insel der Wohltuenden, auf der Panik herrscht. Man kann sie verstehen, die Klänge, sie kennen die Hände, die sie ergreifen sollen, und finden, es sei an der Zeit, sie abzuhacken. Aber sie wissen auch, dass jene schneller nachwachsen, als das Herz erlaubt. Daher empfinden sie einen natürlichen Ekel vor der Gewalt und ziehen die Elemente vor. Cythera ist ein kleines Land und das Meer, von dem es umschlossen wird, liegt fast immer glatt und glänzend vor seiner Tür. Allein in Zeiten wie dieser zeigt es die Wut, die noch immer in ihm steckt, und steigert sie zum Orkan. Im Untergang verschmelzen die Klänge und ihr Lied ergreift, wen es findet, drüben, in den Gefilden der Seligen, die sich den Schweiß von der Stirn wischen und es unerhört finden, in Momenten wie diesem einfach wegzuhören.
Nur bestimmte Gedankengänge, mit denen sowohl die Spaziergänge selbst wie auch die
Unterführungen des Geistes gemeint sind, können den körperhaft dämmernden Gestalten
Raum gewähren, die wir hier Spielzeuge nennen. Hinzu kommt das seltsam schlendernde, fast
schlotternde Wanken der Gedankenbewegungen, die das Spielzeug erscheinen lassen.
Diese halb schlaffen halb wechselnden Zustände, die in Stimmungen und Gefühlen kleine
Bildimpulse hcrvorlockcn, sind der Erzeugung kurioser Figuren zugeneigt, wie sie etwa in
einer frühen Ausgabe Rabelais’ zu finden sind, aber auch bei Callot und besonders bei Homomaris, wenngleich hier in einer bis dahin unbekannten ornamentalen Selbständigkeit.
Besonders die neuen, soeben erst auftauchenden, ornamententsprungenen Äffchen der
Phantasie krümmen sich ganz besonders zu jenem gefälligen Spielzeug, das der logischen
Klarheit der heute abschweifenden Psyche so unähnlich sind wie die der Natur des Wassers verwandten Schlittschuhläufer auf Zeichnungen Garganellis.
Gehen wir davon aus, dass wir für diesmal auch hier der allzuklein geratenen Logik Adieu
sagen, so sind wir Zeugen eines gewaltigen Auftritts von Puppen, die, den Elephanten
Hannibals vergleichbar, die Alpen überqueren, um Täler zu bevölkern, aus denen das neue
Spielzeug, gleich Pilzen des Spieltriebs wiedergeboren, ein neues Geisteswesen zu bilden
beginnt, auf das wir uns einst jenseits verordneter Gleichheit in einsamer Freude stürzen dürfen. - PM
Regel Nummer eins: Über Dinge reden, von denen man nichts versteht. Das geht leicht, weil die Rede an Bestimmtheit gewinnt, sobald die Kenntnis der Sache gering ist. Und darum geht es: Bestimmtheit. Alles Unbestimmte ist Teufelszeug, Unrat, Unfug, falsches Bewusstsein, gefährliche Rede, Schnickschnack, luxurierendes Ego.
Regel Nummer zwei: Einverstanden sein. Nur wer einverstanden ist, hat die Chance, verstanden zu werden: immer, zu jeder Zeit. Und darauf kommt es an. Alles Unverständliche ist: falsch. Das Unverständliche, als soziale Kategorie, dient dem Einverstandenen, es markiert seine natürlichen Grenzen, ohne falsche Ausgrenzung, denn man will niemanden ausgrenzen. Man will nur verstehen: ein Menschenrecht wie das, sich jeden Mittag an den gedeckten Tisch zu setzen. Wer das nicht begreift, wie soll man den verstehen?
Regel Nummer drei: Ein gutes Bewusstsein haben. Das gute Bewusstsein geht über das gute Gewissen hinaus wie ... wie ... genau! Das gute Bewusstsein stellt keine Vergleiche an, die sein Fassungsvermögen überschreiten. Dennoch – oder deshalb – lebt es im Vergleich. Das gute Bewusstsein nutzt jeden Vergleich, um festzustellen, dass es sich auf der richtigen Seite befindet. Woran es das festmacht? Nun, es ist das gute Bewusstsein. Wäre es schlechtes Bewusstsein, so wäre alles andersherum. Aber so ist es, dem Himmel sei dank, nicht. Wenn er nur nicht herunterfällt! Das wäre unpraktisch, bei all den Fortschritten.
Ich bin der Spießgeselle der Kunst, sie schreit nach mir alle Tage.
Was mir das tut? Nichts, mit Verlaub gesagt. Sie macht mich nicht
krank, nicht gesund. Ich helfe nicht, ich schade nicht. Ich wohne
ihr bei, das ist erlaubt, das geht so bis ans Ende der Tage. Eine
schöne Überraschung wäre das, wenn’s einmal nicht mehr ginge. Sie
stellt aus und ich führe ein: das ist unser Deal. Ich wäre
unauffällig, wäre ich nicht omnipräsent. Im Einführen bin ich
unersättlich. Ob ich ihr lästig bin? Das kann ich mir nicht
vorstellen. Sie sucht mich auf, müssen Sie wissen, sie hat da freie
Hand. Ich biedere mich nicht an, warum sollte ich. Und Druck –?
Diese Hand? Glauben Sie, dass so etwas Druck macht? Ich muss schon
sagen. Ich denke, die Kunst braucht mich, weil ich keinen Druck
mache. Will ich denn etwas? Was sollte das sein? Der Unersättliche,
müssen Sie wissen, will nichts. Im Grunde seines Herzens ist er
gesättigt. Es handelt sich um Ausgleich, das Herz ist angekommen,
die Haut frisst ihm aus der Hand.
Dass Politiker aus Spitzen gefertigt werden, wird in der Debatte
viel zu wenig berücksichtigt. Nicht, dass ihre Robustheit aus
leicht verderblichem Material stammt, gibt zu denken, sondern die
Art der Herstellung selbst: hochgradig mechanisiert, hängt ihr doch
immer ein Hauch von erlesener Handarbeit an, der dafür sorgt, dass
vor allem Frauen sich nach dem Produkt drängen und es ›befühlen‹
müssen. Kein Zweifel, Politiker (Politikerinnen ohnehin) werden
befühlt, und nicht nur von Frauen. Das wäre zu verkraften, solange
es unter dem diskreten Blick der Verkäufer geschieht. Aber jeder
weiß: das Gegenteil ist der Fall. So entsteht ein Politiker noch
einmal aus all dem öffentlichen Befühltwerden, er erbaut sich
förmlich aus dieser Speise, aber es ist nicht erbaulich. Warum?
Weil, nun, weil das ›allgemeine Wesen‹, die teilnehmende
Öffentlichkeit auch die Sinne kontrolliert und normiert. Das
ausgerichtete, das kanalisierte und entlang den geltenden Linien
polarisierte Empfinden wird taub gegen die Qualitäten von Menschen,
die sie vom Gros unterscheiden, man projiziert ins Große, wovor man
sich im Kleinen am besten schüttelt. So siegt die industrielle
Fertigung auch auf der Wahrnehmungsseite. »Das ist Spitze«, sagen
die Leute und meinen: Gott, haben
wir gelacht.
Geld, das aller Beschreibung spottet, lässt sich nicht aufheben. Es
zirkuliert und rouliert, dass es eine Lust ist, eine Spott-Lust,
die den ganzen Körper erfasst und ihn den Gegebenheiten anpasst,
dass es eine Freude ist. Es passte auch alles, bliebe da nicht ein
winziges Häkchen, ein Wider-Häkchen, ein
Wieder-und-wieder-und-wider-Häkchen, das wispert und winselt, als
hätte es nicht an den Falten und Flusen genug, in die es verhakt
ist... – Hören Sie, können Sie nicht vernünftig mit uns reden? –
Warum nicht, man kann alles versuchen. Kein ›Nimm mich‹ erreicht
seinen Adressaten durchs Ohr, es geht nicht hinein, so als sei es
das Nadel-Öhr, und das Nimm-mich sei reich, was so nicht stimmt,
aber stets unterstellt wird. Der Reichtum des Spottgeldes kommt,
wenn er kommt, überraschend, ein flotter Segen, er flutet das Haus
und hinterlässt, wenn er geht, nur Gerümpel. Für ein Spottgeld tut
eine viel, sie lehnt sich über die Brüstung und lässt sich sehen.
»Das lässt sich doch sehen!« Sehr wohl, sehr gut. Für wieviel? Das
ist ein Geheimnis, ich verrate es Ihnen auf der Stelle. Wissen Sie,
maître, ich würde Ihnen mehr verraten, aber Sie sind zu
schnell. Man lässt sich sehen für
einen Unterschied. Das ist unser aller kleines Geheimnis,
wohlgehütet, der springende Punkt. Folgen Sie mir, folgen Sie mir
ruhig. Fragen Sie nicht, woher das Geld kommt, ich könnte es
Ihnen erzählen, die Quelle sprudelt, ein Traum. Das Spottgeld? Ach
ja. Dem Spottgeld genügt der Unterschied pur, deshalb gelingt ihm
der wahre Reichtum nie oder nur im Vorbeigehn, als Silberstreif.
Das Spottgeld ist die Reservewährung der Theorie.
Alle hundert Jahre erneuert sich diese Sprache, entledigt sich des
Bluts und des Grauens, unter deren Krusten sie fast erstickt wäre,
und beginnt zu flüstern, sie biegt sich, sie dehnt sich, es kommt
etwas in sie hinein, während draußen irgendein Fortschritt rasselt:
dieses Flüstern, wer schreibt es auf? Wer notiert die linden, die
lindernden Wirkungen einer Sprache, die doch kaum einer kennt, kaum
einer kennen kann, weil sie nur eben so im Entstehen... ›im
Entstehen erhascht‹, das ist ein angenehmes Wort, ein Wort von
großer Schönheit, wenn man es aus der Nähe erfährt. Aber diese
Sprache ist niemandes Sprache, die Eigentumsrechte, die geselligen
Rechte an ihr zerfallen zu Staub, sie zerfallen denen im Mund, die
lieber an ihnen ersticken als sie hergeben wollen. Sie zieht sich heraus – vielleicht ist
es das, was die guten Leute verunsichert. »Wir beherrschen unsere
Sprache nicht mehr«: mit diesem Schreckensruf reisen Kritiker durch
die Lande und versuchen ihre Klientel wachzurütteln. Das waren noch
Zeiten, als man mit ihr tun und lassen konnte, was man wollte.
Herrschaftszeiten, kein Zweifel. Die Sprache, der Fuchtel der
Herrschaften entschlüpft, geht diesseits des Geschreis und Gestöhns
ihres Wegs.
den Schwanz einkneifend: ein großes Motiv. Was ist ein großes
Motiv? Eines, an dem man sich gerne abarbeitet. Eines, bei dem man
gern hinsieht, wie es ein anderer behandelt hat. Eines, bei dem man
gleich weiß, dass alles Bemühen, ihm gerecht zu werden, auf jede
erdenkliche Weise zum Scheitern verurteilt ist. Ein Motiv also, dem
niemand gerecht wird: das wäre groß. Die Sprachchimäre ist groß,
denn ihr gerecht werden hieße sie auszurotten. Ganze Heerscharen
von Analytikern haben das versucht und man kann nicht sagen, ihre
Arbeit sei vergeblich gewesen. Sie haben das Unmögliche versucht,
ihre Namen sind eingetragen ins Buch der Rekorde, die Schulkinder
kratzen ihre Namen aus dem Gedächtnis hervor wie getrocknete Tinte
oder wie geronnenes Blut. Und immer fließt ein wenig nach. Das geht
nicht ab ohne priesterliche Nachhilfe. Die Lehrer ahnen das oder
ahnen es nicht, die Anstrengung der Vermittlung überdeckt beides.
Man lehrt Lösungen, ohne von der Aufgabe etwas wissen zu wollen.
Eine seltsame Algebra. ›Von der Bildwahrnehmung zur Sprachchimäre‹:
das ist so ein Witz, zu dem sich das Gelächter nicht einstellen
möchte, vermutlich weil es fürchtet, nicht auf seine Kosten zu
kommen.
›Es ist schade, dass meine Sprache untergeht.‹ So sprechen viele, und es ist die reine Gedankenlosigkeit, die aus ihrem Munde kommt. Denn eine Sprache geht nicht in Gedanken unter, sondern in Gedankenlosigkeit. Wenn also ihre Sprache, wie sie sagen, im Untergang begriffen ist, so sollten sie wissen, dass sich das verhängnisvolle Urteil in ihren leeren Gedankenhülsen verbirgt. Denn jeder Gedanke, der keiner ist, enthält ein Urteil, das sich gegen seinen Träger richtet. Solange einige gedankenlos plappern und andere nicht, wendet es sich bloß gegen den, der gerade spricht. Nimmt hingegen die Gedankenlosigkeit überhand, so wendet es sich irgendwann gegen den zweiten Träger, die Sprache, in der nichts von Belang mehr geschieht. Belanglos sein, belanglos werden: das ist, als gemeinsam zu bewältigende Aufgabe, das untrügliche Mittel, sich einer Sprache (samt den lästig gewordenen Forderungen, die sie stellt) zu entledigen.
Die Welt führt uns den Stoff zu und wir erstatten ihn ihr zurück – ein wenig veredelt, wie wir uns schmeicheln, aber vielleicht liegt da der Irrtum. Vielleicht sind wir, wie die Ökologen behaupten, Verderber der Stoffe, vielleicht heften sie sich deshalb an unsere Fersen und lassen nicht locker, bis sie pulverisiert, verbrannt, in die Luft gejagt oder auf unsäglichen stinkenden Halden ihre letzte Bleibe gefunden haben, weil das Verderben nicht erst uns, sondern bereits ihnen eingesenkt ist und sie nichts anderes mit sich anfangen können. Nein, die Welt will nicht bewahrt werden, auch nicht für künftige Geschlechter, weniger, weil sie keinen eigenen Willen besitzt, vielmehr, weil diese Prozesse zwar verlangsamt, aber nicht aufgehalten werden können. Mit ein wenig Überblick über die natürlichen Katastrophen, die das Leben generell bedrohen, wirken die ihm innewohnenden Verschlimmerungspotentiale wie Beschleuniger, so als stoße es sich in immer abstoßendere, also den Prozess auf Grund der in ihnen herrschenden Bedingungen intensivierende Regionen vorwärts. Natürlich sind die Bedürfnisse, die da agieren, z.B. das Menschentier, keine Frevler an der Schöpfung oder dergleichen, es sei denn, man versteht die Schöpfung von vornherein als kosmischen Ausnahmezustand, als ›unser prekäres Jetzt‹. Das kann man machen, es ist sogar sinnvoll, die Zeiten und Räume der Geologie, von denen der Astronomie ganz zu schweigen, lassen sich den eigenen Lebensabläufen nicht vermitteln. Schon der Begriff der Gattung sprengt das menschliche Vorstellungsvermögen. Allerdings zeigt sich niemand imstande, ihn abzuschütteln, man kann ihn nur nach Bedarf verkleinern. So ein kleiner Sprengkörper, geschickt deponiert, befördert das Bravsein – immer daran denken heißt soviel wie: nicht zuviel darüber nachdenken, um der Köpfe und ihrer Bedeckungen willen nicht zu Ende denken, die vorgesehenen Formeln herunterbeten, wenn es denn sein muss, ein Menschenbild haben. Haben Sie keins? Warten Sie, ich helfe Ihnen beim Suchen, gleich hinter der Tür links, da hängt es, Sie müssen es vielleicht umdrehen, das mag sein.
Der Sprayer von Köln hat zwei Ohren. Er verfügt auch über eine
Nase, aber die Ohren sind wichtiger. Sie verraten ihm alles, was er
braucht. Seine Kunst geht
durch das Gehör, so wie eine andere durch den Magen geht. Das
bedeutet nicht, dass man sich anhören müsste, was er auf die
Fassaden sprüht. Man würde auch nichts erlauschen, so sehr man sich
anstrengte. Seine Kunst ist der Lohn einer Gefahr, die nur durch
das Gehör wahrgenommen und bestanden werden kann, da die Augen mit
dem Herstellen des Werks befasst und vollständig ausgelastet sind.
Der Angst, erwischt oder
zumindest vorzeitig unterbrochen zu werden, lässt sich nur dadurch
begegnen, dass er ihre Ursachen – Bullen, denunziationswütige
Nachbarn, Hauswandbesitzer – dem allgegenwärtigen Verkehr
zuschlägt, sie förmlich in Verkehr verwandelt, den er als
trainierter Großstadtbewohner ständig über das Gehör kontrolliert.
Das Sprühen an fahrenden Zügen erschafft aus dieser zur Gewohnheit
gewordenen Not einen Sport. Die Konzentration auf das Werk wird
dezentriert und moduliert durch das stete Bewusstsein der Gefahr,
so als hätten die steinzeitlichen Höhlenmaler ihre Zeichnungen, auf
dem Rücken eines Bisons reitend, seinem bewegten Hintern zu
applizieren versucht.
Setze dich nie in die erste Reihe, es sei denn, es macht dir nichts aus. Was, es macht dir nichts aus? Dass du angespuckt wirst: es berührt dich nicht? Du verbuchst es unter Kontakt? Kontakt zu wem? Kontakt womit? Kontakt wofür? Wer unbedingt in Kontakt bleiben will, der setze sich ruhig in die erste Reihe – nur Geduld, schon stellt er sich her. Ein Tröpfchen ins Gesicht und du stehst bereits unter Strom. Das hat die Evolution so gewollt. Ein Lob der Evolution, die auf diese Weise Theater erschuf. Im Evolutionstheater wird immer der aufrechte Gang geprobt und immer misslingt die Probe. Das ist tragisch, das ist lustig, das nervt. Ein bisschen Feuchtigkeit kommt da gerade recht.
Jeder kennt den Hasen mit den acht Läufen, der sich auf der Flucht bei Bedarf auf den Rücken wirft, um das Tempo zu halten. Ein Trick, denkt sich so mancher unter seinen Verfolgern und dreht den Spieß um: »Warum nicht ich?« So hechelt das Gros der Medienschreiber hinter den Ereignissen her und wirft sich auf den Rücken, sobald ein aktuelleres seine Bahn quert. Hauptsache querfeldein und Hauptsache, das Gekläff lässt niemals nach. Vom Starkdeutsch zur Starkpresse – unter diesem Titel ließe sich bequem eine Geschichte des rennenden Journalismus verfassen. Sie müsste das ganze Gestampf, Gewieher, Gedröhn der großen Tiere einfangen, mit einem feinen Neben-Sinn für das monotone Eifern und Geifern der Meute. Hals über Kopf wechseln die Hassobjekte. Allein die Regierung bleibt inmitten des Treibens stets, was sie von Anfang an war: ideale Projektionsfläche für Liebedienerei, Wünsche, Anklagen, Verwünschungen – und zugleich Stichwortgeber in allen größeren Aufregungs-Szenarien. – Man kann über sie sagen, was man will, Presse ist brauchbar. Nörgler nennen es ›Gesinnungsjournalismus‹, aber ehrlich gesagt: Welche Gesinnung könnte es mit solchen Tischgenossen länger als drei Tage aushalten? Nein, was dem Gesinnungsjournalismus fehlt, ist gerade die Gesinnung, die ja mit der Besinnung einen nicht unerheblichen Wortteil teilt. Er ist eine der Agenturen der Besinnungslosigkeit, die zur Gesinnungslosigkeit treibt – dem Abgrund der Gesinnungslosigkeit, in dem mit der Gesetzmäßigkeit eines Uhrwerks verschwindet, wer sich allzu häufig seiner acht Läufe bediente, um nicht abgeschlagen hinterherzuwieseln. »Starkpresse sei wachsam«, könnte es demgemäß heißen, »wem die Stunde schlägt, dem schlägt sie auch hinterher.«
Im Yagir hat man die Frauen von ihrer biologischen Funktion entbunden und man stellt fest, dass sie verstärkt über Kopfschmerzen klagen. In diesem ›verstärkt‹ liegt die Crux, da verlässliche Vergleichsdaten fehlen. Was immer man vom Yagir halten möchte, es ist eine Experimentierbühne. Vieles von dem, was Gesellschaften wollen und sich im Ergebnis nicht leisten können, praktiziert man hier ohne viel Federlesens. Entsprechend spöttisch reagiert man auf Kommentare von außen. Yagiriten tragen den Kopf hoch, auch der Kopfschmerz will hoch getragen werden und ist kein Argument für oder gegen die Sache. Da man den metaphysischen Schmerz nicht kennt, dient der gemeine Kopfschmerz als legitimer Ausdruck dessen, was man nicht ändern kann, weil man an den Ursachen nichts ändern will. Was dem Kopfschmerz dient, dient der Sache: so oder ähnlich könnte die einschlägige Parole lauten. Die ›Modellierung des Körpers‹ zum Beispiel, diese Daueraufgabe der Schönen, die es nach mehr verlangt – mehr Schönheit, mehr Geld, mehr Gerechtigkeit –, hat man im Yagir mit großem Aufwand zur Perfektion gebracht. Jedenfalls behaupten das die Auguren, auch wenn der einfache Augenschein, in der Straßenbahn etwa oder im Flugzeug, den Gedanken nicht zwingend nahelegt. Die Entzauberung des Naheliegenden hingegen ist keine Parole, eher ein Anliegen, mit dessen praktischer Aufbereitung sich gutes Geld verdienen lässt. Viele lassen sich darauf ein, denen es nicht liegt, faul auf der Haut zu liegen und andere für sich aufkommen zu lassen. Will man wissen, was so jemand tut, bekommt man schnell das Gefühl, er weiß es selber nicht und steckt noch in der Erkundungsphase. Was liegt schon nahe? Man muss in allen Fernen zu Hause sein, um eine Ahnung davon zu bekommen. Auch dann liegt nichts weniger nahe als der Zauber der Nähe, der sich entfernt, wenn man seiner bedarf. Im Yagir jedenfalls macht man sich darüber Gedanken und mancher Ideenwettbewerb scheitert an zuviel Nähe. Nähe zu was? Hier ist der Staat gefragt, der zuviel Nähe nicht duldet. Was dann? »Nur das Recht«, murmelt der Patriarch, dem man die Hoden entfernt hat, auf dass er seine Funktion vorurteilslos erfülle, »nur das Recht.« Was er damit meint, ist schwer zu ergründen, der Gesetzgeber und die Juristen streiten sich wie die Kesselflicker, allein bei gehobenen Anlässen schreiten sie einvernehmlich zum Altar der Worte und laben sich an ihrer unvergesslichen Gestalt. Man hat Frauen gesehen, die bloß von Rechts wegen schwanger wurden, doch auch im Yagir sind sie die Ausnahme. Die meisten schlagen sich irgendwie durch und finden Wahnsinn, was sie mit Wahn schlägt.
Staatslügen sind, wie der Ausdruck bereits vermuten lässt,
Lügen, die von Staats wegen geglaubt werden müssen. Der Staat lügt
nicht, er kann nicht lügen, so wie er kein Unrecht begehen
kann. Schließlich stellt er nur fest, was Menschen behaupten, und
gießt es in Rechtsform. Das klingt paradox, aber es ist wahr. Hinter jeder Lüge steckt ein Mensch, das
sollte man niemals vergessen. Es stimmt auch dann, wenn alle Welt sie
verbreitet. Mit der Verbreitung der Lüge verbreitet sich auch die
Mär, sie sei eine Lüge, das ist unausweichlich, vor allem dann,
wenn der Staat sich einmischt, nur die Behauptung, alle, die sie
verbreiten, seien Lügner, führt meist in die Irre, weil dafür
Beweise fehlen. Eine verbreitete Lüge bleibt eine Lüge, aber sie
bedarf des Lügners nicht mehr. Ein Lügner weiß, dass er lügt, nur
der notorische Lügner ist sich da nicht ganz sicher, weil der
Wunsch, alles möge ein bisschen wahr sein, überwiegt. Aber
Menschen, aufrichtig bis auf die Knochen, die eine Lüge verbreiten,
weil sie allgemein ist und sie nicht glauben können, dass die
Allgemeinheit, das heißt der Nachbar links und der Nachbar rechts –
nicht zu vergessen die Zeitung, die sie beide lesen – lügt, solche
Menschen bleiben wahrhaftig auch und gerade dann, wenn sie Lügen
verbreiten. Sie sind die wahren Haupt‑ und Staatsbürger.
Mein Staat, da läuft vieles nebenher, aber ich sage nur: mein
Staat! Ich habe ihn nicht gekauft, das ist wahr, auch nicht geerbt,
obwohl wir da bereits näher dran sind, manchen wurde er eingegerbt,
mir hat er sich eingeschrieben, wie die Wissenschaft, die immer
hoffende, das vornehm ausdrückt, und es ist wahr. Er hat mich
schreiben gelehrt und mir gesagt, was ich schreiben soll, ich fand
die Schrift fix und fertig in mir vor, als ich schreiben gelernt
hatte und schreiben wollte, so dass ich nur abschreiben musste, was
da geschrieben stand. Dann verschwand er eine Weile von der
Bildfläche, er musste sich Jahrgängen zuwenden, die mit ihm große
Dispute führten und dabei sonderbar kreischten, sofern sie sich nicht
mit der Polizei prügelten, so dass für eine Weile der Eindruck
aufkommen konnte, der Staat sei die Polizei, jedenfalls in vorderster
Reihe. Der Eindruck war falsch, wie wir heute wissen. Aber er setzte
sich während einiger Jahre durch. Zu dieser Zeit hatte ich
frei. Die Schrift in mir … ich fand sie verblasst und undeutlich
und wandte mich anderen Gegenständen zu. Nur eine kurze Weile! Schon
bald begann ich zu suchen und die undeutlich gewordene Schrift in
meinem Inneren auf Papier zu fixieren, später auf anderen Trägern.
Ich fand das Undeutliche daran so viel spannender als das Deutliche,
dass ich fast vollständig auf seine Seite wechselte und sein Parteigänger wurde. Das Undeutliche
wurde mir Partei, so kann man es sagen. Schließlich fand ich es so
viel deutlicher als das Deutliche, dass ich immer dann froh wurde, wenn
ich mich ihm zuwenden konnte und das Deutliche den Unausgegorenen
überlassen konnte. Wie deutlich sie wurden! So lernte ich ganz von
allein, dass Deutlichsein und den Mitmenschen kujonieren ein und
dasselbe ist. Jedenfalls läuft es auf dasselbe hinaus. Als mir das
deutlich wurde, wurde ich kalt.
Wem sterbenslangweilig ist, wer sich verdrücken möchte, der, sollte
man annehmen, findet immer Mittel und Wege, seinen Abgang zu
organisieren. Aber weit gefehlt. Auch hier sind die Braven in der
Überzahl. Ohne staatliche Beratungsstellen geht nichts und solange
die Krankenkassen sich weigern, das letzte Selbstentleibungsmittel
zu finanzieren, wird die Lobby der Selbsttöter nicht ruhen, sie
wird die Bevölkerung gegen die Regierung aufzuwiegeln versuchen und
aktiven Wahlkampf betreiben. Ihre Spots sind die besten, was nur
deswegen nicht auffällt, weil sie unter die öffentlich-rechtliche
Zensur fallen und privat wollen sie nicht sein. Schließlich geht es
um ein Menschenrecht und die privaten Medien, die so gern alles
aufs Beihilfethema abstellen, wollen zwar an der Sache verdienen,
scheuen aber das Verdienst. Skandal! Der ärgste Feind der
Selbsttöter ist ihre Rate, die eine hässliche Spur durch die
offiziellen Statistiken zieht. Im Wettkampf der fortgeschrittenen
Industrienationen gäbe es manche, die sie eher mit Schuhwichse
überstreichen als mit einem Trauerschleifchen versehen würden.
Dabei hängt auch diese Bevölkerungsgruppe wie alle anderen am
Fortschritt, sie sähe sich so gern vorn und bliese mit Freuden ins
Horn der Reform. Wer etwas für sie täte, den würde sie zwei Dekaden
lang wählen; genug, um die Republik umzukrempeln und sie
zukunftsfest zu machen.
Dass Intellektuelle ihre Texte einander zum Lesen anbieten wie sauer Bier, bezeugt, was sie voneinander halten, nämlich nichts. Lieber sprechen sie über die Sterne am gemeinsamen Himmel und lesen aus ihnen heraus, was jeder sich ausgedacht hat, es sei denn, sie sind miteinander befreundet oder gehören zum gleichen Stall. Verleugnest du mich, so verleugne ich dich. So läuft das Spiel, das viele Verlierer kennt und nur Gewinner, auf welche die Zunft leicht verzichten könnte. Die intellektuelle Welt ist der Kosmos, nicht der Straßenverkehr, und jede Sternschnuppe wiegt leicht einen Passanten auf, der bei einem Glas Roten mancherlei Aufschluss verschaffen könnte.
Stich, Wort! Und nicht zu knapp. Nicht zwischen die Rippen,
Dummkopf, wer zum Herzen will, dem ist etwas zu Kopf gestiegen, er
hat einen Stich, er soll sich behandeln lassen. Alles, nur nicht
die Rippen. Ich kannte ein Wort, das sich nur zwischen Fußzehen
bewegte, es wollte von den Möglichkeiten nicht lassen, die sich in
dieser Region ergeben. Die Füße, verriet es mir, sind die
Marschierer des Geistes. Sie gehen keinem Gedanken nach, denn über
Gedanken wird weiter oben entschieden, darauf haben sie keinen
Einfluss, und bis sie zu ihnen herunter kommen, sind es keine
Gedanken mehr, sondern Impulse: ein wichtiger Unterschied, über den
wenig nachgedacht wird. Geist ist Impuls. »Weißt du«, verriet es
mir flüsternd, »die Gedankengeber sind alle tot, die Gedanken
Leichen, aber die Impulse, sie leben, aufgrund der Trägheit der
Masse, noch lange fort, sie sind erst zur Hälfte angekommen, sie
sind noch immer unterwegs!« »Und unterwegs sein –« versuchte ich zu
ergänzen – »ist menschlich«, flüsterte das Ungeheuer. »Sieh sie dir
an, diese Fleischgebirge, sie schleppen sich dahin, manche tänzeln
sogar, das sind die Perversen, die Mühen der Ebenen lieben sie sehr
und kommen sie einmal ins Gebirg, dann schnalzen sie mit der Zunge.
Wer da nicht zusticht, dem ist nicht zu helfen. In mir jedenfalls
zuckt es, ich kann nicht anders, ich stehe dazu.« »Willst du sie
aufhalten oder willst du, dass sie schneller laufen?« »Keins von
beiden. Ich will, dass sie zusammenzucken, am besten bei jedem
Schritt, ohne innezuhalten. Das macht sie mir weniger menschlich,
mehr... gedankenähnlich, wenn du verstehst, was ich meine.« »Nicht
wirklich.« »Sieh es einmal so: seit die Gedanken tot sind, glauben
die Menschen, dass sie sich befreit haben oder drauf und dran sind,
sich zu befreien, das geht schon geraume Zeit so, aber es ist nicht
wahr. Frei sind sie bloß in Gedanken, die Ebenen sind Gehege von
Ketten, eine länger als die andere, eine tückischer als die andere,
alle sind miteinander verhakt und schleppen sich wechselseitig
fort. Wen es ins Gebirge verschlägt, der fühlt sich ungebändigt,
aber das ist eine alte Geschichte und der Ausgang ist bekannt.«
»Frei ist nur die Tat. Aber lassen wir das. Und du meinst?«
»Natürlich meine ich. Sie gehorchen aufs Stichwort, das habe ich
mir immer gewünscht und es ist die Wahrheit. Ich bringe die
Verhältnisse zum Tanzen. Der Geist lebt in der Sohle. Hier und da
löst sie sich schon, sie ahnt den Schwindel und ist bewegt. Bald
werde ich ausschreiten, auf Schusters Rappen, ein Wort nur, aber
was will man mehr, bei dieser Herkunft.«
Mitten im Sacrificium der Stille erhebt sich die Schuld wie der
Baum der Erkenntnis. Nur durch die Stille erscheint sie allmächtig,
denn im Lärm ginge sie unter, weil die Seele Zustände
der Kunst, der Religion
und der Phantasie durch Lärm nicht empfangen kann. Das Getümmel der
Schlachten und die darin verübten Grausamkeiten sind in der
Geschichte der Schuld noch nie als Früchte des Lärms begriffen
worden. Hier liegt der gewünschte Grund des heute allgegenwärtigen
Lärms in schuldiger Zeit. Der zum Untergang stimulierte Teil der
Menschen überwiegt und verhindert durch seinen Lärm auf
scheinmusikalischen Veranstaltungen und Fußballplätzen die Existenz
der Empfindsamkeit.
Die Gestalt der Schuld gleicht heute dem Thanatos okupatia vom Schlachtfeld zu
Okupanthelios; überall lagen dort einst die gehörlosen Leichen und
stummen Mörder. Anhänger Stefan Georges bestimmten im Streben nach
Griechenlands Größe und Unschuld irrtümlich diesen Gott mit seinem
weit geöffneten Mund, den allzu männlichen Schultern und lächerlich
kleinen Ohren zum hohen Symbol der angeblich in Griechenland einst
für immer erloschenen Schuld. Maillol soll allerdings über den in
Paris gezeigten Entwurf gelacht haben.
Obwohl Schuld ja bekanntlich viel älter und greifbarer ist, gilt
heute alle Aufmerksamkeit einem Gespenst der Schuld, das, ohne
Gestalt, aus beschriebenen Papieren und Photographien besteht.
Schuld steckt nur noch schriftlich im Wesen der Gegenwart, als wäre
sie eine wissenschaftlich messbare Absonderung ihrer selbst, so
dass man in Anspielung an das große Wort Albrecht Dürers sagen
könnte: »...wer sie heraus kann reißen, der hat sie.« Daran denkt
aber wohlweislich niemand, so wie in den Zeiten der magischen
Apotheken sich kaum jemand getraut hat, unter dem Galgen Alraunen
zu rupfen. - PM
Im Streit der Mächtigen, warnt Gobo, habe ich keine Stimme. Warum mein Stimmchen im Chor der Ohnmächtigen verschleißen? Gobo hat recht, seine Stimme ist keinen Pfifferling wert. »Geh und kauf dir eine neue.« »Pass auf, dass sie dir nicht aus dem Mund fällt.« Das sind noch die netteren Sprüche. Dabei ist sein Gehör leidlich. Stimmenkauf, ja das kennt er, davon hat er gehört. Gern würde er sich seine Stimme abkaufen lassen, aber ihm fehlt die Kundschaft. Einen Stimmladen hat er schon eröffnet, mit Shop im Internet, bislang leider ohne Resonanz. »Stimmenkauf ist ein diskretes Geschäft«, flüstern die Freunde ihm zu – ein wohlgemeinter Rat, der, wie so viele, ins Leere geht. Gobo leidet an seiner Stimme. Jeden Tag bläht er sich mehr auf, brüllt, sobald sich ihm jemand auf zwanzig Schritt nähert, so lässt sich Diskretion nicht erreichen. Eigentlich besäße er, stimmlich betrachtet, die nötige Ausstattung von Natur. Nur das Flüstern sollte er lassen. Dabei flüstert er für sein Leben gern. Er würde das Universum zusammenschmeißen, nur um einmal nach Herzenslust flüstern zu dürfen. »Aber was hindert dich?« So redet sein Todfeind, der Versucher, der nichts unversucht lässt, ihn zu verderben. – Nichts hindert mich, flüstert Gobo, außer der Fresse. Ich weiß, wie sie zuckt, sobald ich zu flüstern beginne. Weißt du, wie das ist, wenn sich Unglaube über ein Gesicht breitet? Auch ich habe versucht, Flüsterparolen unter die Leute zu bringen, wie jedermann: Wie stehe ich heute da? – Der Gedanke beschäftigt ihn in einem fort. Dabei steht es nicht schlecht um ihn. Auch stimmt es nicht, dass keiner ihn hört. In Wirklichkeit ist sein Problem ein eingebildetes. Böte man ihm eine Stentorstimme zum Kauf, er wiese sie entrüstet zurück. ›Darum geht’s nicht.‹ Worum dann?
Goethe verstand sein Dasein als Pyramide, Proust verwandte seines
auf den Bau einer Kathedrale. Und wirklich haftet der einen Person
etwas Mumienhaftes, der anderen die Aura des Heiligen an. Aus ihren
Schriften kommt einem zweierlei Lebendigkeit entgegen. Wo immer man
die Recherche aufschlägt,
trifft man auf diesen ruhigen, stetigen, überaus gegenwärtigen
Intellekt, es ist, als schlüge man das Buch noch einmal auf und
befinde sich in der unwandelbaren Mitte eines Denkens, das, im
Begriff, gleichzeitig nach allen Richtungen auszugreifen, sich
immer wieder für die eine, immaterielle Richtung entscheidet, die
es in eine ebenso knisternde wie flüchtige Sinnlichkeit
einzuwickeln weiß wie in Zellophan. Blickt man in den Faust, so ist die Empfindung der
Gegenwart eher stärker. Aber es ist nicht die eines Intellekts,
sondern die eines Wesens, das Stoffe umschlägt, vergleichbar
vielleicht einem antiken Handelsplatz. Unter ebenso raschen wie
würdevollen Bewegungen, von kleinen Gesten bis zur großen
emotionsgeladenen Darbietung, wechseln die Stoffe ihren Besitzer
und man kann sicher sein, dass hier der Prozess der Veredelung, der
Verfeinerung und Sublimierung nicht nur unaufhörlich seinen Gang
nimmt, sondern eine ganz ungewöhnliche Steigerung erfährt, so dass,
nähme man diesen Platz aus dem System des Welthandels heraus, dem
Universum ein paar wesentliche Ingredienzien fehlen würden. Das
sind die beiden lebendigsten Weltpunkte, die Europa hervorgebracht
hat. Fragt sich, ob ein dritter denkbar ist und wie er aussehen
könnte. Viele haben sich an der Halle des Volkes versucht und sich
dabei verhoben: in diesem Für
andere scheint ein irreparabler Fehler zu liegen. Niemand,
außer einem Schwachkopf, ist für sich selbst, man sollte
unauffällig für andere sein.
Im Stolperhaus bist du zu Hause oder verloren. Etwas Drittes gibt es nicht. Im Stolperhaus hat der Dritte verloren, er könnte nach Hause gehen, gäbe es das, denn hier ist seine Gegenwart nicht erwünscht. Man behandelt ihn, wie der Volksmund sagt, als sei er Luft. Doch das Bild leitet die Auffassung fehl, denn wäre er Luft, so würde er eingeatmet und wäre wieder im Spiel. Natürlich geht es ums Spiel, immer und immer wieder nur ums Spiel, und da stört dieser. Aus welchem Grund? Das ist schwer zu sagen, am besten hüllt man sich in ein Gewand aus Schweigen, als sei es zu kalt, um Tacheles zu reden und die Folgen zu tragen. Die Folgen... ja, die Folgen. Aber lassen wir das, es kommt nichts dabei heraus. Der Dritte, nun, er ist ja nicht irgendwer, er ist keine bloße Annahme, kein Postulat oder Schemen, er ist vorhanden wie du und ich, so wahr mir... Keine falschen Beteuerungen! Immerhin: es ist seine wirkliche Gegenwart, die bedrückt. Er könnte bleiben, nur seine Gegenwart... müsste... müsste...
– Eine willkürlich ausgeschlossene Gegenwart: Wussten Sie, dass es so etwas gibt? Nein? Da sind Sie aber ganz schön naiv. Wer sind Sie überhaupt? Wie kommen Sie hier herein? Hat Ihnen jemand aufgemacht? Was hat Sie bewogen, Ihre Meinung zum Besten zu geben? Sie kennen die Regeln nicht, könnte das sein? Stattdessen bewegen Sie sich, als brächten Sie einen Satz eigener mit! Nein, schlimmer: als wüssten Sie nicht, dass Regeln nötig sind. Scheren Sie sich zum Teufel! Tut mir leid, aber so läuft das Programm. Und nun habe ich mich genügend mit Ihnen beschäftigt, lassen Sie mich in Ruhe. Was ich damit sagen wollte: Sie sind nicht dran. Sie leben in der Vergangenheit, was denken Sie, wer Sie sind, vielleicht gehört Ihnen die Zukunft, das kann ich nicht beurteilen, in meiner Gegenwart haben Sie nichts zu melden. Unter uns: Machen Sie sich nichts draus. Das hier geht bald zu Ende, dann sind Sie dran, Sie haben doch jetzt schon die besseren Karten. Nein, rühren Sie nichts an! Um Himmels willen, rühren Sie jetzt nichts an. Ich sehe doch, wie Sie leiden, aber ich sehe hier keine Zukunft für Sie. Im Ernst, wenn Sie etwas für sich tun wollen, machen Sie die Tür zu, aber leise, von außen. –
Wer nicht dran ist, der stolpert leicht, das geht ganz natürlich. Falls es Aufsehen erregt, dann liegt das am Stolperer. Schließlich ist er es, der sein Leben verstolpert. Die anderen können nichts dafür. Auch sind sie schon weiter, sie haben die Sekunde genutzt, in der dieser zu Boden ging, um weiterzukommen. Wer soll jetzt noch begreifen, was da geschah? Kein Hindernis weit und breit, ein verstolpertes Leben wiegt wenig mehr als eine Feder. Schon schwebt es dahin.
Wer von Wasserwerfern getauft wurde, dessen Christentum gebärdet sich anders als das eines braven Katecheten. Aber ist es auch anders? Der Gewalt weichen, sich von ihr scheuchen lassen, aber unter Protest, bezeugt mindestens Nähe: man geht an sie heran, man geht sie an, man will, dass sie reagiert, um Opfer zu sein, nicht bloßes Opfer, sondern, auf lange Sicht, Sieger. Man glaubt, dass Macht sich irgendwann erschöpft, wenn man sie lang genug reizt, man glaubt, man könne sie aus- und erschöpfen, als seien ihre Vorräte endlich und die eigenen unerschöpflich. Was ist das anderes als das ›Wesen des Christentums‹ im Gewand des Straßentheaters? Und nicht nur das. Es funktioniert als ein Fanatismus neben und über den anderen, eine Sturheit im Glauben, die vermutlich erst mit den monotheistischen Religionen in die Welt kam und in ihnen ihren angestammten Sitz hat. Alle nicht-monotheistischen Religionen sind gezwungen, durch die Finger zu sehen. Nur diese nicht, ihre Wirklichkeitskonstruktion ist abgedichtet gegen die Zumutungen der Lebenswelt, sie ist kämpferisch. Dennoch müssen auch fromme Menschen ihren Tribut an die Notdurft entrichten, sie tun es unter rituellem Vorbehalt und in der Hoffnung darauf, ein besseres Leben nehme ihnen diese Verlegenheit ab. Wer den Monotheismus heute vergleichend studieren will, muss seine Weisen vergleichen, die Straße zu okkupieren. Von ihnen führt ein direkter Weg zu den Herzen, direkter jedenfalls als von den Verlautbarungen ihrer offiziellen Vertreter.
Die Menschen strecken sich nach dem Wunder und sie zerbrechen daran. Was erwarten sie? Dass ihnen alles nach Wunsch läuft? Natürlich nicht. Der Wunsch läuft vorneweg und duldet nicht, dass ihm einer folgt. Unendlichkeit? Was ist das? Ein schreckliches undundund ohne Ende? Von der Unendlichkeit blieb: die unendliche Trauer. Nein, die Menschen erwarten nichts, sie strecken sich nur. Wer hinter jedem gestreckten Hals ein Geschäft wittert, hat sie bald im Sack.
ist der lohnende Versuch, eine Straße dadurch begehbar zu machen,
dass man sie fest in den Blick nimmt. Wem diese Definition zu
schwierig oder zu abartig erscheint, der möge einen Blick aus dem
Fenster werfen und eine Zeitlang die gegenüberliegende Straßenseite
ins Auge fassen: Was bitte, macht den dazwischenliegenden Raum so
schwierig? Er ist nicht wirklich, der Blick ist augenblicklich in
ihm versunken, untergegangen, und die so hart erkämpfte Fassung
rahmt schon das unerreichbare Gegenüber. Deshalb: hübsch in den Blick nehmen, Kindchen, was ihr
begehrt, ihn nicht loslassen derweil, so ein losgelassener
Blick kehrt nie wieder zurück.
Das Reptil, stundenlang in der flirrenden Hitze ein Opfer belauernd, verfehlt sein Ziel knapp. Schuld daran ist der Streuwinkel. Nicht, dass es ihn nicht kennen würde, nicht, dass es auf ihn nicht eingestellt wäre. Darum geht es nicht. Nicht eingestellt ist es auf die Schwankungen, denen er unterliegt. Bedürfte es der Hilfe der Wissenschaft, um zu überleben, dann müsste es eine Wissenschaft von den Schwankungen sein, denen optische Täuschungen ausgesetzt sind. Sie bilden eine echte Gefahr, vielleicht die einzige, mit der die Täuschungen rechnen müssen, wenn sie sich einen festen Platz in der Wahrnehmung erobert haben. Täuschung funktioniert nicht eo ipso, sondern nur in einem Fluidum, auf das Verlass ist, aber nicht zu sehr. Wer sich verlässt, der wird verlassen. Wer sich nicht verlässt,
kommt vor lauter Maßnahmen nicht aus sich heraus. Das ist für den Einzelnen gesagt, in der Gesellschaft kehrt es sich um. Die Gesellschaft kennt das Glück der Maßnahme, die für sich selbst bürgt. Der Streuwinkel, als moralische Anstalt betrachtet, als Theater der Verfehlungen, folgt, die Auguren wissen es, den Gesetzen der Ablenkung, die für jedes Medium extra bestimmt werden müssen. So bewegt sich das Phänomen in engen praktischen, aber weiten theoretischen Grenzen. Manches, was dem bloßen Auge eng beieinander liegt, erweist sich als unvergleichlich, anderes, als gleichartig beschrieben, macht in der Praxis einen gewaltigen Unterschied – in der Praxis, also einen geringen, alles entscheidenden. Ein knapp verfehltes Ziel bleibt ein verfehltes, selbst wenn die Leistung des Schützen
als bewundernswert gilt. Ein knapp verfehltes Lebensziel – nicht auszudenken, unauslotbar das Ganze, der reine Horror. Da bleibt es besser, keines zu haben, locker zu bleiben und mitzustreuen. Streut, meine Lieben, streut, was das Zeug hält! Bleibt unerreichbar! Der Rest wird sich finden. Und fände er sich nicht, so fände sich ein anderer, immer ein anderer. So darbt man sich reich. Das ist, aufs Universum der Ablenkungen hochgerechnet, nur konsequent und letzten Endes nicht übel.
Wo es Spitzbuben gibt, muss es auch Stumpfbuben geben, und siehe, es gibt sie wirklich. Die Stumpfbuben gehen den Spitzbuben zur Hand, meist ohne es zu bemerken. Doch es gibt auch enthusiastische Handlanger, die davon träumen, selbst die größten Spitzbuben zu sein oder zu werden. Die größten Spitzbuben sind wiederum die, welche die meisten Stumpfbuben zum Besten haben. Generell erkennt man die Stumpfbuben an ihrem Verhältnis zu den Spitzbuben. Ohne sie wüssten sie nichts mit sich anzufangen und sie beginnen sich zu langweilen, wenn nicht irgendwo eine Schweinerei im Gange ist. »Das ist eine Schweinerei!« sagen sie und bemerken nicht, dass sie mittendrin stecken. Dafür werden sie von den Spitzbuben verlacht, aber nur heimlich. Nach außen sind sie die höflichsten Leute, sobald ein Stumpfbube den Laden betritt. »Bezahlt wird später!« säuseln sie und entblößen dazu ihre Zähne. Kein Wunder, dass so ein Stumpfbube denkt, ihm gehört die Welt, wenn er nur ordentlich Anspruch darauf erhebt. Die Welt hat schon vielen gehört, bloß die Stumpfbuben sind immer leer ausgegangen und so wird es bleiben in alle Ewigkeit Amen.
Was einen im Traum verfolgt, macht die Wege bei Tag dunkel. So
weit, so gut, doch: Was heißt hier Verfolgung? Wir deponieren da
etwas in der Sprache, was sich nicht lösen will. Das Nachgehen hat
einen üblen Leumund, man fühlt sich rasch verfolgt, soll heißen,
man bekommt es mit der Angst
zu tun, zumindest mit einer Beklommenheit, die weder weiß noch
wissen will, ob der andere zuschlagen oder nach der Zeit fragen
möchte. Vielleicht ist es die Zeit, die dem Nachgeher im Gesicht
steht, aber er kann sie nicht entziffern. Entziffere mich, drängt
der Nachgeher, doch wir gehen schneller und meiden den Anblick
seines Gesichts. So kann einem eine Villa nachgehen,
freskengeschmückt, aber vergebens, weil der Geist, der ihr entströmt, den Blick
zurück nicht erlaubt. Man könnte ihn über die Schulter werfen, fast
wie eine Sommerjacke oder eine Umhängetasche. Stattdessen
beschleunigt man den Schritt. Ein Überlebensinstinkt gibt das ein,
der von fremden Erfahrungen spricht. Eigentlich spricht er nicht.
Er drängt und wir lassen uns drängen. Einmal, in einer
Seitenstraße, fasst er zu.
Nein, kein Sturm weht vom Paradies her über die Trümmerwüsten der
Vergangenheit. Kein Engel fängt diesen Sturm auf und wird von ihm
rücklings in die Zukunft geweht. Eher schon lässt ein wanderndes
Vakuum alles Ferne nah und alles Nahe fern erscheinen. Aber auch
das ist nur ein müßiges Spiel von Metaphern, die nichts zu greifen
und nichts zu beißen bekommen. Das Vergangene reißt den Handelnden
zu sich heran und sprengt ihn in Fernen, die er planend
verkennt. Es durchläuft mich eisig, wenn ich sehe, was alles
geschehen ist. Ich bin schon weg, auf einem anderen Stern. Es
durchläuft mich anders,
wenn ich sehe, was alles hätte geschehen können. Schon bin ich
interessiert, schon bin ich bereit fortzuschreiben. Eine Geschichte
verpasster Gelegenheiten ist Sache von Leuten, die einander
vorgaukeln, die Geschichte rechtfertige ihr Tun.
Alles, was Menschen erdacht haben, existiert zweimal: als Original- und als Stussversion, jedenfalls dann, wenn Existenz und Umlauf ineins gesetzt werden. Dabei verdankt das Original seinen Ruhm – manche sagen: seine Bedeutung – nicht selten der Stussversion, die weiter herumkommt, da sie den Vorteil höherer Eingängigkeit besitzt. ›Eingängigkeit‹ ist ein seltsames Wort, es suggeriert Eingänge, wo keiner sie vermuten würde, zum Beispiel im Kopf, nicht etwa am Kopf, wo jeder sie sehen kann. Vorsicht Ansteckung! – dass Gedanken ansteckend sind, kann jeder bestätigen, der einmal versucht hat, einen nachzudenken. Die Wege der Ansteckung sind im Grundsatz bekannt, im dichten Verkehr hingegen unüberschaubar, so dass ein durchschnittlicher Kopf viele Gedanken birgt, die in ihm nichts zu suchen haben und nur Durcheinander stiften. Das macht aber nichts, denn in der Regel handelt es sich um Stussversionen, die hinten und vorne nicht halten, was sie versprechen. Oder vielleicht doch? Vielleicht sind sie die einzigen, die überhaupt Versprechungen machen, das wäre dann der Kern ihrer Eingängigkeit. Wie dem auch sei, die Stussversion ist ein Siegertyp, sie kommt überall durch und erfreut das kindliche Gemüt. Mit einem Wort: sie ist nobelpreisfähig. Vor allem die ›Friedensnobelpreis‹ genannte Auszeichnung profitiert davon sehr: Friedensstuss, Absonderung auf hohem Akklamationsniveau, siehe →Stussversion.
Die Menschen fühlen so lange subversiv, bis etwas geschieht, dann
lassen sie’s. Dieses Lassen ist wie ein großes Aufbäumen, das dem
Ertrinken geschuldet ist. Es ändert nichts am Resultat. Unter den
Lehrern der Subversion finden sich wahre Unfassbarkeitsmagier, sie
arbeiten mit Versatzstücken. Leider bekommt das ewige Versetzen den
Apparaten nicht und sie versagen häufig den Dienst. Das muss einer
wissen, bevor ihn der Glauben an eine Sendung befällt, als handelte
es sich um die Mandeln oder den Blinddarm. Für Unternehmer stellt
der Subversionsstau eine reale Gefahr dar: Investitionen, auf die
man sicher gerechnet hat, können nicht abfließen und auf
öffentlichen Plätzen verfaulen die Gesinnnungen. Ein X und ein U in
einem Kreis macht unter Eingeweihten die darüber gebreiteten
Planen kenntlich. Sie sollen die Blicke der Allgemeinheit ablenken,
die so oder so Bescheid weiß und mangels Kopfbedeckung nicht einmal
den Hut zieht, geschweige denn Schlüsse. Der Subversionsstau und
das Bescheidwissen verhalten sich zueinander wie, sagen wir, der
Mond zum Mount Everest. Sie unterhalten einen vagen Kontakt.
Bezeichnenderweise bleibt sein Inhalt geheim. ›Einen Blick
hinaufwerfen‹ – das ist eines der Rätselwörter des Planeten, durch
keinen Sprachwechsel zu bannen. Werfen wir einen Blick hinauf: der
Subvertierte läuft unter einem großen Geschick, das nicht das seine
ist, man könnte meinen, er habe keines.
Selbstmord begangen haben und nichts davon wissen…
– wir wissen nicht, wie die Toten mit diesem Befund umgehen, und
werden es, als noch Lebende, niemals wissen. Was wir wissen können,
beschränkt sich auf den Selbstmord großer Gemeinschaften, deren
Angehörige, selbst in Gemeinschaft, munter weiter zu leben pflegen
(abgesehen natürlich von denen, die ›dran glauben‹ mussten, wie
der Volksmund das nennt). Aber was wissen wir schon? Die großen
Ereignisse gehen nicht an uns vorbei, sie gehen durch uns hindurch
und wir merken nichts davon. Was so nicht richtig ist. Wir
merken es schon. Nur die anderen merken nichts, deswegen heißen sie
auch die Anderen. Sie ändern nicht, sie andern. Ich fand
dieses Wort, wie sollte es anders sein, bei einem anderen, dessen
Anderssein mich erst verblüffte und später das Fürchten lehrte.
So, in der Furcht des Herrn, der sich nicht offenbarte, jedenfalls
nicht richtig, nicht so, dass ich ihn verstanden hätte, verstand ich
die Welt nicht mehr, vielmehr, ich verstand sie durch und durch, bis
zur Fadenscheinigkeit, worauf ich sie aufhob. Man muss das
Fadenscheinige aufheben, wussten Sie das? Gemeinschaften sind
Selbstmörder im Freigang. Sie laufen, was das Zeug hält, in den
Untergang, aber sie sehen ihn nicht, sie fühlen ihn nicht, sie
schmecken ihn nicht und sie hören nichts. Sie haben kein Organ für
ihn. Niemand sieht ihn. Deshalb weiß auch keiner, wann sie ihn
hinter sich haben und bereits andere sind. Sie denken, sie haben
Zeit, sich neu zu organisieren oder ›aufzustellen‹. Dabei ist
ihnen die Zeit längst davongelaufen und pflegt den Blick zurück im
Zorn.
Glücklich das Land, in dem es genügt, »Scheiße!« zu murmeln und die Augen zu verdrehen, um als ›wichtiger Autor‹ in die Literaturgeschichte der Gegenwart einzugehen. So ein Glücksfall war die BRD der siebziger Jahre, was unter anderem dazu geführt hat, dass eine ältere Generation Tränen lacht, wenn ihr wieder einmal ein Bändchen des Schriftstellers Achternbusch in die Hände fällt, während die Jungen betreten zur Seite sehen. Eine Spezialität jener Zeit ist die Klasse der sonderbaren Genies, in denen die Vergangenheit ein bisschen lauter wütete als die Gegenwart, die sich so wütend der Vergangenheit gegenüber gebärdete. Nach und nach verwandelten sie sich in (fast) Unberührbare. So der Regisseur Syberberg, in dem das Selbstdenken sich zur nekrophilen Beschäftigung auswuchs und damit wieder preiswürdig wurde. In jeder großen Oper liegt die Tendenz zur Seifenoper, es muss nur der Künstler kommen, der sie herausreißt. Dieser vermochte viel, mehr vermag die Zeit, in der alles verkommt.
Gesellschaft läuft in symbiotische Lebensformen aus, die
zuverlässig verhindern, dass derjenige, der sich in sie begibt
(besser: von ihnen umfangen wird), einen Weltbegriff bildet. Der
Zerfall tritt dort ein, wo man versäumt, den schlichten Gemütern,
den Harmonie- und Anlehnungsbedürftigen, den Antriebsarmen,
sexuell Abhängigen und Erfolglosen, den notorischen
Familienmenschen, den Trennungsopfern, den Zukurzgekommenen, den
beruflich Gescheiterten und Versagern ein Gesicht zu geben, durch
das sie unbehelligt und mit einer Miene, die besagt, dass sie das
und das und damit als die anerkannt sind, die sie nun einmal sind,
auf die Welt blicken und vor ihr bestehen können. Der symbiotische
Mensch hat keine Vorstellung von der Welt, er tritt ihr nicht
gegenüber, wie er nun einmal ist, weil die Gesellschaft sie ihm
verstellt – dieselbe Gesellschaft, in die er auf keine Weise
hineinkommt, es sei denn als Objekt oder als Opfer. Und dennoch
lebt er in ihr dank Mimesis und Osmose, in Nahverhältnissen, in
denen er sich mittels dosierter Aggression, mittels banaler und
zumeist unerfreulicher ›Spielchen‹ orientiert. Vielleicht kennt er
die Regeln nicht, die für ihn gelten und ihn betreffen, vielleicht will er sie
nicht respektieren, vielleicht kämpft er gegen sie an und
reklamiert andere, die in den Teilen der Gesellschaft gelten, zu
denen er nicht zugelassen ist. Er sagt ›Gesellschaft‹ mit einem
bitteren Unterton und meint ›Welt‹: die Gesamtheit der
Verhältnisse, in denen er steht und denen er nicht ausweichen kann.
Die Verwechslung von Gesellschaft und Welt ist gefährlich, wie die
Welt der Gemobbten zeigt. Wer Welt nur noch als kollektive
Aggression zu empfinden und begreifen vermag, der ist wahrhaft
gescheitert, er hat die Person dahingegeben – für ein
Linsengericht, das man ihm jetzt vorenthält.
Man wird auch einmal dem Gedanken näher treten, dass es eine
bildnerische Syntax ebenso wenig gibt wie die oft beschriebene und
an Akademien gelehrte Bildlogik. Und das ist nicht verwunderlich.
Die Syntax gehört zur Sprache wie die Logik zum Denken. Man denkt
nicht in Bildern, man denkt mit Hilfe von Bildern, man denkt an
ihnen entlang, man durchdenkt sie und man denkt – vielleicht – über
sie nach. Allerdings lässt sich dieser Sachverhalt beinahe nach
Belieben dadurch kaschieren, dass man mit hehrer Stirn von anderem
redet – zum Beispiel von der Gesellschaft, der Politik, der
Grausamkeit und dem Verbrechen. So geboten es ist, von diesen
Dingen zu reden, so sicher schlägt irgendwann die Erkenntnis durch,
dass es sich dabei um einen Trick handelt, der einen davon abhält,
sich mit den Bildern zu befassen. »Ich betrachte meine Kunst als
erfolgreich, wenn sie die Betrachter dazu zwingt, sich über
Grausamkeit und Folter Gedanken zu machen.« Der Standardsatz des
Betriebs stammt von Künstlern, welche einmal von Leuten geprügelt
wurden, die mit Sprüchen dieser Art der Kultur den Garaus
machen wollten, und von Nicht-Künstlern, die auf billige Weise
davon ablenken wollen, dass auf ihren Bildern nichts zu sehen ist.
Wer sich über Grausamkeit und Folter Gedanken macht, wartet nicht
darauf, dass die Museen ihre Pforten öffnen, er bedarf auch keiner
Documenta. Wer sich keine Gedanken macht, ist immerhin geübt genug,
die Stirn in Falten zu legen und vage vor sich hin zu assoziieren,
wenn die gesellschaftliche Konvention es erfordert. Man könnte ihm
Prügel androhen für den Fall, dass er dafür nach Kunst verlangt.
Wenn es ein System gibt – die Auguren sind sich in diesem Punkt
nicht einig, aber darauf kommen wir später –, dann kann es
nur ein System unendlicher Manipulation sein. Daraus folgt aber, dass
es selbst unentwegt manipuliert wird und dadurch seinen
Systemcharakter zwar nicht verliert, aber täglich wechselt: was
gestern noch unabdingbar schien, ist heute entbehrlich oder schon
vergessen, das gestern Undenkbare ist heute das allseits Erwartete
oder bereits Realität, ohne dass ein Hahn danach krähte. Unter den
Verteidigern des Systems gibt es immer welche, die eine klare
Vorstellung davon haben, wie es funktioniert, und andere, die es
sicherheitshalber in Anführungszeichen setzen und vor dem Gebrauch
des Wortes warnen, als enthalte es bereits alle Zeichen des Aufruhrs.
Auch werden Systeme nie von oben nach unten, sondern stets von unten
nach oben konstruiert. Die simpelste Form des Systems ist die
einfache Rückkopplung. Der Teufel scheißt immer auf den größten
Haufen: Da habt ihr euer System, das Ur-System, vergleichbar dem
mittlerweile verworfenen Urmeter oder dem nach wie vor gültigen
Urlaub als Maß aller Dinge. Deshalb werden Systeme auch erst dann
interessant, wenn jemand sie ändern will, indem er hinter das
Ursystem die vier Wörter setzt: Das muss sich ändern. Es
ändert sich aber nicht, vornehmlich deshalb, weil der Teufel keine
Person ist, sondern das Prinzip, dessen bajuwarische Fassung
bekanntlich lautet: Wer ko, der ko. Das heißt nun nicht, dass
es keine unterschiedlichen Systeme gäbe, ganz im Gegenteil – auch
den Urmeter gab es bloß deshalb, weil es bequem ist, Meter an Meter
zu heften und irgendwann in Kilometern weiter zu rechnen oder in
Lichtjahren. So ist es bequem, Eigentum in Enteignungen zu rechnen,
bequemer jedenfalls, als es direkt zu stehlen, überdies
systemkonformer, da Enteignung und Aneignung die Elementarform
menschlichen Handels und Wandels bilden und damit das Ursystem nicht
unbeträchtlich konkretisieren. Dumm nur, dass Systeme – voll
ausgebildete, politisch notifizierte – zwar von unten nach oben
konstruiert, aber von oben nach unten installiert
werden: im dümmeren Fall durch schlichte Gewalt, im klügeren durch
Recht und Gesetz. Denn da das konstruierte nur durch eine Art von
intellektuellem Kurzschluss die oberste Ebene erreicht (in praxi noch
immer unerreicht: das Hegelsche Absolute, in dem alle Widersprüche
aufgehoben und mit sich versöhnt sind), zieht sich der Kurzschluss
von oben nach unten durch alle Ebenen durch und kommt als
Systemdummheit, auch Arroganz der Macht oder Politikerwahn genannt,
auf der untersten an. Mag sein, erst dort, weil auf den mittleren
Ebenen die Möglichkeiten der Manipulation vielfältiger sind und
gern genutzt werden. Schließlich fällt immer etwas für den
systemkonformen Einzelnen ab, der es entrüstet von sich weisen
würde, als Schwindler zu gelten. Nein, sie schwindeln nicht, die
Stützen des Systems. Doch hin und wieder wird ihnen schwindlig, dann
lauschen sie beifällig den politischen Schwindlern, die sie im
wirklichen Leben verachten würden, und geben ihnen sogar ihre Stimme
– nicht die ganze, bewahre, aber doch ein Stückchen davon, das sie
immer in der Tasche stecken haben, weil sie denken, es ist besser,
den Hund zu füttern, als sich eine neue Hose kaufen zu müssen.
Die großen Gesten der Moderne ähneln dem Wettrennen nach dem Mond: es waren Systemgesten, unabdingbar, notwendig bei großer Not, vorgetragen mit einem Elan ohnegleichen, ohne Rücksicht, ohne Vorsicht oder doch nur mit planverträglichen Dosen davon, im Ergebnis erfolgreich, aber zu teuer und zu billig, um eine Industrie daraus zu machen. Die entstandene Industrie heißt ›erdnahe Raumfahrt‹ und arbeitet mit Simulationen, daneben testet sie Stoffe und Menschen für den täglichen Einsatz. – Was bedeutet das? – Durchbrüche, mein Lieber, sind das, wofür die Menschen sie halten: sie lassen das Alte eng erscheinen und das Neue reizlos. Anders gesagt: der Reiz des Neuen ist das Neue und die Wiederholung ist schneller ausgereizt als der Zustand davor, der sich in eine Art Utopie verwandelt: Hier stand Omas Sofa und dort ihre Anrichte: süß! Nicht nur dem wirklich Neuen laufen die Kosten davon, auch die Wiederholung dessen, was schon einmal die Welt verblüffte, lässt sich praktisch nicht durchsetzen, weil die Kosten zwar kalkulierbar, aber nicht mehr verträglich erscheinen. – Du meinst -? – Ich meine nichts. Von der bemannten Mondfahrt blieben: ein zerknitterter Anzug in einem Museum, dazu seitenweise Demonstrationen im Internet, sie habe nie stattgefunden und die Bilder, die berühmten Bilder, seien in einem Hollywood-Studio entstanden. – Aber das ist Unfug. – Menschlicher Unfug. Wenn erst die Museen Platz schaffen für die Kunst des einundzwanzigsten Jahrhunderts, dann werden bleiben: eine ramponierte Brillo-Box, der ein Idiot das Geheimnis mit einem Golfschläger zu entreißen versuchte, und seitenweise Argwohn im Internet, die Kunst habe nie darin Platz gefunden. – Das hältst du für denkbar? – Selbstverständlich. Auch du, Brutus. Du solltest dir an den Kopf fassen und dich fragen: was geht hier vor?
Man hat dir diese Scham eingepflanzt, ohne einen Gedanken darauf zu verwenden, was man damit anrichtet, wahrscheinlich, ohne diesen Akt selbst zur Kenntnis zu nehmen, wahrscheinlich sogar, ohne es zu wollen, absichtslos, hinterrücks: die Scham, der zu sein, der du bist, ohne Füllung, ohne Substanz, in einem Akt tückischer Übelnehmerei, die nichts bedeutet hat. Vor allem letzteres, dass es nichts bedeutet, dass es niemals etwas bedeutet hat, richtet die Scham aus. Jeder Windhauch reicht aus, dich zu treffen und trifft dich auch. Jeder? Natürlich nicht. Aber wer spricht vom Windhauch. Was einen anweht, verrät nicht unbedingt sein Woher, und wenn, dann in der Regel zu spät. Das Wissen, woher der Wind weht, gibt dir die Fassung zurück, auch wenn es kein Wissen ist, sondern bloß eine Vermutung. Vermuten heißt gegenhalten. Auch du bist ein Gegenstand von Vermutungen, der Widerstand gegen dich ist längst unterwegs, wenn du das Bett verlässt, und du weißt es. Du hast aufgegeben, sie entkräften zu wollen, es sind ihrer zu viele, auch wenn sich die Zahl, wenn man auf die Inhalte sieht, stark reduziert. Aber es sind ja Vermutungen und jede besitzt einen Träger, es sind seine Vermutungen und jede Entkräftung entkräftet auch ihn ein Stück, so weit lässt er’s nicht kommen. Die vermutete Vermutung, der auf keine Weise beizukommen ist, nährt deine Scham.
Diese Scham ist das öffentliche Wesen.
Die nackteste aller Kanonen trägt der Scharfschwitzer. Er darf sie nicht
ablegen, denn darunter hat er, wie darüber, nichts an. Auch darf er sie, bei
Gefahr für Leib und Leben, nicht benützen, es sei denn, es überkommt ihn ein
Auftrag, so wie man sagt: Es hat mich überkommen, da kann man nichts machen. Wenn
es Scharfschwitzer überkommt, strömt der Schweiß, als kenne er keinen anderen
Ursprung, und erweist sich als eine der großen Lenkungskräfte des Universum,
zumindest des menschlichen. »Heute schon schweißgebadet?« »Aber nicht im
geringsten!« Nein, im Geringsten ist nichts zu machen, Scharfschwitzer sind
gemachte Leute, jedenfalls von innen, denn von dort, sagt man, strömt es nach
außen, das ist die Richtung, die der Schweiß nimmt. Das bisschen Arbeitsschweiß,
wie ihn die Bevölkerung ausströmt, kommt dagegen nicht in Betracht. Auch
Angstschweiß ficht den echten Scharfschwitzer nicht an. ›Schweiß pur!‹ ist
seine Devise, daran hält er sich, mag es sonst auch ochsenhaft zugehen in seinem
Leben und in seiner Umgebung. Denn Scharfschwitzer sind große Ochsen, an denen
im Sommer die Fliegen kleben und im Winter die Kuhfladen, aber es geht auch
andersherum. Was Scharfschwitzer ausschwitzen, darf der Mensch nicht gering
achten, bei Strafe, irgendwann sein Leben bei Wasser und Brot abzusitzen. Wie
das? Ganz einfach: Was Scharfschwitzer ausschwitzen… Apropos: Sehen Sie fern?
Warum? Nun, ich dachte nur… Der schärfste Schwitzer im Land ist der
Ideenschwitzer. Sie strömen ihm zu, sie strömen aus ihm heraus, da ist nichts zu
machen, vor allem dann, wenn sich erst ein Kreis von Bewunderinnen gefunden hat,
die mit Melkeimern auf Schweißfang gehen und sich gegenseitig die Beute
abzujagen versuchen, am besten öffentlich-rechtlich. Denn das möchte jeder
Scharfschwitzer am Ende sein: ein öffentlich-rechtliches Wunder, allabendlich zu
bestaunen, wenn allmählich die Lichter ausgehen – ja, sie gehen aus, es hält sie
nicht in den vier Wänden, so sehr überkommt sie der Drang, mehr zu sein, selbst
die trübsten Lichter wollen da nicht zurückstehen, sie leuchten allen voran.
Den Gedanken oder bessser die alle Sammler verfolgende Ahnung, es
gebe tatsächlich eine theosophische Schrift mit dem Titel
Schattenforschungen, darf
man nicht mit der viel bekannteren Vermutung verwechseln, man könne
das kostbare Original als Nachdruck ganz billig in der zweiten
Ausgabe der Meteorologischen
Hefte von 1911 im Hamburger Wetter-Verlag finden, denn hier
stehen tatsächlich nur einige dürftige Auskünfte über den
Zauberregen auf tropischen Inseln. Sie sollten nach Maßgabe
erfahrener Missionare gestrandeten Seeleuten beider Weltkriege als
Trinkwasser fördernde Selbsthilfe dienen. Man bekam Anweisungen,
wie man in Trockenzeiten mit Hilfe von Taschenlampen oder
Revolverschüssen wilde Völkerschaften beeindrucken konnte, den
echten Regenzauber zu üben, an den übrigens kaum jemand ernsthaft
geglaubt haben wird. Eher sollten wohl die oft feindseligen
Eingeborenen beeindruckt und die durstigen Matrosen abgelenkt
werden.
Anders dagegen das Original von 1870, das seltsamerweise während
der wüsten Zeiten sprachlicher Verwilderung in Arabien unter der
französischen Kolonialherrschaft als Streitschrift in deutschen
Landen unter der Hand verbreitet wurde. Ein stark protestantisch
gefärbter preußischer Kleinverlag in Cottbus gab unter dem Titel
Das deutsche Zimmer
»Forschungsergebnisse« über »Bedrohungen des Himmels
als Antworten auf die
Sprachnotstände in aller Welt« heraus, eine Schrift, deren
Verfasser sich auf die Untersuchungen zweier Wiener Forscher
stützte, Max von Englschall und Peter Haliman. Die beiden hatten
erklärt, unnatürliche Schatten entgegen allen Gesetzen des
Sonnenlichtes zunächst in Bibliotheken und später auch an anderen
Orten entdeckt zu haben. Trotz mancherlei Schwierigkeiten auf Grund
unterschiedlicher Auffassungen darüber, was Sonnenlicht außer in
der Landwirtschaft zu bedeuten habe, war man sich rasch darin
einig, dass eine Heimsuchung ganz besonderer Art bevorstünde, eine
Art Geisteskrankheit, die eines Tages weltweit durch sprachliches
Versagen babylonisches Unheil anrichten könnte. Dies sollte nach
Englschalls Enkel Joseph zwar anfänglich nur für den vorderen
Orient und dessen französische Besatzung gelten, doch wurde es
irgendwann als rein deutsches Phänomen betrachtet.
Die immer häufiger ausschließlich in Österreich und Preußen
auftauchende und schließlich mit den soeben entdeckten
Lichtmesssprüngen der Firma Siemens versuchsweise vermessene
Schattenschlange lenkte den Blick sehr bald auf die antideutschen
Stimmungen in Europa und den allgemeinen militärischen
Patriotismus. Man begann sich mit Dostojewskis sozialem Christentum
zu beschäftigen, um dem erwarteten heiligen Russland rechtzeitig
und gut protestantisch den Rang abzulaufen. Nach dem Vorbild des
Idioten tauchte in diesem
Zusammenhang der Name »Das törichte Reich« für Deutschland das
erste Mal auf. Man konnte unmöglich übersehen, dass sich das
seltsame Phänomen unmittelbar nach der Kaiserkrönung im Spiegelsaal
von Versailles – es ging da um wenige Stunden – zuerst am Rhein bei
Strassburg einem evangelischen Pfarrer geoffenbart hatte. Dieser
einst als Student mit Max von Englschall befreundete Mann namens
Eberhard Anton Tänzler begab sich sofort zu seinem alten Freund und
Geologen nach Wien und die Sache nahm ihren Lauf. In
Österreich und Preußen konnte eine kleine Anzahl somnambuler
Ästheten die Schlange in mehreren Fällen über kurze Strecken von
maximal hundert Metern verfolgen. Dergleichen ereignete sich in
Graukauding bei Wien ebenso wie in Berstenrode bei Cottbus. Durch
Vorgärten und Parkanlagen, übrigens alle Symbole des Christentums,
Wegekreuze, kleine Kapellen, Friedhöfe sorgfältig vermeidend,
schlich sich der wolkige Körper bis nach Berlin und das mit
bedeutenden Folgen.
Sein letzter Aufenthalt im Berliner Schloss führte alsdann sehr
rasch, am 9. November 1871, zu der bis heute geheimnisvoll
gebliebenen Aufnahme Jesu Christi, unter dem Namen Michael
Menschensohn, in das »Törichte Reich«. Es waren die Anhänger der
nun ebenfalls als Spracherlösungsgesellschaft auftretenden Dichter
des Deutschen Zimmers und dessen überaus vornehmes Direktorium, die
sich zu diesem Akt des Geistes entschlossen hatten. Neben den
Dichtern bestand es aus einigen Prinzen und Fürsten des deutschen
Hochadels beider Konfessionen. Kein Name ist überliefert. Der Ort
der Aufnahme war Frankfurt. Erst neuerdings ist ein
»National-surreales Reichsschutzblatt« mit handschriftlichen
Hinweisen auf dieses Ereignis auf einer englischen Auktion in
Lahore aufgetaucht und als Kuriosität von einem Holländer
ersteigert worden. - PM
»Ich habe mehr gesehen als Sie«, sagt die Frau des ermordeten Bankiers zu den Polizisten, die sie daran hindern wollen, an den Unglücksort vorzudringen, »lassen Sie mich durch!« Ein bemerkenswerter Satz aus dem Mund einer bemerkenswerten Frau. Da meldet sich die Kriegsgeneration zu Wort, der nichts Unmenschliches und daher nichts Menschliches fremd ist. Erfahrungen, die der Folge-Generation radikal fremd sind, während sie eifrig die dazugehörigen Bilder konsumiert, verwandeln sich in schlechterdings uneinholbare Vorsprünge. Vom Nicht-Gelten-Lassen zum Nicht-Haben-Wollen ist nur ein Katzensprung – und ebenso vom Nicht-Haben-Wollen der Erfahrungen zu dem ihrer Träger. Auch diese Katze ist gesprungen, nachdem sie lange geschnurrt hat. Schlimme Erfahrungen werden beiseite gebracht oder einbetoniert wie der Unglücks-Reaktor von Tschernobyl, der strahlt und strahlt. Das Trauma – oder was man so nennt – ist die Gesellschaft und der von ihr ausgehende Druck, sich an nichts zu erinnern, es sei denn, man bekommt den bezahlten Helfer gestellt. Wird das Erinnern erst zum Geschäft, dann erinnern sich diejenigen, die nichts zu erinnern haben, am besten. Ihr Vorsprung heißt: Professionalität. Die anderen, von Zeitgenossen zu Zeitzeugen degradiert, versuchen sich zu erinnern. In diesem ›versuchen‹ steckt ihr Dilemma und, genau gesehen, ihr ganzes Elend. Die Versuchung ist groß und der Versucher nah. Dennoch: es kommt immer etwas heraus.
Unter dem Scheinfraß leiden die Marder am meisten. Scheinbar kommt
er ihnen entgegen, aber sie verstehen nicht immer, ihm rechtzeitig
auszuweichen und stürzen sich mit einer kindischen Vehemenz auf
das, wofür sie ihn halten, die ihnen auch sonst eigen ist. Er taugt
aber nicht, weder für sie noch für andere. Läge es in der Natur des
Scheinfraßes, für das zu gelten, als was er taugt, dann wäre
bereits die Hälfte des Problems für immer gelöst. So jedoch, unter
hundert Varianten verborgen, die ihn alle nicht hergeben, lockt er
mit einer Süße, die einer alten Bonbonschachtel entnommen zu sein
scheint, aber durch Beimengungen giftiger Suada Schaden genommen
hat und nun jeglichen Biss vereitelt. Der junge Marder, der das
Phänomen noch nicht kennt, kann sich die plötzliche Hemmung nicht
erklären und weicht nicht mehr von der Stelle, sei es, dass er
irgendwann vor Entkräftung stirbt, sei es, dass ihn die Hunde der
Nachbarschaft aufstöbern und vertreiben, sei es, dass ihn die
Kinder kreischend entdecken und für den Rest seines kurzen Lebens
zum Gespött machen. Ältere Marder, die um die Gefahr wissen, können
gleichwohl nicht widerstehen. Sie begeben sich in das Debakel wie
andere ins Hochgebirge, ausgerüstet mit allen erdenklichen
Gerätschaften, mit Spezialnahrung versehen und zu Ausflüchten
aufgelegt, wenn sie jemand bei ihrem Tun überrascht und sie
spöttisch fragt, was sie da treiben. Weise Leute schütteln den Kopf
und bitten sie, sich zu bedenken, bekommen aber nur eine
Hochmutsgeste als Antwort; wer einmal dem Scheinfraß obliegt, ist
keiner Begütigung aufgeschlossen, er will es wissen. Oder auch
nicht. Denn, wie ein Sprichwort sagt: Wer den Schein roh frisst,
kann sich nichts dafür kaufen (cf. Geldfresser).
Scheinlexika sind Scheinkanonen, die auf Scheingesinnungen zielen. Bei soviel Schein erwartet der Laie viel und wird selten enttäuscht. In der Regel übertreffen Scheinlexika Reallexika bei weitem an Süffisanz, Redlichkeit und Präzision. So wie der Mensch die Welt des Scheins der realen vorzieht, so würde er keinen Augenblick zögern, seine Informationen aus Scheinlexika zu beziehen, könnte er nur lesen. Daran hapert es. Der Mensch ist das Tier, das nicht lesen kann: erst diese Scheindefinition eröffnet einen zweifelsfreien Zugang zur Welt der Realia, in denen die Dummköpfe von Enttäuschung zu Enttäuschung stolpern, bevor sie im Suff enden oder im Altenheim. Der lesende Mensch isst zwar Tiere, aber er misst sich nicht an ihnen, insbesondere nicht in Fragen des Einkommens, des Sozialstatus und des Fressvolumens. Er freut sich ihrer, das ist wahr. Er würde sich auch der Menschen erfreuen, nagte in ihm nicht der Verdacht, sie könnten lesen, wenn sie es nur wollten. Sie wollen nicht lesen: soviel Unverstand raubt ihm den seinigen. Was soll man mit einem solchen Gesindel nur anfangen? Nun, der Ausweg steht bereit – man sperre sie in Lexika, die sie nie besuchen werden, jedenfalls nicht lesenderweise, so dass sie das Bild nicht verunklaren können, das kundige Artikelschreiber von ihnen entwerfen. So erfährt der wirkliche Leser aus Scheinlexika (und nirgendwo sonst), wie es in der Welt wirklich zugeht. Hat jemand weitere Fragen?
›Losung‹ nennt der Waidmann die Ausscheidungen des Wildes. Da ist was dran. Dagegen bringt es der Mensch bloß zur Scheinlosung. Das liegt einerseits an seiner mangelnden Scheu – er findet nichts dabei, sie öffentlich im Munde zu führen statt, wie es sich gehörte, loszulassen –, andererseits an der mangelnden Konsistenz des Produkts: Man hört die Losungen und fragt sich, was die Typen sich dabei wohl gedacht haben – beziehungsweise immer noch denken, denn das Denken, egal, was man dir sagt, hört nie ganz auf, selbst im Zustand völliger Gedankenlosigkeit. Was denken die Leute, wenn die Gedanken fehlen? Das ist die Frage. Man sagt, sie denken Hülsen. Was den Gedanken nahelegt: Losungen respektive Scheinlosungen sind Hülsenfrüchte. Was mag es sein, das vorzugsweise in leeren Hülsen heranreift? Folgt man der Logik der Losungen, dann ist jedes Gemeinwesen zum Entgleisen verdammt. Es muss also etwas geben, das Losungen auf lange Sicht zur Wirkungslosigkeit verurteilt. Auch das bringt der Ausdruck ›Scheinlosung‹ trefflich zum Ausdruck. Die Leute folgen ihren Parolen zum Schein: »Geh du voran«, sagen sie, »wenn du schon sonst nichts kannst. Wir kommen nach, morgen oder übermorgen, das wird ein schönes Fest, wenn wir zusammentreffen.«
Das Deutsche verzeichnet bekanntlich zwei Arten von Schein: (a) das
Papier, das amtliche Dokument, den Berechtigungsnachweis, (b) das
Unwesenhafte, Täuschende, Darübergebreitete, den Sinnentrug. Ein
Scheinvater ist daher entweder ein Vater auf dem Papier oder
jemand, der anderen oder sich selbst vorgaukelt, Vater zu sein. Man
sieht, beide Bedeutungen gehen zwar nicht auseinander hervor,
konvergieren jedoch auf eine dem Betroffenen selten konvenierende
Weise. Mit dem Vorgaukeln ist das so eine Sache, wer die Menschen
kennt, nähme in diesem Fall eher an, der Scheinvater selbst sei
hier jemand, dem etwas vorgegaukelt wird oder wurde. Entsprechend
wäre ein Scheinzahler jemand, der für eine Sache bezahlt, die es so
nicht gibt, ein Scheinbetrüger jemand, der betrogen wird und ein
Scheinschläger einer, der sich zusammenschlagen lässt. Allerdings
fehlt in diesen Fällen wohl meist der Feuereifer, der den
Scheinvater alles in allem auszeichnet, jedenfalls dann, wenn alles
nach Plan läuft. Ein Scheinvater gibt der Scheinmutter, die der
juristische Sprachgebrauch so nicht kennt, eine Fülle von
Möglichkeiten in die Hand, die alle dem Umstand entspringen, dass
in diesem Fall eine gewisse natürliche Befangenheit wegfällt und
das ganze Verhältnis ungeniert auf Druck und Zug, auf Ausbeutung gestellt ist, auch wenn
dieses Wort nicht gebraucht wird. Der ausgebeutete Vater wird in
der Regel ein guter Vater sein, da er den Gedanken, ausgebeutet zu
werden, in sich selbst bekämpft. Er darf ihn nicht zulassen, obwohl
er einen Dauerplatz auf der Schwelle einnimmt und fröhlich winkt.
Man könnte, aufs Volkswohl gesehen, den Nachwuchsbetrieb komplett
auf Scheinväter umstellen. Leider lassen die Menschen sich zwar
gern betrügen, aber nur, wenn sie ›den Eindruck haben‹ – herrliche
Phrase! –, sie seien ein ganz besonderer Fall und es gebe kein auf
ihresgleichen gestütztes System. Arme Irre – sie wollen nicht
wahrhaben, dass sie in dieser Hinsicht immer zu spät kommen. In der
Männerwildnis gedeihen die Kinder mehr schlecht als recht, aber sie
gedeihen. So lässt man sie ruhig in ihrem Glauben. Mehr wollen sie
nicht, mehr können sie nicht. Ungekonnte Leben gibt es genug.
Manches ist im Eimer, was nur im Eimer erscheint. Irgendeinen Sex-Award wird jeder erringen, das wäre ja noch deprimierender, wenn hier nichts von der Anstrengung bliebe. Emma zum Beispiel... Wer ist Emma? Eine Sex-Postille der durchgestrichenen Art könnte zum Beispiel folgern, die Palme gebühre dem gegengeschlechtlichen Partner, der alles verweigert, also dem Nicht-Partner, dem berührungsfreien Paralleluniversum der freischwebenden Intelligenz. Letztere ist eine alte Phantasie von Leuten, die schwer unter ihrer Sexualität leiden und deshalb finden, sie gehörten nirgendwo hin. Die Postille zeigt ihnen den Weg, denn sie kennt ihn und ist ihn viele Male gegangen. Sie weiß, wie man Intelligenz bindet: mit der Schere. Mancher hat sie im Kopf, doch zwingend gehört sie zwischen die Beine, wo sie ihr blutiges Recht mit Verve vertritt.
»Scherzkeks« sagen die Menschen. Dahinter steckt eine größere Einsicht: der
Scherzkeks ist der Einzelne in seiner Bröselgestalt. Er hält noch
zusammen, er steht noch zur Verfügung, aber das ändert sich, kaum
hast du ihn in der Hand. Was er sagt, kann niemanden überzeugen.
Selbst wenn er recht hätte – wen kümmert’s? Ein Scherzkeks ist
ein Mensch, der den Aufbruch verkennt: er sitzt gerade so gut und
hätte etwas zu erzählen, von dem er weiß – oder annimmt –,
dass es für alle wichtig sein könnte, aber im allgemeinen
Stühlerücken geht er damit unter. Vielleicht hat er sich zu lange
Zeit gelassen und jetzt ist der richtige Zeitpunkt vorbei …
vielleicht. Vielleicht müsste er nur anders auftreten, aber die
Natur hat es ihm verwehrt. Vielleicht blitzt in ihm ein neuer Gedanke
auf, zu neu, um spontan einzuleuchten, zu gefährlich, um ihm jetzt
lange nachzuhängen, denn niemand will den Aufbruch verpassen, das
wäre das Gefährlichste, und er sackt in sich zusammen. Jedenfalls
schmeckt nicht, was er erzählt, und er hat Glück: es ist die
leiseste Form des Übelnehmens, mit der die Gruppe ihn mundtot macht.
Die Kanonade ist echt, man hört den Donner, obwohl das Schlachtfeld weit und der Himmel hoch ist, doch etwas Unechtes bleibt dabei, ein Zweifel, ob es uns allen gut geht, wenn wir allzu sehr auf sie hören. Aber wie sollte einer aufhören zu hören, wo doch im Aufhören selbst... Hör auf dich, hör auf die Stimme deines Herzens, hör auf alles ringsum, nur nicht... Ja? ... nur nicht auf diesen Donner, der dich ganz ausfüllt, bevor er dich zerreißt. Nun, ›bevor‹ ist vielleicht nicht das richtige Wort, es zerreißt einen ja ›nachgerade‹ oder ›geradewegs‹, etwas Gerades ist also unbedingt dabei, eine schiefe Geradheit, die dich immerfort abrutschen lässt... ›Entgleiten‹, das ist das Wort. Sie macht, dass ich mir entgleite. Sie verfügt über die Macht des Wortes, denn Worte sind es, deren sie sich bedient, nur mit der Rede hapert es fortwährend, die schiefen Bilder, die kranke Grammatik, die heuchlerischen Assoziationen, sie zeigen an: es kann nicht weit her sein mit dieser Rede, irgendein Apparat, ganz in der Nähe, dient als Quelle der Störgeräusche, deren wir nicht Herr werden, die uns seit Nächten nicht schlafen lassen, die uns rauben, was wir nicht besitzen, obzwar es uns rechtens zusteht, aber was heißt schon rechtens. Diese Kanone wurde ja aufgestellt, um alles, was rechtens gesagt werden könnte, im Flug zu zerreißen, sie muss nicht treffen – falsch wäre das, ganz falsch – nur zerreißen. Der Donner, der niemals trifft, aber zerreißt, was sich sammeln muss, um zu bestehen, ist vielleicht kein Donner, sondern die Stille, die ausbricht, sobald das Schweigen der Wissenden unerträglich geworden ist.
Das enorme Schlafbedürfnis des Stagiriten erklärten manche seiner Schüler sich so: als Gott über die Erde ging – er war damals sehr beschäftigt und deshalb nicht sonderlich aufmerksam –, entfielen ihm neben den Buchstaben und Wörtern auch ganze Sätze, an die sich seither keiner erinnert, es sei denn im Schlaf. Andere sagten, nicht der Schlaf sei daran das Entscheidende, sondern das Erwachen. Nur wer viel und tief schlafe, könne so kräftig erwachen, dass das eine oder andere aus jenem verlorenen Fundus dabei austrete und sich ins Tagbewusstsein verstreue. Diese beiden Schulen haben die Welt mit dem Netz ihrer Sprüche überzogen, so dass keiner entscheiden kann, wo das eine endet oder beginnt. Es sind eben Schulen, in denen Gedanken sich um die Vorherrschaft über die Wörter streiten. Leute, die wünschen, keiner Schule hörig zu sein, denken, dass sich das Tagbewusstsein, oder was unsereins dafür hält, in den Sätzen sammelt. Man darf diese Sammlung nicht unterbrechen oder auf andere Weise willkürlich verkürzen, zum Beispiel durch das Einschalten falscher Lichtquellen oder anderer Informationsträger. Man muss ihr die Zeit lassen, die sie braucht, um sich zu runden. Wer gelernt hat oder durch Zufall dahin gekommen ist, ein Schreibwerkzeug einzuschieben und sich seiner geschickt, das heißt fast unmerklich zu bedienen, behält etwas zurück, was entfernt an jene göttlichen Sätze erinnern könnte, aber da der Zusammenhang sich nicht herstellen will und die Zeit der Sprüche vorbei ist, behält er diese Beobachtung am besten für sich und gibt nichts davon aus, es sei denn, ihm träumte, er sei über Nacht reich geworden und müsse sich nun verändern.
Lasst sie schlafen, die Schläfer. Wer schläft, entleibt sich nicht, sein Leib wiegt ihn und hüllt ihn ein. Das ist gut. Wer die Welt für einen Traum hält, muss ein guter Träumer sein, ein rüstiger Träumer, ein redlicher Träumer, keiner, für den der Schlaf nur Vorwand ist, sich als Ungeheuer zu konzipieren. Als Ungeheuer? Das geht einfacher, als du denkst. Wem der Schlaf zum Wunsch mutiert, endlich zu erwachen, und das Wachen zum Entsetzen oder zum Ekel davor, wieder einzuschlafen, dem erscheint zwischen Wachen und Schlaf das Ich als Schreckgespenst und er wünscht sich nichts sehnlicher, als es auszulöschen, um endlich wach zu sein oder zu bleiben. Das große Erwachen, von dem alle träumen und vor dem sich alle fürchten, für ihn wartet es jenseits des Ich, ganz nah, täglich rückt es ein wenig näher, eine spiegelnde Ferne, die soziale Dimension des Wortes ›Schluss machen‹ festschreibend und überbietend. Das Ende des Gemaches oder Der gemachte Schluss oder Das sich Fallenlassen ins gemachte Bett der Entschlusslosigkeit, dem die Matratze fehlt und unter dem das Bodenlose sich auftut – all das sind Figuren des Schlafs inmitten des Wachens, das den Schlaf fürchtet wie der Teufel das Weihwasser. Es umschleicht ihn gleich einem Feind, der nicht geweckt werden darf, und es wünscht sich nichts sehnlicher, als in ihn einzufallen, ihn zu verwüsten und das fatale Zauberwerk stillzustellen, auch um den Preis, dass die Welt zusammenfällt wie ein Kartenhaus. Soll sie doch! Einmal sehen, wie es zerfällt, das stählerne Gehäuse der Zeit, die nicht vergeht, weil ihr ein Vergehen zu Grunde liegt, das nicht genannt werden darf!
Eine Politik, die auf Bilder reagiert statt auf Fakten, gehört, aus Gründen der Selbsterhaltung, abgewählt – sofort, für immer. Was also gehört Politik im Medien-Zeitalter? Abgewählt! Kein Zweifel, dieser Schluss ist logisch korrekt und entspricht dem Gefühl der Massen, die sich von ihren Vorturnern ›verarscht‹ vorkommen. Nur sind die Massen des Abwählens müde, wenn sie, die nächste und übernächste fällige Abwahl vor Augen, die Wahlkabinen betreten. Die besten Wahlergebnisse erzielen sie daher im Schlaf. Der Schlaf der Reflexe erzeugt die Ungeheuer, die abzuwählen dann reflexhaft gelingt. Das sind Sternstunden, in denen eine Borniertheit die andere aus dem Sattel hebt, unter dem Jauchzen der Medien, wie denn sonst?
Aus der Tiefe der Zeit, da, hinter der Hecke, stammt der Schlagesel: ein krummer Hund, ein Fisch von einem Hund, und fies will er sein, dass es die anderen juckt. Darum macht er Fisimatenten wie andere Umstände oder Umstände wie andere Ärger, zu dem es bei ihm nicht reicht, weil alle anderen es ärger treiben als er selbst. Er selbst, ja das ist er: ein seltenes Exemplar seiner selbst. Er hätte sich gern häufiger, aber dazu reicht es nicht und im Grunde ist es ihm recht. Wenn er schlägt, so trifft es Verräter, wenn er verrät, so sind es Geheimnisse, von denen niemand etwas wissen will, so gemein sind sie und so bedeutend. Die Vergangenheit, tönt er, strömt durch mich hindurch in die Zukunft, ich bin ein tönendes Rohr, das sich im Winde biegt und Sturm verspricht. Habe ich mich versprochen? Nein, denn außerdem bin ich Gegenwart, reine Gegenwart, seht her meine Kreuzigungsmale, sie duften nach Honig und dürfen auch angefasst werden. Ich bin ein Volk, ich ganz allein, es umfasst alle Mitgeborenen, die mir zuarbeiten, in ihren oder meinen Gedanken, Worten oder Werken, wo ist da der Unterschied? Übrigens soll, wer mich anfasst, büßen, ein kleines Andenken schadet nicht und hält den Kreislauf in Schwung. Seine Bewunderer nennen ihn einen Kyniker, einen Hundling, aber nein, er ist Schlagesel und wünscht, dem möge Rechnung getragen werden.
»Sage mir, wo du anstehst, und ich sage dir wie du reinkommst. Du kannst es auch
selber herausfinden, aber das kostet extra, womöglich das Leben.«
Nach diesem Motto holt sich Europa seine ›Flüchtlinge‹ übers
Mittelmeer. Sein Bedarf scheint unersättlich zu sein, wenn man den
Zahlen trauen darf, ebenso sein ethisches Feingefühl, wenn man den
Verlautbarungen lauscht. Nur die Leute trauen dem Braten nicht und
regen sich auf. Worüber? Über als Menschenfreunde verkleidete
Schlepper? Über als Bürokraten verkleidete Lobbyisten? Über als
Schlepperfreunde enttarnte… Was ist los? Gestrichen? Einfach
gestrichen? Das ist normal. Über als Politiker verkleidete… –
hier, endlich, beginnt der Bereich der üblen Nachrede. Warum nicht
eher? Politik braucht Blitzableiter, dabei ist sie selbst der größte.
»Potzblitz«, sagte der Hase, »da ist was los.« Und verschwand im
Klee, dem gemalten. Potzblitz sagt er immer, denn er weiß, was los
ist, und möchte nicht involviert sein. Das ist ein Kunstwort,
früher auf Volvo-Fahrer gemünzt (»Sicherheit aus Schwedenstahl«), die wussten, wie eine gesunde Umwelt bezahlbar bleibt. In Zeiten wie diesen steht es für
›völvisch‹ – nein, nicht ›schwedisch‹ oder gar ›nordisch‹,
wie das assoziativ bedrängte Gemüt argwöhnt –, es meint den
inneren Wolf, der auf großem Hasenfuß lebt.
Wer holt dich aus der Versteinerung heraus, aus diesem Wechsel von
Raserei und Erstarrung, der deine Züge formt und entformt und den
Betrachter ratlos entlässt? Medea nennen sie dich. Da ist was dran.
Zwar tötest du deine Kinder nicht. Dafür entwendest du ihnen das
Leben und bereitest ihnen ein anderes. Wie das geht? Das fällt
unter deine Geheimnisse, die nicht so geheimnisvoll sind, sieht man
dir erst auf die Finger. Daran ist keinem gelegen und deshalb
lassen sie dich in Ruhe. In Ruhe? Da liegt eines der Rätsel, die
von der Gesellschaft gestellt, aber nicht gelöst werden.
Eine Theorie, die genügend Schmutz aufwirbelt, um geglaubt zu werden, muss einige Voraussetzungen erfüllen, z.B. muss sie dicht über den Boden der Tatsachen wegstreichen, was nicht so einfach ist, wenn man bedenkt, dass sie meist in Höhen zielt, auf denen sich alles verklärt. Eine andere Regel besagt, dass ihre Urheber, wollen sie nicht, dass die Sache auf sie zurückfällt, im Verborgenen tätig werden müssen. Auch das ist schwerer, als man glaubt, schließlich wünschen sie zu den Profiteuren zu gehören. Die glücklichsten unter ihnen sind die, die sich aufs Unglück Dritter berufen können: auf ihm steigen sie wie auf einer Himmelsleiter empor, um sanft zu fallen, wenn einmal eine Sprosse wegbricht. Das Unglück Dritter ist das Sesam-öffne-dich des schmutzigen Ruhms. Viele, die nicht warten können, bedienen sich seiner im voraus und prellen die armen Leute, die es vielleicht ereilt, um die Aufmerksamkeitsrendite, die sie dringend benötigen werden.
Seit langem besteht die eine Hälfte der
Menschheit darauf, die Hälfte der Menschheit zu sein, während die
andere ihr dabei assistiert. Was soll einer davon halten? »Nur einen
kleinen Zipfel, dieses Geheimnis ist zu groß für einen Einzelnen.
Die Menschheit ist unteilbar. Hat eine die Hälfte ganz, trägt sie
den Rest unterm Arm.« Auf dem Markt der Meinungen zählen die
Schnäppchen, bloß der Schnapphahn geht leer aus.
Man konnte sich das lange Zeit
nicht erklären – besser lässt der Schnitt sich nicht
ausdrücken, der alle Heutigen von allen Früheren trennt. Denn
gewöhnlich denkt die frühere Zeit nicht daran, sich etwas nicht
erklären zu können, es ist ein untergeschobener Balg, eine
Distanzierungsformel, die wenig mehr besagt, als dass ›wir‹ weiter
sind, Fortgeschrittene. ›Wir‹ haben ein Rätsel gelöst, heißt das,
eines, das uns die Welt hingeschoben hat, diese ewig frische
Sphinx. ›Wir‹ haben die richtige Antwort gegeben, ›der Mensch‹, und
gehen jetzt und legen uns zu Mutter ins Bett. Dass wir jemanden aus
dem Weg räumen mussten, um der Sphinx überhaupt ansichtig zu
werden, geht uns vorerst nichts an, damit beschäftigen wir uns
später. Wie war doch der Name? Seltsam, wie unfertig eine
Erinnerung ist, so lange der Name fehlt. Ah, da kommen die
Arbeiter, sie schleppen ihn schon herbei, ich werde einmal hingehen
und nachsehen, was sie haben.
Die schärfsten Hunde des Universums sind die
Schnüffelhunde. Der spezialisierte Schnüffler, das ist der Hund im
Quadrat. Man sagt, Hunde, die schnüffeln, beißen nicht. Aber das
ist ein Missverständnis, bei dem außer Acht bleibt, dass es zwei
Sorten Schnüffler gibt: die freilaufenden und die angebundenen. Die
gefährlichsten unter den angebundenen sind diejenigen, die an der
langen Leine laufen. Ganz ungefährlich sind auch die Freischnüffler
nicht. Aber ihr Meldesystem ist nicht perfekt, daher kommen sie nur in
speziellen Biotopen zum Biss, zum Beispiel im Kabarett. Auch
da ist Harmlosigkeit die Regel. Der kurz angebundene Schnüffler gibt
nur einmal Laut und die Beißer wissen Bescheid. Ob sie eingreifen
oder nicht, entscheidet sich an den Umständen. Diejenigen hingegen, die an
der langen Leine laufen, wecken mit ihrem Alarmismus den Jagdinstinkt
der Meute, die sich auf jedes Ziel stürzt, das man ihr zeigt. Doch
merke: diese drei bilden ein System. Es ist selten perfekt, aber es
erfüllt seinen Zweck. Worin der besteht? Frage das Universum und du
bekommst die Antwort, die du erwartest.
Städte, gleich schwimmenden Inseln aus Nebeln tauchend, in denen
niemand sie zu vermuten gewagt hätte, noch vorenthaltend, worauf es
bei ihnen hinauswill. So läuft man an Orten herum, die einem ihr
Bild verweigern, das alte, das man nicht mehr gekannt hat, das
neue, sich erst langsam formende, zu langsam für den, der in ihnen
lebt und sich durch Neugier blind macht. Die Leute holen sich ihre
Bilder ›von außerhalb‹, wie sie sagen, das ist verständlich, aber
auch komisch, es ist ein Stück Entgeisterung dabei, das bereits
wieder gespenstisch wirkt. Sie sagen: Nach den Zerstörungen ist vor
den Zerstörungen, sie behaupten es tapfer, aber sie meinen es nicht
so. Im Zentrum der Zerstörungen, dort, wo ein kürzlich
freigesprengter Platz auf die Ankunft einer nobleren Vergangenheit
wartet, schrieb einer den Satz: Im Zentrum der Zerstörungen steht
der Mensch.
Die Ästhetik des Hässlichen (ver)endet an der – endlich –
losgelassenen weiblichen Brust, nachdem sie lange durch heftige
Schreie bekundet hat, woran es ihr fehlt. Der unerschütterliche
Wunsch dieses Geschlechts, schön zu erscheinen, auch wenn
Hässlichkeit angesagt ist, weist den Weg in die Boutiquen und
Auslagen noch der ungeselligsten Kunst, die je als solche wird
auftreten wollen, so wie sie es immer mit eherner Stirn dem
Flaschenpostwesen vorgezogen hat, zu erscheinen. Die Kunst,
abgeführt zwischen zwei Polizisten, im Negligé, flüchtig die Haare
ordnend und zerstreut der Menge zuwinkend: so hat sie sich gern
gesehen, so würde sie sich, in Teilen, immer noch gern sehen, doch
jede Kokserin aus dem Glamourmilieu ist ihr darin über. Das
Hässliche so gestalten, dass es auch eine Art Schönheit darstellt,
überall die Ränder der Schönheit streifen, an ihnen entlangstreifen
wie eine Katze, die Aufmerksamkeit erregt, das heißt doch, das
Hässliche nicht gestalten,
nicht hässlich zu sein,
nicht hässlich sein zu
wollen, es sei denn gegen die Konkurrenz und auf dem geduldigen
Papier der Interpreten und der Ausstellungsmacher. Aber auch Papier
ist nicht immer geduldig, manchmal kräuselt es sich vor Ungeduld an
den Rändern und manchmal gerät es in lodernden Zorn und verschlingt
sich selbst. Die unkonventionelle
Schönheit, überall Konvention geworden, läuft als Raubtier
durch die Wüste der Intuition, die an jedem hingehaltenen Gitter
endet: kein Durchschlupf, kein Unterschlupf, kein Unterlass,
kein Untergang, nur
ein Beben, das die Gemüter verwirrt und dem Haarausfall
applaudiert.
Zum Nichtsein verdammt – entschiedenes Los aller schönen Seelen,
deren Produktivität die öffentlichen Vertriebswege belagert, auf
denen sich Hybridwesen aus Geld und Geist tummeln, vor denen jedem
rechtschaffenen Gemüt graust. Angesichts des Übergewichts des
Geldes ist es mit dem Geist dort ohnehin nicht weit her. Aber das
ist nur ein und vielleicht nicht einmal der interessanteste Aspekt
der Sache. Der andere betrifft die Selektion selbst, die da
vorgeht, und die Veränderung aller produktiven Verhältnisse durch
die Verschiebung der Zahlenrelationen. Wenn der Inhaber eines
mittleren Verlages angibt, von dreitausend jährlich unerbeten
einlaufenden Manuskripten ›im Schnitt‹ zwei, verteilt auf drei
Jahre, zu drucken, dann klingt das nach Beliebigkeit. Kein ›Stab‹
kann unter solchen Umständen nach vernünftigen Kriterien arbeiten.
Gerade die kleine Produktion erscheint demnach ›gegriffen‹ – ein
Eindruck, den übergangene wie notorisch enttäuschte Leser gern
bestätigen. Die Frage ›Woher die Fülle?‹ ist so noch gar nicht
gestellt, geschweige denn beantwortet. Es ist die Fülle dessen, was
nicht in Betracht kommt und am Ende, mangels anderem, doch ›rein
mechanisch‹ in Betracht gezogen wird: denn es ist unser. Die Kultur
kocht in allen Menschen, die lesen, mehr oder weniger, und allzu
oft kocht sie über – in Manuskripten, für die man niemanden tadeln
sollte, die nur keiner drucken will, weil es dafür keine Gründe
gibt. Sie sorgen aber dafür, dass Hervorbringungen, die in Betracht
kämen, die, unter Gesichtspunkten einer Kultur, die auf sich hält,
unbedingt in Betracht gezogen werden müssten, ginge es mit rechten
Dingen zu, gar nicht sichtbar werden im Wust des durch all die
schönen Seelen geschaffenen Alltags. So setzt sich schließlich
neben den durch Protektion und ›Beziehungen‹ Begünstigten durch,
wer die Kunst – oder das Denken oder das Wissen – kurz hält, um
sich hauptsächlich dem Verkaufen – der Person und der Sachen – zu
widmen. Eine solche Wendung vollzieht keiner ungestraft, vor allem
nicht, wenn er einmal von anderen Prämissen ausgegangen ist: der
Aufstieg setzt den Genickbruch voraus, in eigener Sache, im
Morgengrauen. Eine Literatur von Gehenkten, die scheinbewegt im
Frührot baumeln, hat wenig Erbauliches, sie lässt frösteln und
schnürt das Denken ein. So stürzt der Wille zum Schönsein gerade
die ins Nichtsein, die sich vor ihm fürchten, weil Schönsein
Glänzen heißt – vor anderen, wem denn sonst.
Alle suchen nach Lösungen. Warum? Es scheint ihnen das Beste zu sein. Das Beste? In dieser verfahrenen Situation? Wie kann etwas das Beste sein, wenn es sich dem suchenden Blick so beharrlich verweigert! Irgendetwas stimmt mit den Lösungen nicht. Zu lange lassen sie auf sich warten. Was die Menschen brauchen, es muss zur Hand sein. Was nicht zur Hand ist, scheidet als unbrauchbar aus oder gehört ins Land der Märchen. Das Land der Märchen steckt voller Lösungen. Was sie dort hintreibt? Wer soll das wissen. Was sie dort treiben? Aber das wissen wir doch: Sie treiben es bunt. Im bunten Märchenland, in dem eine Hand die andere wäscht, löst eine Lösung sich in der nächsten auf – spurlos, wie manche behaupten, aber das ist nicht wahr. Alles hinterlässt Spuren. Im Märchenland spuken die Lösungen, sobald sie auf- und abgelöst wurden, als Schreckanhalter herum. Sie halten den Schreck an wie andere Leute, wenn einmal etwas Unfassbares passiert, den Atem. Im Märchenland passiert nichts Unfassbares, alles ist nett und adrett wie am ersten Tag. Im Märchenland passiert überhaupt nicht viel. Die ältesten Märchen sind die jüngsten. Sie werden am meisten erzählt.
Lass sie gehen, die Lösungen! Immer hinein ins Land der Märchen! Keiner braucht sie. Lass dem Schweren die Schwere! Ehe drei Tage vorbei sind, ehe der Hahn dreimal kräht und die Osterglocken ins Kraut schießen, klärt sich der Himmel und die Tatsachen haben das Wort. Was sie damit machen werden? Keine Ahnung. Frage den Himmel, der über sie lacht.
Schreiben: die unterdrückten Sätze einer Epoche in Behälter
sammeln, in denen sie überleben. Der schöne Satz ›Das geht Sie
einen Dreck an‹ weist, wenigstens in Ansätzen, den Weg. Allerdings
hat Dreck eine Art zu überleben, die den Leuten manchmal den Atem
und öfter die Besinnung raubt. Auf seine Art ist er ein
Überlebenskünstler, er fackelt nicht lange, er ist, wie die
Wissenschaft, immer schon weiter. Diese seltsame Verwandtschaft mit
den Wissenschaften ist kaum jemandem aufgefallen, doch es gibt
Ansätze. Man findet Zeiten, in denen beide eine regelrechte Allianz
eingehen, aus der die Wissenschaft wie aus einem schweren Rausch
erwacht; sie versteht nicht, wie das passieren konnte und fühlt
sich fremd. Aber was heißt schon Wissenschaft? Auch in ihr stößt
man auf Drogen- und Hexenmeister, nüchtern bleiben immer die
Nüchternen. Woher also die unterdrückten Sätze nehmen, das nicht
Gesagte, das Gemurmelte, das schweigend hinzu- oder hinterher
Gedachte, das im Ansatz oder im Kopfkissen Erstickte, das vorzeitig
Abgetriebene, das zutiefst Unbewusste, das Vergessene und
Verdrängte, das Schmutzige und Verschmutzte, den verborgenen und
verbogenen Diskurs, da dies alles seine professionellen Liebhaber
hat, nebst den närrischen und den bösartigen? Woher
nehmen? Das ist eine Dreigroschenfrage, die den Schreibfluss
abrupt unterbricht und in ein Rinnsal verwandelt – genug für die
hohle Hand, in die es sich schmiegt wie ein Kätzchen, während es in
alle denkbaren Richtungen davonläuft.
Immer wieder bedarf es der Erläuterung alter Begriffe, die nicht so
handgreiflich zu verstehen sind wie Hausfibel, Schlohbart oder
Labelunz, die ja noch alle, jedenfalls im alten Schlesien, gut
bekannt und bis heute deutbar geblieben sind, mögen sie inzwischen
auch eine polnische Wiedergeburt erfahren haben.
Nun wird aber das ›Schreiblychten‹ oder ›Schreiberwyschen‹ Gerhard
Hauptmanns, aus dem einstmals tiefreligiösen, kleinritualen
Küchenwesen katholischer Kreise Schlesiens stammend, aufs Gröbste
missverstanden, ja angefeindet. Es gilt als kleinliches Treiben
oder gar Unfug der ehemals deutschen Behörden.
Weit gefehlt, denn es handelt sich keineswegs um Begriffe der
preußischen Bürokratie zur sparsamen Beleuchtung von Schreibtischen
oder zur Reinigung staubiger Akten, sondern um seltsame Heiltümer
frommer Gemeinschaften, die nach Jakob Böhme entstanden waren. Es
geht hier um tiefe Eingriffe in Tischsitten und Speisen und in
beiden Fällen um religiös gestaltete Butterwecken, die lange dem
frommen Adel als ›Aurorische Speysen‹ vorbehalten waren. Ihre
Zubereitung zur Weihnachtszeit ähnlich den ›Frumben Klunzen‹ oder
dem ›Heylisalz‹ sind leider weitgehend verloren gegangen.
Selbst Luther besaß als guter Kenner reliöser Sitten außerhalb der
Kirche einmal im Jahr deren zwölf, die er unverblümt seine getreuen
Apostel nannte und eigenhändig von seiner Frau in verborgener
Klostermanier aus dem grünlichen Mehl der Schüttlermühle zu Weimar
vorbereiten ließ. Feinste schwimmende Wachsscheiben wurden mit
einer im Wasser bewegten Kerze aus Glühstroh, das nicht erlosch,
mit allerlei Zeichen des Heils beträufelt, dann senkrecht durch ein
Seidengeflecht gepresst und auf die ungebackenen Wecken von je etwa
drei bis vier Unzen aufgetragen. Pulverisierte Haftstreifen aus den
Fäden junger Zuckerschwäne – das waren die damals handelsübliche
Honigschleifen der Neu- oder Frühbienen in Schwanenform – wurden
auf je zwei Kilogramm Lurleholzmehl (d.i. noch grün gebliebener
Weizen) umgewälzt oder untergeschlagen und so entstand das klare
und süße Netz aus heilbringenden Zeichen. Lesen konnte man sie
nicht.
Alles weitere besorgte irgendein abergläubischer Pfarrer, der sie
im Ofen des nächsten Bäckers, sofern er ein halber Ketzer war,
backen und glühend wie Glas zerfließen ließ. Viel blieb von ihnen
nicht übrig, aber die dünnen Scheiben aus Zucker und Fett waren
durchleuchtet von Heil, das immerhin, wie Luther anmerkte, soviel
Licht gab wie eine »Dreikreuzerkerze bescheidenen Umfangs«. In
ihrer Nähe vergoss man unweigerlich Tränen und erfreute sich in
vollkommener Aufrichtigkeit seiner eigenen guten Taten.
Niemand nahm Anstoß an diesem genießbaren Selbstlicht, selbst wenn
es später der Jesuit Philibert Gutenreiter in seiner Backstube des Hermas als
tiefdämonische Speise verdammte, »älter als Rom und das Christentum
und als Speise der Selbstergötzung zutiefst verwerflich«. Dennoch
haben sich Päpste und Bischöfe, Heilsgestalten und Mystiker, aber
auch zahlreiche gekrönte Häupter wenig darum gekümmert. Zu süß war
die lichtvolle Speise, zu selig die vergossenen Tränen im Selbstlob
barocker Freuden, als dass man darauf verzichtet hätte. Erst die
aufkommende Reuevernunft puritanischer Zeitalter hob nach und nach
diese Form der Seligkeit auf und man näherte sich aufs neue dem
Alkohol. - PM
Sich etwas von der Seele schreiben, wer wollte das schon. Oder
vielmehr: wer wollte das nicht? Die Seele ist doch kein Tischtuch,
von dem man die letzten Krümel wischt, indem man den Handballen so
oder so darüber hinführt. Was soll also werden? Was eine rechte
Schreibseele ist, gibt die Knechtseligkeit nicht so schnell auf.
Das Schreiben animiert nicht die Seelenkräfte, es animiert sich
selbst, es führt in eine Art Scheinbeseelung der Wörter, die zu
blinken beginnen, als begönne bei ihnen der Wörthersee. Das ist
eine alte Metapher, abgenutzt, wie man sagt, durch Gebrauch, er
liegt aber ganz still da, wenn man von diesem Glänzen absieht, das
sich vornehmlich bei Nacht zur Geltung bringt, doch man merkt’s
auch bei Tag. Vielleicht hätte ich schreiben sollen, manche merken
es auch bei Tag, aber ich mag nicht. Hingeschrieben besitzen die
Wörter eine Kraft, die sie im Mund nicht bekommen, wo einer sie
eher zerkaut als beseelt, vielleicht liegt es auch an der
Bekräftigung, die ihnen dort oft widerfährt und die vielleicht der
kleinen Meerjungfrau gilt oder einer Schaumpfeife, die sich einer
zu zerbeißen scheut. Zu Unrecht, wie wir wissen, zu Unrecht! Was
eine rechte Schreibseele ist, weiß sich auf dem Papier eher zu
helfen als auf dem Parkett. Das versteht auch die alte Genossin,
die es doch besser wusste, als sie noch jung war.
Das Theater der Schreie jagt durch das Unterbewusstsein der Leute, als sei es auf Schnitzeljagd: jeder Zettel zählt und jeder Fund ändert den wilden Lauf der Verfolger. Bloß im Ganzen sind sie verständigt und das große Halali nimmt seinen Lauf, als sei es von langer Hand eingeregelt. Was auch, mehr oder weniger, stimmt, denn das Gehör –... Zum Teufel mit dem Gehör! Wer hört? Was hört? Was wird gehört? Ich zum Beispiel höre, was nicht für meine Ohren bestimmt ist, ich verstehe ausgezeichnet, das ist keine Frage der Lautstärke, sondern der Frequenzen, also der Abstimmung, letztlich des Instruments, das einer mitbringt, hier wie dort. Alles drumherum empfinde ich als Geschrei: gehört, um verworfen zu werden. Die unerträgliche Tyrannei der verabreichten Meinung wird gemildert durch Verwerfung, sie findet nirgends gerade in den Gehörgang hinein, geschweige denn in den Verstehensgang. Die großen Vorgänge bleiben nicht unverstanden, weil sie so unverständlich wären, sondern weil das Verstehen sich sträubt. Es sträubt sich, sage ich, weil die Auslieferung des Gehörs, dieses vorgeschalteten Organs allen Unterscheidens, der Annullierung des Unterscheidungsvermögens gleichkäme und damit jedem Verstehen ein Ende setzte. Alle Aufmerksamkeit bedarf des Filters, einer physiologisch verkleideten Intelligenz, die anspricht – oder auch nicht. Man leiht sein Ohr, aber man überlässt es niemandem, es sei denn, man hört schon weg. Ansonsten gilt: es fällt mir wie Schreischuppen von den Ohren.
Buchstabenfüßchen des Homomaris. Lettern, die wie Brezeln oder entgeisterte Jungfrauen in allegorischen oder bloß unfertigen Landschaften herumstehen, kennt man seit der Antike. Homomaris gibt ihnen die Würde der freiragenden Existenz: nicht umsonst stehen sie auf eigenen Füßen, sie machen etwas daraus, für ihr eigenes Leben und darüber hinaus. Was genau sie daraus machen? Einmal das eine, einmal das andere. Es kommt ganz darauf an. Angewiesen bleiben sie auf die wie angeklebt wirkenden Füßchen, die sich selten bewegen, und wenn, dann nicht zum Guten. – Wie können Sie so etwas sagen? – Sagen wir, sie deuten diese Grundbewegung zum Guten, in selteneren Fällen auch zum Bösen an, aber sobald eines versucht, sie auszuführen, zeigt es sich gleich gehemmt und gefährdet den Buchstaben, den zu tragen doch seine Aufgabe ist. – Tragen sie immer denselben oder wechseln sie auch? – Manchmal glaubt man, sie bei Betrachtung eines anderen Buchstaben wiederzuerkennen, aber die Wahrnehmung bleibt verwaschen und der Eindruck kann täuschen. – Also eher wie Möbelfüße? – Schriftsteller, Möbelfüße, wo ist da der Unterschied.
Die Kunst schiebt sich weiter, sie springt, stürzt, torkelt auf
jede erdenkliche Weise in ihre Zukünfte hinein. Nur große
Kunstwerke rufen ein Nachdenken hervor, das über Dekaden geht, sie
verlangen eine überlegtere Antwort. Deshalb ist bedeutende Kunst
konservativ. Sie bewahrt die Fragen und reflektiert die Komplexität
der Antworten ihrer Vorgänger. Oberflächliche Gehirne konstruieren
daraus einen Rückstand gegenüber dem, was an der Zeit ist. Wer
Erstklassiges nicht zu sehen vermag, erkennt in ihm nur
Drittklassiges; es ist für ihn ›überholt‹. Das Dahinbrettern auf
der Überholspur, am besten im Pulk, gilt meist als
›professionell‹. Das mag sein, es stimmt fürs Profil wie für den
Profit. Wer einen schnellen Wagen besitzt, möchte ihn ausfahren. Da
wollen die fixen Jungs und Mädels nicht zurückbleiben. Eine Kunst,
die den Vorwärtsdrang küsst, ist Kunst zum Tode. Die
Schrottpresse ist ihre ›Destination‹.
Nichts einfacher als die Politik der Schuld. »Das soll ich gewesen
sein? Nie und nimmer! – Ich war es aber, und damit beginnt die
unendliche Suche. Wenn ich es war, wenn ich es wäre, wenn ich es
gewesen wäre, was hätte mich dazu gebracht? Zweifellos der wahre
Schuldige, das wahre
Schuldige, das Monstrum in oder außer mir, der Andere, das
Ungeheuer, das mich fortgezogen hat. Aber dieses Ungeheuer bin ich,
also bin ich ungeheuer. Seht her, ein Mensch! Wer wirft den ersten
Stein? Gern ließe ich mich steinigen, wenn damit der Gerechtigkeit
Genüge getan werden könnte. Gerade das möchte ich bezweifeln. Ich
opfere mich, seht her: Nehmt es ruhig an, mein Opfer, es wird euch
nichts nützen, denn ihr seid wie ich. Ihr glaubt, ihr hättet es,
anders als ich, nicht getan, aber ihr irrt euch. Euer Leben ist ein
Irrtum. Ich sehe klar, dafür nehme ich meine Schuld – die nicht
meine ist – auf mich, nur dafür, ich bin ein Erleuchteter, ihr
hingegen seid Erloschene, vor aller Zeit. Aber was habe ich getan? Etwas
wurde getan, lange vor meiner Zeit, vielleicht auch zu meiner Zeit,
in einer anderen Welt, einer parallelen Welt meinethalben, die
Verbindungen mögen hierhin und dahin gehen, aber es ist und bleibt
eine andere Welt und ich war und bin nicht beteiligt. Das bin ich:
des Unbeteiligtseins schuldig. Diese Augen hätten sehen können und
sie haben nichts gesehen. Und umgekehrt: Diese Augen sehen, sie
sehen hier und jetzt und es ist alles geschehen. Brennen wir sie
aus! Eine kleine Operation, eine Erlöschung, eine winzige Abtötung,
mit großen Folgen. Als Geblendeter stehe ich zur Verfügung, ich bin
bereit. Selbstblender, das bin ich, das ist mein Erfolg. Mir nach!
Die Wunde hat mich gesalbt, ich bin ein Krösus der Schuld, ich gebe
sie aus, in großer und kleiner Münze. Und wie ich sie ausgebe.
Keiner folge mir nach. Einzig stehe ich da in der düsteren Glorie,
unter einem schwarzen Himmel, der an den Rändern zu brennen
beginnt, auf festem Land, von dem ich weiß, dass die steigende Flut
es ertränkt, in einem Haus, das hinweggebombt ist und keiner sieht
es, in einem Körper, in dem die Furien der Vernichtung toben und
den ich pflegen werde bis ans Ende meiner Tage, das auch das Ende
meiner Welt sein wird, die eure ist, die nur eure ist, denn, unter
uns: Ich komme nicht in Betracht. Vergesst mich! Ich habe keine
Stimme, ich nicht, ich plappere nach, was man mir vorplappert und
plädiere auf Nicht
schuldig. Die Schuld hat keine Schuld. Möge die Welt in
Schuld versinken, meine Hände sind rein. Mein Kopf auch, ich muss
nur ein wenig nachdenken. Lasst mich nachdenken. Lasst mich... Aber
wo geht ihr hin? Lasst mich mit euch sein, bis ans Ende eurer Tage.
Ich will euch an etwas erinnern, was ihr nicht wisst. Ich will,
dass ihr es wisst. Ich will, dass mein Wissen in euren Köpfen Platz
nimmt, unverrückbar. Ich weiß, dass ihr wisst, aber zum Vergessen
neigt, gegen diese Neigung setze ich meinen Willen. Auch ich neige
zum Vergessen. Besäße ich nicht diesen granitenen Willen, wer weiß,
ich wäre wie ihr. Das ist nicht der Fall. Was ist schon der Fall?
Was fällt, muss man stoßen, hat einer gesagt, ein Wahnsinn,
anstößig, gewiss. Und doch ist es etwas, sagen wir... in der Ebene
der Wahrheit, nicht die Wahrheit selbst, aber sie ließe sich, von
einem solchen Satz ausgehend, vielleicht ertasten.«
Dem Ausdruck ›Schuldschein‹ eignet etwas Archaisches. Das liegt am Wort ›Schuld‹, das gegenüber den Schulden ein Mehr bedeutet, das niemals abbezahlt werden kann. Schuld büßt, sie zahlt nicht. Wer in eines anderen Schuld steht, kann zahlen, bis er blass wird – retten wird ihn erst der Entschluss, die Rechnung für beglichen zu halten. Es sei denn, der andere entlässt ihn aus seiner Schuld, was selten vorkommt, da ein zivilisierter Mensch den Gedanken, ein anderer könne ihm etwas schuldig sein, gar nicht erst aufkommen lässt. »Der schuldet mir etwas«: das ist keine Aussage, sondern eine Drohung, die selten ihre Wirkung verfehlt. Diese Art Scheinschuld vergiftet die Beziehungen zwischen den Menschen, sie schafft Ungeheuer an Taten und Naturell. Vor allem schafft sie Opfer – Menschen, denen langsam die Luft zum Atmen ausgeht, während ringsherum alle behaupten, sie seien das blühende Leben selbst.
Unter denen, die vorgeben, auf den Schultern von Riesen zu stehen
(man merkt es ihnen nicht an, aber es ist so, wie sie sagen), gibt
es wirkliche Schulterriesen, die den Eindruck erwecken, eine Rotte
geübter Athleten könne spielend auf ihnen Gebäude errichten, ohne
dass es sie weiter inkommodierte. Der Eindruck trügt, wie einmal in
aller Festigkeit ausgesagt werden muss. Der moderne Schulterriese
verträgt es nicht, dass man sich seiner Schultern bemächtigt. Schon
eine Mücke bringt ihn zur Raserei. Ein kleines Äffchen, ihm zu
einem seiner vielen Geburtstage geschenkt, resigniert nach dem
ersten Tag; trüb und verwahrlost dämmert es in einem Winkel seiner
Studierstube dem Ende entgegen. Man hat es mit Kindern versucht,
umsonst. Der Schulterriese zuckt und zagt, dass Gott erbarm’ – was
in diesem Fall eine bloße Redensart ist, denn von einem Gott der
Schulterriesen war nie die Rede. Vielleicht brächten Mikadostäbchen
den gewünschten Erfolg, doch der Versuch wurde wohl nie
unternommen.
Es ist nicht gut, auf den Schultern von Schulterriesen Platz nehmen
zu wollen. Sie verstehen vermutlich den Impuls nicht, man könnte
meinen, sie seien so mit der Pflege ihres enormen Oberkörpers
beschäftigt, dass sie bereits der Gedanke in Panik versetzt.
Vielleicht sind die vielen Spiegel schuld, von denen sie umstellt
sind und aus denen sie abwechselnd ihren Morgen-, Mittags- und
Abendanblick entnehmen, als werde er ihnen auf seidenen Tüchern
gereicht. Ein Schulterriese will frei sein, unbedingt frei sein, er
will nicht gebraucht werden, obwohl er das Gegenteil beteuert, er
verabscheut Verschleiß, lieber spricht er dem Alkohol zu.
Vielleicht glaubt er nicht, der zu sein, der er ist, oder die
Schultern sind bloßer Schein. Was aber wäre in diesem Fall ein
bloßer Schein? Ein nackter? Oder ein ausgestopfter? Auf jeden Fall
erhebt sich hier ein Problem, würdig des nächsten Symposiums, zu
dem er entschwebt, als gelte es, unbedingt als Giraffe zu enden.
So ein Anzug bietet einen gewissen Schutz, das weiß jeder, gerade
an Orten, an denen er leicht deplaziert wirkt. Das etwas Förmliche,
etwas Konventionelle, etwas Unverbindliche und etwas Eitle, das von
ihm ausgeht – lauter Kennzeichen des ›guten Stils‹, dieses
deplazierten (keinesfalls ›deplatzierten‹) Sprechens, das es
verdient, festgehalten zu werden. Der gute Stil verlangt nach der
Aufnahme, er setzt sie voraus, folglich die Geräte, deren es
bedarf, also des Apparats, der sie bedient, also der Kontrolleure.
Das ist der Schutz, den so ein Stil gewährt: er gewährt Sicherheit
im Schatten der Kontrolleure, die ein waches Auge darauf haben,
dass ihm nichts geschieht, und die alles festhalten, falls etwas
geschieht. Der gute Stil gefällt durch den Ärger, den der Ausdruck
des Misstrauens nach sich zieht. Er besitzt viele Feinde, der Gute,
die unschlüssig sind, ob die Drohung auch ernst ist, und einen
Haufen Schmarotzer, die durch Stänkern und billige Vorstöße auf
sich aufmerksam machen wollen – so, im Pulk, bewegt er sich
vorwärts wie der Herr Direktor über das Firmengelände, ein ferner,
fast unpassender Anblick für Arbeiter, die ihre Tätigkeit nicht
verlassen dürfen, weil sonst ein Unglück passiert.
Im Grunde müsste dem Staat auch die Mückenplage oder die Angst vor
Schlangen genügen, um umgehend den Schutz der Bürger vor ihren Grundrechten
zu veranlassen. Denn dieser Schutz geht jedem anderen vor, jedenfalls nach Ansicht eines bedeutenden Philosophen im fortgeschrittenen Alter, in dem bekanntlich die Angst vor Ansteckungen und Treppensteigen zunimmt (der Name tut nichts zur Sache). ›Der Staat bin ich‹, sagt so einer, ›falle ich aus der Welt, so bleibt ihm nichts zu tun. Also konstruiere ich mich vorderhand selbst und bastle mir meine mündigen Bürger nach
Bedarf. Der mündige Bürger darf alles, dessen ich bedarf. Die vordringlichste Operation im Gefahrenfalle besteht darin, den unmündigen
Bürger vom mündigen abzuscheiden. Der beste Bürger ist der,
der mir die Wünsche am Munde abliest, denn das ist wahre Freiheit,
kombiniert mit Gerechtigkeit, also dem, wonach wir alle dürsten. Es
kommt aber darauf an, den besten Bürger zum einzigen, zum einzig
zugelassenen, ja zum einzig denkbaren zu machen.‹ Wohin mit dem
Rest? Die Beantwortung dieser Frage überlässt man am besten dem
Pöbel. Die Emanzipation der Menschheit ist ein Elitentraum,
schließlich träumt Elite nie nur für sich selbst, sondern stets auch für
andere mit. In gewisser Weise ist sie der Traum der anderen, die träumen,
dass Elite handelt, was auch geschieht, wenngleich nur im Traum von
einem anderen Handeln. Dieses andere Handeln gleicht dem des Haupt- und
Staatsphilosophen aufs Haar, jedenfalls dem von ihm vorgeschlagenen,
weshalb Elite ihm auch nichts abschlagen kann.
›No fuck area‹: ursprünglich ›Eingreifarena‹: entwickelt für ölreiche Diktatoren mit akutem Machtstau südlich der sog. Sarkossi-Linie. Als probates Instrument der Nachbarschaftshilfe von der Weltgemeinschaft weitgehend akzeptiert. Inhaltlich verwandt der sog. Fluchverbotszone (»Du sollst keine eigenen Götter neben mir...«), zeichnet sie sich durch tiefergehende Vollmachten für beteiligte Organe bei der Penetration fremden Territoriums aus. PoZ(›Penetration-ohne-Ziel‹)-Blitz-Aktionen gelten als probates Mittel gegen den moralisch-finanziellen GAU der Betreiberstaaten, zumindest hübschen sie das Regieren vorübergehend an. Haushaltsexperten entlocken sie ein leichtes Zucken der linken Gesichtshälfte. Ansonsten gehen die Ansichten der Beobachter über ihre Wirkungen weit auseinander. Manche betrachten die NFAs als klassische Bodenbereiter für Bürgerkriege ohne Ausstiegsszenario zwecks Herstellung sogenannter failed states beziehungsweise fügsamer Klientenstaaten. Andere erkennen in ihnen das Antlitz des über alle Widrigkeiten triumphierenden Rechts der Völker auf die Anwendung des jeweils neuesten Völkerrechts, auszuführen in blood & oil, und recken in voreilender Achtung das Kinn. Wieder andere erkennen nichts und fragen sich erschüttert, was das alles bringt. Das sind Langweiler, verglichen mit denen, die ihr eigenes kleines Business in das Geschehen einbringen und finden, endlich sei es an der Zeit, dass Philosophen Despoten stürzen und Rechtsassessoren alle Großverbrechens-Begriffe, die sie gelernt haben, auf einmal zur Anwendung bringen, in der begreiflichen Annahme, dass sie beim nächsten Mal nicht mehr zu Wort kommen werden. Es ist ja nicht so, dass niemand ahnt, wie es laufen wird, aber die Weltgeschichte besteht nun einmal aus Glücksmomenten und einer davon ist jetzt. In tyrannos! So darf jeder denken, was er will, vorausgesetzt... der Eingriff wird gebilligt. Es geht nicht darum, was jeder denkt. Denken kann jeder.
Schneeweiß und voller Grazie schwebt die kleine Meerjungfrau auf
Messers Schneide vorbei. Den Balken im Auge des Prinzen übersieht
sie dabei geflissentlich. Schließlich trainiert sie olympisch und
die Erringung einer Goldmedaille ist dem illegalen Erwerb eines
Traurings nicht nur vorzuziehen, sondern in Zeiten globaler
Engelmacherei das Gebot der Stunde. Gegen diese Art der Bewegung,
die in ihrer mädchenhaften Grazilität alle Kröten zum Schweigen
bringt und ihnen die Geldstücke im Maul verschimmeln lässt, ist die
Akrobatik auf dem gemeinen Barren als rabiates Stuckwerk anzusehen,
das nicht zur Betrachtung kommt. Alle Laufstege dieser Welt jedoch,
die die Ausübung maximaler Grazie mit minimaler Unterfütterung
erlauben, sollten sich hüten vor der Kasuistik rabulierender
Wanderprediger, die ihre Mission so interpretieren, dass sie zu
berechnen versuchen, an welcher Stelle genau sich der Übergang von
High Heels zu High Noon vollzieht. Dass es sich
dabei um einen Übergang handelt, der sich selten ergibt, wenn die
Sonne am höchsten steht, da die Schwebepartikel in den Augen der
Menschen durch das grelle Licht vervielfacht werden, ist nicht
weiter zu erwähnen und liegt in der Natur nicht nur der Sache. -
AC
»Lass die Toten die Toten begraben.« Der Sinn dieses Satzes erschließt sich spät. Ihm voraus liegt das Opfer. Welches Opfer? Darüber lässt sich nur mutmaßen. Wen es betrifft, der schweigt. Unverbrüchlich? Wer sein Schweigen nicht bricht, der wird zerbrochen. Besser, eins bricht mit dem anderen.
Niemand fasst diese Texte an und das ist gut so, denn allzu viele Blicke sind schweigend auf sie gerichtet. Auch sind es keine Texte zum Anfassen. Sie würden sich wellen, krümeln, in wenigen Minuten wäre alles vorbei. »Wo ist der Text?« bellt dann der Leser, er will sich einbringen und nichts lässt ihn ein. »Bleib draußen«, bedeutet ihm die Stille nach dem Text, die Stille, die endlich frei hat. »Frei wovon?« möchte der Leser, halbwegs versöhnt, von ihr wissen, er ist gebildet und weiß, dass die entscheidende Frage noch kommt. Aber so entlockt er ihr nichts. Schweigetexte stellen ihre Fragen selbst. In einer Welt von Beschäftigten könnte man argwöhnen, sie beschäftigten sich mit sich selbst. »Wie die Kinder«, wirft ein Kritiker ein und kommt sich erwachsen vor. Doch der Einwurf misslingt und die Münze rollt auf den Boden. Auch der Argwohn vergeht und macht der Zuversicht Platz, dass alles am Ende... ja was denn? Nicht soviel bedeutet? Seine Ordnung hat? Hat es sie nicht? Woher soll sie dann kommen? Und wer, sollte sie kommen, könnte mit ihr etwas anfangen? Das könnte es sein. Schweigetexte haben den Anfang hinter sich, sie fangen überall und nirgends an. Wer mit ihnen etwas anfangen möchte, sieht sich bereits angefangen und sogar, wer weiß, zu Ende gebracht, bevor der Hahn dreimal kräht und der Morgen graut. Ist das erlaubt? Er weiß es nicht und, ehrlich gesagt, es interessiert ihn nicht sehr. Schon sitzt er in seiner Maschine und gibt Gas. »Gib Stoff!« sagt er und schaltet den Nachbrenner ein.
Ich will eine Schwelle überschreiten, ich weiß nicht genau, welche es sein wird, wie sie sich entwickelt, was alles hinter mir liegen wird, sobald ich sie überschritten habe. Vor allem habe ich keine Vorstellung davon, ob ich gerade im Begriff bin, sie zu überschreiten, oder ob ich mir das alles nur einbilde, dass mich das Wort ›Schwelle‹ verführt und das, was es mir vorgaukelt. Dennoch werde ich das Gefühl nicht los, dass gerade das geschieht, obwohl ich es nicht wissen kann, es kommt auch nicht als Wissen, sondern als Empfindung daher, gerade so, wie man sich das Überschreiten einer Schwelle vorstellt, als sei da ein Widerstand, der überwunden werden muss, ein Wahrnehmungswiderstand, obwohl ich doch alles wahrnehme, was in und um mich geschieht, ohne auf irgendeinen Widerstand zu stoßen. Ich stoße also und stoße nicht, ich stoße an und es wird mir aufgetan, aber eigentlich wird mir aufgetan, ohne dass ich anzustoßen Gelegenheit fände, ich befinde mich ja schon immer in diesem Raum, nur seine Dimensionen werden mir langsam klarer. Gebe Gott, dass es so bleibt, dass niemand daherkommt, der ihn, einfach im Vorbeigehen, einreißt.
Der Westen wird … ja was denn? Er wird an der Wunde Gleichberechtigung verbluten, weil er kein anderes Maß kennt als die Statistik. Gerade die Statistik aber kann über Gleichberechtigung keine Aussagen treffen, es sei denn, man hält das Gleichheitszeichen bereits für den Treffer. Der erste und wichtigste Treffer ist die Annahme, dass ohne Ansehen von Person, Geschlecht, Religion, Herkommen und Überzeugung alle Glieder der Gesellschaft dasselbe wollen, nämlich Karriere machen – in dem lächerlichen, absurden und ärgerlichen Sinn, den Gehalts- und Prestigespiegel einander wechselweise vorhalten. Ohne die primitive Tyrannei des Vor-Urteils vor jedem Urteil, das der Einzelne, der diese Bezeichnung verdient, sich über die Gestaltung seines Lebens abverlangen muss, ist gesellschaftlich nichts zu machen. Der lebendige Ausdruck dieser Tyrannei ist die – förmliche oder informelle, auf Denkverboten beruhende – Quote, die dafür sorgt, dass die Statistik stimmt, auch wenn an der Auswahl von Begabungen und Charakteren nichts stimmt. Aber nicht die Quote an sich ist das Übel, sondern das Erzwingungsverhalten seitens der politischen Akteure, die darüber hinwegtäuschen wollen oder müssen, dass die gesellschaftlichen Rollen insgesamt überdacht werden müssten, wollte man die wirklichen Ungleichgewichte beseitigen oder zumindest erträglicher gestalten. Wenn siebzig oder achtzig Prozent der real angebotenen Tätigkeiten subjektiv als ›Scheiße‹ empfunden und gesellschaftspolitisch als suboptimale Ressourcen-Nutzung denunziert werden, der es um dringender Emanzipations-Bedürfnisse willen zu entrinnen gelte, dann stimmt entweder etwas an der Ökonomie nicht oder am Geisteszustand der Gesellschaftsplaner. EU-Quoten für Schwerstverdiener/innen in Vorstands-Etagen bekämpfen kein Übel, sie sind sein – vorerst – dreistester Ausdruck.
Der Schwertvogel, sagt man teilt die Lüfte, er teilt sie nur
mit sich selbst, ganz ohne Flosse, anders als sein Verwandter im Worte, der
Schwertfisch. Nein, die beiden haben nichts miteinander gemein außer
dem verrückten Schwert im Namen, über das alle Welt sich beschwert.
Selbstteiler sind nicht beliebt außer bei sich selbst, sie sind
selbstverliebt und daher über die Maßen glücklich. Das Glück,
könnte man sagen, ist ihr Unglück. Ein Schwertvogel zum Beispiel
bringt sich die absurdesten Wunden bei, bloß aus Selbstverliebtheit.
Zeigt man ihm, wie hassenswert er in Wirklichkeit sei, dann
erschrickt er einen Moment und schwingt sich ins Luftmeer, wo niemand
ihn kennt. »Ein Schwertvogel!« rufen die Leute und zeigen nach
oben, dorthin, wo sie die Stirn vermuten, aber nicht ihn meinen sie,
sondern einen von seiner Sorte. Zu mehr bringt er es nie, da
mag er austeilen, soviel er will.
Auf dem Scheitelpunkt des Tabus erscheint der Fürst der Finsternis
und lässt seine Meute los. Nein nein, er hetzt sie auf nichts, mit
entsetzlicher Langmut bindet er sie los und entlässt sie: Gehet
hin, ihr seid nun erwachsen. Das ist ein schönes Wort für Gebildete
und Menschen mit einem Atem, der über Kontinente reicht: So hörbar
müsste es sein, aber das Gegenteil ist der Fall. Es ist das
geflüstertste aller Worte, es zischt nur ein wenig dort, wo es
ausgesprochen wird, wie wenn jemand Wasser auf dem Herd
verschüttet, weil er einen Topf beiseite rückt.
Ein Tabu verhängt man nicht folgenlos, schon gar nicht über ein Land. Man errichtet damit eine Tabugesellschaft, die ihre Belange nach und nach über die Errichtung neuer Tabus regelt, bis am Ende die ganze geheiligte Kritikfähigkeit und -bereitschaft der Moderne zur frommen Mär verkommen ist. Das Tabu frisst sich durch. Öffentlich verhängte Sprachregelungen sind, nicht anders als im privaten Bereich, Tabus: Wer eine kennt, kennt sie alle – nicht in extenso, aber in effectu, er laboriert an ihren Auswirkungen, schon bevor er mit ihnen, wie es so sinnig heißt, konfrontiert wird. So soll es schließlich auch sein: Hüte deine Zunge! Hüte dein Denken! Sei Schaf und Hirte zugleich! Wenn dir das Schwierigkeiten bereitet, so gib dein Denken dran oder denke für andere, das geht leicht und verleiht Macht. Es gibt Sprachregelungen z. B. im religiösen Bereich, die dem öffentlichen Frieden dienen, sie sind – jedenfalls in liberalen Rechtsordnungen – passiver Natur, sie gebieten Rücksicht, sie schützen ein bestehendes Tabu, aber sie richten kein neues ein. Die neuen Tabus tendieren dazu, solche Formen der Rücksichtnahme aufzuheben, sie verlangen Gehorsam, indem sie verletzen, und sei es das simple Sprachempfinden – die Sprache selbst erhebt sich früher oder später gegen sie und spricht sich frei, das sagt ein anthropologisches Gefühl.
Was dem einen sein Auskultationshämmerchen und dem anderen seine
Wünschelrute, das ist einem dritten sein Tabu: wo sich die Rede der
Zeitgenossen verhärtet oder verschwimmt, wo sich Lücken im
Sprechfluss auftun oder Abgründe, wo alle schnell weitergehen oder
die Absperrungen so unübersehbar sind, dass erst gar keiner hingeht, da
erwacht seine Aufmerksamkeit und die Sprache gewinnt eine Schärfe
und Klarheit, die ihn sonst eher langweilt und die er auf vielerlei
Weisen abzubiegen gelernt hat. Fragt man, was es sei, erteilt er
eher ausweichende Antworten; er liebt es nicht, das Tabu
zu definieren, vermutlich, weil er argwöhnt, derlei behindere ihn
bei der Arbeit. Er spürt es, er holt es aus den Reden der Menschen
ebenso heraus wie aus ihren Mienen, ihren Absichten und
Institutionen, manchmal könnte man meinen, es sei das, worauf eine
abgründige Natur ihn dressiert hat; einmal entwischte ihm die
Bemerkung, es sei das
Wirkliche. Das bestimmt ihn zum Arbeiter im Bauch der
Gesellschaft, er kommt selten heraus, und wenn, dann allenfalls, um
ein paar scheue Blicke zu werfen. Er ist nicht mehr jung und
erinnert sich voller Hohn an die Zeiten, als bärtige junge Männer
gemeinsam mit lachenden jungen Frauen sich daran machten,
reihenweise Tabus zu brechen. »Sie dachten an Regeln und merkten
den Unterschied nicht, so sehr waren sie seine Sprösslinge.«
Sprösslinge des Tabus – er
hält die Filmrechte an diesem Titel, aber er vergibt sie nicht.
Die Kinder des Tabus sind sanft und willig und beißen, wenn sie nichts anderes zwischen die Zähne bekommen, auch gern ins Gras. Warum denn nicht? scheinen ihre Gesichter im Todeskampf zu sagen, und in der Tat, warum denn nicht? Andere werden bockig und beißen auf Granit. Ist das erstrebenswert? Unangefochten tanzt das Idol.
Im Yagir gilt als ausgemacht,
dass, wer auf ihr balanciert, nur ein Verräter sein kann. In
Wahrheit ist die Tabulinie eine imaginäre Route, die kreuz und quer
über Land führt, hier eine Eisenbahnlinie quert und dort eine
Großstadt. Zum größten Teil verläuft sie durch karges Gelände, wo
auch einmal ein Halm sprießt und eine Katze in der Sonne erwacht.
Das macht bereits einen guten Teil ihrer Beliebtheit aus. Denn das
ist sie: beliebt. Im Sommer sieht man Scharen von Schulkindern auf
ihr ausschwärmen, in der Mitte einherschreitend, den Kompass in der
Hand, die würdigen Damen und Herren des Lehrkörpers. Allerdings
ändert die Tabulinie ihren Verlauf von Jahr zu Jahr, was die
Lehrer, ein wenig faul von Haus aus oder auch überbeschäftigt,
weitgehend ignorieren. Sie übernehmen einfach die älteren
Koordinaten und lassen sich den Weg vom Kollegen erklären, der
damals die Exkursion durchführte. So geht das Jahr für Jahr. Es
passiert, dass sich einzelne Gruppen im Gelände begegnen, sie
kommen von verschiedenen Seiten und streben in unterschiedliche
Richtungen. Höflich plaudern die Erzieher miteinander und schütteln
insgeheim über einander die Köpfe. Die Schüler, ohnehin überzeugt,
dass alles nur ein Vorwand ist, um sie ins Gelände zu locken, haben
damit keine Probleme. – Manchmal streift ein einsamer Wanderer mit
der Balancierstange durchs ebene Gelände, man kann sicher sein, das
ist nur Bluff und die Kamera fährt mit. Es soll aber Leute geben,
ausgerüstet mit einer inneren Wünschelroute, die unbeirrt auf dem
Spannungsgrat entlangwandern, zur einen Seite das verbotene, zur
anderen das verstattete Land. Einem der ihren gilt das eine wie das
andere als unbetretbar, obwohl sie im Gespräch zugeben, dass es
sich hier wie dort um Arenen des Erlaubten handelt, je nachdem,
welche Art Leben einer zu führen wünscht. Welche Art
Leben... da lacht der Tabugänger kurz und trocken, er muss
weiter, zu einem ausgedehnten Gelächter reicht die Zeit nicht, sie
fehlt ohnedies an allen Ecken und Enden.
Diejenigen, die sich aufmachen, der Gesellschaft das letzte
Geheimnis zu entreißen, stoßen am Ende auf den Begriff des Tabus.
Im Tabu wird die Gesellschaft undeutlich, sie verschwimmt sich
förmlich vor Augen und entschwebt in Nebeln, deren Vorhandensein
sie mit gleicher Verve betont und bestreitet. Es ist alles eins.
Nebulös erscheint bereits der einst von der Peripherie der
Kolonialsysteme in die Mitte eingewanderte Begriff. Heute, da
Zentrum und Peripherie nahezu dasselbe bedeuten – »auf dasselbe
hinauslaufen«, wie G. eine Spur zu lässig betont –, hat er jede
Kontur eingebüßt außer der des Verschwimmens und des Meidens ohne
klare Begründung, der kollektiven Blicklosigkeit im klassischen
Irgendwie. Das Tabu ist der Märchenspiegel, in dem einer, der
hineinblickt, sich selbst nicht findet. Das beruhigt und beunruhigt
in einem, es bezeichnet einen der Anlässe für die heilsam genannte
Unruhe, in der sich Gesellschaft erhält. Das Hervortreten des
Tabus, seine mit Händen zu greifende Anwesenheit ist ein Grund für
die Entkräftung der Kritischen Theorie, die sich in der
Gesellschaft einen, wie es zeitweise schien, unhintergehbaren
Adressaten gegeben hat, der sich indessen unentwegt selbst
hintergeht.
Das Tabu fällt, je nach Betrachtungsart, vollständig in das Gebiet
der Gesellschaft wie aus ihm heraus. Man sollte nicht vorschnell
das Wort ›Kultur‹ an dieser Stelle gebrauchen. Eher könnte man
sagen, die Gesellschaft entspringt dem Tabu wie... –
davon sei hier nicht die Rede. Das Undeutliche der menschlichen
Verhältnisse legt es nahe, sie nach klaren Regeln zu organisieren,
an die sich alle zu halten haben. Es wird aber durch diese Regeln
nicht beseitigt, sondern nur zurückgedrängt. So kann es eine
Zeitlang den Anschein haben, als sei es im Rückzug begriffen und
werde irgendwann von selbst verschwinden. Doch die Türen stehen
bereits offen, durch die es zurückströmt. Insofern steht das Tabu
jeder Gesellschaft bevor, die auf diesen Namen Anspruch erheben
kann, der Gesellschaft, die sich in Bewegung befindet (was nichts
anderes heißt, als dass sie die Regeln neu oder schärfer oder
diffenzierter zu fassen strebt, nach denen sie funktioniert). Es
steht ihr bevor, es steht vor ihr, sobald sie einmal beschließt,
den Blick zu heben und das eigene Antlitz im Spiegel des Anderen
aufzusuchen, der ins Hilflose gesteigerten Unnatur.
Doch das Tabu ist mehr als nur der ungewisse Rand von Gesellschaft.
Es bezeichnet, was sich nicht schickt oder ziemt, es markiert
etwas, angesichts dessen der verträgliche Charakter des eigenen
Tuns spontan kollabiert, so wie ein mühsam im Grenzbereich
stabilisierter Patient plötzlich und unerklärlich zusammenbricht.
An dieser Stelle beginnt die Hatz, die das Werk der Zerstörung
physisch vollenden, es zum Absch(l)uss bringen will, sofern sie
überhaupt etwas will, was so nie gesagt wird. Die Hatz bricht aus
dem Tabu hervor wie aus einer Wand, die, eben noch glatt und schier
undurchdringlich, auf einmal die Poren zeigt wie andere Leute die
Zähne. Wie glatt oder porös sind die Grenzen der Gesellschaft – ein
Fragezeichen für jeden, der sich gern an den Rändern herumdrückt,
aber keine Lust verspürt, geteert und gefedert, gerädert und
gevierteilt oder ungefragt in einen der vielen herumstehenden
Müllschlucker entsorgt zu werden. Am besten, so denkt er, stünde
dieser Gesellschaft der Verzicht aufs Tabu zu Gesicht, aber gerade
das ist auf keine Weise zu haben. »So ist das also mit ihr, ich
hätte es mir gleich denken können. Nun, da ich es weiß, weiß ich
mehr als genug. Wann wäre schon genug? Und wann, frage ich, wäre
Gesellschaft sich selbst genug? Ich frage ja nicht, ich merke nur
an, aber ich merke es an den Brauen, schon braut sich etwas
zusammen. Ach du liebes bisschen.«
Du bist nicht vorhanden: das ist ein Vorteil. Ich will jetzt nicht auf das übliche Lob der Anonymität hinaus, auch nicht darauf, dass du es nicht ins Zentrum der Aufmerksamkeit geschafft hast und deshalb Entlastung brauchst. Nein – sagen zu können, niemand habe gesehen, und dieser Niemand zu sein, was sage ich, zu wissen, dass man dieser Niemand ist, geht über jede Vorstellung hinaus, die einer zu geben imstande ist. Schluss mit der Vorstellung, sagen die Leute und meinen damit, es sei die Pflicht jedes Einzelnen, zu begreifen, dass er schlussendlich stört. Alles Vorhandene trägt den Stempel der Unvernunft, was sage ich, des Unredlichen, das vorprescht, bevor es sich in Dunst auflöst, was alles in allem die beste Lösung verspricht. Die reichlich Vorhandenen reiben sich ihresgleichen hin, als gelte es, Buch zu führen über die Ungerechtigkeit, nicht völlig in der Wahrnehmung anderer aufzugehen. Besser wäre es, sie führten nicht Tagebücher, sondern Nachtbücher, um ihre Schlafphasen zu dokumentieren, ausgenommen den Traum, der mit allem im Bunde steht, was zur Wahrnehmung drängt, und zu jeder Lüge das Seinige beisteuert.
Dieser Künstler hat ein bedeutendes Talent und ist auf die andere
Seite gegangen. Das ist nichts Besonderes, es passiert alle Tage,
schon ein »Hoppla!« wäre zuviel des Aufsehens, man sollte es sich
tunlichst verkneifen. Er ist dein Freund, jedenfalls kommt es dir
so vor, du hast dich an diese Fiktion gewöhnt, sie ist dir sogar
teuer, aber sie verstellt dir den Blick, und so, wie du dich
anstellst, könnte man meinen, du schleiftest eine Leiche durch die
nächtliche Straße: verdächtig, höchst verdächtig! Er hatte ein
Talent und sucht, getreu der protestantischen Ethik, den Erfolg. In
der Kunst ist die
protestantische Ethik so etwas wie das Wasserballspiel unter den
Sportarten: Man muss schwimmen können, um überhaupt spielen zu
dürfen, man muss verdammt gut schwimmen, um gerade einmal so zu
spielen, dass die Dribbler zu Lande darüber nur lachen können.
Deshalb hat man die großen Arenen geflutet, auf dass kein Vergleich
möglich sei. Man hetzt die Talente ins Wasser, als trügen sie
Haifischflossen, und manchen unter ihnen wachsen in der Tat welche,
das bekommen die anderen rasch zu spüren. Die Kunst ist kurz und kompakt, es kommt
darauf an, sie durchzusetzen. So hörten wir es in jungen
Jahren und sahen die Kompaktkünstler nacheinander auf ihren
Treppchen den Minutenruhm abkassieren, Küsschen rechts, Küsschen
links; was sich in den kurzen Paketen befand, die man ihnen unter
die Achsel schob, entzog sich der allgemeinen Kenntnis. Oder auch
nicht. Was herauskommen will, findet seinen Weg immer, manchmal
zerbricht eine Flasche und entleert ihre Flüssigkeit pur. Wer sich
benässt, erregt – im besten Fall Aufsehen. Ein Talent, ohne
Zweifel.
In Tantenhaft lebt sich’s, vor allem in Anbetracht ihrer Ur‑
und Vorgeschichte, erstaunlich gut. Man kommt nur schwer hinein und
noch schwerer wieder heraus. Unsere Tantenhaftanstalt zum Beispiel …
aber was rede ich? Kommen Sie mit, schauen Sie sich um! Wir haben, das muss ich doch bemerken, gerade einen neuen Satz Tanten
bekommen, flotte Aufseher-Bienen, wenn Sie mir den Altmänner-Sexismus
durchgehen lassen, aber sie saugen ja… Sie saugen jedem den
Lebenssaft aus, wer weiß, wohin sie ihn bringen. Sie reden ein
bisschen viel, jedenfalls für meinen Geschmack, ich habe gerade
gestern mit dem Pastor darüber gesprochen, der auch hier lebt und
das gute Essen schätzt. Er genießt das Leben in vollen Zügen, der
Herr Pastor, seit ihm die Pastorin in der Gemeinde den Rang
abgelaufen hat. Weg vom Fenster ist er, da nützen auch die neuen
Stöckelschuhe nichts mehr. Aber wenn ich ihm das ins Gesicht sage,
lacht er mich aus. Ein paar Angsthasen behaupten, man höre uns hier
ab, um etwas gegen uns in der Hand zu haben, aber das ist lächerlich.
Schließlich sitzen wir schon, wohin soll die Reise denn gehen? Man
sorgt für uns, so sind wir aller Sorge bar. Manchmal sorgen wir uns
um sie, wie mag es ihr gehen? Ganz ohne Sorge geht die Chose nicht.
Wir sorgen uns viel und oft um die Welt da draußen, die wir fast nur
noch vom Hörensagen kennen. Zum Beispiel die Frage, ob es gerade zu
heiß oder zu kalt ist da draußen, beschäftigt uns sehr. Man sagt,
die Welt gehe in dem Moment unter, in dem uns das nicht mehr
kümmert. Dabei sind wir ihr gleichgültig bis zum Exzess. Nur ein
paar dumme Jungs hopsen immer wieder über die Mauer und erschrecken
uns Altinsassen sehr. Zum Glück haben die Tanten für sie schon gedeckt und
so beruhigt sich alles ganz schnell. Aber der Honig … es gibt keinen
Honig mehr zum Frühstück, das ist auffällig und verheißt nichts
Gutes.
Der Biologismus ist die Tartüfferie der Seele, ihr Hopplada, eine
leichte Herausforderung für alle, die es schwer nehmen, wenngleich
nicht besonders. »Aber man muss doch erklären können –.« Man muss,
man muss. Eins durch das andere. Das Körper-Ich reibt sich die
Hände, während das andere barfuß Handstand übt. So kommen sie
weiter, vor ihnen liegt eine große Fläche. Verdopple mich, sagt das
Körper-Ich, ich weiß, dass ich’s bin. Das andere schweigt, es mag
sich nicht aufregen. Außerdem schweigt es nicht wirklich, denn, wie
immer man’s nimmt, im Körper-Ich weiß es sich redend. Wozu reden,
so mag es meinen, wenn doch Rede ist? Oder geht, wie man es nimmt.
Der Redefluss ist der Speichel der Seele, sie sieht sich im
Spiegel, sobald sie auf ihn herunterblickt. Das bin ich, sagt sie,
huch, wann hätte ich das gedacht! Sie hat kein Zahlengedächtnis,
die gute, daher gilt ihr alles gleich. Wenn das Körper-Ich morgens
die Waage besteigt, schlägt Seelchen die Hände über dem Kopf
zusammen: wie kann man nur so viel wiegen? Es selbst wiegt nichts,
behauptet es fest und wartet darauf, dass die Waage es besteigt.
Der Westen endet, bei untergehender Sonne, zwischen den Hügeln, die, näher kommend, sich als ausgewachsene Berge erweisen, als Massiv, das nur bombardiert werden muss, damit es weiter gehen kann, zügig, wie denn sonst. Ein Massiv kann nicht bombardiert werden. Militärs wissen das, doch gehorsam, wie man sie will, wissen sie Mittel und Wege, ihr Wissen zu verschleiern. Sie bomben gehorsamst und richten sich darin ein. So genießen Zivilisten als untergehende Sonne, was für den, der Bescheid weiß, lodernde Brände sind, ausgelöst durch gezielte, klein erscheinende Ausrottungen, deren Zweck darin besteht, die Bösen zu vernichten, was nie falsch sein kann. Die Zivilisten behandeln den Rest der Welt, den sie nicht sehen, als Müll und glauben, manches könne man wieder verwenden, wenn die Zeit dafür reif und der böse Rest verschwunden sei. Sie sehen den Abfall nicht, der sich in den Blicken der anderen malt. Der Kampf der gefallenen Engel auf dem Müllhaufen der Geschichte hätte etwas Erheiterndes, wenn er nicht ununterbrochen Menschenleben forderte, eines Theseus harrend, um der Geschichte ein Ende zu machen. Ariadne spielt mit dem Faden, sie würde den Gang ins Labyrinth auch allein antreten, aber sie macht sich nichts aus Geschichte und bleibt deshalb draußen. Man kann nicht sagen, sie warte auf Theseus, sie ist geschäftig und zweifelt an ihren Kräften.
Man muss ein paar Wörter in die Tasten schlagen beim Übertritt in das Jahrzehnt, das die Entscheidung bringt, ob einen das Schicksal alt oder sehr alt konzipiert hat. Die Leute legen Wert darauf, sich dabei nicht alt zu fühlen – eine einfache Übung, für die es genügt, Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Anflüge von Resignation und, geben wirs zu, Erlöschensphantasien für diesmal beiseite zu setzen, sie weichen ja freiwillig. Körpergefühle der gröberen Art zeigen sich unbeeindruckt, man kann ihnen den Krieg erklären, nun, da man die Hände frei hat und eine gewisse Erwartung sich legt. Letzteres scheint das Entscheidende zu sein, das vom Himmel fallende Manna, die Speise, die sich selber nährt. Erwarte nichts von dem, was kommen wird, erwarte von dir, was noch kommen soll. Es gibt eine Altersmunterkeit, die die Jungen verblüfft und ein Stück weit täuscht. Von ihr fühlt man sich meilenweit entfernt und plötzlich, übergangsweise, seltsam angezogen, als läge in ihr die Lösung des Lebensproblems, das bleibt, dabei misstraut man ihr heftig und würde sie gern in die Rumpelkammer verbannen, in der die alten Rollen liegen, die heute nicht mehr gebraucht werden, obwohl sie einst auf den Bühnen die Welt erheiterten. Diese Welt hier will nicht erheitert werden, sie findet sich ›komisch‹ und weiß nicht, wie ihr geschieht. Es ist, als würde alle Welt plötzlich sechzig und fragte sich, was das nun wieder bedeute. So vieles hat man durchlaufen, dessen Bedeutung nicht wirklich klar wurde, dass der Satz, es habe nichts zu bedeuten, einem gründlich verleidet ist, er gehört zu den Unsätzen, die auf Unfug deuten und Unsicherheit. An diesem Tag erscheint sie gebannt, die alte Unsicherheit, an diesem Morgen zumindest, das Dasein jedenfalls erweist sich als fester Bestandteil des Sinns, bloß als Erreichtes.
Auf ihre alten Tage wird die Theologie noch einmal kämpferisch und verspricht, alles anders zu machen, vorausgesetzt, sie bekommt den Kredit, den man ihr zäh und langsam entzogen hat. Sie hat eine eigene Vorstellung vom Menschen und seinen Rechten und verspricht, sie rigoros durchzusetzen. »Vergesst, was ihr habt, denn ihr habt es nicht wirklich. Man bewirft euch mit falschen Werten, als seien es Taubeneier. Das Gegenteil ist der Fall.« Manche, die sich frei wähnen, vernehmen die Botschaft und sind bestürzt. Wie, wenn sie recht hätte? Wäre dann alles anders? Wohin gehen die Errungenschaften, wenn sie errungen wurden? Gehen sie in die ewigen Jagdgründe ein? Oder stehen sie im Keller, mit Planen bedeckt und sorgfältig ausgezeichnet? Fragen, Fragen, nur die Antworten stehen dahin. Es ist alles so ungewiss und diese da sind so sicher. Was macht sie so sicher? Sie haben sich der gerechten Sache verschrieben und lieben den Kampf gegen das Heute, in dem ihr nicht Genüge geschieht. Aber: wenn die Uhren zurückgedreht werden, wo stehen sie dann? Im Futur? Vor allem: was zeigen sie dann? Zeigen sie noch die Zeit oder bloß, wo sie stehen? Wo stehen sie denn? Im Keller? Bei den Planen? Dort stehen sie längst. Was also wollen jene, die nicht länger nach Gerechtigkeit dürsten wollen? Den ersten Stein aufheben? Oder den zweiten? Ist der zweite nicht so schlecht wie der erste? Der erste beste oder der bessere erste? Nein, die Straße ist vielleicht nicht der Ort, das zu entscheiden. Wollen sie überhaupt etwas oder ballern sie nur in die Luft? Vielleicht erschrecken sie eine Taube und ein Ei fällt in ihren Schoß.
Die Taube, einmal abgeschossen, bekommt vor jedem Gericht der Welt Recht. Warum?
Weil sie nichts verbrochen hat? Ich bitte Sie! Wer hat schon etwas verbrochen?
Gemeine Verbrecher sehen anders aus. Das Recht der Taube ist das Recht darauf,
nachdem der Aufschlag vernommen wurde, als Zeichen des Friedens verehrt zu
werden – keine Sekunde früher, aber dann unbedingt. Das Recht der Taube besteht
darin, durch die Brust geschossen zu werden, nicht ins Gehirn oder ein anderes
ehrenwertes Organ. Ist das alles? Nein, keineswegs. Das Recht der Taube, einmal
ergangen, schlägt alle weiteren Rechte mit Taubheit. Es schlägt, so betrachtet,
das Recht der Bürger auf ihren eigenen Staat: Recht vor Recht. Warum? Das ist
leichter gesagt als begriffen. Wer schert sich um den inneren Frieden, solange
er herrscht? Erst wenn er tot ist, treten die Schützer hervor und verrichten ihr
Handwerk. Dann zieht ein anderer Frieden ein, ein klirrender, auch wenn die
Sonne am Himmel steht und alles wärmt. Vom Schützen zum Schützer braucht’s nur
ein Rrrrrrh – ein Knurren, je leiser, je effektiver. Das Knurren der Schützer
ist das Knurren der Beschützten, nur seitenverkehrt. So lässt sich im Nachhinein
schwer erkunden, wer knurrt und wer damit anfing. Also ist es sinnvoll, das
Nachhinein gleich beginnen zu lassen, um freie Hand zu haben. Da liegt die
Aufgabe der freien Faktenpresse, die sich die Freiheit herausnimmt, Fakten zu
pressen, bis sie ins Bild passen. ›Framing‹ nennt das die Wissenschaft, die es
an ihren Schützlingen probt: einmal ausgebildet, ist es aus mit der Bildung.
Gern liefert jene die Rahmen auch selbst – für die Unbedarfteren unter den
Absolventen, deren innerer Antrieb ungenügend ist und deshalb vom
Batteriewechsel lebt. Die Ladestationen stehen in Stiftungen, wie bereits ihr
Name verrät, denn sie tragen die Namen der Stifter, die einst beschlossen haben,
Gutes zu tun und jetzt nicht mehr damit aufhören können, selbst wenn sie tot
sind. Ohnehin sind die toten Stifter die besten, weil das Überraschungsmoment
fehlt, das den Menschen auszeichnet, vor allem in seinen ausgezeichneten
Exemplaren. Tot wie ein Stifter – wer wär’s nicht gern, um der Sache
willen und überhaupt? Taubenflug und Taubentod: das geht zusammen, weil es
zusammengehört. Was sich gehört, das setzt sich durch, jedenfalls in the long
run, jedenfalls dann, wenn niemand interveniert, sonst geht es schneller.
Bizarr wie’s Taubenschießen – ›Au Backe‹ sagt es sich leicht, es heißt
aber Wange und darüber spricht man nicht. Wer sie hinhält, der bekommt einen
Kuss für die Welt.
Ein Hund ohne Schiss fällt nicht auf, erst der Taubenschiss macht den Hund
von Welt. »Einen Taubenschiss hat dieser Hund! Wo er ihn nur her haben mag?« Der psychologische Vorteil des Hundes liegt auf der Hand: Herkunft kümmert ihn nicht, er hat keinen Schiss vor Tauben, er fürchtet den Schiss nicht und schämt sich nicht, wenn er ihn
abbekommt. Ein Mensch hingegen… Schweigen über den Menschen! Ein
Mensch, vom Schiss betroffen, weiß nur das eine: Er muss ihn
loswerden, auf der Stelle, aber im Grunde ist das Malheur nicht mehr abzuwenden. Einmal beschissen, immer beschissen. Sein Leben hat einen
Fleck abbekommen, der nicht mehr weggeht, innerlich, dort, wo er
zählt. Ein Mensch, der auf sich hält, hat keinen Schiss. Dass er
ihn doch hat, tief drinnen, wo er nicht weggeht, hält er unter
Verschluss und sucht die Gefahr dort auf, wo sie ihm am geläufigsten
scheint: im Park. Mit tiefem Grimm sieht er die Haltlosen Tauben
füttern, er würde gern Rechenschaft von ihnen fordern, aber das
wäre der Augenblick, den die Taube benötigt, und schon wäre es
wieder geschehen. Wer auf sich hält, achtet auf jede Taube, sein
Blick umfasst Himmel und Erde, er hört das Flügelrauschen und
empfängt jeden Schlag einzeln.
Man muss euch zwicken, ihr Brut, was sonst? Ihr Platzbekoter, ihr Schindel- und Zinnendurchseucher, ihr Kopfscheißer, ihr Friedhofsgurrer: Was wollt ihr? Was begehrt ihr von unserer Welt? Was treibt euch in jede Gesellschaft und, per Flügelschlag, wieder auseinander? Was bringt es euch ein, wenn ihr mit uns diniert? Warum putzt ihr weg, was man euch hinwirft? Was ruckt das Köpfchen, wenn man euch kränkt? Gebt zu: Ihr seid schnell gekränkt. Oder scheint das nur so? Ihr Picker! Ihr Wegelagerer! Euch möchte man nicht im Dunkeln begegnen. Im Hellen sieht’s anders aus, da hat es keine Gefahr, da seid ihr nicht helle genug. Bescheißt, wen ihr wollt, aber nicht hier. Wer hier bescheißt, fliegt, das wisst ihr genau. Also, in drei Teufels Namen, fliegt! Weit kommt ihr ohnehin nicht. Wer erst eure Flugbahn kennt, kennt euch alle. Das hättet ihr nicht gedacht. Da kommt der Vergifter, kennt ihr ihn auch? – Was ihr seid? Keine Gefahr. Niemandes Gefahr seid ihr, daran krepiert ihr, denkt daran, wenn es soweit ist.
Wenn die Herren des Wirklichen gescheitert sind, bezichtigen sie
die Literatur. Sinnigerweise finden sie in ihr starke Verbündete,
die erleichtert reagieren, sobald sich ein neuer Spielraum für
Einfälle auftut. Darauf haben sie lange gewartet, nichts können sie
weniger brauchen als eine stabile Lage. Spannt sich die Situation,
beginnen sie zu funkeln, die Bosheit bricht aus den Poren, das
Wortemachen, es lohnt sich wieder und verspricht den zu nähren, der
sich geschickt genug anstellt. ›Reicht doch!‹ steht über den
Krückendepots, aus denen sich jeder bedienen darf, der sich
öffentlich auszeichnen möchte. ›Reicht doch!‹ steht über den
Gabentischen, mit denen die Buchhändler das Auge ihrer Kundschaft
beglücken, ›Reicht doch!‹ über den Herbstprogrammen der Verlage,
›Reicht doch!‹ über den amüsanten Albernheiten, die den erwarten,
der den Lockrufen folgt. Einmal verflogen und nicht so weit her:
satis est.
Das Gesicht, über den Tellerrand der Geschichte heraufdämmernd, blickt ernst, fast nachdenklich auf den Betrachter. Ein bläulicher Schimmer hebt seine Züge. Er könnte sich dem flackernden Blaulicht eines Polizeiwagens verdanken. Viele Leute würden dem ›einen Sinn abgewinnen‹, weil, wie sie glauben, dieses Gesicht für Recht und Gesetz steht. Andere scheren sich einen Dreck um Recht und Gesetz, solange der Spaßfaktor stimmt und die Falschen draußen bleiben. Das Gesicht provoziert, sagt das Bild, es provoziert schlimme Gedanken. Woher sie kommen? Ach, wissen Sie… Dieser Dämon lockt sie aus dem hintersten Winkel der Gesellschaft ans Licht, dorther, wo die Nichtwähler auf ihren aus Schlafsäcken und Papier bestehenden Lagern hocken und der Unschuld vom Lande rasch übel wird. Er ist das Idol der Abgehängten, der Verlierer aller Klassen, der übermäßig Verschuldeten, der kleinen Pensionäre, denen das Geld ausgeht, der redlich Empörten und der ein wenig Dummen, die immer noch glauben, praktisch alles könne über Nacht besser werden, wenn nur der da oben, wer immer es sei, seinen Job ein wenig ernster nähme. Von Jobs ist in diesen Kreisen viel die Rede, schließlich befindet das Land sich im Wahlkampfmodus und das Kapital geht auf Tuchfühlung mit den Massen. Dieses Gesicht, sagt der zum Bild gehörige, bisher nicht erwähnte Titel, steht euch bevor. Er sagt es drohend, irgendeine Gefahr unterstellend, die aus dem Bild nicht erschlossen werden kann, es sei denn, man versteht den Tellerrand der Geschichte automatisch als Drohung. Wofür es Gründe gibt! Nur, ob das allgemein Richtige auch in diesem Fall zutrifft, weiß fürs erste kein Mensch, insofern handelt es sich um eine leere Drohung, der ein geübter Leser mit Geringschätzung begegnet. Nicht so in diesem Fall. Als stürzte alles, was der Fall ist, in sich zusammen, so stürzt die Flut der Beschimpfungen auf diesen Menschen herab. Was treibt dieser Mensch? Was treibt ihn? Wohin treibt es ihn? Wohin wird es seine Wähler treiben, wenn die Hoffnung sich wieder entfernt und das Elend in seine Winkel zurückkriecht? An welchen Rand wird er die Welt treiben, wenn keiner ihm in den Arm fällt? Wie bunt werden es die treiben, die diese Gefahr in Wort und Bild zu bannen versuchen? Ihre Mythen verwandeln das Land schon jetzt, man versteht, dass niemand es vor den Rettern retten wird.
Noch streiten sich die Gelehrten, ob es ein Unheil oder ein
Unrecht sei, geboren zu sein, da zeichnet sich bereits die nächste
Lösung ab: Es ist ein Unding. Jedenfalls lassen gewisse
Zeitungsberichte darauf schließen. Zum Beispiel kann, wer meint, als
Autor auch eine Meinung haben und sie vertreten zu müssen, recht
rasch erfahren, dass Schriftstellergeburten auch dann rückgängig
gemacht werden können, wenn sie länger zurückliegen. Das gilt für
die Ausgeburten der Phantasie, die durch die berühmte
Schriftstellerfeder auf den Markt drängen, es gilt aber auch für
die Schriftsteller selbst, und das nicht nur unter Bedingungen der
Diktatur, wo man mit ihnen kurzen Prozess macht, wenn man sie nicht
einfach hinauswirft oder langsam zu Tode drangsaliert. Ein
Schriftsteller, der sich durch ein paar unbedachte oder auch nur
unerwünschte Äußerungen ›unmöglich‹ macht, sieht sich, unter
den kulturbefreiten Bedingungen des Merkelismus und verwandter
Herrschaftsformen, auf seine pränatale Existenz zurückgeworfen –
mit einem Unterschied: Er will kommen und kann es nicht, da er sich,
nun ja, unmöglich gemacht hat. Gleichgültig, ob es sich um einen
Diskussionsabend handelt oder sein neues Buch: Er ist ›draußen‹,
wie der Jargon das nennt. ›Tellkamping‹ nennt man das Verfahren,
als unerwünschter Schriftsteller Bürgerrechte und als angefeindeter
Bürger Schriftstellerrechte für sich zu reklamieren, um sich so die
entzogene Existenz zu ertrotzen. Gleichgültig, ob einer damit
durchkommt oder nicht, gilt die Formel: Dem Bürger Schriftsteller
folgt die Welt, dem Schriftstellerbürger der Zorn der Analphabeten,
die, zu Recht oder Unrecht, davon ausgehen, dass er in ihrer Welt
nichts zu suchen hat.
Die Krähen ziehen und machen einer Reihe anderer Vögel Platz. Warum
so unfreundlich? Auch hier sind Schwingen, sich zu erheben, und wo
sie fliegen, muss wohl die Luft sein, das ist doch klar. Ein paar
Zettel, wie immer sinnreich organisiert, vermitteln die Welt – aus
Punkt, Komma, Strich lugt sie hervor wie ein Stück Haut aus dem
Reißverschluss. Was heißt ›lugt‹? Triumphierend, mit Sang und Klang
und Trompetenschall, zieht sie ein, meinethalben auch mit Kind und
Kegel, wir wollen nicht rechten. Das flüsterte mir eine
Betschwester zu ihrer Zeit und es stimmt immer. Wer nicht sieht,
was nicht da ist, der sieht gar nichts und scheidet aus. Was er
ausscheidet, bleibt ihm überlassen, eine klebrige Sache das, alles
in allem, mit der eine Allgemeinheit, die auf sich hält, nicht
befasst werden sollte. Dieser hier wollte zeigen, was es nicht
gibt, er wollte es einmal in der vollen Pracht seines
Nichtvorhandenseins vorführen, aber auch ihm ist es nicht gelungen.
»Schau mal«, sagt ein Klugscheißer zum andern, und der repliziert:
»Was es nicht gibt!« Er könnte hinzusetzen: »Ulkig, was?«, aber das
käme ihm, alles in allem, albern vor und er kann es auch lassen,
schließlich ist er auf solche Phänomene trainiert.
»Die unabänderliche Kontingenz der Termine« – so zu reden enthält eine Portion Chuzpe, weil es unterschlägt, auf welche Seite die Kontingenz fällt: ob auf die des privaten Lebensablaufs oder die der organisatorischen Vorgänge, die gleichgültig, ob man sie als persönlich sinnhaft empfindet, zäh ihrer eigenen Logik folgen. Dass der Einzelne in diesen Abläufen kontingent ist oder sich als kontingent empfindet, weil irgendein Einzelner seinen Platz einnehmen könnte, hindert nicht, dass ein Einzelner zur Stelle sein muss, auf dass das organisierte Unternehmen seinen Fortgang nehme. Ein Einzelner aber ist immer einer zuviel, um das Kontingenzmodell in seiner Reinheit aufrechtzuerhalten. Ob Termine zu Ereignissen werden oder Ereignisse zu Terminen schrumpfen, gerade darin findet sich der Einzelne als Einzelner, gleichgültig, ob er dabei einen Sinnüberschuss empfindet oder einen Mangel an Sinn. Das Mehr oder Weniger daran ist eben der individuelle Faktor, den man ihm wegoperieren will oder den er sich, als alter Luhmannianer, selbst wegschwatzt. Wer ein Büro bezieht, zieht das Dasein eines Büromenschen dem eines Waldschrats vor – er nimmt sich die Zeit, die er braucht, um dieses Dasein zu führen, viel Zeit unter Umständen, aber auch das ist, angesichts der Ungewissheit der Lebensdauer, eine Aussage, die an Schwachsinn grenzt. Die genommene Zeit ist die zugeführte und keine Tätigkeit liegt so weit draußen, dass sie das Innere nicht tangiert. Wer, ohne zum Sklaven herabgewürdigt zu sein, sein Leben verwartet, ist selbst schuld. Das, unter all den Opferwilligen, die sich in bequemen Drehstühlen räkeln, einmal gesagt, ist auch Verdienst.
Wie alle wirklich erfolgreichen Unternehmungen erhält auch das Alphazet gelegentlich Beistand von außen. So schlägt der Philosoph Steffen Dietzsch vor, unter dieses Stichwort folgende Tätigkeiten eines regen Kopfes zu fassen:
1. Metaphernbildung bzw. ›Genderfizierung‹ in ›politisch-korrekter‹ Absicht,
2. ›Ohne Durchdenken der Prinzipien‹ (mit Kant zu sprechen) ›mit bloß empirischer Vernunft allgemeine Urteile zu fällen‹, – aktuell: nach einem singulären Aktenfund müsse die jeweils betroffene Geschichte neu geschrieben werden!«,
3. »Wortschöpfungen (die eigentlich als Begriffe tauglich sein sollen!) je nach Betroffenheits-Status konstituieren zu lassen – aktuell: Ungläubige, Unrechtsstaat,
4. Worte naiver Evidenz als Begriffe auszugeben,
5. politische Wortbildung als Zeichen von (ideologischer) Selbstfindung, -bestätigung oder Wiedererkennung als ›Eigene‹,
6. Begriffsfelder moralistisch zu halbieren (damit zu tabuisieren), – aktuell: Erinnerung versus Vergessen. http://www.globkult.de/bannkreis/742-bannkreis-26-termitologie
Natürlich wäre es gut, würde der Leser (die Leserin) mit ähnlicher Präzision vom Verfasser darüber belehrt, welchen gesamtgesellschaftlichen Zielen all diese gut dokumentierten Verfahren wohl dienen. Da der Philosoph sich in der Hinsicht ausschweigt, soll hier der obligate Wink mit dem (dichterischen) Zaunpfahl genügen:
Bist, Kumpel, du bei Troste nicht,
so nötigt dich das Wortgezücht.
Eine gewisse lachmuskuläre Wirkung übt Punkt 4 aus, bedenkt man die naive Nicht-Evidenz so mancher wissenschaftlicher, das heißt solcher Begriffe, die nach dem obigen Schema als ›termitologisch‹ eingestuft gehören. Gelegentlich will es scheinen, als sei es gerade die Unfähigkeit zu einer naiven, also individuell stimmigen und unbefangenen Weltsicht, die den Entwicklungsprozess gewisser Disziplinen zügiger vorantreiben hilft, als er sonst seinen Gang ginge. Ängstlichkeit und Vollmundigkeit sind die mit Abstand bedeutendsten Ressourcen, die der Einzelne in die Spiele der Wissenschaft einbringen kann, und er bringt sie ein, d.h. er schüttet, soviel er davon in sich zu erbohren vermag, in die vorgesehenen Taufbecken, in denen dann das semi-politische Alltagsgeschwätz seine methodische Aufbereitung empfängt, um als wissenschaftliche Suada auf eine ebenso beratungshungrige wie belehrungsresistente Profi-Politik niederzuregnen.
Der Philosoph wäre keiner, wenn er nicht auch die Folgen seines Vorschlags bedächte, und er kalkuliert wie jeder rechtschaffene Kaufmann einen, wenngleich kleinen, d.h. fairen, Gewinn: »Was damit gewonnen wäre? – Man könnte einem alltagspraktisch (und erst recht im Politik-Geschäft) unausweichlichen Prozess der Selbstbornierung, den Nietzsche vornehmer Auto-idolâtrie nennt, kritisch auf die Spur kommen.« Das wär’s doch.
In Deutschland gilt Atomkraft als Teufelszeug, andernorts als Erlösung – so macht Irren Spaß. Ach ja … was sagen Sie? Halt, schweigen Sie. Das sind doch bloß unterschiedliche Konfessionen innerhalb ein und derselben Religion. Welche Religion? Ich bitte Sie. Wir reden hier von der Religion der ›Ressource‹. Ihr gemeinsames Credo: weg vom fossilen Brennstoff und damit von einer Art Feuerbestattung an dem, was einst Leben hieß. Finger weg vom Leichnam der Welt! Sie verstehen? Puristen, denen die Gnade der späten Geburt zur Hand geht, verdammen die Reinigung des Planeten vom Gewesenen, die seine Nachfahren nebenbei mit Licht und Wärme versorgt, als ›schmutzigen Job‹. Glaubensgeschichtlich klingt das spannend. Aber wissen Sie … wenige Jahrzehnte ist es her, da priesen die Hohepriester des Neuen ebenso frenetisch den Reichtum der Erde, der am Ende eines langen wirren Traums, wie einst das Manna der Wüste, auf ›uns‹ erwählte Erben einer großen terrestrischen Vergangenheit herabregnete, deren Restbestände nun, bei Strafe der Ächtung, nicht mehr angerührt werden dürfen, denn ihr Gebrauch birgt Unheil. Der technische Mensch lernt immer dazu, das ist unumgänglich, das fromme Gemüt lernt liebend gern mit, aber in großen Schwüngen. Es schätzt die ›Einstellungen‹ und jede größere Umstellung bedeutet Krieg. Krieg der Worte, Krieg den Wörtern. ›Herausholen, was drin ist‹ – diese Phrase, ich habe es oft gesagt und wiederhole mich gern, hat sich von den alten, schlimmen Ressourcen gelöst und bespringt neue, auf die bloße, allzu oft enttäuschte Vermutung hin, sie könnten ›es bringen‹. Wohin, wozu? Sorge dafür, dass die Welt in Ordnung kommt – irgendwann stößt, wer so denkt, zum Klub der Heiligen der letzten Ressource, jener Erleuchteten, die wissen, dass jedes Versprechen gezinkt und jeder Aufschub endlich ist. Ach, und bevor Sie gehen: unter allen Hoffnungen ist die im voraus enttäuschte die gefährlichste, ihr Bedarf an Sündenböcken überschreitet rasch jedes Alltagsmaß und geht fremd. Bleiben Sie doch! Wo wollen Sie hin…?
Eines der Wunderwörter der Sprache. Man muss es nicht erklären, es
zergeht auf der Zunge und eröffnet größeren Wundern die Bahn. Man
probiert einen Text wie einen alten Wein unter rituellen
Vorkehrungen und in allen Ehren, man kennt die Wonnen im voraus,
aber man will sie genießen, um zu erkennen, dass man von ihnen
nichts wusste. Textgenießer erkennt man an der Bereitschaft zur
Panik, mit der sie im Universum der Texte ihren Weg suchen, dessen
innerer Geradheit der äußere Anblick extrem widerspricht. Ein Satz
von Habermas z. B. kann sie in die Verzweiflung treiben. Die
Abwesenheit von Rhythmos und Melos lässt sie weniger am Sinn als am
Unsinn der Sätze zweifeln, den zu verwerfen ihnen um soviel
schwerer fällt wie er schwerer wiegt. Doch trösten sie sich mit der
Galileischen Einsicht in die Gesetze des freien Falls und erweisen
dem Aufprall, dem sie kurz nachhorchen, die Ehre eines säuerlich
verzogenen Mundwinkels. Wer alle Texte probiert, wer auf allen
Hochzeiten getanzt, wer jeden Wahn mitgegangen ist und jede Wanze
besprochen hat, gilt in diesen Kreisen als Aussätziger. Es sind
Reinheitsfanatiker, die lieber das Hemd wechseln als den Geschmack,
der sich ihnen in jedem Erschmecken aufs Neue erschließt: Wie kann
man Wunder auswechseln, die so vielgestaltig sind wie der Tag und
so undurchdringlich wie die Nacht? Wunder, die sich ereignen oder
auch nicht, so wie der Regen auf verdorrte Felder niederrauscht,
die nach ihm dürsten, ohne ihn zu kennen? Wer heute diesen und
morgen jenen Geschmack sein eigen nennt, dem kann man alles
vorsetzen, da er die Differenz bereits mitbringt und heimlich
entkorkt, während er zu genießen vorgibt, was gerade den Weg über
seinen Schreibtisch nimmt. Wer Geschmack beweist, ist schon im
Minus, er beweist nur, dass ihm alles gleich schmeckt. Mehr oder
weniger, mal mehr, mal weniger, im Grunde schmeckt alles nach
nichts.
Eine Phänomenologie der heiligen Texte (des heiligen Textes), die
ihren Namen verdiente, dürfte sich weder mit
Oberflächenbeschreibungen noch mit Rückführungen auf
psychophysiologische Zustände und kulturelle Codes zufrieden geben.
Sie dürfte sich – sozusagen – überhaupt nicht zufrieden geben. Sie
müsste sich, gleichsam bis ins Kleinste, mit den Vorgängen vertraut
machen wollen, die durch die Texte, die geschriebenen wie die
ungeschriebenen, induziert (und indiziert) werden. Das sind, nach
Lage der Dinge, Bewusstseinsvorgänge, und solange das
intellektuelle Phlegma in allen Fragen, die das Bewusstseins
angehen, anhält, solange sind hier keine Fortschritte zu erwarten.
Alle Texte sind im Bewusstsein von Texten geschrieben und
existieren nur im Bewusstsein von Texten. Dieses Bewusstsein ist
ebenso vielgestaltig wie einfach. Es macht keinen Unterschied
zwischen einem heiligen und einem profanen Text, denn dieser
Unterschied beruht auf einem Erkennen, das einer kulturellen
Wertigkeit gilt, einem Kanon. Wohl aber kennt es Intensitätsgrade
des Ergreifens und des Ergriffenwerdens, Grade der Scheu und des
Abscheus, in denen ein erster Akt innerhalb des Lesens fast greifbar wird, ohne sich dem
tastenden Zugriff ganz zu erschließen. Ein ›erster Akt‹, was soll
das sein? Das Aufdämmern der Möglichkeit, sich auszuschreiben,
etwas ›in Text‹ zu überführen und
darin wirklich werden zu lassen, das doch gelebt werden muss
und nur als Leben zugelassen ist (an welchen Tischen?), führt auf
allen Wegen über den Rand des profanen Lebens hinaus, das ab jetzt
Nichts-als-Leben heißt und damit gebrandmarkt ist. Sakral ist der
Text, der den einfachen Wunsch, da zu sein, aufnimmt und verwandelt
in den Wunsch, diese Strecke, diesen Parcours, den der Text
absteckt, irgendwann durchlaufen zu haben. Wie durchlaufen? Aus dem
Da-sein ist ein Da-und-dort-sein geworden, eine verschobene, eine
verrückte Existenz. Wohin verschoben, wohin verrückt? Wo liegt das
Einfache dieser Verrückung? Mit dem Text tritt die Möglichkeit in
das Leben, mehr zu leben als dieses Leben. Welches Mehr? Ein Mehr
an Kraft, Nachdenklichkeit, Bezügen? Dies alles und mehr. Ein Mehr
an Offenheit, vielleicht. Der Text entwirft eine Traktion in die
Zukunft, er wirft, buchstäblich, Seile ins Unbekannte. Man kann
Angst vor den Texten bekommen, man kann den Drang in sich spüren,
sie zu zerstören, umsonst. Das Loch ist schon gebrannt, das
Aufgeschlagensein der Texte erlaubt kein Zurück. Wohin zurück? In
die Gegenwart? Die Gegenwart ist der Antipode der Texte, sie ist in
ihnen durchlaufen, wenngleich nicht abgetan. Sie ist das sich
Öffnende, das gerade jetzt sich Öffnende, sie ist mehr Gegenwart
als zuvor, aber sie ist einer der Pole jener Verrückung, ein Pol,
obwohl sie doch alles und jedes umschließt. Was man das Imaginäre nennt, ist eine
ungeheuerliche Verharmlosung angesichts des Eingriffs, den
der Text im Leben des
Einzelnen vornimmt. Neben ihm bleiben nur Ergriffenheiten zweiten
Grades, lose Anmutungen früherer Existenzformen, Erkundungen
elementarer Mechanismen des Menschseins, aus denen alles entwichen
ist, was das Seelchen und seine bezahlten Betreuer in ihnen suchen.
Wer alles auf eine Karte setzt, dem ist es recht, wenn er an einem Abend zugrunde geht. Warum am Abend? Weil er ein Mensch ist, dem nur Menschen ein Licht aufstecken können. Das Künstliche ist sein Zuhause, er will es nicht missen. Er möchte eine Vorstellung geben, stattdessen genügt es ihm, einer beizuwohnen, für die er an der Abendkasse bezahlt. Diesen Kuss der ganzen Welt – »neinnein«, murmelt er zerstreut, »lass mal stecken, ich übernehme die Kosten.« Doch das Theater verteilt keine Küsse, ganz umsonst übernimmt er die Kosten, nur weil er beschlossen hat, sich zu übernehmen.
Als Willy Brandt die Bürgernation ausrief, war der Jubel groß, fünf
Jahre später wurden die Schotten geschlossen und es ging wieder um
Gewinne. Die Effizienzmaschine nahm ihre nie wirklich unterbrochene
Arbeit auf, die linke Larmoyanz trottete in die ausgetretenen Wege
zurück, das öffentlich zur Schau getragene ›Bewusstsein‹ verfiel
jener ostentativen Form der Quartalssäuferei, die es als
Lernprozess deklariert. 1990 wiederholte sich das Schauspiel im
Osten. Was der Ausdruck ›deutscher Herbst‹ nun eigentlich bedeutet,
wurde nie geklärt, stattdessen erzählt man die immer gleichen
Geschichten mit dem immer gleichen falschen Zungenschlag, als hätten sich
die Kinder nun einmal daran gewöhnt und dürften nicht beunruhigt
werden. Wer wen regiert, ist keine Frage, sondern eine Antwort. Man
bekennt sich und hält sich bedeckt. Unter Graupelschauern beteuert
man, großen Spaß zu haben, und unter Palmen ist der Spaß riesig.
Wörter wie ›Titanic‹ klingen nach Blechmusik, nach Tschingderassa, nach
etwas, das voraussichtlich nicht gut gehen und deshalb mit Fleiß
übertönt wird, um den Leuten den Kopf zu verdrehen und sie auf die
heroischen Landschaften einzustimmen, die vor ihnen liegen. Darin
liegt vermutlich ein Grund, warum das Schicksal dieses ›Ozeanriesen‹
so viele Menschen beschäftigt, vom Journalisten bis zum
Streichholz-Bastler, und eben auch Intellektuelle, die nicht aufhören
können, darüber nachzusinnen, wie dieses Ende wohl war und
wie es überhaupt so weit kommen konnte. Den einen ist es Parabel,
den anderen ein wohlfeiler Untersatz, um ihren kalt gewordenen Kaffee
stilvoll ins Bild zu rücken. Im Zentrum dieses Bildes steht seit
jeher die Bordkapelle, die für eine angenehme Untergangsatmosphäre sorgt,
während die Gentlemen an den Rettungsbooten dem Grundsatz ›Ladies
first‹ zum letzten Mal Reverenz erweisen. Alle in zwei Weltkriegen
vernichtete Tonnage samt menschlichem Begleitpersonal, bis hin zur
heillos überfüllten Wilhelm Gustloff, kommt
gegen dieses ziselierte Bild eines Oberschicht-Abgangs nicht an. Aber
das Tschingderassa bricht immer durch, es klingt, als schlüge aus
ferner Vergangenheit eine Melodie der Seele ans halbtaube Ohr, die
unauslöschlich vom Fortgang des menschlichen Desasters erzählt, in
Stahl gegossen und blechern für alle Zeit.
Im Tochtersein liegen zweierlei Gnaden, eine von Geburts und eine
von Geschlechts wegen, die erste wollen wir aussparen und die
andere geschickt umschiffen, damit nichts passiert. Was soll schon
passieren? Das töchterliche Verlangen nach väterlicher Zuneigung
kann frenetische Züge annehmen. Es kann sich in diesen Zügen aber
auch einnisten und in Selbstadoration aufgehen. Wer wäre der Vater,
der ihr genügte? Das ist übrigens eine gute Frage, der man besser
nicht nachgeht, da sie ins Dickicht führt. Echte Väter wissen das
und sind immer bereit, ein bisschen Unkraut platt zu treten.
Übrigens lebt die Tochter auf einer Insel, wo keiner sie besucht. O
diese Tochter-Insel! Für den Vater ist jede Tochter Andromeda. Er
wäre gern Perseus, aber er fürchtet den Drachen und auch, dass er
nicht gemeint ist.
Zu den vergeblichsten aller vergeblichen Unterfangen
des Lebens, als heimliche
Wurzel aller Bemühungen, gehört es wohl, dem Tod zu entkommen.
Sogar im Begriff der Zeit steckt ein solcher Versuch. Man will Zeit
gewinnen, obwohl man sie doch verliert. Kein Gesetz auf der Welt,
das nicht auf die eine oder die andere Weise dem Tod entgegentritt,
selbst der Krieg. Insofern ist jeder ein Illusionist im Bezug auf
die mannigfaltigen Felder und grauen Zonen des Todes. Man nähert
sich dann im Alter möglichst langsam den Kittelträgern der
Zoologie, den grammatikalischen Brücken der Philosophie, der
zweiten Natur der Kunst und dem Sophismus der Liebe Gottes, und
selbst über die letzte Befreiung vom Illusionismus der Götter
gelangt man, von Neugier und Schuldgefühlen getragen, vielleicht in
die letzte und größte aller Verzögerungen, in den Halbtod von
Himmel und Hölle. Manche bleiben an dieser oder an anderer Stelle
stehen. Bei Dante und Manganelli ist Zeitlosigkeit das letzte
Stilmittel der Ausdehnung über das Leben hinaus. Jahrhunderte lesen
hier gleichsam mit und verschweigen die Uhrzeit.
Laotse, auf seinem langsamen Wasserbüffel, auch hier spielt die
Langsamkeit eine Rolle, sieht in der Ferne »der Berge Gipfelriesen«
und einem einsamen Straßenwächter an einer der mächtigen
Mauerschleifen, die auch dazu da sind, den Weg zu verlängern,
gesteht er, »Tue nichts, und alles ist getan.« Goethes Faust, wie
man sich denken kann, bis zum Schluß noch gerne in anmutiger
Gegend, hofft hingegen auf »kleiner Elfen Geistergröße«, die den
Jammer des Heiligen oder des Bösen wenigstens mitempfinden. So
tritt man dem Tod durch schöne Tapeten oder in eisiger Luft in
chinesischer und deutscher Denkart entgegen. - PM
Dies ist der Todesengel der zeitgenössischen Literatur, niemand
macht es so schön wie er und keiner verweigert sich, wenn er ihn
zum Gespräch bittet, um ihm das Zeichen auf die Stirn zu drücken.
Seine Bewegungen sind voller Sanftmut, auch seine Stimme, soweit
sie sich der Öffentlichkeit bekannt gemacht hat. Viele halten ihn
für eine eher unscheinbare Gestalt und sie täuschen sich nicht,
denn einer, der den Schein zum Erlöschen bringt, den andere werfen,
ist nicht darauf angewiesen zu scheinen, es behindert ihn eher.
Über diesen Sachverhalt täuschen sich viele, vor allem solche, die
auf die brave Einfalt von Vokabeln wie ›Multiplikator‹ setzen.
Nein, dieser alternde Jüngling ist kein Multiplikator. Eher ein
Divisor: er teilt die Menge und nimmt das Meiste von dem hinweg,
was sich ihm darbietet, auf dass er es austeile. Wehe dem, der auf
ihn setzt; das Ergebnis könnte enttäuschen. Warum er das tut? Muss
es immer Gründe geben? Es geht auch ohne. Mancher hat eine Mission,
von der seine Umgebung nichts ahnt. Da genügte ein kränkendes Wort
in der Kindheit, man kennt das. Aber sie hinübergeleiten, einen
nach dem anderen, ihren Fuß mit Lethe netzen, das Boot losbinden
und langsam, langsam zum Gleiten zu bringen, ihm zusehen, wie es im
Nebel verschwindet – wer den Reiz dieser Aufgabe nicht empfindet,
der ist für die Welt der Kultur verloren. Er wird auch nie wissen,
worum es geht, obwohl gerade das seine dringlichste Frage ist.
Wer begriffen hat, dass über dem Tor zum Inferno des zwanzigsten
Jahrhunderts die Gleichung Gott = Gesellschaft steht und ›Gott ist
tot‹ nur als hingekritzelte Latrinenparole mitläuft, der hat auch
begriffen, warum die verantwortlichen Denker dieses Jahrhunderts
den Begriff der Wahrheit zerstören mussten – nicht um der Wahrheit
willen, bewahre, sondern der Gesellschaft zu Gefallen, die mit ihr
›nichts anfangen‹ kann, und das von Anbeginn. Nun hat es mit der
Begriffszerstörung seine Bewandtnis: was hinten verabschiedet wird,
spaziert vorne zur Tür herein et
vice versa. Nicht ob die Gesellschaft ›tot‹ sei, ist also
die Frage, sondern ob Gott sich aus ihr verabschiedet hat und
weitergezogen ist. Die Wahrheit
ist, dass ›die Gesellschaft‹ ihre motivierende Kraft
eingebüßt hat. In ihr besaß man einen Gott, wie man ihn noch nicht
kannte: einen Selbstverstümmler, gewaltsam im Exzess, dabei nicht
frei von sentimentalen Anwandlungen. Eine Zeitlang glaubte man in
ihm Saturn zu erkennen, den seine Kinder aufessenden Götzen, später
Medea – lauter Sentimentalitäten, verglichen mit der Figur des
Über-Ödipus, der sich nach vollbrachtem Gemetzel, äußerlich
zwangsberuhigt, erst ein Auge, dann das zweite ausreißt und
genüsslich verspeist: ein Todeskandidat ohne Überlebenshoffnung,
aber voll intimer Überraschungen.
Die Erde ein Todesstern? rief der Schuster seiner Frau zu, die gelangweilt auf den Fernseher schaute. Davon verstehst du nichts, sprach sie betulich und strich sich vornehm über die schwarzbestrumpften Schenkel. Das möchte ich wissen, plärrte der Schuster. – Wir haben gerade noch zwei Milliarden. – So viel? Reicht dir das nicht? – Jahre, mein Lieber, Jahre. Das ist praktisch nichts. – Was sollen wir machen? Das Haus verkaufen? – Jetzt reg’ dich ab. Du hast keinen Sinn für die großen Fragen. – Das kann man so nicht sagen. Gestern habe ich gelesen, sie haben hier gleich um die Ecke ein paar Affenzähne gefunden, die sieben Millionen zuviel auf dem Buckel haben, also evolutionstechnisch gar nicht vorkommen können. Da wirst du verrückt. – Jedenfalls hatten wir bisher fünfzig Milliarden, damit konnte man auskommen. Jetzt haben wir plötzlich zwei Milliarden, da wird einem doch Angst. – Mit den neu gefundenen Zähnen hätten wir aber nach vorne Luft, das könnte schon passen. – Der Sprecher sagt, ohne die Raumfahrt ist die Menschheit nicht mehr zu retten. – Das ist derselbe, der uns letzte Woche erzählte, wir lebten praktisch noch in der Vorzeit. Erst nach uns käme die richtige Menschheit, der Homo technologicus sapiens erectus digitalis oder so. Hast du das gewusst? – Das war aber eine andere Sendung. – Na und? Der Sprecher war derselbe. – Der liest doch ab. – Das ist wahr. Aber schließlich muss er es wissen, bei dem, was der verdient. – Ach, das weißt du. – Das weiß doch jeder. – So wie das mit den zwei Milliarden. – Vielleicht sind es am Ende ja fünf oder zehn, das ist doch alles Spekulation. – Auf einmal, auf einmal. Und wenn die um sind? Zack und vorbei? – Was willst du eigentlich mit all der Zeit? – Mir anschauen. Ist doch interessant. – Und was kommt dabei heraus? – Was wird schon herauskommen. Das Universum macht’s wie alle davor. Es scheißt auf den größten Haufen. – Zuerst einmal scheißt es auf uns. Dann kommen die anderen dran. – Welche anderen? – Na die anderen. Die mit der besseren Technik. Die Nanopiloten. – Meinst du, die haben eine Chance? – Eine vielleicht. Sie bräuchten aber Milliarden. – Dann sind sie auch nicht besser dran als wir. – Schlechter. Mein Gott, was mussten die alles anstellen, um so weit zu kommen. Und dann das. Das ist doch widerlich. Viehisch geradezu.
Dieser Wunsch zu entschweben, von einem tauben Element davongetragen zu werden, sich von ihm ermorden zu lassen, als gelte es ein besseres Leben, sich die Luft zum Atmen, die von irgendwoher bereits knapp wurde, mit Hilfe einer kleinen selbstgebastelten Vorrichtung selbst zu verweigern, was ist das? Sein Leben in die Hand nehmen – ist es das? Um es fortzuschleudern? Wohin? Wer schleudert, wer wird geschleudert? Wohin geht ein Leben, das fortgeht? Das ist keine Jenseitsfrage. Es geht ja wirklich, und gleichgültig darum, ob der Weg lang oder kurz ist, muss er gegangen werden und wird gegangen. Dieser wirkliche Weg ins Aus, vielleicht ohne Panik gegangen, aber im inneren Aufruhr als Ende einer langen Kette von Gedanken und Handlungen, ihn kennt niemand, der ihn nicht zu Ende gegangen ist. Auch dieses Geheimnis geht in den Tod ein und ist sein Besitz.
Sir Jonathan Husband jr. wird zum Tode verurteilt, weil er gut findet, was auf diesem Planeten geschieht. »Ich finde die Welt gut, wie sie ist« – ein Wahnsinniger, der so etwas schreibt, leider nicht im rechtlichen Sinn, sonst könnte er vielleicht überleben. Was schreibe ich da: er wird überleben, so oder so, kein Gericht dieser Welt wird sich bereit finden, die Vollstreckung des Urteils anzuordnen. Jedenfalls wiegt er sich in dieser Hoffnung, eitel, wie er ist, hofft er auf künftige Anhänger. In der Zwischenzeit schreibt er Briefe an seine Angehörigen, in denen er beteuert, sie da nicht mit hineinziehen zu wollen, auch bestätigt er bereitwillig allen, die nichts damit anfangen können, sie hätten mit seinen Auffassungen nichts zu schaffen. Man weiß nicht, ist es naiv oder durchtrieben, leicht zu durchschauen ist das Spiel allemal. Die Menschen haben mehr mit den Gesinnungen ihrer Nachbarn zu tun als man denkt, und Fernwirkungen gehören zum gesicherten Inventar. Wer Gesinnungen erregt, weiß sich zumindest ihrer zu bedienen, er gehört auf den Scheiterhaufen, den sie zusammen auftürmen.
Sie werden den Ton aus allem heraushören, den Ton des Alphazets, daran werden Sie nicht
vorbeikommen, das ist schon geschehen, auch wenn es noch in der
Zukunft liegt. So ein Ton liegt stets in der Zukunft, er fließt
ein, sanft oder ungestüm, je nach Musikerlaune, aber es bedarf
keines Musikers, nicht in diesem Fall, denn es ist, den Logophilen
sei es gesteckt, der Ernstfall. Sie haben richtig gelesen, der
Ernst kommt irgendwann zu Fall, er hat seine Kadenz wie alles
andere auch. Den Ernst abhören, während er fällt, diesen
ganzen langen, unendlich verwickelten und doch verblüffend
geradlinigen Fall, ihm zuhören, so wie man jemandem etwas
zukommen lässt, den man schon lange kennt und schätzt, dessen
Lebensweg aber Fragen aufwirft, mit denen man sich nicht abzugeben
wünscht, das ist der Ernstfall, jedenfalls an den Stätten des
Denkens, dort, wo gedacht wird. Wo die liegen? Im Ernstfall dort,
wo Menschen das Denken meistens vermuten, im Gehirn. Doch hat es,
wie man hört, seine Absencen. Das Gehirn registriert den Ton, es
registriert ihn schon lange, wie den Nachhall einer Tür, die ins
Schloss fiel, vor langer, sehr langer Zeit. Gestern also oder vor
drei Sekunden, wer soll das wissen.
Da ruhen sie, wie Fische der Tiefsee, und sehen niemanden an. Niemand, wer sonst, kann diesen Blick aushalten, er spielt nebenbei mit dem Schuppengeflecht und fordert Aufschluss. Schließt euch auf, Augen, in beiderlei Richtung läuft der Verkehr, ein toter Blick fesselt keine Seele, und wenn schon, dann erst nach Mitternacht, wenn die Schau vorbei ist. Unten herum ist es bekanntlich dunkel, da fällt weniger ins Gewicht, was andernorts Furore zu machen bestimmt wäre. Also benehmt euch. Keinem wird etwas genommen, weil man euch ignoriert. Niemand hat gut reden, er kennt die Verhältnisse wie keiner sonst und freut sich, wenn er Gesprächspartner findet, deren Wissen nirgendwo stockt.
Der Tod ein ›fait social‹ und sonst nichts –? Das möchte man sehen.
Billig ist es zu sagen, man erlebe den Tod nur an anderen,
bestenfalls mit anderen, wenn man bereit und fähig ist, einen
anderen auf dem Weg in den Abgrund zu begleiten, oder wenn man eine
kollektive Katastrophe wider Erwarten überlebt. Nachdenklich macht
vor allem das letzte Beispiel, denn es demonstriert, dass das, was
man gemeinsam erlebt, jedenfalls nicht der Tod ist, der auf all
diesen Wegen überhaupt nicht erfahren werden kann. Auch daraus
lässt sich ein Argument zugunsten der Behauptung stricken, der Tod
sei eine soziale Größe: Was ich nicht aus mir selbst weiß, das weiß
ich nur als Mitwesen, sei es, dass ich jemandem den Schädel
einschlage, sei, es, dass ich einen hier und jetzt Toten im Leben
gekannt habe und den Unterschied wahrnehme oder sogar empfinde, als
Trauer vielleicht, das soll vorkommen. Ein schönes Argument, ein
prachtvolles Argument und so lebenswahr. Nicht wahr? Nur der Tod,
die Idee der Auslöschung meiner Existenz, sei sie hiesig oder
überhaupt, bleibt daraus... sagen wir: ausgeschlossen. Und das soll
er wohl auch, damit das Gehäuse der gesellschaftlichen Fakten, in
dem es aus jedem Winkel zieht, seinen Charakter als geschlossene
Anstalt behält, an der so vielen so viel liegt. Macht die Tatsache,
dass ich das Wort ›Milchstraße‹ von meinen Mitmenschen lerne, die
Milchstraße zu einem gesellschaftlichen Faktum? Und wenn, in
welcher Weise? Ist ›die Gesellschaft‹ selbst... vielleicht eine Art
Matrjoschka und nimmt sich auf jeder Stufe wieder in sich hinein?
Wer die Idee des Erlöschens nicht in sich hineinnimmt, und sei es
nur in der mildesten Form, als einen Sonderfall des Überlebens, den
sich nur niemand recht vorzustellen vermag, an den ist sie
überhaupt nicht herangekommen: Ein reizendes Subjekt wäre das, in
das nichts hineinkommt, ganz reizend, wirklich, ohne Zweifel, ganz
ohne Zweifel.
Die Toteninsel liegt auf dem Land, auf dem flachen Land, man kommt
trockenen Fußes hinein, aber man muss nicht nur loslassen, wie es
in den Handbüchern heißt, man muss sich auch abstoßen können,
plötzlich, aus eigenem Entschluss, etwas gilt es da zu bestehen,
von langer Hand, das sich nicht von allein versteht, das mit
Abwarten nicht zu erreichen ist, allenfalls in einer
schreckkomischen Verzweiflung, die mit sich selbst hadert und sich
nicht zulassen will, weil die Kränkung, die in ihr liegt,
zweifellos ein ›fait social‹, nach Kompensation verlangt, nach dem
größtmöglichen gesellschaftlichen Aufwand. Rettet mich! Ihr seid Schweine –!
Der einfache Deutsche (germanus simplex) denkt bei diesem Wort automatisch an die obligate Tracht Prügel, dabei fällt ihm die Niedertracht ein und er ist bei der Sache: da steht er, ein Ochs an Behändigkeit, und stellt das weitere Forschen ein. Dabei kommt es erst hier ins Rollen: vom ›Trachtenjanker‹ über den ›Trachtenrock‹ bis zum ›Trachtenfest‹ zieht sich eine weiß-blaue Linie bavarophilen Erbarmens, eine Fall-Linie, an der entlang auffällt, wer auffallen möchte, was oft genug der Fall ist. Zwischen ›Tracht‹ und ›Fall‹ fällt die Wahl nicht schwer, doch sie wird nicht angeboten: alles, was der Fall ist, bekommt seine Tracht umsonst. Seit den kinematographischen Anfängen steht dafür der Klassiker: »Das Schwein trachtet mir nach dem Leben!« Das trächtige Schwein grunzt unbeirrt nebenan im Koben, es weiß nichts von tödlichen Machenschaften und würde sie, gingen sie in sein Hirn, von Grund auf ablehnen, jedenfalls versichern das Schweineforscher, die davon etwas verstehen sollten. Etymologie, die Herkunftswissenschaft der Wörter, ist ein trockenes Fach, dessen Erkenntnisse keinen Eingang in den Grundschulunterricht finden. Daher bleibt sie den meisten Leuten bis an Lebensende fremd. »Tracht, Tracht«, sagt so einer, »das sacht mir jetzt nichts«. Vielleicht setzt er, leicht genervt, noch hinzu: »Damit kann ich nichts anfangen.« Sein Trachten zielt, wie man weiß, auf Konkretes. Selten nur trägt es Früchte, meist saure. Zwischen ›Trachten‹ und ›Trug‹ herrscht, jedenfalls in Stoßzeiten, ein lebhafterer Verkehr als zwischen ›Trachten‹ und ›Tragen‹. Nur im ›Beitrach‹ finden sich, wie Imker wissen, denen vor jeder Beitracht bange wird, Spuren einer uralten Verbindung. ›Das trächt jetzt nichts bei.‹ An einem solchen Spruch rächt sich der Poltergeist Sprache bis ins dritte Glied. Besagte Beitracht siedelt gleich neben der Eintracht, sie klingt wie die eingangs erwähnte Tracht Prügel, die einer sich einfängt, der erstere stört. Wie kann man stören, was bloß ungestört sich entfaltet? Eintracht und Zwietracht kommen niemals zusammen, das wäre, erschienen sie Arm in Arm, eine Eintracht zuviel und eine Lektion zu wenig, daher der Unsinn. Seien wir ehrlich: Wer die Acht aus der Tracht entfernte, der bekäme es zwar mit der Achtlosigkeit von Otto Normalverbraucher zu tun, aber er hätte den Beifall der Kundigen: Trachten Sie ruhig, doch geben Sie Acht!
Im verwickelten Strom der inneren und der äußeren Literatur, in der
nächtlichen Bibliothek des Schlafs, erheben sich Schattenfiguren
und Stimmen bekannter und unbekannter Freunde. Sie werden begleitet
von Ansichten bedeutender Archiktektur auf ansteigenden Straßen und
Plätzen. Man entdeckt Antiquitätengeschäfte und Galerien, die eine
Kunst vertreten, die ebenso unbekannt wie wahrscheinlich anmutet.
Sie wird vorgestellt von neu zusammengesetzten oder ergänzten
Freunden oder flüchtig bekannten Menschen der Öffentlichkeit, die
sich ebenfalls mit ihnen vermischen. Diese Literatur der Träume
zeigt ein künftiges, zartes, fast fliegendes Leben, man fühlt keine
Anstrengung, wenn man die mächtigen Treppen der Kathedralen
ersteigt oder durch halb zerstörte, aber durchaus belebte Straßen
eine bestimmte Rückkehr verfolgt, ohne zu wissen, in welche
Richtung man laufen soll. Die in Ungewißheit schwebende Dämmerung
weit geöffneter Kathedralen führt an hölzerne Schreine, an uralte
Nischen und Grotten, in denen die Weisheit einer christlichen
Religion in Gestalt von Büchern oder Gebeinen waltet. Epitaphien,
bedeckt mit gemeißelten Spuren jener Angst, die uns neuerdings immer vor den
schleppenden, üppigen Rankenwerken befällt, deren Schwung in
anderen Zeiten die Sinne ergötzt hat. Wir fühlen uns schuldig in
der Armut oder im Missverständnis unserer Tage, in denen wir solche
Gewürze verdrängt und vergessen haben.
So aber, wie die fremd gewordenen Freunde, drängen sich mir die
verlorenen Zeiten auf und wirken ernüchternd. Die geschwächte
Gegenwart, die jetzt bereits in den Schlaf gedrungen ist, erzeugt
eine trübe Vergangenheit und darüber hinaus eine unbedeutende
Zukunft, und selbst die schmerzhafte Vergesslichkeit ist
vorsorglich darin eingewoben. Als Prophezeiung verwirrt sie kaum
noch den Schlaf, der doch einst die Vernunft erlöst hat, und die
alte, berühmte Ferne der Aussicht wird allzu rasch vom Schleier der
Maja verhüllt, da wird nichts mehr geglaubt, nicht einmal im
Schlaf.
Der gute Schlaf gelingt nur noch selten. Selbst die mächtige
Architektur dieses Tempels zerfällt, wie draußen die Straßen, in
verwilderte Höhen und Tiefen, die belebt sind von wirren Umzügen
mit Baldachinen, Monstranzen, Kelchen und kopflosen Mitren, die,
auf abgerissene Äste gesteckt, einst von Päpsten getragen wurden.
Nur selten schweben ihre erlauchten Köpfe, die Augen nach oben
gewandt, von Schutzpatronen begleitet an Säulen dahin. Anwesende
Besucher vor Wandgemälden, Altären und Taufsteinen sind in der
Stimmung der schwarzen Vögel, die sich im Herbst an Turmspitzen und
Dächern versammeln, um von hier aus in ferne Gebiete aufzubrechen.
Niemand will bleiben.
Diese Menschen leben wie Vögel auf Bildern, die andere Zeiten gut
aufbewahrt haben und die jetzt erneut zu wirken beginnen. »Wir
versammelten uns doch schon einmal vor deinen Augen, an einem
anderen ferneren Ort, den du sträflich vergessen hast«, sagt
sorgenvoll eine Stimme. Wieder spürt man den traurigen Vorwurf über
die sündhafte Vergesslichkeit. Man hat hier alles wirklich schon
einmal gesehen, entweder gemalt oder so im Aufbruch begriffen, wie
man vorhin, noch im besseren Zustand des Traumes, die blaue Vase
und die zwei alten Tassen mit schönen Flügeln aus Porzellan, kurz
vor ihrem Ausbruch aus dem staubigen Schaufenster, gesehen hat. -
PM
Wer in der Welt der Kultur eine Zeitlang nicht das Wörtchen
›Performanz‹ einzusetzen wusste, der beherrschte das Geschäft
nicht, er war definitiv ›draußen‹. Der Körper hatte die Bühne des
gesitteten Denkens betreten, es verlangte ihn nach Spielen,
nach mehr Spielen, nach der Welt als Spiel, zum Entzücken aller
Liebhaber und zum Entsetzen der Antiquare, die dem wenig entgegen
zu setzen wussten. Seit die Performanz regiert, gibt es sie wieder,
die düsteren Hallen des Geistes, in denen die Menschheitsgedanken
unbewegt, in Kisten und Kasten verpackt, registriert und geordnet,
dem Schlummer der Ewigkeit obliegen. Manchmal reibt sich der eine
oder andere die Augen, erstaunt, dass es um ihn so ruhig geworden
ist, und entschlummert erneut.
Was aber tun, wenn die Performanz selbst sich mit Sehnsucht nach
dem Gedanken zu tragen beginnt, wenn sie ein Bedürfnis entwickelt,
ein schweifendes Begehren mit ungewissem Ausgang, aber festen
Absichten? All diese prachtvollen Verkörperungen des Sagbaren
müssen schließlich erfahren, dass das zu Sagende sich leise
verdrückt, sobald es begreift, dass es nur den Rohstoff der
Inszenierung liefert und nicht weiter in Betracht kommt. Selbst
Drehbuchschreiber werden schlechter, sobald man es nicht mehr der
Mühe wert findet, sie zu erwähnen.
Das nächste Zauberwort an den Fördertöpfen heißt daher Transperformanz: eine ›wie verwandelt‹
wirkende Performanz, ganz auf ihre neue Aufgabe eingestellt, aufs
Gebären und Austragen und schließlich die Aufzucht klitzekleiner
Gedankenkinder, die auch einmal groß werden sollen – hinreichend
groß, um im Zirkus den wilden Mann zu geben und mit bloßen Zähnen
einen Elefanten unter der Kuppel zu präsentieren. Denn Präsenz ist
alles. Die Geisteraugen, aus denen uns das Vergangene anblickt,
sollen sich vor Entzücken verdrehen. In der Gegenwart strömt alles
zusammen, sie ist Ware und Handelsplatz, Verkäufer und Betrogene,
Bühne und Paukboden, warum nicht Gedanke; einmal ganz Gedanke sein, das gibt ein
liebliches Bild.
Die unendliche Zärtlichkeit, mit der frühere Generationen von der
Poesie redeten; die unendliche Geschlagenheit, die einen selbst von
ihr reden lässt. Selbst bei Figuren wie Rimbaud oder Trakl ist
Poesie Lust. Erst im Zeitalter der Lust, dessen Statthalter sie
vielleicht immer war, wird sie zu Krümel und Falte. Leben wir auf
dem Olymp? Mitnichten. Fragen Sie einen beliebigen Zeitgenossen –
er hält das Leben der olympischen Götter für eine Lüge, mehr: für
einen Fehler. Was Götter bewegt, lässt ihn kalt. Der Zwang, jeden
Augenblick in die Zukunft zu stürzen, von Naiven wie Sartre einst
als Nötigung zur Transzendenz angepriesen, lässt Gegenwart gar
nicht aufkommen. Sie ist in Erwartung des kommenden Urlaubs
konsumiert. Die Zukunft ist der freie Fall: das bedeutet nicht, ›in
Zukunft sind alle frei‹, es bedeutet, die Zukunft hat nichts
Entgegenkommendes mehr und die Zahl derer, denen sie gestohlen
bleiben kann, wächst. Bleibt die Frage, wer sie gestohlen haben
könnte. An dieser Stelle entstehen Mythen wie eh und je, aber
düstere. – Nun, Herr Sartre, wie fühlt man sich nach dem Sieg, als
toter Commandante einer toten Truppe, unbeerdigt neben einem
offenen Grab, nahe einem Fluss, dessen Namen vergessen wurde, in
einem Deltagebiet, über das ein Frösteln hingeht? Sagen Sie nicht,
das sei lange her und sie hätten, wie jeder gute Zeitgenosse,
dazugelernt; diese Dinge fallen in eine Generation, die nun
verfällt.
»Von den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wird in
Erinnerung bleiben, dass man damals die Trash-Form des
Schreibens tradierbar gemacht hat.« »Zumindest unter
denen, die es angeht«, sagt G. »Ein paar Literaten und Kritiker,
unbedeutendes Volk. Aber weiter.« »Diese raschelnden Papiere, die
sich zu neuen Papieren zusammenschieben, von flüchtigen Notizen
durchzogen und hier und da mit Frage- oder Ausrufezeichen
aufgewertet, nicht zu reden vom ›Marker‹ und den an die Ränder
gestrichelten Pfeilen, korrespondieren auf seltsame Weise den
Klamotten der Damen, die damals massenhaft in den Seminaren und
Hörsälen saßen.« »Was willst du damit sagen?« »Nun, es waren
Töchter, die da herumsaßen, größtenteils mit Gedanken ans Aus- und
Einziehen beschäftigt, Bewohnerinnen eines geldgeschützten
Innenraums, den außer ihnen überhaupt niemand als real betrachtete,
abgesehen von den Dozenten, denen es eine diebische Freude bereitet
haben muss, ihn flüchtig zu dekorieren – von Vorlesung zu
Vorlesung, von Publikation zu Publikation.« »Und damit...« »In
einer solchen Atmosphäre baut man keine Trutzburgen und keine
Angriffsmaschinen. Man begnügt sich damit, den Leuten eine Handvoll
›Materialien‹ zukommen zu lassen, ausreichend, um ein Date zu
vereinbaren oder eine Prüfungsvorbereitung zu strukturieren – ganze
Haufen Gekritzel, verrutschende und im geeigneten Augenblick über
den Boden verstreute Blätter, auf denen der neugierig huschende
Blick alles findet, was er zu finden hofft, oder auch nicht...«
»Oder auch nicht. Ich erinnere mich gut an die Gebärde, mit der
eine Kommilitonin die Stapel, die ihre Bude zeitweise in ein
Mausoleum für modernes Denken verwandelt hatten, nach dem Examen im
Container verschwinden ließ – ein bisschen Wehmut lag darin und
große Gleichgültigkeit. Man sah, dass sie schon weg war.« »Ich
kenne die Wehmut der Dozenten, die wussten, dass ihnen früher oder
später das süße Gift ausgehen würde, wegtrocknen wie die Tinte in
den anachronistischen Füllfederhaltern, auf deren Gebrauch sie eine
Zeitlang beharrten.« »Die Kultform der Beiläufigkeit... Man ist der
Junge, der gerade zufällig um die Ecke biegt.« »Und das
ex cathedra. Eine hohe
Kunst. Heute, da der Barthes ab ist, fällt sie in sich zusammen.
Die Hüterinnen des Zusammengehens sind ausgezogen. Hier und da
findet man noch ein Leseexemplar und blättert verstohlen in ihm
herum. Aber im Großen und Ganzen...« »... wiederholt sich das Halbe
und Kleine. Es holt sich wieder, was es braucht, und fragt nicht
nach dem Purismus vergangener Tage.« »Der so puristisch nicht war,
eher verwertend.« »So viel unnützes Papier. Das Waldsterben, was
haben wir gebangt.«
Dass die Gesellschaft längst tot sei, sollte für jemanden, der an
Denkfiguren der Alten geschult ist, nichts Überraschendes haben.
Ein gebildeter Nietzscheaner zum Beispiel wäre imstande, die
Stationen ihres Verblassens, seit sie als societas civilis das Licht der
gebildeten Öffentlichkeit erblickte, mit Leichtigkeit nachzeichnen,
auch wenn er die Regung aus einem eingeborenen Aristokratismus
heraus unterdrückt, der ihn an diesen Fels des Seins schmiedet. Die
Epoche der Gesellschaft wäre in seiner Darstellung wenig mehr als
das papierene Säkulum, dem man keine weiteren Wälder nachwerfen
sollte. Heute, da sie niemand mehr braucht, da ihr weitgehend
entleerter Begriff den klaren Blick auf die Sachverhalte vernebelt,
bleibt, die verzweifelte Hoffnung Schiffbrüchiger auf eine
Wiedergeburt einmal beiseite gelassen, die Frage zu erörtern, was
denn an ihre Stelle zu treten vermöchte. Im Liberalismus, der
Kirche der Gläubigen der gesellschaftlichen Dinge, und seinen
sozialistischen Ablegern ist mehr Glaubensbereitschaft versammelt,
als die Botschaft vom Ableben der Betagten verträgt. Man müsste
diesen Leuten ein verblüffendes, auf genauer Kenntnis ihrer Nöte
beruhendes Angebot unterbreiten und ihnen Zeit lassen, es sich zu
eigen zu machen, nach dem Motto: Was noch im Namen von Gesellschaft
geschieht, geht fehl – mit jener Unfehlbarkeit, mit der ein toter
Gedanke sich selbst denunziert. Was also wäre zu gründen? Eine
Auffanggesellschaft? – So dächte ein gebildeter Nietzscheaner, so
könnte er zu denken versucht sein, wenn es ihn gäbe. Aber wäre er
dann Nietzscheaner?
Wer den Traum reiten will, muss ihn satteln. Aber kann er es auch? Den Traum reiten, das geht nur im Traum. Manche Träume erscheinen fertig gesattelt, fehlt nur der Reiter. Andere wollen geritten werden und verweigern den Sattel. Sie suchen den wilden Träumer, aber er ist selten geworden. Träume interessieren ihn nicht. Sein großer Traum ist die Traumlosigkeit ohne Vergessen, der Traum aller Träume. Der wilde Träumer ist Platoniker, er will, dass die Welt vergeht und er will dabei zusehen. Aber will er dabeisein? Wenn ja: warum? Wenn nicht: warum nicht?
Der Tod im Traum gehört zu den leichteren Übungen. Anders als der wirkliche Tod wirft er keine Ängste voraus. Panik andererseits ist grundlos, sie braucht keine Todesgedanken. Der Traumtod hat den Vorteil, dass er die Sache von beiden Seiten betrachten lässt: Wer nicht sterbend zum Leben erwacht, der träumt munter weiter und schwimmt im Totsein wie der Fisch unter einer geschlossenen Eisdecke. Wahr ist vermutlich, dass er keinerlei Neugier zeigt – er weilt nicht als Lebender unter den Toten, sondern ist tot unter Toten, darunter solchen, die er im Leben gut kannte, doch da sind auch andere. Schwimmen jenseits der Schleuse: es gibt ein Bewusstsein davon, dass sich etwas geschlossen hat und man in einem anderen Becken nach anderen Regeln rudert. Gern wärest du auf und davon, doch die Schleuse hält dich in ihrem Bann. Das ist das Totsein – es fühlt sich nicht, es hängt an. Kein Zweifel, du hängst am Haken, vermutlich zappelst du wild, aber das merkst du gar nicht, du bist so bei dir, dass du ganz außer dir bist, das verschlingt alle Reserven. Die äußerste Anstrengung ist mürbe, sie berührt dich kaum, sie lässt dich … nicht frei, sondern gelöst. Dies Gelöstsein zu ergründen lohnte es fast, tot zu sein. Doch wer weiß, ob es sich dann gerade so ergibt wie im Traum. Im Traum weißt du, was du nicht weißt, aber du weißt es nicht; erwacht weißt du nicht, was du im Traum wusstest, aber du weißt, dass du wusstest, was zu wissen sich nicht schickt.
P. kannte einen, der glaubte zu wissen, dass er im Traum nur zu wissen glaube, da es in Träumen kein wirkliches Wissen geben könne. Das aber wusste er unbedingt.
Diese Retrospektive hat uns gefallen und wir empfehlen jedem
hineinzugehen. Man sieht, dass der Künstler sich etwas bei seinen
Bildern gedacht hat. Ein Bilderbogen der Punischen Kriege zum
Beispiel, in Kohle gearbeitet, deutet den Endschlag an –
Armageddon. Die Mitte Europas, ausradiert auf künftigen Landkarten,
atomar verwüstet und unbegehbar gemacht auf menschliche Zeit. Ein
weißer Fleck in der Zukunft, der man selbst ist, mitsamt den
Menschen und Traditionen, den Bauwerken, Landschaften, Traumbildern
und Ideen, den in endlosen Alltagen erdachten Gebilden und
Phantasmen, den mit ihnen verwachsenen Wünschen und Ansprüchen. Das
wäre, das war, das ist
Karthago – ein unüberbietbares Vorher-Nachher, eine Fata Morgana
des Grauens, genährt durch den in Wahrheit unausrottbaren
Fortschrittsgedanken.
Halb plastisch, auf Holztafeln montiert, Motive aus einem fernen,
rauchenden Troja: Priamos, sterbend auf die Schulter Heydrichs
gestützt, von verkleideten SS-Leuten außer Landes geschafft,
Heydrich selbst, vom Attentat genesen und unerkannt unterwegs zu
neuen Ufern. Brennende, schon halb zerfallene Paläste, Damen der
besseren Gesellschaft stürzen sich hastig in die bereitwillig
hingehaltenen Schwerter ihrer Liebhaber, Gemetzel in den Straßen
und Gassen, Raub und Kasteiung, Bilder über Bilder, alles vorbei
und allgegenwärtig, ein unlöschbarer Brand, eine Schande, die
niemals erlischt. Niemals? Niemals. Solange Menschen, begabt mit Gedächtnis, die
Erde... Wie gesagt: Gehen Sie hin!
Die pragmatische Geschichtsschreibung überhängt ihre Löcher mit
Bildern, die immer auch einen Teil des Gewebes überdecken, dafür
aber Handlungssignale in alle Richtungen senden. Manche sind fest
montiert, wer sie abnehmen möchte, läuft Gefahr, einen Teil der
Konstruktion einzureißen, andere lehnen nur leicht an der Wand, als
warteten sie darauf, aufgehängt zu werden, was selten geschieht.
Letztlich stehen sie gut. Wieder andere fungieren als Stellwände,
sie lassen Durchblicke und -gänge frei, doch nicht in alle
Richtungen. Diese beiden öffnen den Weg in den Hintergrund, aber
nur halb, man zwängt sich eilig zwischen ihnen hindurch, der
flüchtige Blick rafft, was er mitnehmen kann, es ist nicht viel,
aber mehr als genug. So wie sie einander gegenüber stehen, nimmt
eines am anderen Maß. Karthago endet, Troja nie. Schande oder
Untergang... wer sich da nicht entscheidet, den wird man wohl einen
Bilderfeind heißen. »Weitergehen... einfach weitergehen...« sagen
die Wärter im Vatikan, die den Trubel schon länger kennen. Die
Macht der Bilder führt leicht zu Verspätungen, währenddessen warten
das Essen und die kleine Lektüre am Abend. Was ich heute wohl
auslesen werde? Eine Frage auch das, an Zeit und Raum.
Wie stupide die Leute sind, brüstet sich Adler, kann man zum Beispiel daran erkennen, dass sie glauben, sie könnten ihre Mitmenschen dadurch stoppen, dass sie ihnen bei jeder Gelegenheit übers Maul fahren. Natürlich erreichen sie das komplette Gegenteil: wo der andere verstummt, brodelt und qualmt es in ihm weiter, bis es irgendwann ein Ventil findet. Die ganze übers-Maul-Fahrerei bewirkt also nur, dass aus Menschen Vulkane werden, die irgendwann Tod und Verderben, bestenfalls Gift und Galle speien, wie man es ja auch sieht, wenn man sich in ihren sogenannten sozialen Medien umschaut. Was daran sozial sein soll, kann ich nicht verstehen, es sind Einübungs-, um nicht zu sagen Brutstätten des Asozialen, so dass man sich vor ihnen fürchten müsste. Und das verdankt sich, ich wiederhole mich hiermit, fast immer der übers-Maul-Fahrerei. Woher mag sie kommen?
– Das kann ich dir sagen, mischt Ratte Fritz sich ein, sie wollen alle den Anfängen wehren und das tun sie dann auch. Den Anfängen von Höflichkeit und Gesittung, okay, darauf kann man gut und gern verzichten, solange man undercover unterwegs ist, wichtiger scheint da schon, den Anfang eines Gedankens zu stören, der sich gerade bilden will – Gedanken bilden sich nämlich, im Gegensatz zu den Netzkämpfern, sie bilden sich heraus, ganz ohne Geschrei, sofern man ihnen nur Zeit und Gelegenheit bietet –, denn ein ungebildeter Gedanke, nun...
– Ich weiß, worauf du hinaus willst, kreischt Adler dazwischen, ich darf dich unterbrechen, weil ich diesen Gedanken selbst schon oft hatte, er ist sozusagen auf meinem Mist gewachsen und deshalb überfällt mich an dieser Stelle die Ungeduld. Also, du willst sagen, wer öffentlich pöbelt, ins Wort fällt, fremde Gedanken zerstört, indem er sie vollendet, gleich auf den Mann geht, bei Gefahr, dass sich dahinter eine Frau oder sein eigener Sohn verbirgt, will verhindern, dass ein anderer sich seine Gedanken macht. Apropos: das Machen von Gedanken ist, wenn ich das sagen darf, eine sehr intime Angelegenheit, man sollte sie in der stillen Kammer erledigen, bevor man den Marktplatz betritt. Was in die Hose gehen will...
– ... das geht in die Hose, das meinst du wohl, es sei denn, man lässt sie rechtzeitig runter. Aber das ist es doch: Sie lassen die Hosen reihum herunter und wundern sich, dass keiner –
– Nein, das wirst du nicht sagen. Ich untersage es dir. Ich will, dass du schweigst. Ich sperre dich aus. Ich will, dass man dich löscht. Ich will, dass man dich öffentlich auspeitscht. Ich will, dass Menschen Schreikrämpfe bekommen, wenn sie dich lesen. Ich will dich vernicht, hörst du, ver. Aber, aber: wo bistn du? Gekauft, was? Agent einer fremden Macht, was? Das müsste ich wiss. Kommir nich da mit. Mit eim Saz intz Gebüsch. Das häten sie gern. Daraus wird nichts. Das werden sie schön –
Die Militärsprache im Zustand der Politik der anderen Mittel kennt
die höllische Komposition der Gleichheit aller im Tode durch
Trommelwirbel und Pfeifen, aber die Pauke darf da nicht fehlen.
Zwar ist die Trommel mit größerer Sicherheit als die Pauke ein vor
undenklichen Zeiten von Geistern gesandtes und bis heute von ihnen
beherrschtes Instrument. Im Vergleich zu ihr scheint die Pauke bloß
größer und dümmer und scheinbar im Ton von harmloserer Wirkung auf
das Gemüt der Soldaten, aber man hüte sich vor solchen
Einblasungen, die uns glauben machen wollen, die Pauken kämen vom
Himmel. Zwar stünde die Pauke, so könnte man meinen, den Göttern
wegen ihrer naiven Großzügigkeit und Donnerverwandtschaft gut an,
aber man täusche sich nicht. Die rasselnde Intelligenz der Trommel
in Gemeinschaft mit der Dummheit der Pauke erzeugt die Zerrüttung
der Nerven als Vorbereitung der Hölle. Beide vereint und zusätzlich
noch von Pfeifen gehetzt, wirken schlimmer auf das Gemüt als der
gemeine Donner der wirklich viel einfältigeren Kanonen, die ja
betäuben und töten statt anzustacheln. Auch fahren ihre Kugeln oder
Granaten niedriger heran und gleichen mitsamt ihrem rasenden
Windzug zugeschlagenen Türen, so dass stets ein seltsames
Nachhinein ihr Wesen bestimmt. Man kann sie unablässig vergessen
und wieder vergessen.
Ganz anders die Trommeln, Pauken und Pfeifen. Die Trommel rasselt
und hetzt, die Pauke zeigt bum bum bum die Grotten der offenen
Todespforten und spielt die Dunkelheit grenzenlos über die unsicher
still gewordene Landschaft an den Rändern der Schlacht. Man sagt,
die Kriegsmusik kehre über moderne Lautsprecher wieder zurück, aber
das bloße Gequäke von oben oder rückwärts ist gar nicht zu
vergleichen mit der Allgegenwart der Trommelwirbel, vereint mit
ihren schauerlichen Genossen. - PM
Nachdem das große Los von einem Unbekannten gezogen wurde, ist das
Trost-los ein übrig gebliebenes Stück des Traumes, der zum Wetten
verführt hat. So erklärt sich das Trost-los als Ausdruck der
getrösteten Vergeblichkeit im Traum vom Zufall des Glücks. Von hier
aus kann es erneut im klassischen Dienst der Vergeblichkeit weiter
gehen. Es kann wieder eingesetzt werden. Alle Welt setzt heimlich
darauf, denn im Trost-los steckt der unauslöschliche Sieg des
Großen und Ganzen, als das unzerstörbare Los aller Menschen, es ist
gleichsam unendlich.
Was soll, wenn das Große und Ganze auf diese Weise gespalten wird,
schon das richtige große Los? Wer möchte denn Papst oder Königin
von England sein oder Bundeskanzler, man wäre nicht ganz bei Trost,
hielte man dieses Elend unter den Augen derer, die das
wohlerworbene Trost-los unüberlegt zu Gunsten eines täuschenden
Dauerschauspiels verworfen haben, für den Gewinn durch ein großes
Los?
Das große Los ist in seinen Wurzeln so trostlos wie Gott, dessen
trostloses Schicksal wir alle kennen und der mit uns lebt in der
Einheit der Trostlosigkeit, aber ohne den Bindestrich. Auf Gott
wird dennoch gesetzt, weil in der Kapsel, die sich so nennt, alles
unsichtbare verborgen sein muss, auch das echte Trost-los.
»Der liebe Gott würfelt nicht« hat Einstein gesagt, aber das sagt
ein von Gott seit alters Getäuschter, denn in dieser Kapsel spielen
unsere Illusionen seit langen Zeiten mit dem Zweifel durch unsere
Leidenserfahrung einen wüsten theologischen Poker. Hinter uns in
der Kapsel steht das Leiden persönlich, hinter Gott aber steht ja
bekanntlich niemand, außer wir wagten es, uns nach der List des
Odysseus so zu nennen und dort zu vermuten. Auch den Teufel hat man
im Hintergrund Gottes vermutet. Die Kunst der gespaltenen
Trostlosigkeit besteht aber, ebenso listig wie abstrakt, in einem
einfachen Bindestrich. Dieser winzige Strich, dieser kleine Stab
ist unser Zepter im neuen Theater der Schicksalsmetaphysik. Auf
dieser Bühne müsste aber der Gott aus der Kapsel gelockt und viel
höher hinauf befördert werden. Wobei wir uns allerdings nicht
höflich tiefer zu stellen haben. Wir am Boden brauchen den
Bindestrich als Zepter zur Rechten und die Kapsel da oben bedarf
der wild gewordenen Engel zur Linken.Was sagen die Künstler? Bloß
abwarten und Tee trinken? - PM
Man hat das Bild der Trümmerfrau aufpoliert, bis es heller strahlte als die Fixsterne am Ideenhimmel. Was man erreichte (und vielleicht erreichen wollte), war die systematische Verdunkelung des Anteils, den Frauen am Zustandekommen der Trümmerwelt hatten. Warum? Das mit Schuldgefühlen gepolsterte Mitleid mit den Frauen ist die letzte, unweigerlich von beiden Geschlechtern ergriffene Chance, jene männliche Dienstbarkeit wiederaufleben zu lassen, die das ›andere‹ Geschlecht sich in seinen Aufbrüchen so ausdrücklich verbittet. Ein Instinkt- und Reflex-Mann, der nichts mehr einsetzen kann, um das Los seines abtrünnig gewordenen Weibchens zu verbessern, es zu versüßen, auf irgendeine krumme Weise zu veredeln, kann immer noch eins: folgsam wie ein Hund mit dem Schweif wedeln, wann immer ein Zeichen erscheint, ansonsten bei allem, was geschieht, zutiefst davon überzeugt sein, dass allein sie, auf den zerfallenen Resten ihrer Familie sitzend, alles zusammenhält: Trümmerfrau. Verschwindet sie ganz aus dem Blickfeld, auch gut: dann stülpt sich das Trauer- und Trümmerbild über die Gesamtheit der Frauen, der verlassenen Frauen, der mit ihren Problemen alleingelassenen Frauen, der Frauen, deren berechtigtes Verlangen, wenigstens gleiche Chancen in der Gesellschaft zu erhalten, immer wieder mit Füßen getreten wird. Je kläglicher das eigene Scheitern, desto aggressiver die Parteinahme für die Frau(en) in Fällen, von denen einer nichts oder wenig weiß und die ihn, streng genommen, auch nichts angehen. Ob er’s glaubt? Das wissen die Götter, ratlose Gestalten in Weiß mit einem Schuss Schuldgefühl ohne Ende.
Bei jedem großen Naturereignis – Tsunami, Erdbeben, Überschwemmungen –, bei dem innerhalb von Minuten Tausende von Menschen fortgerissen, ertränkt, erschlagen, verbrannt, erstickt, auf jede erdenkliche Weise ausgelöscht werden, explodiert das Mitgefühl mit den armen, unschuldigen Wesen, die auf so grausame Weise dem nachbarlichen Miteinander entrissen werden. Kein Wort davon, wieviele Morde, Intrigen, Misshandlungen, Betrügereien, Diebstähle, private und institutionelle Übergriffe in einem solchen Moment unterbrochen werden, wie viele nicht mehr zur Ausführung gelangen, weil die Natur Täter oder Opfer vorher außer Gefecht setzt. Darüber zu schreiben oder auch nur daran zu denken erschiene den meisten Menschen ungehörig, es wäre zynisch. Gegen den äußeren Feind, in diesem Fall die Natur, rücken alle zusammen – in Gedanken, nur in Gedanken, und das auch nicht allzu sehr, wie der statistische Verbrechensanstieg unmittelbar nach dem Einbruch des Entsetzlichen mitteilt: wer immer einen kühlen Kopf bewahrt und sich nicht damit begnügt, nicht betroffen zu sein, kann ihn ebenso gut einsetzen zu helfen, wie die Situation ›gnadenlos‹ für sich selbst auszunützen. Die Übermacht der ›Gewalten‹ macht die Menschen nicht gut, sie macht sie schlau, selbst vor dem sicheren Untergang. Der amerikanische General, der in diesem Sinn Natur spielte, als er die kampfbereit in ihren Schützengräben liegenden Einheiten einer Armee ›schlicht‹ mit Bulldozern zuschaufeln ließ, erreichte damit, dass die nächste Kämpfergeneration wusste, was ihr blühte, wenn sie sich einem solchen Feind zu erkennen gab. Die Natur hat keine Gegner, man rechnet mit ihr, man weicht ihr aus, man studiert und benützt sie, man erwägt die Vorteile und Gefahren, die sie bietet, man lernt vielleicht im Umgang mit ihr, was es heißt, Mensch zu sein, mit allen Vor‑ und Nachteilen, aber man liefert sich ihr, außer in Anfällen törichter Arglosigkeit, nicht aus. In diesem Sinn hat die islamische Welt dem Westen widerstanden, mag kommen, was will.
Ein Land, dessen erprobt große Durchsetzungskraft durch einen Faktor gebremst wird, sagen wir, eine Schuld, ein Schuldbewusstsein, eine Schande, ein überwältigendes Nie wieder, stringent und unklar verbunden mit dem verdrängten, wiewohl unauslöschlichen Gedanken, den großen Wurf, i.e. die Verfehlung, glücklicherweise verfehlt, es, soll heißen: seine Geschichte, versiebt zu haben, genehmigt sich ein neues Betätigungsfeld, frei und unbelastet von Reminiszenzen, und lässt seiner gewohnten Tüchtigkeit seinen Lauf. Das kann nicht gut gehen, das wird nicht gut gehen, also muss irgendein Faktor hinein, der den neuen Glanz, sagen wir, ein bisschen verdunkelt, sagen wir, ein bisschen versteckt. Also wird dieses Land unaufhaltsam zum Träger einer neuen Idee, einer neuen Macht-Idee, der gemäß der alte Machtwille gebrochen, gebannt, endgültig zu Grabe getragen und durch etwas Gemeinschaftliches, dem Machtstreben Entsagendes, prinzipiell und auf Dauer Friedfertiges ersetzt wird. Wie denn sonst? In dem Maße, in dem diese Idee Realität gewinnt, das heißt Macht erzeugt, wächst die Verpflichtung, Seit an Seit mit den friedlich Verbündeten Druck zu üben, Macht zu demonstrieren, die man verdammt, Kriege zu führen, die keine sein dürfen, die gemeinsame Sicht der Dinge gemeinsam durchzusetzen, bis die prinzipielle Friedfertigkeit durchlöchert erscheint wie ein Schweizer Käse: so wird man verlässlich, so wird man respektabel, so wird man irgendwann wieder wer. Ein Akteur meldet sich auf der Bühne zurück. Wo steht das Stück? Ist es ein Wunder, wenn die prinzipiell friedfertig Verbündeten plötzlich Unruhe zeigen, sich die Augen reiben und einen Haufen Fragen stellen, die keiner beantworten kann, z.B. ob da nicht unter der Hand ein neuer Koloss heranwächst oder etwa vielleicht bereits herangewachsen ist? Wenn sie dann, dem Gesetz der Unruhe folgend, sich weiter fragen, wer in diesem neuen Machtfeld, dessen Teil sie nun sind, wohl jetzt und künftig das Sagen hat? Wenn sie unter der Hand Maßnahmen ergreifen, die, misstrauisch betrachtet, geeignet erscheinen könnten, die gemeinsame Sache am Laufen zu halten und zugleich zu bremsen, obwohl die Sache, als Idee betrachtet, kein Bremsen verträgt? Und wäre es da wohl ein Wunder, wenn der große Tüchtige, der doppelten Last der Geschichte ledig, plötzlich anfinge, hier und da ungemütlich zu werden, versteckt und offen Macht auszuüben, um die beworbene Sache voranzutreiben? Nun, kein Wunder, aber der Beginn einer anderen Geschichte, vielleicht ein sich in der Ferne abzeichnendes Desaster. Wer will das wissen? So, wie das Land dasteht, wird es immer auch Verbündete finden, die aus der Logik der Konstellation heraus denken und dabei auf ihre Kosten kommen. Was soll er tun, der große Tüchtige? Sich seiner Tüchtigkeit entschlagen? Aber das wollte er ja, auf einem begrenzten Feld, wo denn sonst?
Die Tuwasse aller Länder, groß oder klein, haben sich vereinigt und feiern den Durchbruch. Im Yagir zeigt man ihnen die Hebel und Knöpfe der Macht und mahnt lächelnd zur Vorsicht, ehe man sie mit ihrem Schicksal allein lässt. Natürlich sind alle Schalter programmiert und wer einen Hebel betätigt, der betätigt sie alle. »Geht doch«, rufen die Tuwasse und freuen sich, dass sich etwas bewegt. Dass es so leicht geht, hätten sie nicht gedacht, und im Grunde ihrer Herzen wundern sie sich. So werden sie mutiger vor der Zeit und lassen geschehen, was längst schon hätte geschehen können, hätten nicht andere Kräfte es immer zu verhindern gewusst. Nun sind sie weg, die anderen Kräfte, einfach verschwunden, und es geht vorwärts. Wie in jeder guten Parabel kommt am Ende der Umschlag. Sagen Sie, wer kennt die Enden einer Parabel? Niemand. Eine Tuwasserfahrt zieht rasch ihre Kreise, aber das Glücksgefühl, dabei zu sein, wiegt die Unbill der Fische auf. Schließlich merken auch sie, dass sich etwas bewegt, und sollten dankbar sein. Der Umschlag kommt schneller als gedacht, er kommt selten allein, auch verschwindet er rascher in den dafür vorgesehenen Schlitzen und Spalten, als ein Lächeln das andere wegwischt. Was zählt, ist der Augenblick. Er ist Zählmeister aller Klassen und wirklich unersetzlich.
Seit einem Missverständnis im Vaterunser entspricht das neu
eingefügte ›Böse‹ dem älteren Wort ›Übel‹ und beides soll die
Anwesenheit des Teufels als Herrn dieser Welt bedeuten. Aber das
ist beide Male der gleiche Irrtum. Das Übel ist der biologische
Körper des Menschen im medizinischen Kollektiv. Der Zeitgeist hat
sogar darin Recht, dass er das Essen und Trinken verdächtigt, dem
großen Übel, dem Tod durch den Kochtopf, Vorschub zu leisten. Das
große Übel des Vaterunsers meint vermutlich den Tod infolge der
unabwendbaren Nahrungsaufnahme.
Hier läge alsdann ein noch niemals, weder medizinisch noch
theologisch, erkannter Widerspruch des Gekreuzigten gegen den
göttlichen Zoologen, Gärtner und Koch. Man vergesse auch nicht
dessen Speisevorschriften, die als späte und oberflächliche Hilfe,
auf eine gewisse Reue, ja zornige Verzweiflung des Gottes verweisen
könnten, uns so gefräßig gemacht zu haben.
Indem Christus im Vaterunser uns anweist, Erlösung vom Übel zu
suchen, hat er wahrscheinlich den Zwang zur Nahrungsaufnahme
gemeint, der in jeder Hinsicht, satt oder hungrig, tödliche Folgen
hat. Des Teufels in all seiner Pracht kann man sich wie St.
Augustinus schließlich erwehren, des hungrigen Magens nicht. Von
Lukullus kann höflich geschwiegen werden, auch er war bei goldenen
Tellern verloren.
ER, der beides gekannt haben wird, den Küchenlosen Himmel und die
von Küchenfeuern vergiftete Erde, kann kaum ein anderes Übel
gemeint haben als die tierische Existenz. Das letzte Abendmahl ist
so nie betrachtet worden. Segnet oder flucht er?
Gott, der angenommene Vater ohne Lebenserfahrung, hat das Übel als
Tiernatur nie erwähnt. Er spricht nur einmal vom Brot, das man im
Schweiße seines Angesichtes essen muss, als er durch die
Verfluchung nach dem Genuss eines Apfels!, man bedenke auch dies,
sich seines Irrtums entledigt glaubt.
Christus der Großsohn jedoch hat am eigenen Leibe erlebt, was die
Schöpfung der Welt hinterlassen hat. Man löschte seinen Durst mit
Essig und er zeigte auf seine Wunden, das sollte genügen.
Die Ernährung – sie umfasst schließlich die gesamte Natur, die
selber von Speisen lebt, wie Verschlingungsszenen bei Bosch
phantastisch beweisen – wird von einem an der Natur
herunterdenkenden Neumenschentum kindisch genug verdächtigt, durch
Zusätze aus Kunststoffen, die doch ebenfalls der Natur in
verdrehten Verwandlungen angehören, vergiftet zu werden. Bedenkt
man dabei auch wohl, wie verdreht die gute Natur schon selber aus
schwarzen Löchern oder anderen Himmelskadavern frühester Abkunft zu
uns gelangt sein mag, so gewinnt die falsche Hoffnung auf
Überwindung des großen Übels ihr Urrecht zurück, im Gebet erwähnt
zu werden.
Von all den Getäuschten wird törichterweise ein guter Urzustand des
Lebens, ohne den schrecklichen Dämon des Übels näher in Betracht zu
ziehen, für erreichbar gehalten. Beweise und Muster gibt es aber
nicht, denn die Köche sind schließlich auch keine Narren, sondern,
vergleichbar den wahren Künstlern, nie so einfältig gewesen, dem
positiven Naturalismus auf den Leim zu gehen. Man will sich, wenn
möglich, nicht ungebildet und kunstlos zu Tode essen. Und selbst
die grübelnden Theologen, die das Sein Gottes als Wahrheit der
Wahrheit erforschen, wären bildlos längst in Langeweile gestorben,
hätten nicht Künstler ihnen mit tausend erlauchten Speisen und
großen Deckengemälden zur Seite gestanden. Was wäre der Vatikan
ohne seidene Tücher, Wandmalereien und Küchen? In gekachelten
Betlabors wären man mit unbemalten Wänden nicht wirkungsvoller
geblieben als jene Meister, die jetzt behaupten real zu existieren,
indessen ihnen ein gelangweilter Nachwuchs wegzulaufen beginnt.
Anders als die heilige Kirche haben sie törichterweise der Kunst
die notwendige Bruderschaft zur Gestaltung ihrer Absurditäten
verweigert. Man gedenke der vergoldeten Delphine, die als Stützen
der älteren Mikroskope die faden Bilder getragen haben.
Gäbe es eine echte Gewerkschaft der Künstler, so könnte sie heute
mit guten Gründen den real existierenden Cliquen ein bezahltes
Stempelrecht für jeden technisch brisant gemachten Gegenstand
abverlangen. (Vermutlich die Abkunft der Ornamente auf alten
Gebrauchsgegenständen, für den Raub an der Natur.)
Vorschlag für ein Randgebiet der versuchten Unvernunft, als Kölner
Karnevalsschlager: »Dä Hunger, dat is dat Übel, mer esse uns
kapott, mer wisse nit mee wat joot is, mer bruche ne joode Koch.« -
PM
Atmosphären-Überdruck heißt alles, was den normalen atmosphärischen Druck
übersteigt, soll heißen, den ganz normalen Druck, den jeder empfindet, der in
unserer Sphäre zu Gast ist. Denn wir, die Gastgeber, empfinden ihn nicht, wir
empfinden nichts dabei, wenn wir eine Bürde schleppen, die niemals weggeht und
die wir deshalb, mehr aus Überschwang denn aus Vernunftgründen, als unsere
bezeichnen, obwohl wir’s auch lassen könnten. Wer einmal in einer höheren
Sphäre, z.B im Himalaya, weilte, weiß, wie fatal sich Unterdruck auswirkt, vor
allem auf das Gehirn, das zarteste aller Organe. Wogegen ein leichter Überdruck
sehr zu empfehlen ist, weshalb wir mit den Kindern gern an die See reisen, um
dort das Wasser mit Plastikmüll zu verpesten und die Haifische mit Frischfleisch
zu füttern. Auf dem Meeresspiegel muss der Druck wohl optimal sein, das
jedenfalls behaupten die Spiegel-Forscher und lassen, wie der Spiegel,
den Druck in den Gehirnen ihrer Gefolgschaft von Jahr zu Jahr ein wenig steigen
– aus Daffke, sagen die Enttäuschten, aus Eigennutz, sagen die Verschmitzten.
Denn ein steigender Spiegel will streng beobachtet sein, sonst gerät er außer
Kontrolle, und von dem, was dann folgt, erzählen die schlimmsten Märchen. Die
Forscher selbst, die sich aus einer bizarren Laune heraus ›Forschende‹ nennen,
obwohl weit und breit kein Ende in Sicht ist, würden beides abstreiten, teils
aus Streitlust, teils aus Bescheidenheit, denn sie wissen wohl, dass der
forschende Mensch zu solchen Naturvorgängen nichts beisteuern kann als die ihm
eigene Neugier, die, wie man weiß, nicht verträgt, dass alles beim Alten bleibt,
während man Zeit und Mühe auf seine Erforschung verwendet. Dagegen übernimmt der
nicht forschende, nicht oder nur in geringen Maßen neugierige Mensch ungefragt
für alles Verantwortung: Er ist halt da, also muss auch etwas passieren,
das auf seine Kappe geht, sonst verliert er rasch das Interesse. Was zeigt, dass der
forschende Mensch immer und überall des nicht forschenden bedarf: er ist sein
Sancho Pansa, sein Maul-Esel, sein Brötchengeber und -zücker, denn manchmal
zückt er es nur, um es dann selbst aufzuessen. So gedankenverloren kann jemand
sein, dem es, unter dem Schirm des anderen, zu gut geht. In einer
Wissensgesellschaft ist Überdruck daher das Normale. Er ist so normal, dass
Hypersensible bereits anfangen, ihn als Unterdruck zu empfinden. Schließlich
misst die untere Atmosphäre – ihr Atem-Reich, wie man ihnen gesagt hat – nur
sieben Kilometer in der Höhe, praktisch nichts in Anbetracht des darüber, also
hinter Strato-, Meso- und Thermosphäre lauernden Weltraums. Das erscheint ihnen
wenig und kommt, wie sie selbst, ihnen sehr verletzlich vor. Sieben Kilometer!
Und was ist, wenn ich morgen aufwache und alles ist weg, abgeschmolzen wie
die Grönland-Gletscher und mein Schokoladeneis gestern? Wer der
Verletzlichkeit der Menschen schmeichelt, den lieben und verehren sie, dem bauen
sie Altäre zum Schutz der Intimsphäre, in der weit höhere Drücke herrschen, als
dem Verstand in der Regel gut tut. Er verabschiedet sich daher an der Pforte und
murmelt nur: Thron und Altar, die alte Paarung. Dabei ist dieser Thron
bloß ein Lotterbett für Goldwachteln und dieser Altar ein Schwitzkasten, eigens
errichtet für Forscherseelen, die eine gewisse Temperatur benötigen, um ihren
täglichen Ausstoß zu bewältigen und nicht aus der Förderung zu fallen.
Man darf, im Leben, Übergänge nicht zu stark markieren. Eher sollte man sich unauffällig davonmachen. Der Mensch erhebt sich leichter aus einem Bombenkrater als aus dem Geflecht einer soeben gelösten Verbindung. Ein wenig beachteter Aspekt von Übergangsritualen ist die Erschöpfung, die sie herbeiführen. Sie verspricht Erlösung nach dem Einschnitt. Die rituelle Erschöpfung besitzt den Vorteil, physisch und mental zu wirken – der Rausch verfliegt, die schöne Erinnerung bleibt. Nur das Schöne erweist sich als überlebensfähig, als über-Lebens-fähig: es stirbt zwar auch, aber mit den Köpfen, mit den Köpfen. Nach diesen Köpfen kommen andere, ahnungslos, aber empfangsbereit, bereit, sich zu infizieren, bereit, sich infizieren zu lassen. Ein Gang durchs Museum genügt, ein einziges der dort aufgehängten Erinnerungs-Stücke ‒ schon blüht das Gewesene, als sei es heute.
Den Systemmantel überstülpen – eine Tätigkeit, nicht unähnlich der,
das hohe Ross zu erklimmen, um darauf zu sitzen: da könnte jeder
kommen, der Erstbeste, um sein Problem zu lösen, wenn es sich denn
auf diese Weise löste, was wohl nicht immer der Fall ist. Das
Geschäft mit Systemmänteln gedeiht prächtig überall dort, wo das
Zeugma seine prägende Kraft verliert, das ist ein Geheimnis, das
erklärt, warum die Abschaffung des Systemdenkens es eher beflügelt
hat. Durch Recycling findet eine Menge exzellenter Ware den Weg
zurück auf den Markt, daneben gibt es einen gehobenen Bedarf, der
nur durch echte Neuware gedeckt werden kann. Auch Pelz, durchaus!
In der Regel muss man für einen guten Systemmantel nicht mehr
ausgeben als für eine Waschmaschine, das erscheint vielen tragbar
und die anderen sind schon der hohen psychologischen Barrieren
wegen kaum zu erreichen. Ein Wahnsinn. Eines der robusteren
Wahnsysteme bietet, beiläufig gesprochen, die Enttarnung von
Wahnsystemen. In diesem Segment genügt die Faustregel und die
Zahlen stimmen, Schwankungen der Konjunktur abgerechnet, immer.
Aber, auch das muss gesagt werden, es sind Petitessen im Vergleich
zu den Möglichkeiten, die der administrative Markt bietet. Hier
beherrschen die Großfirmen mit ihren bekannten Markenprodukten das
Feld. Ein wirklich guter Systemmantel soll nicht nur passen, er
darf darüber hinaus nicht zu viel verraten und muss soliden Schutz
vor jeglicher Form der Bloßstellung bieten – bei jedem Wetter. Das
kleinste Detail wirkt da rasch verspielt und aufgesetzt, als verwende jemand zuviel
Zeit darauf, sich zu bespiegeln. Ein guter Vorgesetzter schätzt so
etwas nicht und wird sich den Betreffenden merken. Das Gros der
Bezieher von Systemmänteln sind Abhängige, manche darunter geborene
Denker, denen man den Schneid abgekauft hat – angesichts der
Preise, die dafür allenfalls erzielt werden, der fast sichere Ruin.
»Was tun, was bewegen«: so reden sie in der ihnen eigenen Sprache
und, wenn, die Folgen allmählich sichtbar werden, »Wir haben das
gemacht.« Man steht zu dem, was man gemacht hat, man könnte auch
sitzen oder liegen, aber so ist es anständig und es steht einem gut zu Gesicht. Die Sprache will es, man flieht sie und sie holt einen ein.
»Zwerg heißt auf Englisch doch ›dwarf‹, oder? Aber was heißt dann
Überzwerch?« »Wir wissen noch gar nicht, was Überzwerch heißt oder
allenfalls heißen könnte. Vielleicht finden sich hier und da
brauchbare Ansätze zu einem solchen Verständnis, aber im Ganzen ist
das Gebiet, auf dem man es suchen müsste, noch dunkel.« Da geht die
Tür auf und Überzwerch surrt herein. Als Nackenrolle dient ihm ein
Gepäckstück, er schätzt den Komfort auf Reisen. Welchen Reisen?
Überzwerch ist unterwegs, das zeichnet ihn vor anderen aus. Vor
welchen anderen? Vor seinesgleichen? Oder vor anderen anderen, um
es kolloquial zu sagen? Nun, wir werden das heute nicht ergründen,
dafür ist die Zeit der Anwesenheit zu kurz. Er fährt seine Finger
aus und führt sich einige Brosamen zu. Das ersetzt ihm das
Gespräch, auch wenn das Ergebnis mager bleibt. Darauf ist er sogar
stolz; er hasst Korpulenz über alles und bekennt sich zur
klassischen Hagerkeit des Profils. Wieviel Anstrengung mag es ihn
kosten, ein Leben lang ohne Regung zu bleiben und kein Fett
anzusetzen? Überzwerch ist alt, wie die Leute tuscheln, er wird es
bald überstanden haben. Oder auch nicht. Man begibt sich leicht auf
das Feld der Täuschungen. Nichts an seinem Auftritt verheißt einen
baldigen Abgang, im Gegenteil. Mit voller Absicht macht er denen,
die erst im Kommen sind, das Leben schwer. Vieles deutet darauf
hin, dass er noch immer mit ihnen konkurriert. Zweifellos will er
gewinnen. Aber warum? Zu welchem Ende reißt es ihn hin? Ist es die
Bahn des Exzentrikers, die ihn ins All schleudert oder ins Nichts?
»Ah ja, ins Nichts mit ihm!« – ein Seufzer mehr denn eine Parole.
Welches Nichts stünde bereit, ihn aufzunehmen? Es müsste eins sein,
das sich von Sündenregistern nährt, ein fettes sogar, zumindest ein
korpulentes. Die Sünden der Maler sind wie ein Haifischbecken, in
dem manches untergeht. Überzwerch ein Opfer der Malerei? Immerhin
verhält er sich zu ihr wie ein Sopran zur Sottise. Es zischt, wenn
er an ihr vorbeifährt, aber es ist nicht das Zischen einer
Schlange, eher von verdampfendem Wasser, man muss vorsichtig sein
mit Vergleichen. Überzwerch hasst den Vergleich.
Uralt ist das Vertrauen in Uhren. Doch reicht seine Spur nicht weiter zurück als die der Uhren selbst – erst die Sache, dann das Vertrauen. Wer anderes predigt, dem sollte man das Maul verbinden, er redet Zeug. Was nicht heißt, dass es dummes Zeug ist, manches Zeug hat das Zeug zu Höherem, es ist nur in die falschen Finger geraten, die höchst selten etwas freiwillig wieder hergeben und noch seltener in gutem Zustand. Was das Vertrauen in Uhren angeht, so ist es die Kehrseite des krankhaften Misstrauens in die Zeit: Gäbe es keine Uhren, man spürte das Tick-Tack in allen Gliedern. So hört man es nur gelegentlich aus Gewohnheit und weiß doch: moderne Uhren ticken nicht. In ihnen ist der Rumor gebändigt und das Vergehen verstetigt, so dass keiner mehr wie aufgezogen herumlaufen muss, nur um am Ende klein beizugeben und verkünden zu müssen: Sie ist stärker als ich! Sie hat mich besiegt.
Dieses schreckliche Gefühl der Vergeblichkeit, das einen daran
erinnert, dass die ›Umwertung aller Werte‹ tagtäglich stattfindet,
dass sie sich außer- wie innerhalb der Person gleichermaßen von selbst vollzieht, durch das bisschen Haut kaum gebremst oder auseinander gehalten, doch Reibung
entsteht schon. Sie entsteht, sie pflanzt sich fort, in Wellen, in
Schüben, in Erregungen, in Niedergeschlagenheiten, schließlich in
der Dumpfheit des Vergehens, dem schlechten Kopf, den es macht,
vielleicht auch im feinen, der bisweilen aufleuchtet wie eine
Birne, deren zulässige Voltzahl gerade gefährlich überschritten
wird. Da – sie flackert schon, gleich hört man das hässliche
Geräusch, das entsteht, wenn der Faden springt. Er reißt nicht, er
springt auseinander, ohne Enden, die miteinander verknüpft werden
könnten, denn dass er überhaupt aufleuchten konnte, verdankt er dem
Vakuum, das nun verhindert, dass etwas zu retten wäre. Nein, es ist
nichts zu retten, keine technische Metapher sorgt hier für Abhilfe.
Da sein heißt Rollen spielen: eine, viele, eine wie viele, viele wie
eine – schön wär’s, aber viel ist nicht dran. Das Rollenspiel
nützt sich ab, sobald einer sich dabei zusieht, vor allem auf die
Finger, die immer im Spiel sind. Sie verraten einen ans Spiel, sie sind
die ersten, die nicht mehr mitmachen, wenn man sie bräuchte.
Ach diese Finger! Nichts Greifbares haben ist schlimmer als nichts zu
begreifen – das sagt bereits alles über die Rolle. Dass die Menschen sich mit
Metaphern begnügen, die ihren Grund dem Bedürfnis verdanken, sich
zu betrügen, lässt tief blicken oder auch weit. Der durch keine
Metaphern beengte Blick ruht auf der Welt, er weiß, sie verdeckt sich selbst
den Rest, die blaue Weite das Schwarz und das Schwarz die
Blindheit. Der blinde Schreck fährt durch den Schlick der
Wertungen, den immer bewegten, der wie tot daliegt. Er durchfährt
ihn wie der gedankenverlassene Finger das Haar, das vielleicht eines Gottes Haar ist, aber eines desinteressierten. Die Ausschüttung der Haare – eine Lotterie, bei der niemand gewinnt, es sei denn, er steht zu weit weg, um zuzugreifen. Aber auch der
Abstand wird leicht überschätzt. Er will der richtige nicht sein,
egal, wie sich einer stellt.
Die ersten Opfer der globalen Erwärmung verlassen den Globus – einfach deswegen, weil
ihnen, was da abgeht, zu glatt geht. Sie verlangen vom Leben Hoffnungszeichen (sic!) und hoffen, auswärts fündig zu werden. »Hier geht doch alles den Bach runter«,
raunen sie jedem in Mikro, der ihre letzten Seufzer auf Erden
festhalten will, »ich ziehe mich raus. Vielleicht, wenn die Menschheit endlich
gelernt hat, mit ihren Problemen fertig zu werden, kehre ich
eines Tages zurück. Vielleicht! Man weiß nie, was einen draußen
erwartet, es ist ein Abenteuer.« Sie lieben das Abenteuer, aber sie
vertrauen der Technik und haben sich hoch versichert. Währenddessen
geht der Opferdiskurs in die nächste Runde und will Entschädigung
für die Unbill, die ihnen hinieden widerfuhr. »Welche Unbill«,
entfährt es dem Reiseleiter, »wir sind alle happy und
wünschen, das möge so bleiben. Das Trauma ist eine allzu irdische
Betrachtungsweise, wir werden uns nicht weiter damit belasten.«
Unbedacht redet der Gute, das Projekt wird öffentlich gefördert und
das Glück, endlich weg zu sein, könnte gestrichen werden, bevor der
Morgen graut.
Alles Erhebliche ist der Feind alles Unerheblichen et vice versa. Um das zu begreifen, muss man tief in die Trickkiste der logischen Analyse greifen und den Begriff des Feindes selbst examinieren. Feindschaft beruht nicht auf natürlicher Gegnerschaft, wie manche irrtümlich annehmen, sondern auf einer Proklamation: Du bist mein Feind, an dem ich Maß nehme. Das Erhebliche nimmt Maß am Unerheblichen et vice versa. Woran denn sonst? Ich frage Sie, woran denn sonst? Das Erhebliche erhebt sich über das Unerhebliche, wohl wissend, dass es sich in der Minderheitsposition befindet. Aber das ficht es nicht an. Alles Erhebliche weiß sich allem Unerheblichen überlegen. Und zwar im voraus: es kalkuliert auf Sieg. Aber auch das Unerhebliche weiß, worauf es sich einlässt, wenn es mit dem Erheblichen rechnet. Womit sonst sollte es rechnen? Schließlich wird es gebraucht, es ist die Achillesferse der anderen Seite, es weiß, sein unspektakuläres Scheitern wird sie in den Abgrund der Bedeutungslosigkeit entsorgen. Wen die Börse erhebt, den stürzt sie: Triumph des Unerheblichen. Das wissen die am besten, deren Erheblichkeit sie vor Stürzen dieses Formats bewahrt. Als Weltenlenker lassen sie murmeln: Nicht erheblich, wenn einer ihren Anteil am Ganzen zu taxieren versucht. Das wirklich Erhebliche lässt sich nicht erheben. Es hat schon alles und so weiter.
Niemand schlägt dem Fass den Boden aus, es sei denn, er glaubt, es sei leer.
Nur das Sprichwort verfährt darin anders: in ihm regt sich das Recht
der Verwüstung, das Recht des Stärkeren, das Recht des Krieges, das
Recht der Eroberer: Macht kaputt, was ihr nicht saufen könnt.
Oder wegwerfend: Sauft, was ihr wollt. Dem Fass den Boden
ausschlagen – das ist unerhört, das ist Willkür pur, das ist
kurzsichtig im Exzess, kurzum: Siegermanier. Der Sieger, dem Fass den
Boden ausschlagend, schlägt sich selbst den Sieg aus der Hand. Auf
soziale Prozesse umgelegt bedeutet das Wort: eine privilegierte
Bande, die mit sich im Reinen ist und die Konkurrenz aus dem Felde
geschlagen hat, sei es durch Aufstieg in gesellschaftliche
Spitzenpositionen, sei es durch direkte Eroberung der Macht im Staat,
sei es durch Erschleichung einer moralisch unangreifbaren Position –
jedenfalls dann, wenn man die Moral zu Grunde legt, der sie ihre
Posten verdankt –, eine solche Gruppierung bereitet sich ihre
kommende Niederlage selbst, sobald sie anfängt, die Bestände zu
plündern. Eine Gesellschaft erkennt sich (a) in ihren Luxusgütern
und es sind (b) die Verlässlichkeiten des Alltags, in deren Verlust
sich der Verlust an Zukunft meldet. Wer den Stab nicht weitergibt,
weil eine aggressive Macht ihn ihm aus der Hand schlug, dessen Los
entlockt der Nachfolge-Generation nichts, es sei denn
Revanchegelüste. Schach dem Sieger!
An der Spitze der Welt steht ein Ungeheuer. Es ist fit und macht sich bei Bedarf in die
Hosen. So will es der Lauf der Dinge – cursus rerum novarum universalis –:
warum, weiß keiner so recht, aber es fühlt sich gut an. Dass
Gedanken, sobald man sie fühlt, zu Wissen mutieren, fällt unter die
Geheimnisse der Schöpfung, die einer nicht verstehen muss, aber
achselzuckend akzeptieren sollte, bei Strafe des Nichtwissens. Dass
die Schöpfung den Lauf der Dinge hemmt, ist hingegen ein Märchen,
das gern verbreitet und wenig geglaubt wird, ähnlich wie das von
des Königs neuen Kleidern. Eigentlich schade, wo doch beide zum
Schönsten gehören, das wir besitzen. Nur das Spitzenungeheuer
überzeugt unbedingt: wo alle hinwollen, aber keiner ankommt, gerade
dort steht es, muss es stehen, wo sonst? Es hält den Lauf der Dinge
nicht auf, sondern befeuert ihn ohne Unterlass, als wäre es Heizer,
aber das ist ein veraltetes Bild und wird gestrichen. Wärmer wird’s
ohnedies, da braucht es keinen, der zuführt.
»Geheimnis des Glaubens«, murmeln die Frommen. Das Geheimnis des
Glaubens ist der Unglaube. Er geht überall hin, er ist stets dabei,
mitten im andern schlägt er die Augen auf, deshalb hält sich jeder
bedeckt, was nicht viel nützt, denn der Unglaube sieht alles. Er
ist mucksmäuschenstill, er ist nicht von gestern und rechnet sich
Chancen aus, wo der Glaube vergebens damit befasst ist, Berge zu
versetzen. Deshalb versetzt der Glaube lieber sein Hemd, als dass
er einen Unglauben zuließe. Auch braucht er es nicht, der
andere wartet nicht darauf, er ist seit alters gewohnt, sich selbst
durchzubringen, und pfeift auf staatliche Fürsorge. Er huldigt
stärkeren Göttern, der Gelegenheit und der List, und verabschiedet
den anderen kalt. Dem macht die Kälte zu schaffen, sie trifft ihn
ungeschützt wie ein Luftzug der Ewigkeit, der aus den Verhältnissen
herüberweht. Deshalb bekommt man den besten Glauben vom Metzger
nicht ohne eine Portion Unbehagen, fein eingewickelt; zu Hause
tritt man dem Inhalt näher, erschrocken, die Nachbarn könnten
durchs Fenster hereinsehen und alles entdecken. Wo Glaube fanatisch
wird, regiert schon der Unglaube. Er hat das Heft in die Hand
genommen und lässt nicht mehr los, so sehr der andere auch
klammert. Ein fanatischer Glaube kann, zur Verwunderung seiner
Umgebung, loslassen; er kann, weil er muss; mit einem Seufzer
verwandelt er sich in Ressentiment und düngt die Radieschen. Der
Unglaube, für kurze Zeit obenauf, erwägt die Anschaffung eines
neuen Glaubens, wartet aber noch mit der Ausgabe. Schließlich soll
er etwas hermachen und eine Zeitlang halten.
Dass Menschen alles Mögliche glauben, liegt auf der Hand. Unter der Hand glauben sie an alles Unmögliche. Das Geheimnis des Glaubens liegt also in der Hand, vielmehr in der trennenden Bewegung, die nur als Ruhe erkennbar wird, weil alles, was mit dem Glauben zusammenhängt, der Ruhe bedarf. Heute dies, morgen das zu glauben ist zwar nicht schwer, aber praktisch unmöglich, es sei denn, man weiß nichts davon. Dem Glauben ist seine Beweglichkeit fremd, nur so kommt es zum actus purus des Bekennens. Gestern war ich auf falschen Pfaden, mein Geist war verdunkelt, zumindest umwölkt, jetzt aber ist er klar und licht und kann endlich glauben, was nur vorhanden ist, um geglaubt zu werden. Mein Glaube, der unumstößlich ist wie das Licht am Ende des Tunnels, war immer da, doch erst jetzt, da er mir zugänglich wird, erkenne ich seine Kraft und Fülle. Aber was heißt schon ›erkennen‹, da er mich doch durchströmt? Glaube strömt, das ist wahr, das ist ein Gefühl, deshalb hat einer, der nicht gern auf dem Trockenen sitzt, seine Glaubenspäckchen im Gelände verteilt, um bei Bedarf darauf zurückzukommen. Wer immer strömt, der glaubt auch alles, zumindest kann man ihn alles glauben machen, und sollte er einmal der Glauberei überdrüssig werden, so ist er gut genug konditioniert, um weiter glauben zu machen, er glaube. Wer an den Menschen glaubt, wie soll der aufhören? Man kann seinen Glauben an die Menschheit verlieren: ein anderer wird ihn schon finden. Das Haus verliert nichts, es reicht nur weiter. Wer an nichts mehr glaubt, wie weit wird der wohl kommen? »Kehr um«, rät ihm sein Therapeut, und wirklich, da kehrt er schon... das Unterste zu oberst. Deshalb: Glaubet den Anfängen! In ihnen steckt, was herauswill. Wer’s nicht glaubt, hat rasch das Nachsehen. ›Unglaublich‹ ist die Formel all derer, die das Nachsehen haben und deshalb nicht ganz bei Trost sind. Der Glaube hat sie verlassen und winkt ihnen aus der Ferne zu. Nie haben sie ihn so entbehrt.
Haben Sie heute schon die Übel der Welt aufgezählt? Falls nicht, schenken Sie sich die Mühe: es gibt genügend Leute, die sie Ihnen abnehmen, so wie Sie Ihren Keller nicht selbst entrümpeln, sondern vertrauensvoll in die Hände eines professionellen Entrümplers legen sollten. Dieser Vergleich wurde nicht zufällig gewählt, sondern um der tiefen Weisheit willen, die in ihm schlummert. Entrümpler sind die Profiteure und Liedermacher der Keller: sie tragen alles nach draußen, was Pein und Unbehagen bereitet, bloß weil es dort drinnen lagert, wo doch jedes Teil mit einem gewissen Frohlocken erworben und später, angesichts neuer Erwerbungen, ausgelagert wurde. Was als Heil eingeht, muss als Unheil herauskommen: nach diesem Muster regiert das Meinen die Welt. Ein ausgelagertes Meinen ist auch Gerümpel, in den Händen der singenden, rappenden, schauspielernden, bastelnden, schnellschreibenden Zünfte glänzt es wie schwarzes Gold, und ölig fühlen sich die Profite an, die damit eingefahren werden, auf dass nichts verdirbt.
Wir haben Formen der Intelligenz kennengelernt, die, gelinde
gesagt, unlebbar waren. Wie konnte das passieren? Es war nicht das
abstrakte Denken, vor dem sich die Kinder fürchten und angesichts
dessen die Zukunftsmenschen, von denen man hin und wieder einen
trifft, in lautes Gejammer ausbrechen. Seit an der Zukunft nicht
mehr gebaut wird, sondern verdient, hat die in ihre vorgeburtlichen
Bestandteile zerlegte Vernunft ein Gebiet der Freude entdeckt, das
sie mit dem ihr eigenen Eifer bewirtschaftet: sie beweist, was
einfach nur möglich ist, aber vermöge seines einfachen Möglichseins
von den höheren Stufen der Verwirklichung rituell ausgeschlossen
wird. »Aber du bist doch möglich«, beschwört der Theoretiker der
Zukunft sein welkes Entwurfsbündel, gelassen winkt es ab und
entsorgt sich ohne weitere Eigenanstrengung in den Papierkorb, der
nie geleert, doch ständig von gierigen Händen auf der Suche nach
Neuem durchwühlt wird. Was möglich ist, sobald es ums
Mögliche geht, zeigen die einfachsten Versuche. Auch liebt es die
ersten Schritte. Wenn erst Resultate veröffentlicht wurden, lässt
sein Eifer nach: im Grunde ist es ein fauler Hund. Die Menschen des
alten Kontinents zum Beispiel haben eine Möglichkeitsbürokratie
geschaffen, die gelassen und mit eiserner Faust in die Verhältnisse
hineinregiert und sie ständig zum Guten hin verschiebt. Windschief
nennen sie seither die Hasen, die wissen wollen, woher der Wind
weht, damit sie ihr Mäntelchen in ihn hängen können. Das Schiefe
stört sie nicht weiter – je schiefer die Verhältnisse, desto mehr
Ecken und Vorsprünge treten hervor, hinter denen sie ihre Geschäfte
erledigen, vor allem, wenn Regen fällt. »Möglich ist alles, warum
nicht auch das?« fragt so einer und gibt sich selber Rat. Die
Selberratgeber der Unlebbarkeit treiben wie die Primeln aus dem
Erdreich, das nur so heißt, aber mit Subventionen begossen werden
muss, damit der Grundwasserspiegel nicht unter das erreichte
zivilisatorische Niveau absinkt und die Flaschenpost in ein neues
Verwertbarkeitsstadium tritt. – »Ach Unlebbar! Zimmernachbar von einst,
vertrautes Ensemble nächtlicher Geräusche, durch kein Klopfen an
imaginäre Wände zu beeindrucken oder gar abzustellen, so etwas
prägt sich ein. Wo kamst du her? Ich frage dich nicht, wo du
hingegangen bist, das wäre ja widersinnig und könnte mich meinen
Kopf kosten, den ich noch benötige, also frage ich dich: Wo kamst
du her? Denke nicht, dass du mit Schweigen kontern kannst, ich
weiß, dass du aus Geräusch bestehst und nicht anders kannst. Du
darfst ruhig fortfahren. Bitte, hier, gerade hier mache ich Platz,
das sollte doch reichen, um durchzukommen, ich hänge mich dran.« –
Unlebbar winkt, er wirkt leutselig wie einst unter den Kadetten und
ein wenig berauscht von den Möglichkeiten, im Grunde kommt er
überall durch, gerade dort, wo es eng wird.
Die Unlust, lieber Grabbeau, die Unlust ... rangiert gleich hinter
der Lust, sie ist keine ›Lust auf‹, sondern eine ›Lust ab‹, so wie
man sagt ›Hut ab‹, um seine Hochachtung auszudrücken. »Behalten Sie
Ihre Lust ruhig auf!« möchte man manchem zurufen, der gerade im
Begriff steht, sie abzunehmen. Man fürchtet sich vor dem, was
darunter zum Vorschein kommt. So ein Mensch in seiner Lust hat
etwas Putziges, als trage er einen Salatkopf über dem Scheitel,
nimmt er den Putz ab, so wirken beide roh. In der Unlust bezieht
sich der Mensch gern auf Anderes, er hat Erkenntnis. Wer daraus
allerdings den Schluss zieht, dass viel Unlust viel Erkenntnis
verursacht, der geht in die Irre. Es gibt eine Lust auf Unlust, die
einem Schlussverkauf ähnelt, es ist viel schlechte Ware dabei, die
durchs Grabbeln nicht besser wird. Man kann sie aufwühlen, die
Unlust, sie liegt obenauf und es wäre dir lieber, sie läge unten.
Doch wohin du auch greifst, sie drängt immer ins Bild – hier und da
und dort. Ein Jammer, die vertane Zeit bringt keiner zurück.
Wo die politische Korrektheit nicht hinreicht, da erscheint die Inkorrektheit und sorgt für den Ausgleich. Die Inkorrektheit verhält sich zur Korrektheit wie die Sohle zum Scheitel: auf dem einen läuft man, über dem andern teilt sich der Himmel. Die unpolitische Korrektheit meidet beide Extreme, sie spürt die Anstrengung, die in ihnen waltet, und hält es für besser, sich nicht in ihre Händel zu mischen. Gerade darin erweist sich ihre Korrektheit. Inkorrekt erscheint die unpolitische Korrektheit insofern, als sie insgeheim die Konkurrenten für inkorrekt hält und sich als Vermittler zwischen sie schiebt, als habe sie beider Wahrheit gepachtet und lasse sie nun heraus. Ja, sie ist unpolitisch, sie hat nichts mit ihnen gemein außer der Gemeinheit, die allgemein und so verbreitet ist, dass jeder Versuch, korrekt zu sein, automatisch ins Gegenteil ausschlägt, weil er den notwendigen Korrekturen einen Riegel vorschieben soll.
Die vornehme Religion – das ist kein neuer Gedanke – hat die Mittel des Verstandes geschärft, bis sie sich endlich gegen sie wandten: ohne Religion keine Religionskritik, ohne Religionskritik keine Vernunft, ohne Vernunft keine Rückkehr zur Religion, es sei denn auf dem Rücken der Gläubigen, deren kurzer Verstand ihnen sagt, dass Gehorchen immer noch besser sei als – als was? Als Horchen? Horchen auf das, was die Stimme der Vernunft, einmal zum Leben erweckt, zu bedenken gibt? Mag sein, doch was hilft’s, wenn mittlerweile die Vernunft selbst unter die Wölfe gefallen ist und mit ihnen heult, weil es ihr nun einmal besser gefällt, die Dinge hin und her zu wenden, statt sich sagen zu müssen, sie sei nicht von dieser Welt? Die Vernunft, versteht sich, ist das Friedensangebot, das der Verstand der Religion unterbreitet; hat sie erst kapituliert, ist es mit dem Angebot nicht mehr weit her. Wie kann eine Religion kapitulieren? Nun, sie kapituliert vor sich selbst, vor ihrer Aufgeklärtheit, vor ihrem Wunsch, zur Vernunft zu kommen und jene fruchtbare Distanz zu rasieren, die beide, Religion und Vernunft, am Leben erhält. Die endlich vernünftig gewordene Religion erscheint ihren Zeitgenossen wie die Wort und Ornat gewordene Unvernunft, sie verwandelt das, was von der Vernunft übrigblieb, in einen Haufen hirnloser Überzeugungen, unter denen die Gehörgänge zu leiden beginnen, falls die Hörer nicht klug genug waren, sie rechtzeitig zu verstopfen. Den Boten hör ich wohl, allein mir fehlt die Botschaft. Da muss man nicht lange warten, bis andere Glaubensrichtungen in die Lücke stoßen, Stoßtrupps des Unbedingten, das plötzlich ganz nackt erscheint.
Das Original einer Untat oder Wohltat, im Kleinen wie im Großen,
steckt schon Sekunden später im Nebelbezirk vermuteten Daseins und
ist unberührbar geworden. Es liegt im Schatten einer seltsamen
Unschuld wie auf einem Gemälde, auf dem die Pferde Alexanders oder
Napoleons traben, galoppieren und niedersinken, wo Pfeile sausen
und tödliche Schüsse fallen, bloß schuld ist hier niemand. Der Fall
gehört zu den Freuden des Malers, er malte dies nicht, um sich
selber zu quälen. Dieser Strich ist geglückt, denkt er hocherfreut
beim Aufsetzen eines Lichtes auf dem Säbel eines Barbaren. Alles
bloß schöner Schein. Auf einem anderen Bild wird ein armer Bettler
gespeist, der Betrachter hört aber nichts, weder Jammern noch
Schmatzen, er wird nicht gesättigt, und zum Leidwesen aller
Kunstliebhaber konnte bisher weder ein Maler der Nazarener noch
sein Motiv, so gotisch es auch erscheinen mochte, heilig gesprochen
werden. Wenngleich nicht zu zweifeln ist, daß mancher Papst unter
den Fresken im Vatikan daran gedacht haben mag. Hat ein abseitiges
Volk von Faktenfressern die Unwirklichkeit der Bilder vergessen und
mit ihm sogar den Genuß daran?
Gleichwohl kann ein Freund der Historienmalerei den inwendig vom
Reiten verschmutzten Stiefel eines preußischen Offiziers bei Anton
von Werner bewundern, der außen von französischer Erde bespitzt,
innen vom Bauch des Pferdes gewischt erscheint. Was für ein
prachtvoller Unterschied. Jemand betrachtet voller Genuss die
geglückte Sandale eines Skythen oder gar dessen rollendes Auge, das
soeben den Pfeil erblickt, der seinen Lederpanzer so unerwartet
durchschlagen hat.
Der Betrachter muss diesen Tod ja nicht selber erleben, so gut auch
der Maler glaubt, den Blick des Sterbenden einmalig erfasst zu
haben. Nie hat ihn oder den Betrachter gleichen Augenblicks dieser Pfeil durchbohrt,
eine Kugel durchlöchert, noch rissen ihn grobe, schnauzbärtige
Kerle im Dreißigjährigen Krieg mit Rembrandtfäusten vom stolzen
Ross. Und falls es ihm einmal geschähe, weil es ihm einst ja
wirklich geschehen ist, so entschwände auch diese Tat auf der
Stelle im Nebelbezirk des bloß noch vermutbaren Daseins. Nein,
daran ist nichts zu ändern, nicht das stärkste Gedächtnis an die
verlorene Schlacht, nicht die vom Diener persönlich erlauschten
Schritte der Heiligen Elisabeth auf dem Schlossweg hinab zu den
Armen, nichts war je wiederholbar, außer durch Kunst. Es sei denn,
es wären Wiedergeburten im Spiel, das befreite Gedächtnis käme dem
vom Schicksal einstmals befallenen Maler oder Genießer auf
furchtbare Weise, wenn auch leider unbedingt tödlich, noch einmal
zur Hilfe. Denn der Orkus verschlingt jede Wirklichkeit, das ist
ein Gesetz, das Faktenfresser sich merken sollten. Metempsychose
nennt Schopenhauer den Zustand der Seelenwanderung, aber er ist
sich an diesem Punkt wohl kaum wirklich sicher, es sei denn a
posteriori, und dann ginge es nur um Ihn und das Unheil der
wiederkehrenden Gegenwart hätte ihn im gleichen Augenblick sprachlos verschlungen. Wer
weiß, was ihm einst am letzten Tage im Hause am Main geschehen ist.
Ein vergoldeter Buddha stand neben dem Bett auf einer Kommode. Es
gibt nur die wahre oder die tödliche Wirklichkeit. Die erste
vergeht unwiderrufbar, die andere ist ein Prinzip des Todes. -
PM
Der Untergang vollzieht sich, ausgehend von den Rändern, in großer
Schnelle. Man beachte, welche Teile zuerst versinken und welche
ihnen auf dem Fuß folgen, und man »hat immer Zuschaun«, wie der
Dichter sagt. Das ist insoweit bedenkenswert, als diese Art von
Schau beinahe kostenlos bleibt, wenn auch nicht ohne Folgen.
Niemand durchlebt den zweiten Untergang als derselbe. Ein anderer
ist an seine Stelle getreten, einer, der seine Erregung rechtzeitig
dämpfen kann, weil er sich ihrer erinnert. Doch jede Erregung ist
anders – diese kommt früher, sie kommt später als erwartet. Der
Gewiefte gerät zwischen die Fronten des von allen Seiten
aufziehenden Gewitters. Erschlägt ihn der Blitz der Erkenntnis, so
hat die Seele Ruh’. Aber das geschieht selten.
Man zeige mir einen Untergrund und ich ergebe mich: in ihn hinein. Wie das? Zu wissen, der Grund, auf dem ich stehe, ist unterminiert, er hält kaum, was er verspricht, er enthält, was er mir vorenthält, er ist der Grund meiner Sorgen und Ängste, er ist der Grund aller Entfremdung: das genügt, um ihn mir zu entfremden, so dass ich kaum weiß, wo ich stehe, wie ich stehe, warum ich stehe und ob nicht dieser Augenblick der letzte ist, der mich stehend enthält. Der Untergrund ist das Grab, das mir bereitet ist, und ich weiß weder Tag noch Stunde, da ich hineinfallen werde. So lebe ich im Fall der Fälle, unentwegt fallend, unentwegt meinen Fall erwägend, unfähig, ihn zu stoppen, im Gegenteil – vielleicht entginge ich ihm, wüsste ich nicht, dass er bereits unterwegs ist. Ganz sicher entginge ich ihm, ich hätte allen Grund der Welt, mich sicher zu fühlen, mein Gewicht zu steigern, ganz da zu sein oder auch dort, wo es mir immer beliebt. Stattdessen gehe ich nackt umher, gleichsam auf Zehenspitzen, um mein Gewicht zu mindern, kaum wage ich zu denken, denn jeder Gedanke könnte plötzlich Gewicht bekommen und mich in die Tiefe schleudern. Kein Gedanke! Und ich wäre so gern auf andere Gedanken gekommen.
»Ein Unternehmen, sage ich Ihnen, ein Unter-« »Nehmen Sie noch von
dem Kuchen da, er ist köstlich!« So saßen und plauderten sie
zusammen wie einst im Mai und konnten zusammen nicht kommen, die
Königskinder, von denen der eine sich in einen Königstiger, die
andere in eine Königskobra verwandelt hatte. Sie kuschelten sich
eng aneinander und ließen die Welt vergessen, dass es sie gab. Die
Welt, sie vergisst rasch und gern, aber sie enthält das Vergessene
zusammen mit dem Unvergessenen, kein Krümel von diesem Kuchen geht
verloren und keine Unternehmung gewinnt die reine Gestalt des
Nichts. »Unternimm doch etwas!« Das ist leichter gesagt als getan.
Und doch hat diese Rede Gewalt über Menschen und Dinge, die weit
über alles hinaus geht, was einer unternehmen könnte. Nähme einer
das Wort ›Unternehmen‹ aus der Welt heraus, sie stürzte zwar nicht
zusammen, aber ihr Griff lockerte sich beträchtlich. Wo ein
Unternehmen winkt, ist der Unternehmer nicht weit. Woher stammt
diese Lockung, deren Ruf so weit ergeht wie einer der Sprache
mächtig ist, die da geredet wird? Der Mythos weiß die Antwort, er
ist vielleicht die Antwort, und die Jungfrau auf dem Felsen
lächelt. Keinen Moment zu früh, das Lächeln wird dringend benötigt,
ein Glück, das nicht lächelt, ist keines. Die Rivalität steckt in
der Sprache wie der Knochen im Eisbein. Sie ist das, was
übrigbleibt, wenn alle guten Gründe gegessen und alle Hilfsmittel
verbraucht sind. Man kann sie entsorgen, das ist wahr. Aber nur
scheinbar: dort geht sie hin, hier wird sie hereingetragen. Wo ein
Mensch an den anderen grenzt, entstehen diese Spiele, man muss sich
des Anderen erwehren, weil es ihn gibt. Es gibt ihn, der arme
Teufel kann nichts dafür. Umsonst, wer nichts unternimmt, trägt
die Kosten blank. Dieses
ewige Glückslächeln, eisig, mechanisch, untilgbar, mit dem
Tauschwert erklären zu wollen, das wäre ja, als wollte man den
Tauchsieder mit dem heißen Wasser erklären oder dem Fußbad. Was
einer hingibt, weil es ihm weniger wert dünkt, erscheint dem
anderen viel und er besetzt die Stelle. Die Rivalität reißt die
Menschen aus allem Tausch heraus und lässt ihn zu dieser Äußerlichkeit werden, durch die einer hindurchmuss, um dem Ziel entgegen zu gehen, zu rennen, zu stolpern. Die Rivalität
steckt im Ellbogen, nicht in der Tasche. Das Glückslächeln richtet
die Menschen auf, schon recken sie sich, einer größer als der
andere, gleich beginnt das Sich-Aufstützen, das zum Ziel führt oder
zum Fall. Was einer unternimmt, macht ihn äußerlich, höhlt ihn aus,
bis er diese Unternehmung geworden ist, innen hohl, ein Denkmal für
andere, die den Teufel tun.
Der einzige Weg, ans Ziel zu gelangen, besteht darin, alles falsch
zu machen. Falsch, tönt der Buchhalter, geblendet ob einer Röte, er
weiß sich Besseres, doch fehlt der passende Ausdruck und so
schwenkt er büschelweise Neues. Recht so, murmelte die Röte,
dieweil sie ihn sacht überzieht. Zeige nur, wer du bist, der Rest
wird sich zeigen.
Unverhältnismäßig ist, was in keinem Verhältnis steht, also das Langweilige. Unverhältnismäßige sind Langweiler, anders als die Verhältnismäßigen, die sich in allen Verhältnissen zu mäßigen wissen und deshalb nur einen mäßigen Verschleiß an Verhältnissen haben. Ist das gut? Ist das schlecht? Ist das eine gut? Ist das andere schlecht? Fest steht, dass die Unverhältnismäßigen leiden müssen, bis sie obenauf sind: dann treten sie. Die Verhältnismäßigen, die bloß kurz weilen, mögen Schlimmes anrichten, aber nichts davon wird ihnen angerechnet. Angerechnet wird nur das Unverhältnismäßige: ob als Verdienst oder als Verbrechen, das steht lange dahin, bis eine kleine Handbewegung darüber entscheidet.
Untergegangen, ja: untergegangen. Aber warum ›unter‹? Warum nicht einfach: gegangen? Weshalb der Mehraufwand? Warum untergehen, wenn das einfache Gehen genügt? Zu jedem, der geht, gehört einer, dem es nicht schnell genug geht. Die Frage ist: Treffen sie aufeinander? Wie treffen sie aufeinander? Schließlich: zu welcher Stunde? Am Ende entscheidet die Stunde als die Summe aller Unwägbarkeiten, was geht und was nicht geht. Das Untergegangene mag die Stunde verfluchen, das liegt daran, dass immer ein Teil von ihm bleibt. Man nennt das: zur Unzeit gegangen, also nicht gegangen zu sein.
Upps, das namenlose Land, frönt (hier ist der Ausdruck wirklich am Platz, denn die zur Fron mutierte Sucht ist für jedermann leicht erkennbar) einem Gesellschaftsspiel, das da lautet: Die Uppsler sterben aus. An diesem Spiel beteiligt sind, mehr oder minder, alle. Sterben sie aus? »Blödsinn«, sagen die einen (sie gebrauchen auch schlimmere Wörter), »außerdem: wer ausstirbt, ist selber schuld – unter uns, es wäre nicht schade um ihn, aber vermutlich bekommt er nicht einmal das gebacken.« »Bittere Realität«, sagen die anderen, »die Geburtenrate ist ein objektiver Indikator. Kein Weg führt an dieser Einsicht vorbei.« Auch sie gebrauchen schlimmere Wörter, jedenfalls manche von ihnen, die anderen wickeln ihr Wissen in Folie und zeichnen Kurven in die Luft, die von Renten und Arbeitskräftemangel handeln.
Sterben sie aus? »Naja«, sagen die Statistiker, »wenn wir die Linien ausziehen...« Aber darf man das? »Teils-teils«, sagen die Statistiker voller Vorsicht – nicht jeder hat bereits eine Planstelle ergattert –, »teils handelt es sich um langfristige Prozesse, die sich kurz-, wahrscheinlich auch mittelfristig, nicht umsteuern lassen, teils liegt ihnen, fast wie dem Klima, ein quasi-chaotisches Geschehen zu Grunde, denn wer mit wem wann, ob und wieviel, das unterliegt, neben der Pflicht zur Diskretion, der Gelegenheit und dem Drang. Da kann eine Sommernacht, sagen wir in der Karibik, mehr bewirken als die ganze Familiengesetzgebung und das Füllhorn staatlicher Beihilfen. Ein Schmetterlingsschlag ... wir verstehen uns.«
»Wir verstehen«, sagen die Uppsler, »Kinder werden, wie Schmetterlinge, immer geboren. Warum nicht jetzt? Warum so wenig?« Und sie kichern dabei nervös und blicken zum Fenster hinaus. Das Thema ist ihnen unangenehm, es kitzelt das Unterbewusstsein, dessen sie sich vage zu erinnern glauben, denn sie sind glaubensfroh. Das Bewusstsein, stets zur Hand, wenn man es am wenigsten braucht, rechnet es unter die Petitessen, wenn nicht unter die Ablenkungsmanöver der Großkonzerne, die verhindern wollen, dass Tante Bewusstsein das Feld beherrscht. Welches Feld? Welches Feld? Die Politik? Die Konzerne? Die Kultur? Das Kinderkriegen? Upps.
Die alten Griechen verehrten die unzertrennlichen Castor und Pollux, das neue Europa hingegen pflegt die seinen: Urban & Orban. Liegt da ein Fortschritt? Ein großer, wenn ihr uns fragt, ein Fortschritt an Urbanität, der seinesgleichen sucht. Alle Urbanität besitzt ihren Orban, der sich darum kümmert, wo die Vorhänge sitzen müssen, und am Hausschlüssel feilt. Wie jeder gute Hausmeister bemächtigt er sich peu à peu des halben Hauses, der Unmut der übrigen Hausbewohner schreckt ihn nicht, er berührt ihn nicht einmal, denn er weiß, dass ihre Inkompetenz ihn nicht daran hindern wird, zu tun, was hier und heute getan werden muss. Im Grunde überlassen sie ihm das Feld, sie finden, was er treibt, hässlich und reservieren für sich das Schöne. Die Urbanen machen der Welt schöne Augen und die Orbans verhindern, dass ihr Vorauskommando die Keller plündert. Die Urbanen fragen sich, in welcher Welt die Orbans eigentlich leben, die Orbans versuchen es ihnen zu erklären, aber ohne Erfolg.
Wer den Vater begräbt, begräbt leicht auch den Sohn. Das gehört zu den Paradoxien der Zeit, die Offenbarungen gleichen. Niemand bedarf ihrer, Offenbarungen kommen ungefragt.
Merke: Jeder Tod enthält eine Abstimmung über das Leben: »Es ließ mir keine Wahl.«
Als Geist-Behälter
sind Vasen nicht zu gebrauchen. Gern hingegen, Frauen
wissen das, stellt man Blumen hinein. Damit nicht genug, dienen sie zur Verwahrung
von Suchtmitteln aller Art. Mit harmlosen Konfektstückchen
dekoriert, kokeln sie unter der Oberfläche... Im Handumdrehen verwandelt die
handerworbene Bibliothek sich in ein Mal der Schande, in eine Stätte
der Niedergeschlagenheit und des dumpfen Aufbegehrens gegen ein
Schicksal, das es zu gut mit einem gemeint hat. Wie das? Die
Wesensgemeinschaft zwischen Vase und Mensch geht weiter, als die
gemeine Formensprache es nahelegt. Abgefüllt mit seiner Sucht, macht
sich der Liebhaber des Schönen über die Bestände des Totenreichs
her, als stünden sie allein ihm zur Verfügung. Niemand tritt ihm in
den Weg, wenn er sein Werk beginnt. Der Text, den er sucht, ist
qualitativ hochwertig, von gediegenem Handwerk und überdies witzig.
(Er sagt »sehr witzig« mit einer kurzen Sperrung der Lippen, einer
Art Hokuspokus im Stillstand, als vernehme man an dieser Stelle den
Engel der Geschichte, der Stop,
das Ganze noch einmal! ruft, worauf sich die Spule langsam
und quietschend rückwärts zu drehen beginnt.) Den Text, von dem er
annimmt, dass er in Betracht kommt, lässt er erst kreisen, später
stößt er ihn, nachdem er die Stengel gekürzt und zur
besseren Feuchtigkeitsaufnahme aufgeschlitzt hat, sich mitten ins Herz.
In dieser Lage muss sich der Text bewähren. Erst der dankbare Text,
der die Tortur äußerlich unverändert überdauert und keine weiteren
Ansprüche stellt, kommt für das, was nun folgt, in Betracht. Der
Vasenmensch weiß es genau, aber er wird immer wieder überrascht,
beinahe überrumpelt von der elementaren Gewalt des Vorgangs. Er
reißt den Text aus seinem Herzen und schickt ihn in die Mühle, wo
er, sekundenschnell zerrieben und in wohlriechenden Schrot
verwandelt, Meister Müllers Federvieh freut.
Als Verbreiter ist D es gewöhnt, verwechselt zu werden. »Was
verbreiten Sie denn? Doch nicht etwa schlechte Nachrichten? Oder…« –
D kennt den lauernden Blick, der ihn jetzt trifft, nur zu gut –
»…falsche? Fake News, häh?« Und während der Gesprächspartner
sich noch vor falschem Gelächter schüttelt, hört D sich bereits
resigniert die Dinge zurechtrücken: »Ich bin Verb-Reiter, nicht
Ver-breiter. Ich reite Verben. Sie mögen das für eine abseitige
Tätigkeit halten, das bleibt Ihnen selbstverständlich unbenommen.
Aber es ist nun einmal die meine und ich halte an ihr fest. Ich neige
zu einem gewissen Starrsinn, müssen Sie wissen. Mögen die
Verbreiter von Falschnachrichten sich an mir ein Beispiel nehmen!«
»Was ist denn an Ihrer Tätigkeit so besonders?» will der
Schüttler, jäh beruhigt, plötzlich wissen. »Will sagen, jeder
reitet doch seinen Gaul, ich meine jetzt seine Redensarten, bis er am
Ende herunterfällt.« »Verben sind Tätigkeitswörter«, entgegnet
D würdevoll. »Reiten, schlagen, hauen, stechen, kochen, braten,
peinigen, beleidigen, aufstehen, kämpfen, niederschlagen,
herunterfallen, abtreten.« »Und Sie benützen sie alle?
Erstaunlich…« »Seien Sie nicht kindisch. Ich benütze sie nicht,
ich reite sie. Da besteht schon ein Unterschied.« »Den müssen Sie
mir erläutern.« »Wie gesagt, Verben sind Tätigkeitswörter. Man
benützt sie, um eine Tätigkeit zu bezeichnen. Können Sie mir
folgen? Wenn ich zum Beispiel sage: Person X fährt nach Hamburg,
dann sage ich damit, dass Person X, gleichgültig, ob ich sie kenne oder
nicht, nach Hamburg fährt. Vielleicht fährt sie gar nicht nach
Hamburg, dann ist das eine Falschaussage. Mein Kollege Relotius zum
Beispiel… Aber ich will jetzt nicht abschweifen. Sehen Sie, eines
Tages ist mir aufgefallen, dass es noch eine dritte Möglichkeit
gibt. Vielleicht ist die Fahrt nach Hamburg kein so günstiges
Beispiel, aber wenn ich jetzt behaupten würde: X fährt zum Teufel,
dann sieht die Sache schon anders aus. Warum? Weil das eine bloße
Redensart ist, gegen die X sich gar nicht zur Wehr setzen kann. Ich
sage einfach: Fahr doch zum Teufel, und schon fährt sie dahin.«
»Und tschüss.« »Wie bitte?« »Eine Redensart. Fahren Sie fort.«
»Sehr gern. Jetzt kommt mein Beruf, wenn Sie mir folgen wollen.«
»Ich folge Ihnen.« »Sehen Sie, das habe ich gemeint. Sie sagen:
Ich folge Ihnen, aber das ist eine reine Absichtserklärung, hinter
der keine wirkliche Tätigkeit steht. Im Gegenteil: Sie warten
einfach ab. Ich hingegen… Wenn ich sage: ›Gleich kommt’s‹,
und es kommt nichts, dann zeihen Sie mich nicht etwa der Lüge,
sondern Sie warten ab. In Ihrer Diktion heißt das: Sie folgen mir.
So sitzen wir beide in einem Boot. Oder, wieder in meiner Sprache
gesprochen: Wir reiten denselben Gaul.« »Das war alles?« »Sehen
Sie: das isses. Nicht nur, dass Sie mir nicht folgen, Sie
können mir gar nicht folgen. Warum? Sind Sie beschränkt? Fehlt
Ihnen eine Information? Nun, da haben Sie Ihre Information.«
»Welche?« »Beschränkt oder uninformiert. Genügt Ihnen das nicht?
Also gut: beschränkt und uninformiert. Das sollte reichen.«
»Wozu?« »Um Sie fertigzumachen, Sie Stockfisch.« »Sie beleidigen
mich.« »Das meinen Sie nicht im Ernst! Sie … Sie … Sie meinen,
Sie sind beleidigt und schieben mir die Schuld daran in die Schuhe.
Sie geben es also nicht einmal zu. So sieht es aus. Nebenbei
beleidigen Sie meinen Verstand.« »Ihren Verstand? Wie sollte ich?
Ich kenne ihn gar nicht. Muss ich ihn kennen?« »Lüge! Daran
erkenne ich Sie! Die Welt wird sie kennenlernen. Dafür werde ich
sorgen.«
Wer den Verdacht nicht los wird, der ist ihm ausgeliefert: jetzt
und immerdar. Die Selbstauslieferung an den Verdacht geschieht in
mehreren Stufen, sie ist ein komplexer Vorgang, der von Kultur
zeugt. Man könnte sagen, der Verdacht selbst existiert nur
innerhalb einer Kultur des Verdachts, er schwimmt auf ihr wie das
Fettauge auf der Suppe. Die Kultur des Verdachts besitzt, wie jede
Kultur, eine Vorgeschichte. Im wesentlichen aber entspringt sie
spontan, grundlos und ohne Hemmungen aus dem Schoß
einer Gesellschaft, die sich ihrer
nicht sicher ist. Man kann trefflich über die neurotischen
Grundlagen einer Gesellschaft spekulieren, die ihrer so sicher ist,
dass sie eines Tages im Gully verschwindet, ohne dass es jemandem
weiter ins Auge spränge. Die Gesellschaft, die sich ihrer
nicht sicher ist, bleibt stets auf dem Sprung, hütet sich aber, zu
springen. Die Anstrengungen, die sie nicht nur gelten lässt,
sondern unablässig fordert und, wie sie sagt, unternimmt, gelten
stets der Zukunft.
Säuberlich parzelliert, weist sie sie ihren Gliedern an. Das klärt
die Funktion, die dem Verdacht in ihr zukommt. Er richtet sich
gegen die Zukunft. Irgendwie stehen alle unter dem Verdacht, sie zu
unterminieren, was nur heißen kann, dass alle sich gegenseitig
zutrauen, unterhalb der offiziell beförderten irgendwelche Stollen
und Schächte in eine andere, weniger geordnete und weniger gewisse
Zukunft hineinzutreiben. Dieses mutuelle Misstrauen weckt insofern
ein Misstrauen zweiter Stufe, als sich alle, die Richtigkeit der
eigenen Hypothese vorausgesetzt, einander unentwegt in jenen
unteren Regionen über den Weg laufen müssten. Vielleicht fürchten
sie also nur jene allzu forschen Draufgänger, deren Wirken dazu
führen könnte, dass der eine oder andere Stollen einstürzt und ein
Stück der offiziell immer weiter ausschwärmenden Zukunft begräbt.
Sonderbarerweise geschieht das wirklich und es zeugt vom seltenen
Geschick der Akteure, dass dieses großräumige Absacken blühender
Landschaften in der Mehrzahl der Fälle erst hinter ihnen passiert,
so dass die doppelte Zukunft fürs erste erhalten bleibt. Wer unter
die Trümmer gerät, ist also selber schuld, er gehört zur nicht
allzu klein zu denkenden Gruppe der Zurückgebliebenen, die man
gelegentlich mit dem Lastwagen aus den Gefahrenzonen herauskarrt,
aber ohne innere Folgerichtigkeit und wider besseres Wissen.
Vom Verdacht heißt es: Man hat ihn oder man hat ihn nicht. Dass
eine solche Sicht zutiefst unbefriedigend bleiben muss, versteht
sich von selbst. Wer den Verdacht fürchtet, wer ihn um jeden Preis
loszuwerden versucht, wird immer Mittel und Wege finden, seine
Anwesenheit zu verschleiern und dafür zu sorgen, dass kein Verdacht
bleibt. Diese stete Sorge geht soweit, dass der Verdacht
gelegentlich, probe- und streckenweise, wirklich ausbleibt, teils
um seiner Verblüffung Herr zu werden, teils, weil ihn das zähe
Stellungsspiel langweilt und er sich anderweitig umsehen möchte.
Ja, es ist so: was ein richtiger Verdacht ist, wird leicht
aushäusig und heftet sich an die Fersen von Leuten, von denen er
besser die Finger ließe. Auch darüber lässt sich – trefflich hin,
trefflich her – nächtelang streiten.
Wir haben Meisterwerke gesehen, die kein Verfallsdatum an der Stirn
trugen, hinter Bergen von Schutt und Gerümpel, stockfleckig, schief
in den Rahmen gepfercht, als müssten sie gleich herausbrechen,
matt, staubig, von rostigen Nägeln durchbohrt, mit zerrissener
Leinwand: was folgt daraus? Nichts? Das Rettenmüssen ist eine
menschliche Aufgabe, ein menschlicher Impuls, ein erstes
Menschliches, das keinem fremd ist, nur in den Objekten besteht
Varietät. Jeder rettet das Seine, wer einen Nasenpopel
bewahrenswert findet, gründet eher ein Museum, als dass er von
seinem Begehren ablässt. Man hört das Aufatmen von den
Museumswänden: ›Gerettet!‹ seufzen die Werke, sie kennen den Zweck
der Sirenen nicht und wähnen sich sicher. Da sie kein
Zeitbewusstsein besitzen, entgeht ihnen der Zerstörungswille, mit
dem sich die Retter zum Tatort drängen, der Drang, alle Hindernisse
beiseitezuräumen, die sich der Rettung entgegenstellen. In der
Rettung der Dinge herrscht, wie anderen Orts, die Haifischmoral,
die Abwälzung der Kosten
auf andere und der beschlossene Untergang. Auch deshalb sind die
Kunstwerke mehr Stellvertreter der Dinge als diese selbst. Auf ihre
Rettung kann man sich einigen, hat man sich bereits geeinigt, sie
sind der Kanon der Dinge und der Schirm, hinter dem sie ihr
beschlossener Untergang einholt. So hat man den
Menschen ins Museum geholt, als man mit seiner Ausrottung begann,
so stellt man die Aktion ins Museum, um anzuzeigen, dass es mit
ihrer Duldung vorbei ist. Lachen und Komischfinden ist der erste
Impuls der Kinder, die man hineinschleppt, sie werden still, wenn
sie unvermutet auf ihresgleichen stoßen. Die Kennerfalten in den
Gesichtern der Erwachsenen sagen dem, der Bescheid weiß, genug:
hier versucht sich jemand zu erinnern und weiß nicht, wo er
anfangen soll. Es ist auch nicht nötig, denn es gelingt ihm nicht.
Warum auch? Die Geretteten beachten ihn nicht, sie sind froh, ihn
los zu sein. Nur die Aktionskünstler wissen, sie sind hier fehl am
Platz, und fühlen sich insgeheim unwohl. Dafür verlangen sie,
beachtet zu werden.
»Natürlich haben wir alle ein wenig den Verfolgungswahn, das ist
ganz normal und beeinträchtigt unser Lebensgefühl nur am Rande.
Fast hätte ich gesagt: er kommt in den besten Familien vor, doch
weiß auch ich natürlich, dass er hier am heftigsten wütet. Nicht
ohne Grund. Im Grunde, ganz unten, ist er eine Gefälligkeit, welche
die Leute diesen Kreisen erweisen, weil sie wissen, dass diese
keine Ruhe geben werden, ehe sie sich nicht die alte
Reputierlichkeit wiedererkämpft haben. Da teilt man dann gern einen
Schuldkomplex, auf dass die anderen ein wenig von ihm genesen. Man
selbst empfindet in diesen Dingen dumpf, man weiß nicht, ob
seinesgleichen eher als Opfer oder als Täter zu werten wäre, wären
die Karten nicht gezinkt, man ist froh, nicht selbst in der Wertung
zu stehen, sondern Urteile über nur entfernt vertraute, im
Zeitenabgrund verschwundene Verhältnisse ausgießen zu können. So
bewältigt man Vergangenheiten, so bewältigt man Gegenwarten, so ...
hüllt sich das Beredte in Schweigen, während es nach der Tendenz
fingert, die ihm den Weg ins Freie wiese. Eine seltsame Freiheit
und ein dumpfes Begehren. Es will einem nicht wohl werden dabei.
Man lauscht in Fernen, man hört den Pressluftbohrer im Nachbarhaus
– schwierig.«
Das moderne Europa hat eine Klasse von menschlichen Bestien hervorgebracht, angesichts derer die Geste der Vergebung gegenstandslos wurde: Feinde der Menschheit. Solche Menschheitsfeinde findet man seither weltweit ‒ ideologisch motivierte Täter, bei denen die Ideologie jene einfachsten Begriffe der Menschlichkeit außer Kraft gesetzt hat, ohne die kein Zusammenleben möglich erscheint (wobei dem Scheinen eine immense Bedeutung zukommt, so wie überhaupt das Menschenmögliche und Menschenwürdige an die Kategorie des Scheins gebunden ist, denn der Weg abwärts wird, wie jeder andere, durch Gewöhnung diktiert ‒ und zwar in den seltensten Fällen die der Opfer). Niemand kann solchen Wesen vergeben. Der Grund klingt einfach: es fehlt die zuständige Instanz. Allein der Gedanke, ein Gott könne ihnen vergeben, ist geeignet, Erbitterung und Zweifel zu säen. Sie sind so etwas wie Geiselnehmer des christlichen Universums, in welchem, bei gewissen Vorleistungen, jedem Sünder Vergebung winkt. Sie existieren aus der Spannung zu diesem Universum, dem sie zwar noch angehören, aber als Ausgeschiedene, als Beweis, dass es ›in Wahrheit‹ nicht die umfassende Einheit meint, die das Wort ›Universum‹ bezeichnet, dass es möglich ist, den Kreis zu zerbrechen... Diese fortdauernde Schwächung des Christentums wird nicht dadurch behoben, dass man das Problem in nichtchristlich geprägte Weltregionen verschiebt: es sind christliche Regungen und Empfindungen, die dabei verletzt werden, und niemand weiß, wie sie geheilt werden können. Vielleicht liegt sie hier, die absolute Grenze, die das geglaubte Universum vom Universum des Glaubens trennt: man kann dergleichen Wesen nicht zulassen und gibt ihnen gerade dadurch den Raum, den sie benötigen, um zu existieren. »Sie sind unter uns« ‒ mit diesem Satz betritt man das Universum des Schreckens ohne Ende und das Weltall entpuppt sich als wohnlicher Ort, geeignet, die zentrifugalen Kräfte aufzunehmen, die hinieden nicht mehr zusammenkommen.
Vergiss nicht, wem du schweigst. Vergiss es niemals. Warum so schroff? Nein, du vergisst schon nicht. Nur manchmal ist die Müdigkeit groß und fordert ihr Recht. Du versuchst zu vergessen, das wohl. Vergessensversuche gehören zum Repertoire der Selbsttäuschungen, zu den Seltsamkeiten der Psyche und ihrer sozialen Helfer. »Komm, vergiss!« So eine Aufforderung ist die Zunge nicht wert, über die sie kommt. Man nimmt sie wie eine Tablette, man inkorporiert sie. Der Körper erhält den Befehl und gehorcht. Gehorsam, was ist das? Jemand trollt sich und tut, was man ihm aufträgt. Ja, es erleichtert. Ja, es schaltet das Denken aus. Du versuchst zu vergessen: das ist schwieriger als gehorsam zu sein. Auch das Schweigen muss vergessen werden. Nicht mehr zu schweigen, innerlich, kein Schweiger zu sein, während man schweigt, das ist schwierig. Dennoch geschieht es. Auch das gehört zu den Grundlagen von Gesellschaft. Man kehrt in sie zurück, als habe man sie nie verlassen. Nie vergessen: Gesellschaft ist Täuschung. Die erste Täuschung vielleicht – die gebieterischste. Eine Selbsttäuschung, nicht mehr und nicht weniger. Auch deshalb wirken die unerbittlichen Verfechter der Rede vom Primat der Gesellschaft so frenetisch. Sie überreden sich selbst – bloß nicht ganz. Der, dem du schweigst, auch er überredet sich, z.B. vergessen zu sein oder vergessen zu müssen. Da du schweigst, erfährst du es nie. Da auch er schweigt, erfährt er es ebensowenig. Aber das stimmt nicht. Er erfährt beides, er hat die Wahl. Da heißt es klug sein. Das ist leichter gesagt als getan. Mit gelähmter Zunge ist niemand klug.
Ein Fach, das unbedingt Zulauf benötigt, um nicht auszusterben.
Solche Orchideenfächer strafen den Zug der Zeit Lügen, sie biegen
sich in die Zugluft hinein, aber sie bleiben fest, die drei Wurzeln
versehen ihren Job so gut wie andere den ihren. Die Vergleichende
Notdurftkunde sieht es dem Einzelnen nach, dass er im Leben nicht
zurechtkommt. Dass manche das blendend schaffen, geht sie nichts
an. Sie wendet sich sogar explizit davon ab. In diesem Fach werden
keine Konzepte erarbeitet. Das verwirrt die Studierenden und lässt
sie nach Auswegen suchen. »Sagt mir denn keiner, was ich tun muss«,
seufzen sie und beschweren sich laut oder leise, in vielen
Tonarten, ihre Stimmen umwispern die Türrahmen der
Lehrstuhlinhaber, die »Herein!« rufen, ohne sich von ihren Stühlen
herunterzulassen, teils aus Unwissenheit, teils aus einem Instinkt,
der ihnen sagt, dass dort unten kein Boden wartet, sondern nur
Morast. Im Morast des Begehrens stehen die Studierenden Schlange.
»Sehen Sie, das ist die Notdurft«, sagt der eine oder andere
Assistent, der gerade vorbeischlurft, »studieren Sie sich! Aber
bedenken Sie bitte: nur Gruppenarbeit wird angerechnet.« Im Examen
geben sich die Klugen unter den Studierenden still, sie wissen
genug, um keine Fragen zu fürchten, und sie haben auch keine.
Fraglos gehen sie über die Schwelle, die ihnen ein anderes Leben
verheißt, und siehe, es wird ihnen aufgetan. Ein anderes Leben, sie können nicht
einmal vergleichen.
Die Vergleichsweise ist nicht die einzige Weise, aber sie ist die bequemste, um von einem Raum in einen anderen zu wechseln, also das zu tun, was vielleicht der Traum allen Lebens ist, aber im Menschen zum Albtraum wurde, zum Albtraum seiner selbst, zum Ausdruck seiner Besessenheit. Hindere einen Menschen daran, den Raum zu verlassen, das heißt, einen anderen aufzusuchen, und du wirst zum Folterer, selbst wenn du es gut mit ihm meinen solltest und ihn vor irgendwelchen Gefahren zu schützen gedenkst. Der Mensch, das gefährliche Wesen, liebt die Gefahr und fürchtet den Stillstand ebenso sehr wie dessen Sinnbild, den Käfig. Großkollektive, die den ihnen durch – in der Regel blutige – Zufälle zugewiesenen Raum nicht so einfach verlassen können, es sei denn per Diffusion, müssen sich, um leben zu können, vergleichen: alle Kultur lebt vom Vergleich. Man darf es Zwang nennen und das Verhalten, das daraus resultiert, als ›zwanghaft‹ beschreiben, aber das ändert nichts, es ändert gar nichts, es sei denn das Klima, in dem alle leben und atmen müssen. – Es gibt Klimate der Freiheit ebenso wie Klimate der Unfreiheit. Alle Klimate unterstehen dem Paradox der Bewegung. Wer eins zu erhalten versucht, sperrt die Menschen ein, die unter ihm leben, und erhält im Gegenzug – nichts. Zwischen dem christlichen Wunsch, die Schöpfung zu bewahren, und dem allerchristlichsten Bedürfnis, den eigenen Anteil an ihr zu fixieren, und sei der Preis noch so hoch, klafft ein Abgrund an Ignoranz, in den jeder stürzt, der sich, wie einst Ikarus, aufschwingt, geschlossene Räume zu simulieren und sie der immer diffusen Realität unterzuschieben, als habe er sie damit im Kasten und könne sie nach Belieben traktieren.
Der bizarre Charme der Verhältnisse liegt darin, dass umgesetzt
wird, wo gut überlegt sein wollte. Das Umsetzen kennt man von
Pflanzen, die in Treibhäusern gezogen wurden und jetzt aufs Land
verbracht werden; man erwartet von ihnen, dass sie ihre Pflicht
tun. Diese Ideen, die jetzt ihre Pflicht tun müssen, dürfen einem
leid tun, aber wenn man sie näher betrachtet, hält sich das Mitleid
in Grenzen. Es sind robuste Dinger, dem Unkraut nicht unähnlich,
das sie verdrängen, man hat ihnen ein kleines Metallteil
eingesetzt, an dem sie kenntlich sind, und sie tragen es mit einer
gewissen Würde. Manchmal stechen sie in die Arme der Umsetzer,
dorthin, wo sie durch ihre Berufskleidung nicht mehr geschützt
werden, doch sie nehmen’s mit Gleichmut, so ist das Leben. Ist das
Leben so? Was soll diese Saat schrecklicher Gesellen in allen
Beeten? Warten sie auf irgendeinen Jason? Woher sollte er kommen?
Und welche Medea beginge die alten Verbrechen neu, nur so, aus
Übermut, um wegzukommen? Gerade daran ist gar nicht zu denken. »Wie
froh bin ich, dass ich weg bin!« Wer konnte so etwas schreiben? Ein
Mensch?
»Ich bin ein Verhängnis« schrieb dieser leicht verschrobene Herr
mit dem immerfort wachsenden Schnauzbart, und recht sollte er
behalten. Dieses behaltene
Recht, wie soll man es ansehen und wie strahlt es auf einen zurück?
Verstrahlt zu sein, ›kontaminiert‹ mit Vergangenem, das sagt sich
so leicht. Aber es bleibt Larmoyanz, was so spricht. Wer sich die
Gegenwart leicht redet, erhöht das Gewicht des Vergangenen. Das ist
ganz natürlich, es ist eine der im Grunde beliebigen Weisen, mit
dem zurecht zu kommen, was ansteht. Manchmal ist die Gegenwart leicht, verglichen
mit dem, was die Leute erlebt haben. Vergeht die Erinnerung,
verdoppelt und verdreifacht sich die Last des Heute: das gilt im
Leben des Einzelnen wie im Leben der Vielen, die grimmig
untergehakt der Zukunft entgegenstreben. Man möchte sie singen
hören, aber sie haben zu tun und sind entschlossen, ihr Pensum zu
bewältigen.
Nichts ist, wie es scheint – eine wundersame Klage am Krankenlager
der Realität, die nicht aufhört, zu sein, wofür man sie hält:
unübersteigbar, nicht distanzierbar, den Begriffen auf eine
vertrackte Weise abhold, obwohl sie doch das einzige Mittel sind,
ihr zu begegnen, auch wenn Mystiker aller Lager das energisch
bestreiten. »Scheint so«: das ist die Distanz, die der Begriff
erlaubt, die er in die Realität ›einführt‹ – woher nur? Aus dem
Nichts wahrscheinlich, aber das ist ein alter Kalauer, dem vor
langer Zeit die Zähne geschliffen wurden. Ob man sich auf Begriffe
einigt oder sich über sie zerstreitet, erklärt nicht, dass es sie
gibt. Streit und Einigung gibt es auch ohne Begriffe, aber anders,
würdeloser. Ihr Gebrauch vollzieht die Erhebung der Gattung auf
ihre Hinterbeine auf symbolische Weise nach. Wir reden in
Begriffen, um nicht auf allen Vieren zu laufen. Die Art und Weise,
wie Menschen sich ins Gesicht sehen, enthält schon das ganze Dasein
der Begriffe – virtualiter, als Drohung und als Verheißung. Die
Drohung sagt: Mit mir sollst du rechnen. Die Verheißung sagt: Mit
mir darfst du rechnen. Die Rechnung, von der diese stumme Rede
geht, bedarf keiner Zahlen. Sie stellt nur in Aussicht, dass sie
einmal aufgehen könnte.
Inzwischen ist die Schriftstellerei nur noch eine Art Journalismus, und nicht vom Feinsten, wie die Auguren von der Delikatessenecke anmerken würden. Wie das geschehen konnte? Man hat von lebenslanger Förderung auf Produktförderung und von der Produktförderung auf Verkaufsförderung umgestellt und fertig war der Karl. Die lebenslange Förderung bedurfte, zumindest als Schummer-Beleuchtung im Hintergrund, des altbekannten Genies. Wer unter Genieverdacht stand, dem gebührte ein anderes Leben, eine andere Aufmerksamkeit und Fürsorge als den gewöhnlichen Sterblichen. Die Polemik gegen das Genie begann zu der Zeit, als Schriftsteller sich gegen Knebelverträge zur Wehr setzten, die ihre Geistestätigkeit dauerhaft an einen Verlag banden. Ein Schriftsteller empfand es nun als sein gutes Recht, gerade das Werk zu verkaufen, über dem er brütete, und sonst nichts. Alles weitere gedachte er sich vorzubehalten – unter Einschluss der Möglichkeit, Pferde zu züchten. Hatten sie nicht recht? Sie empfanden es tief, weil der Glaube ans Genie, über Generationen gehegt und gepäppelt, in ihnen eine neue Dimension angenommen hatte: die der Selbstverständlichkeit. Wer schreibt und einen Verlagsvertrag in der Tasche hat, ist ein Genie, punktum. ›Genie haben‹ und ›schreiben können‹ müssen eine Zeitlang Synonyme gewesen sein, es wirkt unfassbar, aber die Zeugnisse lassen keine andere Deutung zu. Im übrigen waren bereits die Lebensabschnittsgenies Geniegegner, man muss ihre Schriften nur lesen. Den Verlagen kam ihr Verlangen entgegen, sie hatten zu viele falsche Genies in den Auslagen, das blähte die Lektorate. Keine Frage: Journalisten sind die wahren Schriftsteller, sie schreiben alle Tage und bringen den Werbeapparat gleich mit. Sie wissen also, worum es geht – ein großer Vorteil, sage ich Ihnen, ein großer Vorteil. Wie groß, das ist schwer zu sagen, was sich verkauft, das ist schon verkauft, der Rest bleibt liegen und wird entsorgt.
Er ist klein, unbedingt klein nach heutigem Maßstab, denn sein
Leben entstammt einem Gestern. Während er zwischen den
Büchern thront, die dieses Leben bedeuten, hat man ihm bedeutet,
dass es mit dem Deuten nicht mehr so fortgeht: das hat er immer
geahnt und es bringt ihn um ein Lächeln, das er gerade bereitet hat
wie ein Kompott. So vergisst er es in seinem Mund und wendet sich
neueren Aufgaben zu. Worin die bestehen? Er weiß es nicht, sein
Stab wird es herausfinden, bevor er ihn bricht. Aus jungen Leuten
besteht dieser Stab, er hat eine saubere Rundung, ein Ende und ein
zweites, das drückt. Da sitzen die braven Autoren und erwarten
Aufschluss, denn es ist ihnen aufgetragen, doch was sie hören, das
schmeckt nicht, und sie verlassen die Tafel ungesättigt, für ein
paar Kekse. Der gesetzte Buchstab rennt derweil im Kreis, man hat
ihm eine Frist gesetzt und er weiß nicht, was kommt. Er hat dem
Verleger immer misstraut, aber sie waren ein Paar. Wohin er geht,
will er ihn fragen, über den Zaun, der sie jetzt trennt,
stattdessen entschließt er sich, sein Los schweigend zu tragen. Wer
die Zahlen kennt, kennt auch die Wege. Die einen beschreiten sie,
die anderen lässt man laufen. Das ist nichts Neues, man hört es nur
alle Jahre.
Buchstaben sind Handgepäck. Das macht sie anfällig für Verlustgeschichten. Wenn man bedenkt, wie viele Tausende, wahrscheinlich Millionen dieser Artikel täglich, fast unbemerkt, verloren gehen, ohne dass eine Instanz, meinethalben eine Behörde, sich um ihren Verbleib kümmerte, dann erkennt man in Umrissen die Größe des Problems. Es wäre ja nicht einmal damit getan, sie aufzufinden, zu sammeln und ihren Besitzern bei passender Gelegenheit wieder auszuhändigen, beispielsweise bei Wiederbenutzung derselben Fluglinie. Denn wer garantierte für die Identität dieser Besitzer? Gut möglich, dass allein auf das Gerücht hin, es gebe die alten Buchstaben wieder, ganze Horden von Buchstabenliebhabern sich unter falscher Identität auf den Weg machten, die Wiedererstattung also zu einem Beutezug ungeahnten Ausmaßes genützt würde. Gut möglich, sage ich und weiß, dass es ganz sicher so sein wird. Woher ich das weiß? Gehen Sie, ich kenne die Menschen. Da ist es doch besser, die Buchstaben rauschen durch wie alles Geschriebene und versickern allerorts, wo Menschen verkehren. Sie verschwinden ja nicht völlig, sie wechseln nur ihre Besitzer, und wenn sie der letzte verliert, dann freuen sie sich, allein zu sein. Endlich allein! Buchstabenfeste ungeahnten Ausmaßes durchzittern den Kosmos, jedenfalls seinen erdnahen Bereich. Das mag wenig sein, aber das ist viel. So wenig, so viel: an diesem Wahlspruch erkennt man die Buchstaben, bevor sie sich zu Wörtern verhaken. Verloren im All, dass ich nicht lache. Nehmen Sie die Buchstaben heraus und es fällt in sich zusammen. Nur die Raumfahrer wirken gequetscht; dass alles nur Buchstabenwissen ist, hätten sie so nicht gedacht. Buchstabenstreuer, so sollte man sie nennen, links und rechts fallen ihnen die Lettern aus den Taschen und sie merken nichts.
Die sogenannte Masse des zwanzigsten Jahrhunderts hat es vielleicht nie gegeben. Man täuscht sich darüber, weil man die Inszenierungen kennt und sie für die Sache selbst nimmt. In der Theorie ist die Masse eine verwickelte Sache. In der Praxis hingegen ist alles einfach: ein Zelt, eine Arena, ein Platz, ein Areal und ein bisschen Propaganda, und schon strömt, was Masse heißt. Die Masse zeigt sich, weil sie sich zeigen soll: gerade so und nicht anders. Aber dass sie anders kann: das erst macht sie zur Masse. Dass sie gezähmt wurde, dass man sie vorführen kann, ist ein Hauptspaß, aber es ist nicht die Sache. Die Wahrheit ist: die Masse wurde nie gezähmt, aber sie wurde den Leuten vorgeführt wie Frankensteins Monster, King Kong und Rosemary’s Baby, und alle durften mitspielen. Die Leute wussten um ihre Gefährlichkeit und waren unheimlich zahm. Die Angst, die Masse könnte aus ihnen herausbrechen und außer Kontrolle geraten, steckte in den Darstellern und produzierte, was ihrer Aufführung den Anstrich der Masse gab: das geheime Beben vor der Revolte, die Furcht des Herrn, der sich versteckt, um hervorzubrechen, sobald die Zeit gekommen ist. Das alles ist vergangen und lockt keinen Hund mehr hinter dem Ofen vor. Mit der Revolutionsfurcht verschwand die Masse aus den Köpfen und die Straße füllte sich mit Schaulustigen. Man geht zu Massenveranstaltungen wie ins Theater: ja, man hat davon gehört, ja, man möchte etwas erleben, man möchte gemeint sein, man möchte mitspielen und man möchte Zuschauer bleiben, aber ja. Dafür bezahlt man gern, was verlangt wird. Wenn man vom Platz geht, soll etwas geschehen sein, man wünscht dabei gewesen zu sein, aber nicht als Akteur. Man bleibt reserviert, man bleibt im Rahmen. Die Erregung der Randalierer kommt eher abgebrüht daher, sie wissen schon, dass nichts geschieht und machen Radau, weil die Diskrepanz zwischen Erwartung und Ereignis stört. Das Stück, das Masse heißt, wird immer vertagt. Nichts gegen Kundgebungen, aber die Massen, die sie zusammenbringen, können den Ausnahmezustand nicht erzwingen. Sie lassen sich mit einfachen, selbst legalen Mitteln steuern und zum Verschwinden bringen. – Also gibt es die Masse doch? – Als Märchen für die Massen, aber sicher.
Die großen Vermögen kommen schon deshalb nicht unter die Räder, weil sie nicht auf der Straße herumliegen, sondern fest mit der (Vor-)Geschichte der Vermögensformen verwachsen sind. Noch in der äußersten Diffusion bewahren sie etwas vom Glanz der Epoche, die sie gemacht hat, einem zugegebenermaßen düsteren Glanz, betrachtet man die Weisen der Akkumulation, die da zum Einsatz kamen. Nun aber ruhen sie, wie der Fels, auf dem Manhattan errichtet wurde, knapp unter der Oberfläche der sichtbaren Welt aus Hochhäusern, öffentlichen Plätzen, Brücken, Schutt, Wertanlagen, Schmutz, Plackerei, Verschwendung und einem Transportnetz, das alle gleichmütig mitnimmt. Was immer wieder unter die Räder kommt, weil es von ihnen hochgetragen wurde, sind die kleinen und mittleren, von den Habenichtsen und denen, die außer ihrer Konkurrenz nichts zu sehen vermögen, als ›riesig‹ angestaunten Vermögen. Sie sind es, denen sich ›weltweit‹ Neid, Ehrfurcht, Hass erregende Gesichter zuordnen lassen, sie sind es auch, deren Verfall spätestens in der zweiten oder dritten Generation vom gelegentlich als Pöbel bezeichneten Publikum stets mit einem gewissen Behagen registriert wird. Von Belang sind die ganz großen Vermögen unter anderem deshalb, weil sie die Eigenschaft besitzen, Herren zu ›generieren‹: Menschen, denen auf sonderbare Weise kein Widerstand geleistet wird oder, falls doch, ein vom Blick der Medusa seltsam gebremster und zum Scheitern verurteilter. Im Vergleich mit ihnen sind die Inhaber von Ämtern, in denen die Macht öffentlich paradiert, allesamt Schauspieler – eine wohlbekannte, aber durch die hybride Wertschätzung der Schauspielerei ins Erträgliche abgebogene Tatsache. Dabei steht es den Herren im Verborgenen keineswegs frei, zu tun und zu lassen, was ihnen gefällt. Wie die alten Herrscher des konstitutionellen Europa sind sie Unterschriftenautomaten, in denen die Idee der Verantwortung für die gegenwärtige und kommende Welt groteske Dimensionen erreicht. Über dieses Einfallstor werden sie bewegt: zu tun what must be done ist ihre Aufgabe, ihr Unvermögen, ihre abgründige Narretei.
Von Zeit zu Zeit führen die Verteidiger einer hypertrophen
›Rationalität‹ und eine Handvoll volksgläubiger Narren, die man zu
allen Zeiten trifft, miteinander eine Komödie auf, bei deren
Anblick man nicht weiß, was man mehr bewundern oder verachten soll:
die Niedertracht der Unterstellung, die Perfidie der Argumente oder
die Einfalt der Tendenz. In diesen ewigen Schlachten ums
eingemachte Moderne, in denen sich jedermann entscheiden soll, ob
er einen Zug nicht mehr verlassen darf, den ein vermuteter Urahn
einmal bestiegen hat, ob er die Notbremse ziehen und ins Gelände
ausschwärmen oder – seltsamste Variante – bis zur falschen
Abzweigung zurückgehen und ›neu anfangen‹ soll, tobt, mit immer
denselben Mitteln bestritten, nur weniger Überraschungen fähig, ein
alptraumhafter, aus kaum noch vermittelbaren emotionalen Reserven
bestrittener Nachkrieg.
Es gibt eine Weise, von Vernunft, Rationalität, Moderne zu reden,
als habe man sie im Sack und müsse sie nur noch angemessen
beschreiben resp. ausagieren, um zu den Guten zu gehören. So wusste
einst Luhmann
genau, welchen Inhalt Rationalität besitzt, was natürlich ein
irrationaler Bluff war: aufgefallen ist das unter
Systemtheoretikern niemandem. Modernisten könnten gelegentlich
anerkennen, dass die Unterscheidung legitimer und illegitimer
Zeitgenossenschaft ein Manichäismus ist, auf den man im Namen der
Vernunft verzichten muss, wenn man nicht der Narretei der anderen
Seite – wer immer das sein mag, im Ernstfall die Ignoranten oder
Zyniker der Macht – Vorschub leisten möchte. Kein kämpferischer
Modernismus, der nicht lügt – wer das nicht begriffen hat, hat die
Lektion eines Jahrhunderts versäumt. Das betrifft auch die
Religion. Die bewährte Gleichung Religion = Dunkelmännertum geht
nicht auf, man wird das akzeptieren müssen, selbst wenn es schwer
fällt. Kein Zweifel, die anstehenden theoretischen Schlachten
werden auf dem Feld der Kultur ausgetragen, da sollte niemand die
Flinte ins Korn werfen, nur weil die Dummköpfe, die Dogmatiker und
die Denunzianten regelmäßig in der vordersten Reihe zu finden sind.
Sie sind es ja nicht wirklich, sie verdunkeln nur das Feld der
beherzten Auseinandersetzungen, die von ruhigeren und
differenzierteren Geistern geführt werden.
Vom einfachen Verrücken der Buchstaben zur Buchstabenverrückanstalt
geht DER WEG. Wer ihn
beschreitet, gewinnt wenig, aber verändert vieles, manche sagen
alles, doch diese wissen nicht, was sie sagen – sie sagen, was sie
sagen, trotzdem. Mit dem
Trotz könnte man Bände füllen, doch diese Arbeit nehmen sie einem
ab. Ein verrückter Buchstabe ist wie eine wohlgeratene Antwort. Man
schaut sie an und wundert sich, wie sie es unter die eigenen Augen
geschafft hat, danach verbannt man sie aus dem Bewusstsein. »Wie
lautete nicht gleich die Antwort?« Diese Frage ist der Ausdruck
vollendeter Gleichgültigkeit gegen sie. Eine leise Unverschämtheit
gegenüber dem Befragten regt sich in ihr, so als habe er nichts
Besseres zu tun, als sich eine goldene Antwort zu merken. Man
selbst hat zu tun. Dem kann, wer sich mit Buchstaben abgibt, nur im
Weg sein. Der vollendete Analphabet kennt keine Buchstaben, nur
Sätze. Wenn er sie niederschreibt, ist er in Gedanken woanders,
sein Überlegen fährt wie ein spitzer Stift durch die Materie und
kehrt nur gezwungen zum Ort der Fixierung zurück. Nicht jede
Bildung ist Gedankenbildung, aber man muss auch einmal die heiße
Luft sehen, die in jeder Bildung steckt. Der gesetzte Buchstabe
wartet nicht auf den Bescheid. Er geht an jeden, der mit dem Finger
darüber streicht.
Zwei rüstige Jägerinnen, die Beute im Garn. Hier gilt der lebende Fang: ein bleiches Früchtchen des Leibes und der Begehrlichkeit, zum Leben ungeschickt, geschickt zum Sterben. Anzufangen ist damit nichts. Aufhören also, das wäre die Kunst, die sie niemand gelehrt hat. Im Amazonenstaat wächst kein Achill nach. Selbst Mädchenkleider helfen da nichts. Keine Träne für den Versager Achill, keine einzige! »Achill das Vieh.« Die Versagung, die vor dem Versagen kommt, kommt als Versprechen. Das Verbrechen, wenn es geschah, kennt nur Versprecher. »Ich habe mich versprochen, da war nichts.« Eine Formel, so dicht wie das Cogito ergo sum der Philosophen, vielleicht sein Zwilling, vielleicht seine Gefährtin.
Die Gesellschaft der durchgestrichenen Väter produziert einen
Effekt, über den wenig geredet wird: das Nichtgeltenlassen der
Nachrückenden. Das lebenslange Buhlen um Anerkennung in den oberen,
väterlich positionierten Rängen erschafft am unteren Ende der Skala
Ungeheuer: wirkliche Feinde, die dahin streben, wo man längst angekommen sein, wovon man sich bereits – innerlich und
äußerlich – wieder lösen müsste, wohin man aber noch immer drängt
und drückt, übrigens ergebnislos, jedenfalls mit anderen als den
ins Auge gefassten Resultaten. Man nimmt die Jüngeren aus dem
Rückspiegel wahr, als Drängler, die einen von der Überholspur
vertreiben möchten. Da haben sie sich getäuscht. Wer das Leben, mit
allen Implikationen, noch vor sich hat oder zu haben nicht umhin
kann, fällt irgendwann unvermutet aus der ewigen Jugend ins weniger
dauerhafte, nichtsdestoweniger ewige Alter, im Ernstfall täglich,
im Umgang mit seinesgleichen. Man sieht es an den Gesichtszügen,
die Hochgeschwindigkeits-Trassen gleichen, für die man den Bahnhof
zu bauen vergessen hat, man sieht es an den erbärmlichen
Produktionen, in denen sich das Immergleiche als der nächste
Versuch zu Wort meldet, man sieht es vor allem an sich selbst, denn
die Auswirkungen betreffen jeden. Es handelt sich, wie gesagt, um
Gesellschaft, von persönlichem Versagen ist nirgends die Rede, nur
von Versagung.
Der deutsche Verschluss an Lebensart lässt sich durch vielerlei belegen, zum Beispiel mangelnde Bereitschaft, die Brieftasche weiter zu öffnen als für einen guten Zweck, etwa den Erwerb einer Immobilie oder eines Flughafens in der Ägäis. Man übersieht aber die Bereitschaft zum Risiko, die damit einhergeht und eigentlich Offenheit ist. Ja, das Deutsche ist offen, es sehnt sich nach Ein- und Zuflüssen, wo andere auf strikter Differenz beharren, zum Beispiel der zwischen Mein und Dein, die hierzulande längst nicht die Bedeutung besitzt, die ihr allgemein und insbesondere von den Gerichten zugesprochen wird. Das Deutsche ist in einem permanenten, mit einem hohen Exitrisiko verbundenen Aneignungsvorgang begriffen, den es sich selbst als schuldhaft vorrechnet: eine gewisse Haftungseuphorie ist daraus als Volkscharakter entstanden, den zu verstehen sich für niemanden lohnt, da er den Grundstock des Nichtverstandenwerdens darstellt, auf dem die gesamte Konstruktion beruht. Man kann nicht genug betonen, dass nicht verstanden werden und allzu gut verstanden werden nicht weiter auseinanderliegen als die Pfotenabdrücke eines flüchtigen Hasen, man muss sie immer zusammennehmen, um sich ein Bild zu machen, das heißt, das des Hasen, der aber schon weiter ist. Man sagt, das Deutsche laufe vor seiner Geschichte davon, es ist aber eine Hasengeschichte und das Davonlaufen ihr wichtigster Teil.
Wir betreten hier den Bereich des Geheimnisvollen, genauer gesagt, des
Behördlich-Geheimnisvollen, zumindest dann, wenn wir davon ausgehen,
dass Behörden ihre kahle Applikatur mit dem Schleier des
Geheimnisvollen zu umgeben wissen, gleichzeitig jedoch jedem
entgegentreten, der ihnen Geheimnisse unterstellt. Warum wir? Ganz
einfach: weil wir wissen wollen. Kein Wir ohne Anspruch auf Wissen,
kein Verschwörungstheoretiker, der sein Wissen nicht zu teilen
wünscht. Was immer er herausgefunden zu haben glaubt – er will es
mitteilen. Und da die Mitteilung unweigerlich jeden isoliert, sobald
das Verdikt ›V.‹ im Raum steht, benötigt er
Gleichgesinnte. Woran erkennt man Gleichgesinnte? Das ist nicht ganz
einfach. Auf alle Fälle sollte man sich vor Enthusiasten schützen,
die auf jeden fahrenden Zug aufspringen und ihr »Hurra« brüllen.
An der nächsten zu scharf genommenen Kurve sind sie wieder weg und
zählen fortan zu den schärfsten Kritikern. Sie behaupten dann
einfach, sie hätten sich mit der Sache ›eingehend beschäftigt‹
und herausgefunden, es handle sich um eitel Bluff, wenn nicht Schlimmeres. Als
V. gilt gemeinhin die unbewiesene Behauptung
einer Verschwörung. Nehmen wir zum Beispiel die unterstellte Sprengung des World
Trade Center in New York am 11. September 2001, mit der, leicht
verspätet, das dritte Jahrtausend Einzug in die vom Westen diktierte
Weltgeschichte hielt. Mit ihr beginnt auch der Siegeszug dieser Vokabel,
während sie zuvor in historischen Untersuchungen dahinvegetierte. Seither
hat sie sich in einen reißenden, Namen und Karrieren verschlingenden
Wolf verwandelt, manche sagen, in einen Reißwolf, in dem
ganze Aktenberge verschwinden, die in der Öffentlichkeit nichts zu
suchen haben, da die Öffentlichkeit nichts in ihnen zu suchen hat.
Sie sucht aber, wie jedermann weiß, und wenn man ihr den Zugang zu
den Panzerschränken verwehrt, kramt sie in den Abfällen und
befördert Unerquickliches zutage. Manch einer beschmiert sich dabei
ganz und gar und bekommt den Geruch ein Leben lang nicht mehr los.
Auffällig ist natürlich, dass der allgemeine Sprachgebrauch mittels der
Vokabel V. die Vorstellungen ›Theorie‹
und ›unbewiesen‹ in eine so nahe Beziehung setzt, dass für
Unaufmerksame dabei Identität herausspringt. Das entspricht dem
gesunden Menschenverstand und seiner vor Gesundheit strotzenden
Abneigung gegen die Wissenschaft, deren Ausläufer ihn einst im
Matheunterricht – q.e.d.! –
gequält und während des Studiums geängstigt haben. In diesen
Kreisen weiß man natürlich, dass Theorien, einmal in der Welt, ihr
Leben lang auf dem Prüfstand stehen und der ausgeklügeltste Beweis
hin und wieder geknackt werden kann. Wer daraus schließt, das
alles seien doch nur unbewiesene Theorien, bezichtigt, um
figürlich zu reden, das Ross, ohne den Reiter zu nennen, der in
diesem Fall nichts anderes wäre als der logische Verstand. Dass
Menschen, die nicht oder nur sehr eingeschränkt logisch denken
können, mit dem Vorwurf, etwas sei unlogisch, besonders schnell bei
der Hand sind, ist allgemein bekannt und darf daher nach ihren
eigenen Standards als bewiesen gelten. Einige so genannte
V.n sind, recht betrachtet, Theorieverschwörungen:
Jemand unterstellt jemandem etwas und macht sich in Gesellschaft
Gleichgesinnter auf die Suche nach einer passenden Theorie. So einer
wird in der Regel rasch fündig, da die Anleitungen zur Herstellung
von Theorien die Zahl der wirklich vorhandenen Theorien um ein
Erkleckliches überschreiten. Seit das Internet die publizistischen
Tore für jedermanns Torheiten weit geöffnet hat, schwirrt die Welt
von Theorieverschwörungen. Doch nicht jeder, der eine Verschwörung
aufdeckt – oder im Prozess des Aufdeckens auf unerklärliche
Schwierigkeiten stößt, die er durch Mutmaßungen zu überwinden
versucht –, ist ein Verschwörer. Dass getroffene Hunde
bellen, weiß jedes Kind, so wie es weiß, dass alle Hunde sich gern
mitreißen lassen, wenn erst einer zu kläffen begann. Die Frage ist
also nicht nur, wo der Hund begraben liegt, sondern auch, wer ein
Hund ist und welcher zuerst zu kläffen beginnt. Es liegt in der
Natur solchen Fragens, dass es selten zu Gewissheiten führt. Daher
gilt, wer auf dem Friedhof der Hunde herumstochert, umstandslos als
Verschwörungstheoretiker und alle Hunde, die sonst nur den Mond
anbellen, nehmen sich seiner mit Eifer an.
Man muss den Leuten eine Lehre bieten, sonst wird aus allem nichts. Also: Entleere dich pünktlich! Dass sich die Leeren als erste davon angesprochen fühlen, erklärt die Menge der Drücker auf den Kathedern und in den Redaktionsstuben, die bekanntlich jeden Durchgang verstopfen. Ansonsten bleibt auch dieses Wortspiel, wie manches andere: leer.
Ich weiß nicht, worum es in diesem Spiel geht, ich hätte es nicht
erfunden, aber es existiert und man nötigt mich, es zu spielen. Es
ist deine Rolle, so ertönt es aus der Kulisse, schon das begreife
ich nicht und vertiefe mich in die Karten. Der Hockeyspieler radelt
auf schmalen Reifen vorbei und fasst sich ans Brustbein. So ein
Wiesel! Verfügte ich nicht über die Katze des Nachbarn, so wie
einer über den Blick auf die Wiese im Frührot verfügt, so sähe ich
alt aus. Das darf nicht sein. Das Spiel, meine Liebe, das Spiel!
Ich wische mir den Schweiß aus dem Gesicht und strenge mich an. Wer
aufgeht, hinterlässt keinen Rest. In meiner Sprache, Spielwerk auch
das, fällt der Rest an den Satz, hemmungslos, denn es ist der Satz
eines Tigers in die Kulisse. Ein Satz nur, warum? Was danach kommt,
interessiert keine GEMA. Stummgeschaltet, damit gehen wir vor
Gericht. Ich bin, wenn ich mich so sehe, ein scharfer Hund, ein
Hund mit Falten, ein geschärfter Mensch. Ist da keiner, der mich
entschärft? Zieht euch nicht zurück, ihr Koyoten, in
Geschwätzigkeit verstummt wie ein Regenguss, spielt nicht immerzu
Meute. Ich kenne euch, in- wie auswendig, das ist nötig, um seinen
Vers zu sagen, den Reimvers, den keiner versteht. Warum sich
reimen? Im Sprachspiel liegen die Karten offen, aber sie verhüllen
den, der sie aufnimmt. Kurioses Spiel, fast ein Zungen-, ein
Zuschlag. Oder ein Zubrot.
Am Grunde des Kuchens wandern die Pflaumen. Man sagt, sie wandern,
aber das ist ein komisches Wort, recht betrachtet, dafür, von der
großen Bewegung so wenig bewegt zu werden. Eher könnte man sagen,
der gewaltige Kuchenleib gehe über sie weg und sie rührten sich ein
wenig im Schlaf. Da kommen manche und sagen, es sei der Schlaf der
Gerechten, an den zu rühren Tod und Verderben über die Kuchenheit
bringe, doch wer sind sie? Es ist ein Geheimnis um ihn, das nur ein
Esser goutiert. Breitbeinig sitzt er da, die Beine unter dem Tisch,
er mag, was ihn erwartet, man sieht es ihm an. Aber sie schlafen
doch nicht, sagt er und reibt sich das Auge. Niemand hat je gehört,
dass sie schlafen. Ich weiß, wo sie liegen, und lasse mir Zeit.
›Verteidigung der Poesie‹ nannte sich eine beliebte humanistische
Literaturgattung. Bedenkt man, wie so etwas heute aussehen könnte,
so gerät man rasch an die großen Drei: Nichtwissen, Nichtglauben,
Nichthoffen, die von der Dichtung bewirtschaftet werden – sehr zum
Unmut der gemischten Gesellschaft, die sich unter dem Dach der
Literatur zusammengefunden hat. ›Wir heißen euch hoffen‹ lautet die
romaneske Aufforderung, der das Daumenlutschen der Leser auf
gequetschtem Fuße folgt. Das ewige Bescheidwissen und der Glaube an
sich selbst gehen als Gepäck mit und müssen allenfalls durch den
Zoll der angesagten Überzeugungen geschmuggelt werden, was nicht so
schwer ist, weil sie habituell sind: unsere zweite Natur. Ein wenig
irre muten die Kantischen Fragen ›Was kann ich wissen?‹, ›Was soll
ich tun?‹, ›Was darf ich hoffen?‹ an, wenn man bedenkt, dass man
sich unter Leuten bewegt, die just in allen diesen Punkten frei
haben – Aufgeklärte zweiten Grades, wie sie sich nennen lassen,
Zeit- oder Zweitgenossen, wie man es nimmt. So ein Vers bleibt
schon deshalb gerechtfertigt, weil er ein paar Kräfte von der
überbordenden Sinnproduktion abzieht, detrahiert. Daher ist die
institutionalisierte Auslegerei der Tod der Poesie, zumindest ihr
Todfeind. Der Vers steht vor dem Sinn, unschlüssig, ob er
hineingehen oder noch warten soll, er wartet lieber, das ist seine
Stärke. Was für ihn gilt, gilt für alle Formen, deshalb kennt sie
auch niemand, man zeigt ihnen die Fäuste, sofern man sie zu kennen
vorgibt, man drängt sich an ihnen vorbei oder macht einen Diener:
Habe die Ehre. Es ist aber
keine Ehre, es ist der Sinndrang, der dem Harndrang in nichts
nachsteht. Erhofft also nicht zuviel von der Dichtung. Das
Enthoffen ist eine stillere Tätigkeit als das Enthaupten und lässt
den Kopf oben, und wer schon an sich glaubt, warum sollte der an
die Poesie glauben? Das wäre doch widersinnig. So gesehen ist die
Verteidigung der Poesie ein wahrer Unsinn, ein Noli me tangere, übersetzt in die
Sprache derer, die alles anfassen müssen.
Verteilungsidioten nennt das Publikum (manche nehmen die Abkürzung querfeldein und sagen: der Pöbel) Leute, die verteilen, wo es nichts zu verteilen gibt. Das erklärt ihre relative Beliebtheit, denn bekanntlich herrscht dort, wo es nichts zu verteilen gibt, ein besonders hoher Bedarf. Es erklärt auch den wütenden Protest, der sie umwogt, da ihr Tun, nicht zu Unrecht, von Leuten, die etwas von der Sache verstehen, als verhängnisvoll angesehen wird. – Allerdings bleibt dieses Tun an Orten, wo es nichts zu verteilen gibt, aufs Reden beschränkt. Das verleiht dem Protest seine besondere Note. Mischt der Staat sich ein, ändert sich das Bild. Wo der Staat sich einmischt, gibt es stets zu verteilen. Das folgt bereits aus der Konvergenz von Gerechtigkeit und Beuteverhalten. Wo Gerechtigkeit angesagt ist, läuten die Anwärter Sturm. Da allen genommen wird, wird allen zu Unrecht genommen: mein Recht erfordert, dass ich bekomme, nicht, dass mir genommen wird. Der Mechanismus der Verteilung erzeugt, gewissermaßen automatisch, Verteilungsidioten: außer sich geraten, sind sie doch ganz nur sie selbst, normale Bürger im Modus des Haben-Wollens, überzeugt, dass ihnen, gerade jetzt, die Felle davonschwimmen, während, gerade jetzt, es ihnen endlich gut gehen könnte. Warum gerade jetzt? Das wissen die Götter. Allein dass es Klassen von Bedürftigen gibt, enthält eine nicht reparierbare Kränkung. Bedürfnis, wenn es das eigene ist, ist nur das eigene, tief gefühlte, das fremde, durch die Scheibe betrachtet, verharrt im Modus des Mag-sein. Manche freilich... Einmal mit vollen Händen ausgeben, wo man nichts einnahm, ist auch ein Bedürfnis. Den Armen geben, warum nicht? Der Zusammenstoß ist vorprogrammiert und innig motiviert. Das Weggebenwollen dessen, was mir, streng genommen, nicht gehört, musste schließlich erst die Schranke passieren, an welcher der Wunsch, es einzustecken, einen Moment lang übermächtig zu werden schien. Nun, da ich überwunden habe, soll alle Welt überwinden. Da sie nicht daran denkt, liegt es an mir, diesen Widerstand auszuräumen. Schon bin ich Krieger des Guten, der Helm drückt, Erquickung wäre vonnöten, doch schwer zu erreichen, da sich viele dazwischendrängen. Widerstand Mitmensch, hinweg mit ihm: auch eine Parole, eine ungute mehr.
Wer zuerst startet, kann nur besiegt werden. Wie das gemeint ist? Aber es steht doch da. Es steht da, ein Satz, zur Salzsäule erstarrt, ein Angebot, denn Bedarf besteht immer. Wer den Verteilungskrieg prophezeit, der prophezeit das Meer: eine reife Leistung, der die Fischwelt stumm applaudiert. Hilft er den Fischen? Hilft er den Fischern? Hilft er sich selbst?
Im Verteilungskrieg entscheiden zwei Dinge: Kopf und Zahl. Was der Kopf ersinnt, vernichtet die Zahl et vice versa: eines des anderen Leid – oder Hebel.
Im Grunde warten alle auf die Stunde der Not. Da tritt sie herein:
offen, ehrlich, ein wenig rot im Gesicht, weil es ihr peinlich ist,
unter soviel Leuten. Wie das rührt! Man möchte sie ›Mütterchen‹
nennen, aber das klänge russisch. Man erwartet nichts von ihr, also
alles. Austeilen, das kann sie, das geht zackzack, am Ergebnis ist
wenig zu deuteln. Man geht seiner Wege, wie man gekommen ist, aber
von Grund auf verwandelt. Wie schwierig alles ist! Sinnvorrat für
Jahrhunderte! Gefehlt, leider gefehlt. Die neuen Wirklichkeiten
stürzen herbei, höllische Helfer, von Räubern kaum unterscheidbar.
Solange es Menschen im Überfluss gibt, herrscht an ihnen kein
Mangel. Der Überfluss ist selbst die größte Ressource, er tendiert
dazu, sich unter allen Umständen wiederherzustellen. Bleibt die
Panik, dass die Erde ihn nicht länger trägt. Die Raumfahrt als
künftiges Ventil – die Vorstellung mag lächerlich klingen, doch
erzeugt sie jene letzte kleine Verunsicherung, die das System der
Ängste zwar nicht ausbalanciert, aber erhalten hilft.
Wenn einem Kunstwerk, gleichsam als Taufe, Gerechtigkeit
widerfahren ist, dann war schon der zarte Anfang seiner Entstehung
auf Verwunderungspunkte angelegt. Kleine, aufspringende
Eröffnungstendenzen bedeckten die Bilder der Inspiration wie das
schöne Muster einer Krawatte, oder sogar, wie ein gewisser Franzose
gesagt haben könnte, als scharlachfarbener Ausschlag den Arm einer
schönen Frau, deren Reste der weißen Haut durch ein Armband aus
grünen Smaragden belohnt worden sind. Diese Blüten, die aus den
Schleiern des Schicksals oder der Schöpfung hervortreten, gleich,
ob eine Krankheit oder der Webstuhl der Phantasie ihr Erscheinen
hervorgerufen hat, sind weniger, als der berühmte Franzose
vermutet, den Worten der Poesie zuzuschreiben als der Malerei.
Genusspunkte, die das höchste Erstaunen erwecken, finden sich,
außer vielleicht bei den schreibenden Manieristen, in einzelnen,
sich dem eigentlichen Gegenstand eines Gemäldes weit entziehenden
Details auf allen Bildern der großen Maler, und sei es der
köstliche Anblick eines zum Fließen gebrachten Rubins auf der
Schüssel Johannes des Täufers. Vielfältig und völlig frei von den
Zielen des künftigen Bildes blühen die Verwunderungs- oder
Genusspunkte als Gebilde einer immer nur für kurze Augenblicke entfesselten Malerei, die
etwa in den gewundenen Ranken des Kleides am Arme der Fornarina die
Natur viel weiter verlassen als Raffael es sich im Porträt
gestattet, wenngleich auch hier die Spuren davon zu finden sind,
denn das Netz der Schönheit ist bekanntlich unendlich.
Velázquez hat bei den Infantinnen in Wien, an Händen und Füßen, an
Schleifen und Stoffen, weit von all den beflissen gemalten
Kindergesichtern entfernt, die Verwunderungspunkte zur höchsten,
fast rührenden Blüte gebracht, ohne dabei einer falschen Prunksucht
verfallen zu sein.
Auch bei Rembrandt muss man in Andacht schweigen, besonders bei
seinen späteren Bildern. Hier finden sich berauschende Stellen
alchimistischer Kochkunst eines aufs höchste gesteigerten Pinsels,
der, in farbreich schmelzende Öle getunkt, wahrhaft köstliche
Speisen der Malerei auf die Leinwand gebracht hat.
In der alten Pinakothek in München findet sich das vielleicht
bedeutendste Flammen- und Fackellicht der Ölmalerei überhaupt, die
Dornenkrönung Christi. Ein
malerisch tief erschütterndes Alterswerk Tizians. Hier ist der
Verwunderungspunkt zur Einheit eines ganzen Bildes geworden.
Aber das alles ist zweimal untergegangen, einmal an den Dogmen der,
ich spreche zur Hälfte mit Paulus, »falsch berühmten Vernunft« (er
hat Kunst gesagt) und später an den zertrümmerten Dekorationen ohne
Pinsel, den dünnen Zeitungsabklatschen von Tagesmenschen, die
pausenlos den Fabrikgebäuden der ›Lofts‹ mechanisch anmutend
entspringen. Gewollter Naturalismus von Dilettanten, durch dreiste
Imitation des wahren künstlerischen Wahnsinns berechnend
auseinandergeschnitten. - PM
Wenn einer sich hinstellt und sein »Ich verzeihe« ausspricht, wohl
wissend, dass alle im Saal auf den Patzer lauern und draußen sich
Leute drängeln, die nicht verzeihen können, nicht verzeihen wollen,
nicht verzeihen dürfen, weil es untersagt ist und schlecht
honoriert wird, und das in gleicher Sache – was ist das?
Bescheidenheit? Anmaßung? Schlichtheit? Raffinesse? Moral? Aber wo
ist denn die gleiche Sache? Haben denn alle dasselbe erlebt? Was
ist dasselbe in einem
solchen Erleben? Wenn schon die Person nicht mehr dieselbe ist, die
erlebt hat, wo kommt es her, wo wird es bewahrt, dieses ›Selbe‹?
Die Peinlichkeit ist es, die es bewahrt, die Betretenheit, mit der
eine Gesellschaft reagiert, sobald gewisse Wörter ausgesprochen
werden oder bestimmte Themen auf den Tisch kommen. Im Chor der
Betretenen finden sich immer frenetische Vorsprecher – Leute, die
es den anderen hinreiben, weil sie selbst es am wenigsten ertragen.
Damit wäre man beim Es. Eine schöne Aufklärung ist das, an deren
Ende Es regiert und das Tabu. Aber Verzeihung, Verzeihung, ist eine
Sache der Moral, also des Einzelnen, ein menschenfreundlicher Akt.
Wer sollte wen daran hindern? Ein Gott den Gott? ›Versöhnender, der
du nimmer geglaubt...‹ Ach was.
Kann mir das mal einer erklären? Aber kurz, denn ich habe Angst. Was bitte ist ein Reaktor? Überall Rauch, das ist doch nicht normal. Nein, keine Bilder. Oder doch. Mal sehen. Das ist alles so deprimierend. Stark, das Video. Ein paar Tote, aber schnell, wenn ich bitten darf. Nein, keine Toten. Wo kommen die überhaupt alle her? Räumt dort denn keiner auf? Das Supermarktbild mit den leergefegten Regalen, das gibt zu denken, kann ich das gerahmt haben? Aber bitte. Was tritt da aus? Cäsium was? Sowas kann sich doch keiner merken. Und wenn, muss ich mich jetzt fürchten? Ja, ich fürchte mich, jetzt. Nein, ich schäme mich nicht dafür. Du kannst dich jetzt über mich lustig machen, aber ich schäme mich nicht. Ich finde, dass mich das angeht. Glaubst du, was du siehst? Unglaublich. Irre. Wer seinen Laden nicht im Griff hat, wo gehört der hin? In die Irrenanstalt? Ich weiß nicht, dazu kann ich nichts sagen. Soll ich jetzt anfangen zu weinen? Nichts als Trümmer, was soll denn das. Diese Bilder gehen um die Welt, sie werden uns lange nachgehen. Ja, wie die Hunde. Scheißköter, ewig Gekläff. Sowas verändert die Welt. Nicht zu fassen.
Ein neues Leben stirbt, vermindert um den Faktor der Wendigkeit, viele Tode, es wird getragen vom Glück, den Tod zu bestehen und zu entdecken, dass dieser Zustand, wie andere, trägt. Ob er trägt, ob er wirklich trägt, diese Erfahrung ist auf später vertagt, sie ficht den Springer nicht an. Schon bilden sich zarte, leicht zu durchstoßende Oberflächen und breiten sich aus, eine neben der anderen, bis, irgendwann, sie eine einzige bilden, einen Kontinent der Täuschungen, tückisch und von langer Dauer.
Litfogel war einsam und fürchtete sich gar sehr. Da erfand er
sich Voegelin, den Gefährten mit V wie vorneweg, um die Furcht zu
vertreiben. Voegelin wuchs und gedieh über die Maßen, bis er eines
Tages begriff, dass er nur ein Stellvertreter der Furcht war, da riss
er sich los. Er riss sich von allem los, was ihm gut und teuer war
oder noch werden sollte, das nannte er den Prozess der Erkenntnis. Er sagte
sich von der Geschichte los, das war schon ein großer Schritt.
»Dieser Prozess hat keine Geschichte«, murmelte er laut und ging
seines Wegs. Es war aber der Weg, der ihm solchen Unsinn erzählte,
denn der Weg ist jedermanns Gefährte und sorgt dafür, dass keine
Langeweile aufkommt. Wenn ich nur wegkäme vom Weg, überlegte
sich Voegelin, dann käme ich schon noch ins Wahre.
Währenddessen war er vom Weg abgekommen und verfolgte jetzt mehrere
gleichzeitig, die sich ihm aber entzogen. »Wollt ihr wohl bleiben,
ihr Racker!« schrie er heftig, da trat ihm das Echo entgegen. »Aus
dem Weg!« schrie er. Doch das Echo antwortete schallend gleich einer
Ohrfeige: »Ick bün schon Weg!« »Bist du’s?« rief Voegelin. Er
fürchtete sich aber und wünschte sich Litfogel an seine Seite. Der
war mittlerweile gestorben, auf seinem Grab stand: »Siebzig
verweht«. So ein Quatsch, dachte Voegelin, immer wenn man jemanden
braucht, geht er stiften.
The strange death of Europe – wie viele Tode ist nicht dieses Europa gestorben, im voraus, im nachhinein und, nicht zu vergessen, in jedem bestialisch Ermordeten und in alle Welt Vertriebenen, der den jeweils Herrschenden nicht – oder allzugut – ins ›Konzept‹ passte? Und jedesmal war es dieses Europa, das überlebte, das Europa des radikalen Wandels, der nicht festgelegte Erdteil, das Unkraut der Welt, das, kaum konsolidiert, räuberisch in die gehegten Gärten auf lange Dauer eingerichteter Reiche einbrach, so wie es gleichgültig das ökologische Gleichgewicht von Stammesgesellschaften umstieß, das seinen Vertretern im nachhinein paradiesisch dünkte, nachdem der herrschsüchtige Blick zuvor nur ›Barbaren‹ und ›Heiden‹ gesichtet hatte. Nun, da es ökologisch zu denken gelernt hat und der geschundenen Welt Frieden verspricht – pace pace pace –, erweist sich die nolens volens gewonnene Ruhe nach innen als Ruhe vor dem Sturm. Die Sucht, die Unruhe der Welt in sich aufzusaugen, sie dort auszutragen, wo sie jahrhundertelang gedacht und inszeniert worden ist, lässt gelernte Europäer nach der Vokabel ›Völkerwanderung‹ greifen, indes der nüchterne Blick nur Elends- und Wohlstandswanderung massenhaft auftretender Einzelner erkennt. Ginge es nicht eine Spur bescheidener? Nein, geht es nicht. Die historische Völkerwanderung steht am Anfang dieses Europa, sie hat jene Populationen entstehen lassen, auf deren ›Grundlage‹ sich das Europa der Nationen herauskristallisierte, das heute verschwinden soll. Eine neue Völkerwanderung muss her, um, als kuriose Kreuzung aus Nietzsches ›letzten Menschen‹ mit dem besser bekannten ›Übermenschen‹, endlich (!) doch den Homo Europaeus zu schaffen, mehr Intellektuellen- und Politikerspielzeug als Publikumsliebling, denn letzteres, das bereits in früheren Anläufen zur Schaffung des homo novus kujoniert wurde, glaubt in seiner zu vermutenden Mehrheit zu wissen, wer die Zeche am Ende bezahlen wird. Man blendet die experimentmüden Massen mit Bildern einer unwiderstehlichen Naturgewalt, man erfindet Menschenrechte wie ein unbegrenztes Recht auf Einwanderung und lässt dergleichen von einer schläfrig-hellwachen Priesterschaft absegnen, die sich bereits außer Dienst gestellt glaubte: Nun ist sie wieder im Geschäft. Mit welchem Recht? Dem Recht des Stärkeren? Dem Recht des Klügeren? Dem Recht des Künftigeren? Dem Recht des Besseren? Besser als wer? Das neue Europa beginnt als Besserungsanstalt für zurückgebliebene Europäer, denen just die ›Identität‹ bestritten wird, in deren Kontinuität sie sich, als arglose Nachfahren, schuldig gemacht haben sollen. Das neue Europa als Schuld- und Schuldenmaschine in des Wortes allseitiger Bedeutung: in ihm kommt es nicht gut, ›europäische Wurzeln‹ zu haben, es ist nicht empfehlenswert, es schadet Europa, es treibt Europa voran, es finanziert es wohl auch, mental und sowieso.
Wenn Völker wandern, hält sich der Himmel bedeckt. Aber es wandern ja nicht die Völker, es wandern die Einzelnen, es wandert Volk, viel Volk, vielerlei Volk, es wandert auch nicht, es bedient sich der landesüblichen Verkehrsmittel. Sobald es zu wandern beginnt, ist’s mit dem Wandern vorbei und es beginnt der Sturmlauf auf die Bastionen der Reichen, der Satten, der Fetten … das sieht erbärmlich aus, das sieht erbarmenswert aus, und so, wie es aussieht, bereitet es Unbehagen: die ›guten Bürger‹ möchten die Augen verschließen und so, wie es aussieht, möchten sie sich gern loskaufen. Aber wovon? Von einem Anblick? Von denen da? Von der Gefahr? Sind etwa sie die Gefahr? Oder lauert die Gefahr unter ihnen, um loszubrechen, sobald sich die Massen zerstreuen? So wie es aussieht: von allem ein bisschen. Aber man kauft sich kein bisschen los, nur weil man sich ein bisschen loskauft. Ein Bisschen gibt das andere, ein Bisschen gilt das andere, am Ende fragt sich, wer mehr Biss besitzt und wen die Hunde beißen. Festung Europa: das klingt martialisch, solange die Welt sich an Formalitäten aufhält, es klingt komisch, sobald die Sitten sich ändern und die Not regiert. Auch das Volk kann sich ändern, wer heute registriert wird, kann morgen einer kleinen Minderheit angehören, die kaum in Betracht kommt: »Ja die, mit denen ließ sich zurechtkommen.« Das war schon der zweite Blick, dem der dritte und vierte folgt. Und das ist wenig gesagt. Aus allen Augen starrt es den Ankömmlingen entgegen, das vieläugige Monster Gesellschaft ist vieles, eins und uneins, nur eines kann und wird es nicht sein: einig mit sich, geschweige denn mit der Welt. Das ist die Stunde, in welcher der Konsens der Aufgeklärten zerbricht und dem Nonsens der Aufgeregten Raum gibt, der stets in ihm schlummerte.
Der Bedeutungsverlust des Geistigen erreicht die Geister zuletzt, da sie in einer anderen Ordnung leben, eben der des Geistes, in der die Pop-Botschaften der anderen Welt seit langem als willkommene Bereicherungen des Speiseplans gelten, als Feld für Analysen, welche die eigene Position nicht tangieren. Vielleicht braucht es noch Jahrhunderte, vielleicht nur ein paar Jahre, ehe das letzte Sprachgenie begreift, dass es mit dem App-Konstrukteur von nebenan konkurriert, der eine neue Art ausbaldowert, sich das Taxi zu bestellen, oder, da diese Liga bereits als unerreichbar ausscheidet, mit dem Hobby-Fotografen, der seine Schnappschüsse, mit Sprüchen aus der Hausapotheke für globale Verantwortung verziert, dem massenhaften Kommentierungswahn preisgibt. Eine Spezies gibt es, die den Weg schon mehrfach hinter sich hat und sich in intransigenter Duldsamkeit übt: die Philosophen. Wenn der Fernsehphilosoph dem Wirtschaftsexperten öffentlich Abbitte leistet, weil er ihn nicht auf Anhieb unter die Intellektuellen rechnete, erweitert der Berufsphilosoph die Liste seiner Beispiele für kleine Missgeschicke des Alltags und schreibt ins Notizbuch: Sobald alle menschlichen Denk- und Tätigkeitsfelder, wertmäßig betrachtet, in einer Ebene liegen, ist auch die Idee der Konkurrenz der Kulturen, z.B. der geistigen Disziplinen, obsolet geworden, und zwar als Idee, das heißt auf Nimmerwiedersehen. Allerdings! Solange wir aufgefordert bleiben, auch diesen Stand der Dinge zu erkunden, sind wir genötigt, uns über ihn zu erheben, als gäbe es Alternativen, aber nur auf Zeit. Die aus der Vergangenheit einfließende Zeit trägt uns schon lange, ein stetiger Aufwind, von dem wir nicht wissen, wie lange er anhält. Manche glauben, wir lebten in der Vergangenheit, andere, die Vergangenheit lebe in uns, aber ich sage mir: sie ist nichts als ein warmer Wind und ich? Ein starrer Vogel.
Der empfindsame Holocaust-Leugner will nicht erlöst, er will
befreit werden. Er hat die Lageranlagen, angereichert mit den
verfügbaren Zahlen, Daten, Fakten, Bildern, Zeugenaussagen und
Legenden, in seinem Kopf säuberlich aufgebaut, sie bilden den
Parcours, den seine Wahrnehmungen und Empfindungen ein ums andere
Mal absolvieren, auf dem er die kleinste Veränderung mit
unerbittlicher Sorgfalt registriert, an dem sich sein Gefühle
abarbeiten, ein Gemisch aus Befangenheit, Zorn, Bedrückung und
peinlicher Bedrängnis, und er will, dass die alten Befreier noch
einmal kommen und ihn davon befreien. Dieser Befreiung versucht er
vorzuarbeiten, mit untauglichen Mitteln, aber doch auch wieder
tauglichen, soll heißen unwirksamen, weil es keine Befreiung gibt
und geben kann. Stattdessen verrennt er sich, wie es heißt, er wird
zur Gefahr für den öffentlichen Frieden, man versucht ihn zu
bändigen. Man müsste ihm die Scham nehmen, damit er sich schämen
kann.
Sobald eine Regierung, nach bewährtem Vorschlag, das Volk abgewählt hat und kein anderes zur Verfügung steht, breitet sich Volksverdrossenheit aus. Lange bleibt dieser Vorgang dem Volk verborgen, da es sich, kindgleich, stets im Mittelpunkt wähnt. Zu Recht! Das Universum, in dem die Menschheit eine biedere Randexistenz führt, kreist seit Jahrtausenden um das Volk und seine Bedürfnisse. Daran ändert sich nie etwas. Die Regierenden werden das Volk nicht los, das sie zwar nicht meinen, aber anführen... dürfen. Im Zustand der Volksverdrossenheit erwächst daraus der Wahn, sie seien seine wahren Vertreter. Wie jeder Wahn enthält auch dieser ein Quäntchen Wahrheit. Wer niemanden vertritt, der vertritt deshalb nicht nichts. Etwas bleibt, etwas bleibt haften, der Haftungsausschluss beweist seine Existenz. Das Etwas der Regierenden aber ist der Stein, an dem die Regierten sich blutige Füße holen. »Ruckediguh, Blut ist im Schuh«, singen die Apologeten des Übergangs, ein drolliges Liedchen aus den Zeiten des Widerstands. Doch was immer sie als Zukunft anbieten, es läuft dem Geschmack der Mehrheit zuwider. Das ist keine Frage des Systems, eher eine der Agenda. Wer keine Manieren hat, holt sich, was auf dem Tisch steht.
Volksverdrossenheit, eine wenig erforschte Gehirnkrankheit, infiziert die Organe der Macht mit dem Gefühl, sich frei den Herausforderungen der Gegenwart stellen zu müssen, ohne zu bedenken, welche Herausforderungen für die Zukunft sie damit den Regierten vors Haus legen. Gewinnt das Volk erst die Überzeugung, die da oben hätten sich vom Denken verabschiedet, stellt es sich auf den Kopf und denkt mit den Füßen, zu Demonstrationszwecken. Damit ruft es sich selbst auf den Plan, seinen ewigen Widersacher. Das verdrossene Volk: das sind alle, die sich nichts mehr zu sagen haben, es sei denn Beleidigungen. Nur in einem sind sie sich einig und darum gerade geht’s nicht.
Wahre Volksverdrossenheit geht, wie alles Große, vom Volke aus.
Während die Volkscharaktere verblassen, treten die sehr französischen, sehr italienischen, sehr deutschen etc. Züge an sehr bestimmten Repräsentanten sehr deutlich zutage. Woran das liegt? Vielleicht daran, dass Politiker, als Volksschauspieler, zu Exempeln indigener Kultur geworden sind, die man Fremden vorführt, um sich selbst daran zu ergötzen. Fehlen die Gäste, beginnt das Publikum zu gähnen und findet die Aufführung fad. Politiker mit eindeutigen Talenten stehen deshalb in einer Zerreißprobe: sie sind die Schurken im Stück und das düpierte Volk amüsiert sich über ihre Versuche, der strafenden Nemesis zu entwischen. Dabei steht letzterer der Sinn kaum nach Bestrafung, sie will bloß hinterdrein. Das ›gilt‹ als eine der bedenklichsten Entwicklungen der politiknahen Justiz – dieselbe Mediengeilheit treibt Staatsanwälte, Richter und Delinquenten vorwärts und einer zieht den anderen hinter sich her wie im Märchen von der goldenen Gans. Falls ›bedenklich‹ von ›bedenken‹ kommt, hätte man hier einen Fall, in dem das Bedenken jeden anderen Faktor überwiegt, ohne ein Jota an der Sache zu ändern oder auch nur ändern zu wollen, denn allein das öffentliche Bedenken zählt und kann sich, recht bedacht, gleich zu dem hinzuzählen, wogegen es sich richtet.
Ein kleiner Wechsel in der Betonung und schon wird die Sache
infantil. ›Das habe ich vollbracht‹ steht auf der Innenseite des
Buchs, dort, wo die Widmungen angebracht sind, es wird meist
überlesen und wirklich wäre es geeignet, Befremden hervorzurufen.
Aber bei wem? Bei Fremden? Oder bei solchen, die sich auskennen?
Man hat es vollgebracht, das Buch, von Deckel zu Deckel, von
Leseohr zu Leseohr. Ist man deshalb kein Schlitzohr? Was wäre man
denn? Ein Einheimischer? Auf diesem Terrain? Wieso ist man dann
draußen?
In Zeiten, als das Fürchten noch geholfen hat, gab es ein Mittel, ihm zu entkommen, und das hieß: Volldampf. Volle Kraft voraus ‒ das ist keine nautische Metapher, sondern eine Lebensregel, die vielen den Untergang und manchen ein überraschendes Einkommen sichert. Wer unter Dampf steht, der will etwas bewegen, zumindest sich selbst, und seine Umgebung ist gut beraten, ein paar Schritte zurückzutreten und ihn gewähren zu lassen. Schade um jeden, den es dann trifft, die Wucht des Aufpralls vergrößert sich mit dem gewährten Abstand. Durchbruch!
Man muss sich das Recht, das einer dem anderen voraus hat, als eine
Art Vorsatz oder Präambel denken, die bestimmt, wie und in welcher
Haltung er den Rechtsraum durchqueren darf, ohne angehalten und
kontrolliert zu werden, oder, falls es doch einmal geschehen
sollte, wie er aus der Sache herauskommt. Letzteres – wie einer aus
einer Sache herauskommt – entscheidet darüber, in welcher Sache er
unterwegs war, nicht etwa umgekehrt, wie unbedarfte Gemüter
voraussetzen, die selbst genügend Ansprüche erheben, um ihre
Unbedarftheit Lügen zu strafen. Das Vorrecht, so lässt sich
konstatieren, stellt sich her – unter allen Umständen, unter allen
Bedingungen, man braucht dafür nur ein paar Handvoll Staub,
sozusagen. Wer es sich nimmt, wer auf und davon ist, bevor die
anderen davon Wind bekommen, den treffen die Fäuste nicht mehr, die
sich hinter ihm ballen. Doch wissen alle, dass sie ihn bald am
Straßenrand wiedertreffen, mit Plattfuß und ohne Reserven. Daher
erregt er keinen wirklichen Hass. Es gibt Leute, denen das Vorrecht
nur insoweit zusagt, als sie es sich mit maximaler Kraft
erstreiten. In diesen Stieren erkennt sich die Intelligenzija
wieder. Sie schreit sie nieder, solange sie
leben, anschließend schreibt sie ihre Biographien. Das kommt
davon, dass sie gern in der Prominentenloge sitzt und mit den
Insignien der Macht spielt. Sie wiegt sie in der Hand und möchte
sie werfen – so weit, dass nur sie selbst in der Lage wäre, sie
wiederzufinden. Soviel Weite ist nie, daher findet sie sich beengt.
Die Nachrede, übel wie eh und je, schert sich nicht um die Vorrede, die ihr vorangeht, als ginge die Nachrede sie nicht an. Ein glänzendes Paar, gemeinsam dazu bestimmt, alle Widrigkeiten zu meistern. Doch was, wenn die Vorrede schon der Nachrede gleicht? Wenn alles gesagt ist, ehe der Kandidat seine Laufbahn beginnt? Dann befinden wir uns in der Politik, dem alten Märchenland, in dem der Zauber der Hexenmeister und Meisterhexen über die plumpen Ergüsse der Lehrlinge siegt. Ein Schriftsteller schreibt seine Vorreden selbst, teils, um diesem Effekt vorzubeugen, teils, um ihn anzuschieben: jedem Bug seine Welle, jedem Druck sein Karma. Darum ist jedes Wort, das er schreibt, Politik. Wer anschiebt, darf nicht warten, bis alles gesagt ist und jemand die Bücher schließt. Einmal geschlossen, kommt jede Vorrede zu spät. Übel ist, was übel begann oder übel endet, gleichgültig, was nicht übel anhebt und dann zu Tode gelobt wird.
Die Vorteilsmaschine rattert, das ist es, woran man sie erkennt. Muss man sie denn erkennen? Manche sagen ja, manche nein. Die meisten (wer ist das?) bedienen sie im Verborgenen, sie halten große Stücke auf sie, damit sie unkenntlich bleibt und nur denen Vorteile ausspuckt, die sich auf sie verstehen. Hätte jeder Zugang zu ihr, dann ginge es ihr wie Kafkas Bestrafungsmaschine, sie liefe heiß und zerstörte sich selbst. Wer sagt, der Zugang zu ihr sei frei, der lügt nicht, er sagt etwas zutiefst Wahres: Nur wer so frei ist, ihn zu suchen, der findet ihn auch, allen anderen bleibt er verschlossen. Die Freiheit, den eigenen Vorteil zu suchen, ist so allgemein, dass die meisten Leute sich unwillkürlich nach Haltegriffen umschauen, weil sie Angst haben, verschaukelt zu werden, und schon ist es um ihren Vorteil geschehen. Sie suchen den Vorteil darin, dass sie ihn aufgeben. Das Rattern der Vorteilsmaschine – sie hören es wohl – verstört sie, es beschlägt ihre Sinne, es lässt sie blind und taub werden und verwirrt ihre motorischen Impulse. Sie fühlen, es ist nicht recht – man hält diese Einstellung für moralisch, dabei stammt sie aus den Bereichen der physischen Selbstbehauptung und geht direkt in die Fäuste. Deshalb sind stets die Studenten unter den ersten, wenn es gegen die Leistungsgesellschaft geht. Sie wollen etwas leisten und verstehen nicht, dass es darum geht, Leistungen zu ergattern. Vielmehr: sie verstehen es schon, sie sind selbst die größten Leistungsempfänger, aber sie verstehen nicht, wie sie aus diesem System in das nächste gelangen sollen, in dem sie Plünderer und Geplünderte sein werden. Der Kampfmodus der Privilegierten gilt der Freiheit, die sie verabscheuen, sie nehmen sie sich, aber sie weicht vor ihnen zurück, nicht Stück für Stück, sondern als Zukunft. Im Rückblick ist sie dann da.
Die Leute schauen gern in fremde Kulturen hinein, solange sie sich nicht weiter mit ihnen befassen müssen: ein Eindruck hier, ein Eindruck dort, mehr wollen sie nicht, es wäre des Guten zuviel. Nicht allein, dass einzelne Blicke ihnen genügen, es befriedrigt sie, tief oder nicht, gesehen zu haben. Im Blick aufs Fremde wissen sie alle Bescheid, aus gutem Grund, denn wüsste man mehr, wäre die Fremdheit dahin. Sie soll aber bleiben, so wie man selbst bleibt, der man ist, in einer Welt, die so ist, wie sie ist, unter Menschen, die sind, wie sie sind. Zwar sollten sie anders sein, die Dinge laufen unerhört falsch, insofern besitzt alles Fremde den Reiz der Alternative, doch auch der soll vor allem: bleiben. Bliebe er nicht, so wäre die Welt zugestellt und lauter Mühsal. Sie soll aber Fenster besitzen und Ausblicke gestatten – nach schräg vorne unten ebenso wie ins Hohe und Weite. Wer zur Wahl geht, kennt die Versuchung, den Loyalitäten ein Schnippchen zu schlagen und krass zu wählen, soll heißen, zu tun, was sich eigentlich nicht gehört: das Fremdgehen gehört eben deshalb zur Alltagskultur, weil es in der Regel unterbleibt. Nein, sie streben nicht nach Alternativen, die Mehrheitskultur ist das ihnen zugefallene Los, sie murren, aber sie denken nicht daran, außer im Traum natürlich, es gegen ein anderes auszutauschen. Wenn es dennoch passiert, dann fast immer aus Naivität, aus falscher Sicherheit, die alle Sicherungen beiseitesetzt, weil die anderen doch auch Menschen sind, Menschen, die wundersamerweise über das verfügen, was einem selbst gerade abgeht. Aber das Andere ist nicht das Fremde und es verrät Geistesschlichtheit, ersteres mit den Attributen des letzteren auszustatten. – So steht es zwischen Menschen, denen es leidlich gut geht. Das Elend, das kein Halten mehr kennt und alle Barrieren niederreißt oder kunstvoll umgeht, weiß, dass mit dem Wunsch, einem schäbigen Los zu entrinnen, auch die Verblendung steigt. Man lebt in den fetten Ländern immer auch in der Fata Morgana der anderen: das kitzelt das Selbstgefühl... zum Guten wie zum Schlechten.
Im Yagir wird wieder gegen das Volk regiert. Wie das geht? Ganz einfach: die Gewählten entdecken die Gemeinsamkeit aller Demokraten und wählen das Volk ab. Wer weiter Ansichten vertritt, die von der Mehrheit des Volkes geteilt werden, ist Populist und scheidet aus der Gemeinsamkeit aus. Sofern die wahren Demokraten noch seiner Stimme bedürfen, überlassen sie es der Publizistik, ihn öffentlich zu züchtigen und damit für ihre Zwecke zu zügeln. So dient er noch eine Weile dem Wohl derer, die das Wohl aller gern als gemein titulieren. Das verdutzte Volk versteht nicht sofort und verlangt Mitsprache jetzt: ein ungeheuerlicher, kaum wiedergutzumachender Vorgang, der nach obrigkeitlichen Maßnahmen schreit. Die Partei der Gemeinsamkeit (PdG), deren Sektionen die hergebrachten Parteien bilden, regiert mittels Maßnahmen. Das erspart die Ausrufung des Notstandes und schont Ressourcen. Das abgewählte, seiner Stimme beraubte Volk wird abgehängt: Es ist von gestern. Die von morgen sind Heutige: Gegenwart ist Programm. Wie geht das zu? Von heute ist, was noch niemals realisiert wurde, Gegenwart die Formulierung eines Versprechens, abgegeben im Modus des Besserwissens und Über-den-Dingen-Stehens. Wer in den Dingen steht, ist Volk und muss gezüchtigt werden: mittels Bildern, Worten und Werken. Verbreite Bilder vom Volk, in denen es sich nicht wiedererkennt, und du erregst seinen Unwillen. Verbreite Reden vom Volk, in denen es sich nicht wiedererkennt, und du erregst seinen Hass. Stell’ das Volk ins Abseits und es stellt sich dir entgegen – nicht in toto, nicht als souveränverdächtige Mehrheit, nicht als alltagstaugliche Intelligenz, sondern in Grüppchen Unentwegter, die ihren Hass herausschreien und aus denen hin und wieder Gewalt züngelt. Diese Gewalt… Erklär’ sie zur Mitte, zum heimlichen Substrat des Volkswillens, und alle Gewalt geht, als Gewaltprävention, von hier aus. Das nennen manche: dem Volk den Krieg erklären. Der Erklärungsbedarf des gemeinen Volkes ist unstillbar. Es will ihn auch keiner stillen. Der erklärte Krieg ist der unerklärte – so ein Satz aus dem Neusprech klärt vieles, aber er bleibt undurchsichtig wie der Zweck mancher Maßnahme, die jetzt ergriffen wird, etwa zur Regelung des Sexualverkehrs an Stellen, die bisher ganz gut ohne staatliche Beteiligung auskamen. Die Regelungsbedarfe wuchern wie die Regierung mit ihren Aufgaben. Mancher Auswuchs wird seiner Schönheit inne: Diese Sonne, sie müsste immer scheinen. Nacht in den Köpfen, Sonne im Herzen – Yagir, das Land der Wählerlisten! Ein Besuch lohnt sich.
Die moderne Welt ist aus Reichen hervorgegangen und man sieht es ihr an. Deshalb bleibt der Gedanke an direkte Demokratie illusorisch, er ist, mit Hegel gesprochen, das Substanzlose, als Substanz gedacht, oder eine Schimäre, ein Wunschbild von Leuten, denen die Repräsentation nicht genügt, aus Gründen, die jeder versteht, vielleicht nicht immer, vielleicht nicht sofort, aber nach und nach, je länger er unter Repräsentanten gelebt hat. Das erste Ärgernis bietet der reale Repräsentant, das zweite das Repräsentationsverhältnis als solches, das dritte – oh, da kommen wir der Sache schon näher. Gesetzt, ich lasse mich repräsentieren: was kommt dann? Ein Loyalitätsverhältnis, das beidseitig bindet? Wie soll das gehen? Dieser Mensch repräsentiert mich, das heißt, meine Interessen –: repräsentiert er mein Urteil? Natürlich nicht, denn mein Urteil kann ich nicht abgeben, selbst wenn ich wollte, es sei denn, ich hätte keines. Wie kann ich seinem Urteil vertrauen? Kann ich seinem Urteil vertrauen? Wie weit kann ich seinem Urteil vertrauen? Er muss in seinem Urteil frei sein und ich muss es in meinem sein, andernfalls wäre es keines. Angenommen, mein Urteil steht dem seinen entgegen: muss ich mich seinem beugen? Kann ich mich ihm beugen? Sieh da: meines ist schon gebeugt. Durch was? Durch Repräsentanz. Dieser da entscheidet und ich schaue zu. So will es die Härte der Macht, an der ich in Ohnmacht partizipiere – falls das System es zulässt. Was mich mit ihm versöhnt, ist die Freiheit der Abwahl: diesen da kann ich abwählen, denn er repräsentiert mich nicht mehr. Nicht die Wahl, sondern die Abwahl – die immer mögliche Abwahl –, also die ungefilterte Gewissheit, dass mein Urteil weiterhin zählt, dass es weiter im Spiel bleibt, auch wenn ich als Person nicht daran teilnehme, lässt mich akzeptieren, dass ›dieser da‹ an meiner Stelle agiert, selbst wenn mir sein Treiben nicht passt, ohne dass ich mir einreden müsste, ich beugte den Nacken unter die Tyrannei der anderen. Wer glaubt, die Wahl konsumiere den Wählerwillen, hat Demokratie nicht begriffen oder er ist kein Demokrat.
Über den Wagenmacher haben viele gehöhnt. Sein Schurz aus braunem Leder ist und bleibt legendär. Doch wurde, was aus seiner Werkstatt kam, gern vernommen und viel gefahren. Man hört den Hornklang und hüpft auf den Bürgersteig. Welche Lust, sich geschlagen zu geben! Ehre, wem Ehre gebührt. Ein Meistersinger kommt selten allein. Wer weiß schon, wie Hörner in ihrer natürlichen Umwelt klingen? Diese hier haben die Natur nie erblickt. Die Wälder, von denen sie Nachricht geben, wurden vor langer Zeit abgeholzt. Eigentlich können sie keine Nachricht geben. Sie dienen dem Straßenverkehr, seit es sie gibt. Bei starkem Verkehr hört man sie häufiger, das versteht sich von selbst und charakterisiert ihr Auftreten mehr als anderes. Die Limousinen, für die sie Aufmerksamkeit heischen, erinnern in ihrem Dahingleiten an gravitätische Zeiten. Sie weisen vor, was sie haben – so betont, dass man während der Fahrt aufpassen muss, damit nicht Passanten sich ein Souvenir davon abbrechen. Schlimm wäre der Raub nicht. Angenommen, er diente der Stromlinie und damit dem Fortkommen, so wäre beiden Seiten gedient. Fortkommen wollen sie doch, die Fahrgäste. Man nimmt sie von außen nur undeutlich wahr, weil die getönten Scheiben das Milch der Gesichter in grünlichen Käse verwandeln. Über diese Verwandlung wären Bücher zu schreiben ... eine Phrase, denn nichts gibt es, worüber lieber Bücher geschrieben würden. Arme Bücher, sie schimmeln bei ihrer Entstehung und verlieren die Seiten, sooft man sie aufschlägt. Bald, wenn es keine Bücher mehr gibt, werden sie sagen: Wir waren die ersten.
Was den ›Fall Chirico‹ so unendlich lächerlich erscheinen lässt,
ist der Umstand, dass man offenbar den größten Teil seiner Werke
vor seinen Verehrern verbirgt, um nicht zu sagen versteckt – das
erinnert, wie vieles, an jenen Nachkriegs-Begriff von Aufklärung,
der aufs Wegschließen setzt, damit niemand auf dumme Gedanken
kommen möge. Diese Zeit geht erkennbar zu Ende und so zeigt man
heute den ›ganzen Chirico‹, als liege darin ein besonderes
Verdienst und ein gewaltiges Wagnis. Dem mag so sein, doch das
Ganze ist nicht das Ganze und und das Wagnis hält sich in engen
Grenzen. Man zeigt und versteckt durch die Art des Zeigens, man
wählt willkürlich falsche Proportionen, um kein Ärgernis zu geben,
und gibt es auf diese Weise. Was ist so gefährlich an dieser Kunst,
deren Entstehungsbedingungen ebenso vergangen sind wie die Dogmen
einer zu eng gesteckten Moderne, gegen die sie einst antrat?
Angenommen, sie stiftet die Sinne an – zu was? Um das zu klären,
müsste man sie schon zu ihrem Recht kommen lassen. Angenommen,
diese Kunst wäre nur ›fatal‹ – hätte dann nicht die Allgemeinheit
ein Recht darauf, alles zu sehen, um ihre Schlüsse zu
ziehen? Aber vielleicht sind es längst die falschen Freunde, die
dieses Spiel spielen und nicht aus den alten Gegnerschaften
herausfinden, in die sie vor Zeiten hineingerieten.
Was immer dieser Mensch gewählt hat, es ist etwas in der Art eines
Schicksals und verdient Respekt. Er hätte sich auch anders
entscheiden können, das ist wahr, aber es ist auch trivial. Es gilt
so gut wie immer und nie. Diese Formel ist weniger salvatorisch als
aufmüpfig – der ewige Hohn über den, der sich falsch entschied,
obwohl er es hätte wissen müssen, findet im Leben der Einzelnen
kaum einen Widerhall, er ist, im klugen wie im zynischen Sinn,
Literatur. ›Eine verhängnisvolle Entscheidung‹ ist der Titel eines
Reißers, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Historiker lieben
ihn, sie sind geradezu vernarrt in ihn, er spiegelt ihnen die
Struktur ihres Gebiets wieder und sie hätten ihn gern erfunden.
Stattdessen können sie nicht aufhören, die Kuh an dieser Stelle zu
melken. Ob’s der Wahrheitsfindung dient? Wer mag das entscheiden.
Man müsste die Folgen kennen. Aber das hieße, sich zu exponieren,
da zuckt man besser die Achseln. Der Einzelne übrigens auch, er
versucht, die Spur der Entscheidung, die sein Leben ruiniert hat, in der vielfädigen
Vergangenheit zu entdecken, er findet dabei so manches, aber die
Spur bleibt ihm verdeckt. Dennoch weiß er, er hat sich entschieden, am Ende des
Grübelns ist ihm sein Leben so wert wie ein anderes. Überhaupt ist
der Formel, der Wert eines Lebens entscheide sich an dieser oder
jener Stelle, mit äußerstem Misstrauen zu begegnen, sie ist nichts
wert.
Was die Wahl der Mittel angeht, so sind wir nicht zimperlich, wir
nehmen, sozusagen, was wir haben. Wer ein Mittel ausspart, kann
sicher sein, dass der andere, der es einsetzen wird, schon
unterwegs ist. Das zu ergründen braucht Zeit, die man im Ernstfall
nicht hat oder nicht zu haben glaubt. Das Ergebnis ist, dass sich
die ursprüngliche Sicherheit in Unsicherheit verkehrt und den
heroischen oder auch nur anständigen Entschluss von innen
vergiftet. Man hat es bei der Embryonenforschung gesehen und wird
es immer wieder sehen können. Es ist der Lauf der Welt.
Die Aufgabe ist, nächst dem Überleben, zu rekapitulieren, was ein Mensch ist, danach, herauszufinden, wieviel Mensch in einem selbst steckt und heraus will, danach, wieviel Menschliches sich in den Formen verbirgt, die einen lenken, leiten, stützen, behindern, verwirren und irgendwann sterbenslangweilig werden, danach, wieviel Form man sich selbst, seinen Verhältnissen und den Dingen zu geben im Stande ist, danach, wieviel davon sich vergessen lässt, und schließlich, wie der unvermeidliche Rückzug aussehen könnte, schließlich der Rückzug selbst. In alledem gibt es keine Regel, keinen notwendigen Verlauf, keine Vernunft und keine Natur, jedenfalls nicht im Sinne eines Du hast keine Wahl. Nicht, dass es die Wahl gäbe, dass sie möglich wäre, sie ist nur unumgänglich und das, was dauernd geschieht. Solange du wählst, bleibt die Aufgabe; wer sich aufgibt, dem schwindet die Aufgabe und von Wahl bleibt keine Spur.
Sie nennen sie Penthesilea und sie spielt den Wahnsinn, den sie
ergreift wie ein Handtuch, um ihre Stirn zu kühlen, man hört Wasser
rieseln und weiß, dass es nicht genügt, ihr zuzuhören, weil sie die
ihr aufgetragenen Verse zwar auszusprechen, aber nicht zu sprechen
vermag. Was sie dick aufträgt, das muss wohl der letzte Schrei
sein, es schwankt gewaltig zwischen Auf-Auf! und Unterwerfung, unter
welches Gesetz auch immer, der ewige Lover, den Blumenstrauß unterm
Arm, als müsse er sich dort kitzeln, ist diesmal nicht gemeint,
diesmal nicht. Wie gut ist es, nicht gemeint zu sein, sollte sich
das, was sich hier ausstellt, in der Regel bewahrheiten. Doch damit
ist nicht zu rechnen, diesmal nicht und überhaupt nicht.
Die Deutschen haben seit den sechziger Jahren des letzten –
welchen? – Jahrhunderts in unterschiedlichen Wahnwelten existiert:
im Osten unter der verordneten Vorstellung, ›im Sozialismus‹ zu
leben, im Westen unter der, einer Revolution beizuwohnen bzw.
beigewohnt und zugleich faschistische, kommunistische usw. Angriffe
auf die freiheitlich-demokratische Ordnung erfolgreich abgewehrt zu
haben, natürlich auf dem Gebiet der Kultur, in vollkommener
Sekurität, innerhalb einer durch fremde Truppen garantierten, aber
durch und durch souverän gelebten Ordnung, und darüber hinaus auf
dem Weg des allmählichen Rechts- und Institutionenumbaus andere zu
werden, wirklich und wahrhaft andere Menschen, mit einer reiferen
Sexualität, einem reiferen Rechts- und Sozialempfinden, einer
reiferen Welt-Wahrnehmung, einem reiferen Wissen in religiösen und
sonstigen Weltanschauungsfragen: eine Hochmutsstory ohnegleichen,
angesichts derer man gar nicht fragen sollte, wie viel davon sie
mit anderen Bewohnern des Planeten teilen und was als weiterer
deutscher Sonderweg im Bewusstsein zu deklarieren ist. Vielleicht
ist gerade das ja auch die unwichtigste aller Fragen. Wichtig
scheint, nachdem sie wieder zusammengekommen sind, allein das
Gefühl der Stellvertretung, die nicht zu bremsende Überzeugung, als
Menschheitswesen eine Evolution durchlaufen zu haben, unumkehrbar,
und reif geworden zu sein. Sonderbare Phrase: reif wofür?
Wollen sie denn gepflückt werden? Und wem, um Himmels willen,
sollen sie schmecken? Schmecken sie sich denn selbst? Schmecken sie
überhaupt? Haben sie Geschmack? Wer soll sie am Ende verdauen?
Dieses Ende, von dem manche glauben, dass es nahe ist, andere
wiederum, dass es da, aber in einen Dauerzustand übergegangen ist,
andere wiederum, dass es eine Schimäre darstellt, weil die
Wirklichkeit aus Exportüberschüssen, Weinerlichkeitskultur und
›Kult‹ immer so weiterläuft und sich nie mehr wird abstellen
lassen, außer man selbst ist tot und die Sache lohnt sich nicht
mehr, während wieder andere ihre ganz persönliche Vision davon
leben, also ein Ende sind, weil sie es sein wollen, scheint
unverdaulich. Aber was heißt das schon. Schwindet der historische
Sinn, so schwindet auch das Organ der Verdauung und immer andere
Hominiden bevölkern eine immer andere Erde oder den ihnen
vorbehaltenen Teil davon. Ein Preis des Immer-anders-Seins besteht
darin, dass immer Andere kommen, die sich die Welt der noch
Lebenden ebensowenig vorstellen können wie die der Toten, es sei
denn als Wahn. Als gute Deutsche wissen sie natürlich, was sie von
all dem zu halten haben: Die Welt ist reif für den Wandel.
Wahnwelten sind umso dichter, je mehr sie einander ähneln.
Die Anwürfe haben die Qualität von Zeugnissen, wie sie für Hexenprozesse dokumentiert sind, der Delinquent erscheint gefesselt und wird in seine Zelle zurückgeführt, nachdem man ihm ein wenig Luft abgenommen und durch die obligaten Körperspalten gejagt hat, um eine Aussage zu erhalten. Das Verbrechen? Nein, es ist kein Jux. Es ist die Majestät des Geschlechts, die durch ihn beleidigt wurde – durch ihn, von ihm, in ihm, vor allem letzteres, denn letztlich ist jeder Sex Einstellungssache, wer gut eingestellt ist, dem dient er zu einem gesunden Fortkommen. Daran hapert es hier, jedenfalls haben die Organe es für diesmal erfolgreich verhindert. Die guten Organe, wie immer diesseits und jenseits des Körperteils tätig, durch den alles hindurch muss: das Denken, das Fühlen, das Wollen und das Verderben. Was nicht unter die Haut geht, geht nirgendwo hin. Ein dickes Fell weiß mehr davon, als es zugibt. Es könnte abgeben, aber es soll zugeben und da wird es heikel. Lieber intoniert es das alte Lied: »Ich habe gelebt, also lebe ich«, als sprudelte in ihm die Quelle der Marseillaise, die von dergleichen nichts weiß, es sei denn im Spaß. Doch hiermit ist nicht zu spaßen. Dem Minutensex folgt die U-Haft, in der sich die Karriere zur Parabel verbiegt: Stoff für Blatt- und Filmemacher, also Leute, denen nichts einfällt, es sei denn, es fällt ihnen vor die Füße. Die sexuelle Revolution frisst ihre Matadore und schaut sich dabei genüsslich zu. Sie trägt das etwas starre Antlitz des Alters, das viele ungemein lebendig finden, weil sie die Runzeln, eine um die andere, für Facetten halten, es sind aber nur Teile, die sich verselbständigt haben und bald abfallen werden, denn die Liebe ist rein wie am ersten Tag.
Nein, wir sind nicht die Kommentatoren der Kommentatoren – das ist lustig (selten), das ist wichtig (manchmal), aber es kann doch nicht der Kern der Anstrengungen sein, des ganzen gestemmten Lebens, das nun wirklich nicht. Was aber ist der Kern? Ein Apfeltörtchen? Der Wahrheitssinn, stark und verwirrbar wie der Gleichgewichtssinn, trägt dich durch die Zumutungen der Alltagswelt, nicht über sie hinweg. Kein Wunder also, wenn du sie stark empfindest. Das macht dich noch längst nicht zum Sensor oder zur Wünschelrute, die man zur Seite legt, wenn sie nicht mehr ausschlägt. Zu was dann? Der du die Lügenhaftigkeit des Meinungsgewerbes so stark empfindest – immer wieder versagt deine Rede an dieser Stelle, verirrt sich in fremden Skalen, warum? Wer auf dem Meer lebt, lebt auch den Wellenschlag des Meeres, das ist ganz unausweichlich, es wäre sinnlos, darüber zu sinnieren, wie es auch anders sein könnte. Nur der Mut und die Findigkeit, die beständige Abwehr, der Wille, sich nicht zu beugen, geschweige denn, sich fortschwemmen zu lassen wie einen Rest, ein Stück Abfall, eine Beute des Elements, unterscheiden ihn sichtbar von den Ausgeburten des Meeres, die ihn nächtens bedrängen und von deren Kadavern er sich tagsüber ernährt. Im Grunde weiß er wenig über sie.
Das System lässt seine Renegaten nicht verkommen. Jene Mauer des Schweigens, die wegdrückt, wer, aus welchen Gründen auch immer, nicht dazugehört, scheint wie geschaffen, um von ihnen mit Wandmalereien bedeckt zu werden, die jeder Interessierte zur Kenntnis nimmt, auch wenn dazu nicht gesprochen wird. Die Frage, wer in den Genuss solcher Privilegien kommt, ist leicht beantwortet: er muss die Vorhölle des westlichen Neomarxismus durchquert und sich dort seine Meriten erworben haben. Das wird lebhaft bestritten, wie alles, was schwer zu leugnen ist. Und wirklich geht es, biologisch bedingt, damit zu Ende. Ein kleines Schluss-Feuerwerk aus Erinnerungsbildern, eine kleine Verpuffung fürs Demo-Museum, eine kleine Reprise aus diesem und jenem und der lauernde Altersblick, wer von den Jungen sich die Ansteckung holt: so muss es wohl zugehen, wenn ein Gesinnungs-Wir abtritt, dem der Sinn früh abhanden kam, so dass durchkam, was sich bis heute nur schwer erschließt: Geungs. Ein langer Lern-Prozess ging zu Ende, das Gelernte plädiert auf Freispuch und die Graffiti-Wand blüht.
Die Leute schätzen den Wandel, die im raschen Wechsel zu füllenden
Schaufenster, den Norm- und Wertewandel ungemein, ganze Industrien
beschäftigen sich damit, diesen Bedarf zu proklamieren und zu
stillen. Es ist wie eine Sucht, aber vielleicht kann man das ›wie‹
streichen und den Grundcharakter der Sucht an diesem positiv
konnotierten Spiel der Gesellschaft neu zu buchstabieren versuchen.
Die Sucht füllt ihre Regale mit Markenartikeln, sie hat keine
anderen und bedarf keiner anderen. Es ist nicht die Gesellschaft,
sagt man, es ist die Ökonomie, aber ebensogut kann man wiederholen:
die Sucht ist die Sucht. Die Sucht nach Neuem macht da keine
Ausnahme. Das Neue ist neu, weil es ein Verfallsdatum trägt, es ist
das künftige Alte, man muss sich rasch daran halten, bevor kein
Halten mehr ist, jedenfalls nicht in Bezug auf diese Sache. Das
›Ergreifen des Neuen‹, auf Dauer gestellt, ist Wiederholung,
jedenfalls stehen die Zeichen nicht schlecht, es so zu sehen –
mythische Wiederholung auf der Schwundstufe des Rituals. Die
rituelle Verabschiedung des Alten hat viel gemein mit der
Gott-ist-tot-Religion, nachdem sie ihres Sensationscharakter
verlustig gegangen ist und Alltagsblässe ihr flach gewordenes Gesicht überzieht. Nicht die christliche ›Wandlung‹
steckt in der Religion des Wandels, sondern der aggressive Verzicht
darauf. Man will den Wandel als ›innerliches Erleben‹ nicht
zulassen und liefert sich ihm an allen Ecken und Enden aus. Natürlich macht man sich damit
abhängig – zunächst von einer dinghaften Psyche, was nichts
Neues wäre, vor allem aber von Hinz und Kunz, die sich in
Heerscharen von Designern und Popgrößen, von Politikern und
Umbauspezialisten materialisieren. Die ohnmächtige Wut darüber, von
immer gleich belanglosen Gestalten ›wertemäßig‹ drapiert und
herumgeschubst, ›gefördert‹ und drangsaliert zu werden und alle
Kräfte angespannt auf den Punkt des Mithaltens konzentrieren zu
müssen, stabilisiert den ›Prozess‹ an der Subjektfront, wo
Profilmangel herrscht und nur das Hilfspersonal ganze Arbeit leistet. Die Austeilung
der Hostie erfolgt wie eh und je. Sie wird ergänzt um die Ermahnung, schnell
zuzugreifen, weil sie sonst bereits im Mund verfällt oder
in der Luft verschwindet, bevor man sich ihrer bemächtigt. Aber da
ist keine Hostie und das Wandlungsversprechen, das so tief in die
Menschen eindringt, bleibt leer. Wer sein tägliches ›Der Wert ist
tot, es lebe der Wert‹ zelebriert, bewegt sich ebensosehr in wie
außerhalb der Religion, er bewegt sich innerhalb ihrer Strukturen,
um zu verweigern, und er bewegt sich außerhalb, um zuzulassen,
sowie am Gängelband einer irren Hoffnung, Gewinne einzustreichen,
von denen die Nur-Religiösen, wie er glaubt, nur träumen können.
Dieser Traum, dem religiösen Träumer überlegen zu sein, speist sich
aus fehlgeschlagenen Kommunionen und korrespondierenden
Entschlüssen, sich das einmal Versprochene, koste es was es wolle,
auf anderen Wegen zu ertrotzen. Die politischen Religionen, deren
Grundsätze rascher altern als das Personal, das sie unters Volk
streut, bringen immer neue Jahrgänge brettharter und tief gestörter
›Realisten‹ hervor, deren Wille darin besteht, sich in die Zukunft
zu spritzen und die leeren Kammern des Erhofften mit Egomasse zu
füllen.
Kräht der Hahn auf dem Mist, ändert sich das Wetter oder es bleibt, wie es ist. Dieser
Volksweisheit fügt die Klimawissenschaft eine zweite hinzu: Stirbt
das Klima, so stirbt der Mensch. Das Klimasterben begann, wie der
im Aussterben begriffene Mensch weiß, als er begann, in großem
Maßstab CO2 in die Atmosphäre zu pusten. Das eine
beginnt mit dem anderen, das Sterben mit der Geburt, das Weltklima
damit, dass es den Untergang in sich trägt. Kein Weltklima ohne
Rechnerleistung, kein Mehr an Rechnerleistung ohne Perfektionierung
des Untergangsmodells, das der industrielle Mensch in sich trägt,
seit er einatmet, was er ausstößt, also seit es ihn gibt. Das ist
Ehrensache, was sonst? Woran sterben, wenn nicht am Weltklima? Alles
andere wäre degoutant. Nun, der Mensch will nicht sterben,
jedenfalls nicht in den ihm zugewiesenen Zeiträumen, und gingen sie
in die Tausende, er will leben und ist bereit, dafür – fast –
jeden Preis zu entrichten: auf dieses ›fast‹ kommen wir zurück.
Da auch Wissenschaft sterblich ist, jedenfalls in ihren menschlichen
Exponaten, wirft sie ihm einen Knochen hin, das Zwei-Grad-Ziel: zwei
Grad mehr und dann muss Schluss sein. Wenn sie nichts weiß, das weiß
sie – ein Ziel motiviert die Leute, und zwei Grad, das erscheint
machbar. Kein Ende ohne Hoffnungsfünkchen, das ist das Modell, nach
dem Pfaffen jahrtausendelang verfuhren – haben sie vergessen, es
sich patentieren zu lassen oder ist das, was wir heute erleben,
Ideenraub? Nackter Ideenraub? Gesetzt, letzteres träfe zu:
Warum gehen sie mit den Räubern? Haben sie sich getäuscht? Wann
haben sie sich getäuscht? Oder täuschen sie sich – horribile
dictu – jetzt?
Einen dritten Weg gibt es nicht. Was die Leute als dritten Weg bezeichnen, ist pure Saumseligkeit. Ist der Kuchen erst einmal aufgeteilt, machen ein paar Gutmeinende sich auf den Weg, ihren Teil zu erbeuten. Das gibt Streit, ohne Zweifel, Streit würzt das Geschäft. Worin besteht das Geschäft? Nun... im Geschäft. Das Geschäft der Gutmeinenden ist das Geschäft, nicht das Geschäft an sich, das wäre zu billig, sondern das Geschäft der Billigkeit, der Billigung, wenn Sie verstehen. Was diese Leute sehen, das können sie nicht billigen, und was sie billigen, das sehen sie, aber nicht jetzt, sondern in der Zukunft. Billig zum Beispiel, sagen sie, wäre der Zugang für alle. Dafür kämpfen sie, zu Recht, zu Recht, nur denen, die den Zugang blockieren, erscheint es wie Unrecht, schließlich sind sie schon da und haben, wie es ihnen dünkt, dafür bezahlt. Womit? Mit Blut und Eisen? Mit Mann und Maus? Irgendwie schon, doch das ist lange her. Und, Hand aufs Herz: es ist auch romantisch. Heute legen sie Geld auf den Tisch, jede Summe, denn sie haben es ja. Und, wie gesagt, es gehört ihnen doch. Der Tisch, auf den es nicht passt, muss erst erfunden werden. Mancher muss erst zerschlagen werden, damit er passt, aber das schadet nichts.
Der dritte Weg, erzählen seine Liebhaber, ist der rechte. Das freut die Wegelagerer, da wissen sie schon, wo sie lauern. Man muss früh auf den Beinen sein, um ein Ziel zu erreichen. Es ist nie zu spät, sich daran zu erinnern, denn: das Ziel ist der Weg.
Jeder kennt einen in seiner Umgebung oder im Kreis der Familie, und wenn er keine Familie haben sollte, so genügt der Griff an die eigene Nasenspitze – der einzelne Wegdöser ist gleichsam nur die Spitze des Eisbergs, ein an die Allgegenwart eines Phänomens erinnerndes Merkzeichen, das dafür sorgt, dass die wichtigsten Informationen nicht dorthin gelangen, wo sie gebraucht würden, i.e. ins wache Gehirn, sondern ins Leere fallen, wo immer Platz für ihresgleichen vorhanden ist. Wir alle sind Wegdöser von Natur. Die Natur spricht ihr Wort, das da lautet satis est (denn sie spricht seit altersher Latein), und schon sinkt es dahin, das gedanken- und erregungsschwere Haupt. Satis est ist die Parole der allzu Angestrengten, der allzu Aufgebrachten, der allzu Bedrängten – sie lässt jede Propaganda blass aussehen und ging der Faden erst einmal verloren, dann kehrt er nie wieder als derselbe in die Aufmerksamkeit zurück. Ein leises Gähnen ist ihm jetzt und auf immerdar beigemischt, ein ›Schon gut!‹ und ›Wo waren wir stehengeblieben?‹ Und eine Stimme ohne Sprecher wiederholt immerfort ›Kann nicht jemand endlich die Platte abstellen?‹ Diese Stimme ist der Begleiter aller Politik, die noch viel mit den Menschen vorhat. Der Mensch soll den Menschen nehmen, wie er ist.
Giftig, so richtig giftig, mein lieber Wegdrücker, wo wollen Sie
hin? Oder, worauf? Worauf wollen Sie hinaus? Doch nicht auf die
alte Schote, dass heute Ihr Tag sei, just Ihrer, und niemandes
sonst? Der Tag, an dem Sie sich Ihren Teil abholen, vorn, wo neben
den Spülresten auch die Platten mit den zerbröselten Kuchen stehen,
an denen sich jeder selbst bedienen kann, bis alles abgeräumt ist?
Nein, das ist nicht Ihr Ernst, das können Sie nicht meinen. Gut,
das beruhigt mich sehr, das ist also nicht der Fall. Was sonst?
Alles, was der Fall ist, aber für einen müssen Sie sich
entscheiden. Nein? Sie zögern? Nicht im Ernst, nicht im Ernst. Was
soll das Zögern? Mein lieber Wegdrücker, wenn ich das so sagen
darf, bleiben Sie auf dem Teppich, gehen Sie sanft mit den Leuten
um, lassen Sie die Finger von den gewagteren Spekulationen, nicht
Ihre Einkünfte stehen auf dem Spiel, sondern Ihre innersten
Überzeugungen, dafür wirft man den Rest gern in die Tonne. Dieses
Sich-Andienen, das ist die Wucht. Schöpferische Zerstörung? Ach gehen Sie, das
Rad, das Sie drehen, hat eine Speiche zuviel vielleicht, daran wird
man Sie zu Tode schleifen.
Wegggeräumt wird man auf zweierlei Wegen: einmal durch den Verlust des Ansehens, das man sich lange zu geben wusste, ferner durch einen einfachen, von niemandem zu verantwortenden Wechsel der Wahrnehmung, der von heute auf morgen eintreten kann. Ein Wort, das gerade noch galt, gilt dann als überflüssig, im harmloseren Fall als gestrig, im schlimmeren als zeitlos und also hier und heute unangebracht. Das ist eines der selten gewürdigten Wunder der Sprache: ein Wort bleibt unangebracht, sooft es einer auch anbringt. Aber niemand will als fauler Hund vom Acker gejagt werden. Stolz will er, aufgerichtet und erhobenen Hauptes den Ort verlassen, an dem er sich lange herumgedrückt hat, denn nicht immer war er so gern gesehen wie gerade jetzt, da er geht. Das Gefühl, weiß er, geht mit. Es muss also das richtige sein, nicht eine zwittrige Nummer, von der nur die falsche Hälfte bleibt. Die falsche Hälfte – aber das ist ja er selbst, der da geht, die richtige bleibt, weil sie schon gegangen ist. Da soll einer sich auskennen, denkt er und kratzt sich dort, wo er den Sitz der Gedanken vermutet. Dieser Weg steckt voller Hindernisse, die einmal beiseite geräumt werden möchten.
Da liegen sie, die Gedanken. Einzelne, abgezählte, knollenartige, überaus artige, aus der Art gefallene und ganz und gar dem Zufall entfallene. Da liegen sie und irgendeine Art von verborgenem Zusammenhang waltet zwischen ihnen, man könnte auch sagen, er streckt seine Fühler hierhin und dorthin, aber er kann sich nicht entscheiden, wohin er sich wenden soll. Die Szene mutet überaus friedfertig an, gut könnte man sie sich auf einer Leinwand vorstellen, das spart die dritte Dimension und nimmt das Bedrohliche fort. Vielleicht auch nicht, was sich so bündeln lässt, ist zu allem Möglichen fähig.
Wer die Weichen stellen will, muss die Harten mobilisieren. Nicht
für seine Sache, bewahre, das ginge nur mit Überhärte, wohl aber zu
seinen Gunsten. Immer bereit, in die nächste Falle zu gehen,
leisten sie jedem Schadensruf Folge. Nicht sie sind das Problem.
Wer die Weichen stellen will, kann nur indirekt vorgehen. Er muss
kommen lasssen. Das kann durch verdeckte Operationen geschehen, die
im Einzelfall nützlich sind, aber im Ganzen viel Schaden anrichten.
Besser ist es, sich unlauterer Mittel zu bedienen, aber offen. Das
klingt schwieriger als es ist, es ist, jedenfalls von Zeit zu Zeit,
das Gegebene, das den Beschenkten links und rechts aus den Ärmeln
fällt. Wenn sie sich erst bücken, ist der Zeitpunkt nah. Wehe dem,
der glaubt, er könne sich seiner bemächtigen! Ein guter
Weichensteller weiß, dass die Weichen ihre Zeit haben und es fällt
ihm nicht ein, sie ihnen zu kürzen. Eher drängt er sie, sich alle
Zeit zu nehmen, die sie zu brauchen glauben. Er kennt ihre innere
Maßlosigkeit. ›Greift zu‹, scheint er zu sagen, ›greift nur zu.
Erst wenn ihr fest ineinander greift, ist meine Stunde gekommen.
Was sage ich Stunde? Sagte ich Stunde? Sagte ich wirklich Stunde?
Nun, für den Augenblick mag das hingehen. Ich meinte anderes, aber
niemand hört mir zu.‹
Es kommt darauf an, das, worunter man ein Leben lang litt, in einen anderen Aggregatzustand zu überführen. Über das Zermahlen des Lebensstoffs mittels Gedanken und Bildern ist viel geschrieben worden, dabei bleibt es dem Einzelnen überlassen, wie er das gewonnene Pulver weiter verwendet. Die Weiterverwendung ist aber das A und O der ganzen Angelegenheit, ohne sie ist der ganze Vorgang nichts weiter als Beschäftigungstherapie. Leiden bekämpft man durch Ablenkung, das erfährt jedes Kind, sobald es erst einmal auf der Welt ist. Etwas Mütterliches ist der Kunst beigegeben, mehr als der Literatur, obwohl auch sie starke Anteile enthält. Kunst ist Ablenkung, so lautet die resignative Formel, aber Leben ist auch Ablenkung, der gerade Weg ist der Tod, besonders sichtbar in revolutionären Prozessen, z.B. der Energiewende: so ein Manöver benötigt nicht allein Zeit und Geld, sondern den Willen der Beteiligten, an jedem erreichten Punkt in alle möglichen Richtungen auszuschwärmen. Der Ruf ›Zur Sache!‹ gleicht dem Ruf des Predigers in der Wüste, er erschallt immer vergebens, aber deswegen nicht erfolglos. Nicht die Vergeblichkeit, sondern der Mangel an ihr ist das Geheimnis des Lebens. Die Menschen hungern und dürsten nach Vergeblichkeit, aber sie ist ihnen nicht geben. Das nach ihr benannte Gefühl streift sie kaum, es ist dem Hunger und Durst zu sehr verwandt, als dass es ernsthaft den Kontakt herstellen könnte. Selbst wenn sie allem zugrunde läge, hieße das nicht, dass es einem gelänge, sie hervorzuziehen, denn alles liegt ihr auf. Allein das macht den Selbstmord zu einem melancholischen Geschäft, man bekommt den Verdacht der Übereilung nicht aus ihm heraus.
Weltarsch, cul’ universale, nennt man
auf Sizilien eine kleine Frucht, rund, mit einen feinen
Strich über die halbe Rundung, eigentlich einer feinen Kerbung –
man braucht sich nicht auszumalen, was passiert, wenn ein solches
Naturding in die Hände von Jungmenschen gerät, verbal, wie denn
sonst, sie treiben ihren Scherz, sie treiben auch anderes, Ziegen zum
Beispiel, im Grunde trotten sie den ganzen lieben Tag hinter ein paar
Ärschen her und machen sich so ihre Gedanken. Auf welche Gedanken
verfällt man da? Das ist doch ganz natürlich, das kommt gleich
hinterm Aufstehen und dämmert weiter, wenn man schon liegt. Das
Gewicht, das volle, das intellektuelle Gewicht liegt auf dem Wörtchen
›Welt‹. Es bedeutet zunächst eine Entschärfung, ein
Zurücktreten vor der Fülle des Daseins, sodann den Willen, sie
zusammenzufassen, sich ihrer auf irgendeine Weise zu bemächtigen –
gewiss, es steckt ein Stück Selbstermächtigung in dem Wort ›Welt‹,
das gesehen sein will, vielleicht auch nicht, man kann sich da
täuschen. Nun ist das Universum vielleicht nicht die Welt, nicht
ganz, nicht in jener Brillanz und Schärfe, die den geborenen
Übersetzer befriedigt. Einen schmalen Ersatz bietet im Deutschen die
Vokabel ›Weltall‹, ein Kunstwort, an dem das All der Astronomen
sich vom All der Garagenbesitzer scheidet. Besitzen Sie eine Garage?
Nein? Ich beneide Sie. Eine Garage, in der kein Auto steht, füllt
sich im Handumdrehen mit Müll. Sie füllt sich unvermeidlich
mit Müll, kein guter Vorsatz kann das verhindern. Das All der
Garagenbesitzer besteht aus Müll und täglich kommt
neuer hinzu. Man sollte meinen, es sei längst voll und lasse keinen
mehr herein – voll ist es und es lässt jeden herein, das
ist das Feine daran, wie gesagt: unvermeidlich. Was unterscheidet die
Welt vom All? Frei wie der junge Morgen erhebt sie sich aus all dem
Müll, frisch wie die Wäsche, nachdem man sie aufgehängt hat,
geordnet wie die Felder eines Schachbretts, eins vor, eins zurück,
links, rechts, das kennt man ja. Man kennt die Welt, vor allem, wenn
man den lieben langen Tag hinter ein paar Ärschen hertrabt und
nichts gewinnt außer dem Vorteil, dabei zu ein. Dann kennt man
sie sozusagen in- und auswendig. Die Welt, als Universum betrachtet,
kehrt dem Betrachter die Rückseite zu, manche nennen sie Kehrseite,
aber gekehrt wird in diesem Fall nicht. Als Universum betrachtet, ist
die Welt dicht. Mancher ahnt, wie er hineinkommen könnte, aber er
verzichtet gern, es sei denn… Der feine Strich macht den
Unterschied.
Eine Weltkultur – wer
gäbe sich damit zufrieden? Drei, sechs, viele Weltkulturen müssten
es schon sein, damit der Planet sich erhöbe, bis zu den Wolken,
gewiss, aber auch darüber hinaus. Dafür sind schließlich Kulturen
da, das müssen sie leisten, falls nicht, erhebt sich die Frage, was
sie überhaupt leisten und wozu sie da sind außer zum Geldausgeben,
weil es so schön ist. ›One world, one culture‹ – das ist die
Sprache eines Denkens, dem die Welt das prächtige Konstrukt des
Andersdenkenden verdankt. Die Aufforderung, anders zu denken, also
nicht recte, sondern
verso, hebt den Terror der
einen Welt ins Licht und beantwortet ihn mit Gegenterror. Das geht
den Leuten nicht ein. »Warum?« fragen sie, »was ist falsch daran,
anders zu denken?« Sie glauben, das richtige Denken sei zwar das
richtige, aber ›irgendwie‹ nicht richtig: das richtige Denken sei
das, was alle denken, richtig hingegen sei es, andersherum, das
heißt von hinten zu denken. Man könnte es auch als Denken ›mit
links‹ bezeichnen, doch das rührt bereits ein Mehrheitsempfinden
auf, das besser ruhte. Aber was denken denn alle? Oder, pardon: Wie
wenig muss man denken, um wie alle zu denken? Und wie wenig darf
man daran verändern, um als Andersdenkender durchzugehen? Denn
darum geht es doch: Was alle denken, macht den Denkenden
unsichtbar. Als Andersdenkender stellt er sich frei. Aber da alle
so denken, ist mehr als das Blitzen der Woge, die einen aus einer
Unsichtbarkeit in die andere schleudert, nicht zu haben. Da tut es
gut zu wissen, dass diese Weltkultur nur ein Phantom ist, erfunden
für Leute, die ›Welt‹ sein müssen, um überhaupt da zu sein.
Aus den bizarren Neologismen der letzten Jahrzehnte sticht einer
hervor, dem man gern die Palme verleihen möchte: ›virtuelle
Welten‹. Ein Ausdruck, der kühl den Singular ausschlägt, um sich
ganz ins Plurale zu versenken, diese Einheit, die keineswegs
vorhat, eine zu sein oder zu werden, sondern sich dem widmet, was
man kennt, um es durch Zahl zu schlagen. Sagen wir, wie es ist,
diese unsere Welt kehrt
nicht wieder, sie ist über die Wupper gegangen, dorthin, wo kalt
der Wind der Evolution bläst und gleißende Sonnen das Rad der
Energiekrisen drehen. Ein Kind, dem man eine Welt schenkt anstelle
eines Fahrrads, steht gleich ganz anders da. Wie anders, das wird sich weisen. Es
hat aber ein Rückzugsgelände gewonnen, falls die Gesellschaft zum
Halali bläst. Das wird es nicht missen wollen, wenn es – horribile
dictu! – erwachsen geworden ist. Virtuell ist diese Welt, kein
Zweifel, sie könnte sein und sie besteht, in der Mehrzahl der
Fälle, aus Geflunker, aber darin unterscheidet sie sich nicht oder
zumindest nicht sehr von der Gesellschaft, die streng darauf
besteht, als real und sogar reell zu gelten. Es könnte auch sein,
dass die eine oder andere virtuelle Welt die reale durch einen
höheren Grad an Wirklichkeit schlägt, denn wo einer sich wirklich,
das heißt nach seinen Einschätzungen, Maßstäben, emotionalen
Bindungen aufhält, das ist nicht vorhersehbar und das weiß am Ende
allein er selbst. Die virtuellen Welten sind allesamt Feinde der
Gesellschaft, der eingebildeten und der wirklichen, die einen
zerstören sie, die anderen lassen sie laufen. Wohin? In die Wüste
natürlich, dorthin, wo die Ressourcen lagern und
der Struggle for Life
das kalte Gähnen derer hervorruft, die von anderen Kämpfen bewegt
werden. Das erfüllt die Gouvernantengesellschaft mit Sorge, sie ist
entschlossen, dem Gegner die Stirn zu bieten, darin erinnert sie
entfernt an ein Parlament von Alkoholikern, das beschließt, die
Promillegrenze beim Autofahren zu senken, indessen die Fahrer sich
draußen zuprosten. Diese virtuellen Welten, das ist ja sie selbst,
wie sie sich in ihren Gliedern auf- und davonmacht, ein
Verlegenheitsausdruck, mit dem sie den Schwund konstatiert, ihre
Verwandlung in etwas, das noch niemand zu benennen weiß. Virtuell
ist daran gar nichts. Und ›Welt‹ – naja.
Welten lassen sich leichter lenken als z.B. Papierschiffchen, was jeder bestätigen kann, der einmal versucht hat, einem den eigenen Willen aufzunötigen, um das Wort ›zwingen‹ hier zu vermeiden. Welten hingegen erweisen sich als von Grund auf gefügig, sie sind der Traum jeden Willens, der sich verwirklichen will und winken ihm gnädig zu. Es gibt sie für jeden Zweck und wer noch, in Erinnerung älterer Einkaufstechniken, darauf besteht, die eine oder andere komme ihm nicht in die Tüte, der weiß Bescheid, zumindest weiß er sich den Anschein davon zu geben. Wo immer sich eine Tüte auftut, hüpft eine Welt hinein, die Hersteller von Wundertüten haben das stets zu nutzen gewusst. Die modernen Wundertüten finden sich im Netz, sie besitzen Namen wie Oasenwelt, Hygienewelt, Literaturwelt oder Kainswelt und tragen, außer dem Dot-Stummel am Ende, dafür Sorge, dass der Weltenbummler nicht untergeht, der seit den Tagen Elias’ und Swedenborgs auf mechanische Fortbewegungsmittel ausweichen musste und darüber fast zu Grunde ging. Doch natürlich soll auch er nicht den Weltenlenker vergessen machen, der über und hinter allem die Finger im Spiel hat. In ihm, einer Kreuzung aus Kaninchen und Hase, hat die Ununterscheidbarkeit einen solchen Grad an Bestimmtheit erlangt, dass nur die Balance der Daten eine gewisse Sekurität verspricht, so wie ein Anbieter von Importsesseln gut beraten ist, ein paar Stühle dazuzustellen und den einen oder anderen Tisch gleich mit anzubieten, wodurch es sich empfiehlt, auch Teppich und Tapete ins Sortiment aufzunehmen. Und so weiter. Man könnte den Weltenlenker den Meister des Undsoweiter nennen, doch täte man ihm damit Unrecht, da er zwar weiter ist, doch der Kopula von Grund auf misstraut und stattdessen alles selbst sein will. Über seine Gründe kann man, wie häufig, nur spekulieren, sie liegen teils im pekuniären, teils im privaten Bereich und nur ein Gericht besäße das Recht, sie ihm zu entreißen.
Wenn ein Phrasendrescher und ein Großschriftsteller sich im
Spiegel einen Briefwechsel
liefern, dann flieht die Welt. Wohin? In die Büsche, um einem
Bedürfnis nachzugeben, das sich nicht von zwei Heftklammern
disziplinieren lässt? In den Untergrund, wohin niemand ihr folgen
mag, der auf Tantiemen hofft? Die Welt? In den Untergrund? Alle
Welt? Alle Neune, das ist ja ein wilder Gedanke. Wo er nur hinwill?
Das Hinwollen ist den Gedanken inhärent, nur unter Hintergedanken
tritt es in den Hintergrund. Der Untergrund ist die Welt in ihren
tragenden Teilen. Wer sich hinein verirrt, verläuft sich leicht und
fühlt sich verfolgt. Sage keiner, das sei kein realistisches
Gefühl. Auch das Gefühl, sich erleichtern zu müssen, wäre ohne
Realitätsanker weniger verbreitet. Wer sich den Untergrund als
einen Sammlungsplatz zweifelhafter Elemente denkt, bleibt ebenso im
Trockenen wie einer, der dort die Anführer künftiger Paraden auf
den Dorfplätzen der Weltpolitik ortet. Im Untergrund ist alles wie
oben, aber – es schweigt. Es protestiert nicht, es schweigt. Darin
lässt sich ein gewisser Überlebenswille erkennen: sich nicht
totquatschen lassen ist ein Menschenrecht, das öfter in Anspruch
genommen wird, als man denkt. Wem die Wege der Rede eng werden, der
flieht in die Weiten des Nichtbeteiligtseins. Die Nation der
Nichtbeteiligten, in den Katakomben der Geschichte aufs
Pfingstwunder hoffend – einer, den diese Vorstellung nicht heiter
stimmt, ist dem tragischen Weltbild verhaftet und sollte ausbezahlt
werden.
Eine Weltzeitung preist ihr Format an, indem sie Listen aus Wörtern verfertigt, mit denen sie ihre Leser Tag für Tag bombardiert: ein ausgezeichnetes Wörterbuch der – nein, nicht Dummheit, das wäre jetzt zu hoch gegriffen –, der Beständigkeit, der Weltfestigkeit ihrer Leser, so wie man an anderer Stelle von Trinkfestigkeit redet und ungefähr dasselbe damit verbindet – die ungeheure Ausdauer darin, sich den Stoff zuzuführen, der einen mit Sicherheit ruiniert, aber später. Heute bin ich dabei, voll dabei, und darauf kommt es ja an. Man stelle sich vor, ich wäre dabei, aber nur halb, und die andere Hälfte irrte draußen ziellos umher. Was, frage ich, wäre das für ein Dabeisein und wie stünde ich vor mir da? Vielleicht stünde die andere Hälfte draußen gerade vor dem Plakat meiner Weltzeitung und fühlte sich seltsam... verdunkelt, das wäre dann meine Schuld. Eine schlimme Welt.
Bekanntlich ist dem Weltklimarat nicht zu raten, es ist daher auch nicht ratsam, an seinem Verstand zu zweifeln. Wie alles, was sich ausrechnen lässt, behauptet er sich bei aller Skepsis, gelegentlich in aller Skepsis, außerhalb sowieso. Skepsis ist gleichsam das Bad, in dem das Weltklimaratsweltklima an Schönheit gewinnt, was es an zweifellos Unbezweifelbarem verliert, als handle es sich um überflüssige Pfunde. Dabei ist es doch längst zum Pfund geworden, mit dem sich wuchern lässt. Ein bisschen Klima kann nirgendwo schaden, zeige mir eine Branche und ich zeige dir, wo du es anbringen kannst, damit es hübsch detoniert. Ach, es ist nicht das Klima, es ist sein Wandel, der uns besorgt macht. Handel und Wandel, das geht zusammen seit altersher, das bedingt einander, es geht Hand in Hand, auch unter der Hand, wandelt sich das Klima, so wandelt sich der Staat, es wandeln sich seine Gesetze, es wandelt sich die Hetze, die nötig wird, das Volk mit den passenden Angstbildern zu versorgen, es wandelt sich … was wandelt sich nicht? Nein, es ist nicht der Klimawandel, es ist der menschliche Anteil, der uns besorgt macht. Wie hoch mag er sein? Wie hoch darf er sein? Wie groß ist die Spanne dazwischen, die Spanne des maximalen Gewinns? Wird sie zu groß, so werden Leute mutlos, wird sie zu klein, dann siegt der Leichtsinn: In der Mitte, da liegt die Quitte.
Zuerst die Scheinfrage: Will man eine im Entstehen gedachte, in
Wahrheit ziemlich fertige Weltkultur herunterbrechen auf die mentalen und
organisatorischen Bedingungen der Regionen und ›lokalen Zonen‹ oder
will man die so unterschiedlichen kulturellen Biotope schützen,
erhalten und als Ressourcen einer nachhaltigen
Menschheitsentwicklung unter verschärfte Beobachtung stellen? Mit
dieser Frage hat man viel Zeit zugebracht, dafür fiel die Antwort,
auf die man gleich hätte kommen können, relativ eindeutig aus:
beides, soweit sich Geld damit verdienen lässt. Es war die
postmoderne Querelle des anciens
et des modernes, eine ›Querelle des modernes et des
postmodernes‹, allerdings wurde sie nicht auf Französisch geführt.
Geführt wurde sie in der Sprache des Geldes, die nicht so eindeutig
ist, wie man es sich im Interesse einer klaren Weltsicht gern
wünschte. So malt sich die siegreiche, im Kern banale Weltkultur in
jedem ›kulturellen Kontext‹ anders und zeitigt andere Folgen. Diese
Kontexte sind, wie man inzwischen weiß, in einem so atemberaubenden
Ausmaß national determiniert, dass es denen, die die entsprechenden
Untersuchungen durchgeführt haben, unheimlich vorkommt und sie ihre
Ergebnisse nur ergänzt um Handreichungen für eine verbesserte
Praxis zu publizieren wagen. Es schert sie nicht, dass sie damit
für sich eine Metaebene in Anspruch nehmen, deren Existenz sie
empirisch bestreiten. Verständlicher wird ein solches
Zirkelverhalten, bedenkt man, dass im Umkehrschluss die Welt und
ihre Kultur nur in jeweils differenten Vorstellungswelten
existieren. ›Unsere Welt‹ ist also unsere Welt, mit allen
Possessivansprüchen, die sich daraus ergeben. Die letzte Hoheit ist
Deutungshoheit, wer sie weggibt, der taucht ab. Dennoch gibt es die
Weltkultur, an der jeder sich infiziert, der sich technisch in
ihrem Einflussbereich bewegt. Der Umstand, dass sie in eine
Nussschale passt, da sie sich immerdar in statu nascendi befindet – so wie
komplexere nationale Kulturen, etwa die europäische, auch –,
verschleiert nur mühsam ihr Übergewicht. Es zeigt sich vor allem
darin, dass sie die differenten Kulturen in Bewegung hält, durch
Druck und Gegendruck, durch die tägliche Notwendigkeit, ihre
Injektionen zu verarbeiten und zu interpretieren. Das Banale hält
das Komplexe in Bewegung. Das ist nicht schwer zu verstehen. Das
Komplexe tendiert dazu, Hintergrund zu bilden, es ähnelt dem Chor
der antiken Tragödie, der die Ereignisse kommentiert und an die
Bedingungen erinnert, unter denen sie sich vollziehen, aber den
Akteuren nicht tätig entgegentritt. Wehe dem, der ihn übersieht.
Und wehe dem, der auf den Einfall käme, ihm die Bühne zu
überlassen.
Europa, der Weltmagnet, zieht die einst Kolonisierten und später in die
Unabhängigkeit ›Entlassenen‹ an wie … nein, es ist nicht Zeit für unstatthafte
Vergleiche, es kommen auch nicht die einst Kolonisierten, sondern deren Enkel
und Enkelkinder, sie kommen, um Europäer zu werden und die Lichter beginnen zu
flackern. Wer Europäer wird ohne Chance oder Anlass, Europäer zu sein, der
fordert über kurz oder lang Unterwerfung. Das haben die Europäer untereinander
lange und bis an den Rand der Selbstvernichtung praktiziert und nun schlagen
andere auf. Was heute ein Polizeiproblem darstellt, stellt sich morgen als
Machtfrage – so oder so wird sie gelöst werden, schon deshalb, weil Machtfragen
immer gelöst werden. Nur die Unbefriedigten wollen im Status quo keine Lösung
erkennen. Die Frage gilt also der Evolution der ›Anderen‹, die nach der Macht
greifen werden: wo werden sie stehen, innerlich und äußerlich, wenn ›der Ruf‹ an
sie ergeht, sprich, die Konstellation ihre Leute ins Amt hievt? Auch deshalb
wird allerorts hektisch ›integriert‹, als hinge die Integrität des Gemeinwesens
vom Grad der Einweisung ab. Die programmatische Umkehr trivialer sozialer
Prozesse – jemand integriert sich in eine Gruppe, eine Mannschaft, einen
Betrieb – führt in Prozesse, die keiner kontrolliert, weil sie die Gesellschaft
als solche auf Risiko setzt: Gelingt die Integration, dann … wird alles gut.
Gelingt sie nicht, dann gnade uns Gott. Es ist aber der verlassene Gott,
der Gott des Zorns, der da beschworen wird. Dabei erlaubt die simple, auffallend
selten gestellte Frage: ›Was soll denn gelingen?‹ darüber nachzudenken, wer denn
hinter der großen demographischen Verschiebung die Strippen zieht. »Na wer wohl!
Die berühmten ›unbesetzten Stellen‹ der Wirtschaft verlangen nach Arbeitskräften
und holen sie sich, quasi im Blankoverfahren, wann und wo immer ›die
Bevölkerung‹ ausfällt und das Gros der arbeitslosen Franzosen es
unverständlicherweise ablehnt, Deutsche zu werden, obwohl wir doch alle nur
Europäer und als solche grenzenlos mobil sind … aus den diversen Elendswinkeln
des Planeten. ›Die Wirtschaft‹ hält sich ›dieses Europa‹ als Arbeitshaus.
›Missglückt‹ die Integration, siegt die Automation oder wandert das Kapital, von
der Aussicht auf höhere Renditen gezogen, weiter, dann ist Problemlöser Staat
gefragt und darf sich mit den Folgen herumschlagen. Wird der Staat schwach, dann
schlägt man sich halt auf den Straßen.«
Es fällt leicht, eine Weltperspektive einzunehmen, zum Beispiel wenn es darum geht,
sich in den Spielen der Macht zu behaupten oder überhaupt etwas zu
behaupten. Von allen Perspektiven, die in Betracht kommen, ist die
Weltperspektive bei weitem die einfachste. Warum? Ganz einfach: sie
ist die komplexeste. Komplexität und Schlichtheit schließen
einander nicht aus, im Gegenteil, sie bedingen einander. Denkt einer
kompliziert, so verliert er sich rasch im Gestrüpp der
Nebenerwägungen und findet selten wieder heraus. Drei Schritte
weiter und er ist schon wieder zu Hause, dort, wo er sich auskennt.
Denkt einer dagegen komplex … die Weltperspektive einzunehmen steht
jedermann frei. Dazu bedarf es nicht mehr als einer gesunden
Überzeugung und eines unbeirrbaren Sinns für Gerechtigkeit. Die
Oberfläche der Welt schimmert vertraut, sie ist semi-transparent,
wer meint, er habe den Durchblick, irrt beträchtlich, und nicht aus
Nierenversagen, selbst wenn ihm Verschiedenes, wie er keck behauptet,
›an die Nieren geht‹. Die Ideologen haben die
Welt nur verändert, es kommt aber darauf an, sie zu
modellieren. Ein gutes Modell kann für alles herhalten, was
einem in der Realität missfällt, ganz ohne Realität und ihren
bitteren Beigeschmack. So mausert sich Realität zu dem, was sich
fügt. Oder auch nicht! Ein weltfremder Philosoph, zum Plausch
gebeten, könnte sie ›unfügsam‹ nennen, auf die Gefahr hin, dass
ein besorgter Mitbürger ihm die Polizei auf den Hals hetzt. War es
das wert? Was, bitte, ist von einem Philosophen zu halten, der die
Polizei am Hals hat? Nichts. Gar nichts. »So was studiert deine
Tochter? Hol sie da raus!« Weltmodelle, die an den Kapazitätsgrenzen der Großrechner saugen, werfen ein anderes Problem auf. Sie stellen die alte Distanz von Priestern und Gläubigen
wieder her, die längst überwunden geglaubte. Erstere stellen sich, als ob sie verstünden, letztere wissen oder haben verstanden. Die Modellierer freut das, sie haben viel Zeit und Kraft in ihr Modell investiert und sehen: Es zahlt sich aus. Sie hätten
noch andere Modelle im Keller, aber das hier ist der Renner.
Wir halten den Lauf der Welt nicht auf, wir verändern ihn nur ein
bisschen von innen. Auch das kostet Mühen, die sich nicht jeder
leistet, der es sich leisten könnte. Wer von den Zinsen lebt, hat
zur Welt ein anderes Verhältnis, er findet ihre Kämpfe ein
Kinderspiel und geht Rosinen pflücken. Dabei vertut er sich oft und
erwacht als Gekreuzigter: angetan mit der Schärpe der Ignoranz und
gekrönt mit der Dornenkrone der Erfolglosigkeit, kein Christos, nein, aber ein
Selbstverneiner aus Hochmut, einer, der auszog, als ginge es darum,
bei sich einzuziehen, ohne zu bedenken, dass viele als Erbteil
reklamieren, was unter dem Griff ihrer Hände zerfließt und sich
soeben anschickt, neuen Gesetzen zu gehorchen. Das bleibt ganz
allgemein gesprochen, die Beispiele sind Legion. Und doch ist es
der Starrsinn, der diese Welt zusammenhält, das beharrliche
Zurückkommen auf die ältesten Dinge, als seien sie niemals
vergangen oder als sei das Vergangene nur eine verstellte
Gegenwart, mit wenigen Handgriffen auf ihre Erfordernisse
auszurichten. Wer eine Vergangenheit unter Tabu stellt, handelt
sich eine andere ein, sie drückt auf alle Türen. Wer die Ökonomie
der Triebe an die Zirkulation der Waren delegiert, verflüssigt kein
Selbst, sondern seine Kinder. Keine Emotion ist ein Letztes, kein
Wunsch steht für eine Zukunft, kein Debakel dauert. Die Begriffe
sind so beweglich, weil sie unberührbar sind; nicht das
Gleitmittel gleitet, sondern das, was es transportiert. Sie
verändern sich, das ist wahr, sie verändern sich unter der Hand,
sie verändern sich ununterbrochen, sie verändern sich durch
Gebrauch, aber die Dimension, in der sie sich ändern, bleibt, und
sie ist unangreifbar, weil sie ungreifbar ist. Der Mensch ist
nichts, das übergangen oder überwunden werden kann, wenn er
verschwindet, bleibt kein Bewusstsein, den Verlust zu beklagen oder
auf neue biologische Abenteuer zu sinnen. Der Mensch ist kein
Wurf, er ist die Hand, die wirft, ebenso das Geworfene und der
Grund, auf den es fällt, die Bewegung, in der es ausrollt und der
Stein, an dem es zum Erliegen kommt. Er ist die volle Fünf, über
die nichts geht, weder über sie hinweg noch über sie hinaus. Das
ist komisch, in der Tat.
Die unblutigen Spiele des Baron de Coubertin nähren, wie jeder
weiß, nicht nur den Mann, sondern auch den Verdacht. Dieser
mitwandernde Verdacht, verarscht zu werden, gibt den Spielen die
Würze, ihren Jungmannen-Charakter, gleichgültig, wie viele junge
Frauen dabei mitrennen, -stoßen oder -dopen. Jeder weiß, dass
physische Leistung kein Wachstumssegment ist. Eine Bestleistung
beruht auf einem Trick oder einem Wunder. Der Trick zählt zum
Training, das Wunder zu den unlauteren Mitteln. Das Ausmitteln
dessen, was lauter und unlauter ist, was zählt und was nicht zählt,
liegt den jungen Männern im Blut. Es bringt sie in Rage, zu sehen,
wie der Nachbar den Stinkefinger hebt oder das Hinterteil entblößt
und unbehelligt davonzieht. Die Schmach zu rächen, gäben sie ihr
Leben dahin. Olympia, das ist ihr Theater der Evidenz. Gold oder
Beschiss – eine drangvolle Weltsicht, die den Beschiss
herausfordert und in Gold verwandelt, Stück für Stück, Keule für
Keule.
Dass die Welt eine Spitze habe, ist seltsam und sollte bedacht
werden. Man hätte sie gerne einmal gesehen, diese Spitze, aber die
Welt hält sich an dieser Stelle bedeckt. Sie weiß, dass alle, die
darauf starren und es kaum erwarten können, dass sie sich zeigt,
einen Schreck bekämen und ärztlich versorgt werden müssten. Daher
beschränkt sie sich aufs Gerede. So bleibt ihre wahre Form
unerkannt wie von Anbeginn der Zeiten und das Gerede wächst. »Die
Spitze der Welt ist rund«, schrieb einer der frühesten Apologeten.
Dabei sollte es nicht bleiben. »Die Behauptung, eine Spitze sei
rund, ist widersinnig und daher abzulehnen«, liest man bei Antonius
von Padua, der zu den Vögeln sprach, ohne sich, außer dem Vorteil,
gehört zu werden, viel davon zu versprechen. Er kannte nicht die
Geheimnisse der Logik und sein Einspruch verschwand von den
Bildschirmen der Vernunft, bis ihn ein kleines Mädchen auffischte
und in sein Bettchen trug. Unter Zuträgern macht der Satz seither
die Runde, was oft einen seltsamen Anblick bietet. Wer bietet mit?
In der Spitze ist, wie man hört, immer ein Plätzchen frei für die
eigenen Leute, sofern sie gut genug sind, was aber vorausgesetzt
werden darf, denn sonst handelt es sich um Versager, die
ausgewechselt werden müssen, am liebsten in vollem Lauf, gleichsam
aus dem Versagen heraus. Man nennt das, nach einem Vorurteil, die
männliche Sicht der Dinge. Ein Sexismus, kein Zweifel, wenngleich
ein gegründeter.
Sichtbarkeit gibt immer den Schock, das wissen die Zweifler. Unter
ihnen gilt als ausgemacht, dass die Spitze der Welt zeitlich
gedacht werden muss und das Starren auf einen Punkt nur den
Sehmuskel lähmt. »Die Welt ist Zeit«, verkünden sie vollmundig
landauf landab, »sie ist eher pfeilartig zu denken als
andersherum«, was unter Auguren nur Hohngelächter bewirkt. Dass die
Zeit vorne so wie hinten beschaffen sein könnte, schließt den
Gedanken an eine Spitze praktisch aus. Auch dass Welt und Zeit
dasselbe sein könnten – schon die Idee, erstere könnte nur eine
Blase in der Zeit, eine winzige Ausbuchtung darstellen, stößt auf
unüberwindliche Hindernisse –, darf als unwahrscheinlich gelten.
Schließlich hat alle Welt Zeit oder auch nicht, da liegt noch immer
der Unterschied. Wer keine hat, soll sie sich nehmen, es scheint
große Vorräte davon zu geben, die allenthalben herumliegen, in
Schuppen vermutlich, wo sie keiner sieht, es sei denn, er ist
Lagerarbeiter und kommt von der Raumfahrt, die gern Löcher in die
Welt bohrte, ihr aber nur Dellen beibringt – viel Prominenz, kaum
Durchbruch. Wohin auch? Löcher ins All? Kommen Sie, ich zeige es
Ihnen.
... sehen wir die Sache doch einfach so: über die Installationen
konnten die Museen zu einer bestimmten Zeit die Oberhoheit über die
Kunst zurückgewinnen, als sie wegen der nach und nach ins Spiel
gekommenen ›horrenden Summen‹ an die Sammler verloren zu gehen
drohte. Auch war viel von Erpressbarkeit die Rede und mancher
pfiffige Sammler ließ die Kommune seinen neuen Wilden einen
goldenen Käfig spendieren. In den schönen neuen
Ausstellungsräumen durften die Installationen sich rekeln wie
Filmdiven vor der Kamera. Der ästhetische Sinn umhüllt wie jeden
vergleichbaren Vorgang in der Geschichte auch diesen mit
Zuckerwatte und die Kunsthistoriker, wie immer begierig darauf,
historische Wenden zu kartographieren, schufen die dazugehörige
Literatur. Schon das Wort ›Tafelbild‹ erinnerte irgendwann nur mehr
ans Nachsitzen. Dem heutigen Leser wird davon wenig plausibel.
Allein die normative Kraft des Faktischen veranlasst ihn,
vorsichtshalber zu glauben, wo aus so vielen Quellen so vieles
spricht. ... Irgendwas sieht man immer. Das Sehen geht nirgendwo
aus, insofern besitzt auch der dümmste Glaube ein fundamentum in
re, dessen niemand ungestraft spottet.
»Werte ordert man nicht einzeln, sondern im Fonds. Das erspart Zeit und schont Nerven, denn nichts ist wertloser als eine Diskussion über die richtigen Werte. Zwischen den Fonds fällt die Entscheidung leichter, man muss nicht wissen, welche Werte darin enthalten sind, und begnügt sich mit der Auskunft: die richtigen. Das ist gut, das ist richtig, damit kann man sich sehen lassen und darauf kommt es bei Werten vornehmlich an. Zum Beispiel die inneren Werte: Wollen Sie wissen, was sich darunter verbirgt? Pfui Teufel! So einer sind Sie. Das hätte ich mir ja denken können. Trotzdem: Da haben wir ja ein Fass aufgemacht, das kriegen wir nicht mehr so schnell zu. Auch zwischen den Wertefonds muss es eine Entscheidung geben. Zum Beispiel die zwischen den universellen und den ›partikularen‹ Werten (unter uns: merken Sie sich solche Ausdrücke oder lesen Sie sie vom Blatt?), von denen so viel die Rede ist – kennen Sie sich da aus? Ich persönlich halte es ja mehr mit den häuslichen und die sind ziemlich universell. Wer viel herumkommt… Ich weiß, ich weiß, das muss jeder selbst entscheiden. Wissen Sie, die Universalisten veranstalten ein großes Geschrei, aber im Vertrauen rate ich Ihnen: Trauen Sie dem Braten nicht. Wenn Sie mich fragen: alle Werte sind universell. Wie ich darauf komme? Ganz einfach: durch Nachdenken. Denken Sie nach! Zum Beispiel der Wohnwert: also mir ist er kolossal wichtig, ich lege Wert darauf, in der und der Gegend zu wohnen, wenn ich einmal umziehen muss, suche ich mir etwas Vergleichbares. Sehen Sie: etwas Vergleichbares. Vergleichen Sie selbst! Wenn Sie nichts Vergleichbares finden, sind Sie angeschmiert. Etwas Vergleichbares gibt es nur, wenn sich alle daran halten: Hier wohnen Leute wie ich und du. Wer das nicht respektiert, vertritt keine anderen Werte, sondern er tritt diesen einen mit Füßen. Wenn die Familie für mich einen Wert ›darstellt‹ – blödes Wort, sie ist schließlich kein Schauspieler –, dann bin ich genau dann angeschmiert, wenn die Familie, die geheiligte Institution Familie abgeschafft wird – nicht im Westerwald oder im Hunsrück, sondern wo auch immer, denn dort könnte ich nicht leben und aufs Lebenkönnen – hier, dort, wo auch immer –, kommt es dem Universalismus schließlich an, oder? Was die Leute universelle Werte nennen, ist doch nur das, was übrigbleibt, wenn man den Einzelnen nackt auszieht und über alle Grenzen jagt: Schau, wie du zurechtkommst! Nun, der eine kommt, der andere nicht. Ich persönlich schätze die Nacktheit bei intimen Verrichtungen, alles andere finde ich exaltiert. Wem nur sein Menschenrecht bleibt, der wurde irgendwann um den Rest betrogen. Halten Sie von mir, was Sie wollen, ich respektiere das Menschenrecht und halte die Mehrzahl derer, die in seinem Namen die Rechtssicherheit der Staaten auszuhebeln versuchen, für Geschäftemacher oder Betrüger. Über den Rest müsste man nachdenken. Jetzt sind Sie am Zug.«
Es gibt Aufgaben, die nur bewältigt, wer darauf verzichtet, sich
evaluieren zu lassen. Solche Aufgaben nennt man gemeinhin
Lebensaufgaben. Es mag sein, dass die Wissenschaft solche Aufgaben
nicht kennt, hier scheint jeder ersetzbar, vor allem, wenn er es
vorzieht, gegen die Mauern des Vorurteils anzurennen, die der
Begriff der ›Scientific Community‹ bündig umreißt. Hier ist alles
offen und die Durchsetzer setzen sich durch. Auf ein paar Fragen
gibt’s keine Antwort, manche davon so subtil, dass nur Menschen,
die ohne Schultern zur Welt gekommen sind, sich ihnen wenigstens
auf Rufweite nähern können. Solche Fragen bleiben, zusammen mit den
Menschen, die ihnen nachgehen, in einem System auf der Strecke, das
keine Tabus kennt, weil es sich an sie hält. Sakrosankt ist, was
auf den Schultern von Riesen geschieht.
Wir werden auf diese Frage zurückkommen, aber nicht gleich; es ist
keine, die man im Handstreich beantwortet, besser, man lässt sie
liegen, in irgendeinem Winkel, wo nicht jedermann auf sie tritt,
denn die Gefahr, die von ihr ausgeht, ist immer beträchtlich. Nur
die Unverborgenheit macht sie erträglich. ›Kalkulierbar‹ wäre ein
dreistes Wort, man sollte es vermeiden. Auch nennen wir sie nur
eine Frage, weil wir kein besseres Wort dafür wissen, denn
eigentlich wissen wir alle Antworten im voraus. Es ist eine
Erwartung, die Vorahnung eines Bebens, das durch alles hindurchgeht
und dafür sorgt, dass die Träume nicht in den Himmel wachsen. So
ein Beben gibt immer zu tun. Manches ist nicht mehr da und anderes
hat man so nie gesehen. Man selbst ist um eine Erfahrung reicher
und sehnt sich zurück in die Friedhofsruhe des vorigen Zustandes,
die doch eine Zeit der Geschäftigkeit war – nun, da der Deckel
drauf liegt, riecht man den Muff. Nur die Freunde fehlen. Sofern
sie überlebt haben, sind sie zerstreut. Begegnet man einem, so
reicht der Gesprächsstoff für eine Plauderei am Tresen, dann
scheidet man scheu voneinander. Die Liebe dagegen hat Konjunktur,
was von vielen, zu ihrem Nachteil, bestritten wird. Aber wen schert
das Gezirpe derer, die auf dem Quivive sind? Niemand will wissen,
was sie dort treiben, man neidet ihnen den Gipfel nicht. Ohnehin
ist er so niedrig, dass man ihn mit bloßen Augen nicht sieht. Man
muss schon Karten zur Hilfe nehmen, die nach einem Beben immer
unsicher sind. Eine kartierte Landschaft gilt für zwei: Der Sieger
will wissen, was ihn erwartet, der Verlierer, was er verlor. Beide
erfahren, was sie nicht wissen wollen, das bringt sie auseinander
und wieder zusammen. Landschaften der Seele haben es leichter. Wer
die Schilder am Eingang passiert hat, den empfängt eine tätige
Milde, die man gern mit jemandem teilen möchte, um sie zu genießen.
So gewahrt man sie nur, auch darin liegt eine Kraft.
Der Wichtigkeitsdiskurs ist das Kernstück der Luhmann-Gesellschaft, eine der
Ressourcen, von denen in den Schriften des Meisters unentwegt die
Rede ist. Wichtig sind Diskurse, die sich von ihren Trägern gelöst
haben und nun einen Diskurs zweiten Grades bilden, einen Diskurs
aus Diskursen, in dem immer dieselben Namen und Behauptungen sich
zu Mustern zusammenfügen, die jeder kennt, die aber eine gewisse
als ausreichend erachtete Variationsbreite ermöglichen. In diesem
Erachten, diesem Erachtetwerden tritt eine Selbstreproduktion ans
Licht, deren Selbst unbestimmt bleibt, das nicht benannt wird
und vielleicht, wie im Märchen, nicht benannt werden darf: was sich
da reproduziert, ist die Position als Wesenheit, die Funktion als
Substanz, anzuschauen im Einerlei der Gesichter, die wechseln, um
sich zu gleichen und den Verfall zu kaschieren, der jeden
heimsucht. Im Wichtigkeitsdiskurs ›lernen‹ wir, so wie ›wir‹ in der
Vergangenheit gelernt haben und die nächsten fünfzig Jahre hindurch
lernen werden, bis »das alles«, wie einer der Arrangeure, die
seltener wechseln, einst zu Protokoll gab und die meisten
insgeheim denken, »auseinanderfällt«. Die Lektionen bestehen darin,
allerlei, was man längst hätte wissen können und vielleicht
wirklich wusste, ohne dass es jemanden angefochten hätte, in die
sich gleichende Rede einzubringen und dort so lange
herumzuschieben, bis es entweder eine passende Bettung gefunden
oder den Diskurs durch eine seiner zahlreichen Maschen wieder
verlassen hat. ›Wir haben gelernt‹ – wohl der Person, der bei
dieser Phrase wohl wird, man kann bei ihr lernen.
Das Wiederholen der Wörter, ihre zweite Chance, tönt sie ab, tönt
sie neu: wie den Klang, so den Sinn. Das Wiederholen ist eine
Bewegung, die wohl erwogen sein will. Sie zieht einen Sinn, der
bereits enteilt ist, zurück in den Kreis, sie gewinnt keinen
zweiten Sinn, sondern den ersten neu. So etwas ist er nicht
gewöhnt, er stockt, er fühlt sich unbehaglich und behaglich
zugleich, er reckt sich, macht sich größer, gibt den Käfer, gleich
wird er brummen. Womöglich spricht er sogar. Ein ›sprechender Sinn‹
– wer ihn nicht kennt, hat hier nichts verloren, hier nichts und da
nichts, am Ende gar nichts, was kein Fehler ist, sondern eine
Fatalität. Das Zuhören – Nur
zu! – stellt sich nicht her, sondern ein, wie man sagt. Das
ist richtig. Die Wiederholung lockt es heraus. Man sagt, der gute
Stil meide die Wiederholung; darin liegt eine Unfreiheit, die man
dem Stil ankreiden kann. Man muss die Vermeidung vermeiden lernen –
so wie den Imperativ in der Entschließung –, erst dann kommt man
der Sache näher. Selbstverständlich ist jede Wiederholung auf diese
oder jene Weise zwanghaft. Das spricht für sie, das spricht gegen
sie. Gegen den Zug der Wörter hilft nur Weitersprechen. Da mag es
genügen, wenn nicht unbemerkt bleibt, dass das eine oder andere
ausschert und sich erneut anstellt, um ein zweites Mal
durchzurutschen. Mit einem Zwinkern sei es gesagt: Wer sich
wiederholt, tritt dem Verhängnis freier entgegen, er straft den
Schuss kurzerhand Lügen, der von langer Hand abgefeuert wurde, um
ihn zu vertilgen.
Manche Winkel des Weltgeschehens sind so tot, dass
es aussieht, als geschehe in ihnen nichts. Dennoch sind sie Teil des
großen Geschehens, so dass man sich fragt, wie sie es schaffen, sich
tot zu stellen. Nichts leichter als das! Entweder verfügen sie über
keine Bodenschätze oder über ganz spezielle, deren Bedeutung
man besser verschweigt. Der gefährlichste Schatz ist der Bodenschatz.
Der zweitgefährlichste ist das Wissen, wie man ihn hebt. »Wer
redet, ist nicht tot«, schrieb der tote Dichter
Gottfried Benn zu Lebzeiten, sein Gerede, soweit er es aufschrieb,
lebt noch immer. Doch lässt die Person sich nicht aufschreiben,
jedenfalls nicht auf Dauer. Um auf jene Weltgegenden zurückzukommen:
Oft steht es nicht zum Besten um sie und die Leute reißen aus,
sobald sie Gelegenheit dazu bekommen. Man kann es ihnen nicht
verdenken. Sie wissen, etwas ist los mit ihrem Land, ein Fluch
scheint darauf zu liegen – welch’ Segen, dass keiner etwas
Genaueres weiß. »Ich komme aus der Hölle«, sagt so einer und die
Umsitzenden nicken andächtig, während sie an ihre Umsätze denken.
Schließlich ist auch der Flüchtling ein Rohstoff, den es zu fördern
gilt.
Wer sind ›wir‹? Eine Handvoll Leute vielleicht hier und da. Ist das wichtig? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wir sind nicht allein. Wir sind viele. Soll heißen, wir sind nicht einzeln allein, sondern als Gruppe. Alleingelassene. Der Einzelne ist immer ›wir‹, es sei denn er steht im Regen und wartet aufs Taxi. Und auch dann, gerade dann ist er ›wir‹. Er ist so sehr ›wir‹, dass er gar nicht daran denkt, den Taxifahrer, wenn er denn kommt, als Erlöser zu begrüßen. »Heil dir.« »Übergeschnappt, was?« So kann man, außer in besoffenem Zustand, nicht reden. Und doch, und doch. Wir sind viele – damit beginnt jedes größere Debakel. Gerätschaften zur Stärkung des Wir-Gefühls sollten verboten werden, wie es autoritäre Regime auch wirklich versuchen. Sie haben ihre Hintergedanken dabei, ganz recht. Stattdessen käme es darauf an, keine Hintergedanken zu haben. Kein Wir ohne Hintergedanken, ohne den Gedanken an Macht, Power, Überwältigung, Größe, Zukunft, Sieg: Wir und Welt gehören zusammen. Die Welt gehört dem Wir. Das ist eine Binsenwahrheit. Leider unterschlägt sie, welche Weisen des Zusammengehörens diese Welt erst ermöglichen. Eine Gruppe, die sich als Gruppe erkennt, hat bereits verloren, sie hat sich verloren an eine nicht zu ortende Mitte, sie ist verloren in der Weite der sie umgebenden Welt. Verloren ist auch der Einzelne, der sich an seine Gruppe verliert. Irgendwann ist der Weltquark mit uns durch und lässt uns im Regen stehen. – Taxi!
Wer schreibt, malt, denkt, möge doch bedenken, wann er beachtet
werden will – ob heute, in zehn oder in fünfzig Jahren, das macht,
banal gesprochen, einen Unterschied, und doch gehen auch fünfzig
Jahre rasch dahin und mancher reibt sich heute die Augen, was da
auf ihn zurückkommt. Wer auf raschen Verzehr seiner Produkte
rechnet, muss sich kurrenter Vorstellungen bedienen, er darf an
keiner Stelle über sie hinausgehen, kurz, er darf Vorschläge machen
und muss in Demut abwarten, ob sie angenommen werden. Wer zehn
Jahre warten kann – keine lange Zeit, aber eine Spanne, in der
einem schon einmal ein Leben davonläuft –, steht bereits anders da,
er kann sich aufs Rechthaben verlegen und schauen, was dabei
herauskommt. Wem es auf fünfzig Jahre nicht ankommt, der hat auf
eine unpersönliche Weise frei, es ficht ihn nicht an, was heute
oder morgen gesagt wird oder auch nicht. Er darf vermuten,
dass Porträts, die er fertigt, nicht mehr auf Ähnlichkeit
überprüft werden, und dass die praktische Situation, auf die ein
Vorschlag zielt, rettungslos vergangen sein wird – übrigens auch
die theoretische, so dass alles, was er geschrieben, gemalt,
gedacht hat, sofern es dann noch vorhanden ist, einer grenzenlosen
Auslegung offensteht, wenn sie denn lohnend erscheint. Es steckt
etwas in den Menschen, das ihnen, wie zu Sammler- und Jäger-Zeiten,
zuflüstert, dreißig Jahre seien genug, sie stellten eine Grenze
dar, über die hinüber einer keine Ansprüche erheben sollte, außer
auf Rente. Das Altwerden ist ein Los wie andere, es gibt
Schlimmeres, aber man weiß es nicht. Man sollte sich nicht zu sehr
dagegen auflehnen, das verbraucht Kräfte, die an anderer Stelle
benötigt werden. Man sollte sich auch nicht zu sehr vor dem
Veralten fürchten, auch das ist ein Los. Los sein von allem, wem
käme das nicht gelegentlich in den Sinn? »Ein utopischer Text, eine
utopische Leinwand, man selbst als abwesender Schöpfer, als
der da seit langem
gestorben und gleichwohl anwesend, als sei man der Meister des
Meisters, was will man mehr?« So flüstert Homomaris, der sich in diesen
Dingen auskennt und wenig will, aber das wirklich.
Ich habe nie verstanden, sagt Adler, wie man an die Wissenschaft glauben kann,
so sehr widerspricht die Glaubenseinstellung dem Geist und Buchstaben der
Wissenschaft. Wohl aber habe ich verstanden, was Wissenschaftsaberglaube
bedeutet: den Glauben, mit der Wissenschaft den Generalschlüssel zur Welt und
zur Existenz in der Hand zu halten, mit dessen Hilfe sich die Schätze dieser
Welt und des eigenen Inneren in Besitz nehmen lassen. Sich an das Machbare
halten und zu glauben, alles sei machbar, sind zwei paar Stiefel. Das bringt die
Politik ins Spiel, die andere Kunst des Machbaren, gewillt, das Potential der
Wissenschaft auszubeuten, wann immer sich eine Gelegenheit bietet. Leider sind
das wissenschaftlich Machbare und das politisch Machbare höchst unterschiedliche
Größen, die sich nicht leicht zusammenspannen lassen. Schon zwischen dem
wissenschaftlich und dem technisch Machbaren klafft eine Realisierungslücke, von
der die Projektfriedhöfe zeugen – die Lücke zwischen Politik und Wissenschaft
ist gut gefüllt mit Karrieren, gescheiterten und skrupellosen, die lieber ein
Land vor die Hunde gehen ließen als sich … zurückzunehmen.
Ich schlage das Blatt auf: links wird gehöhnt, rechts liegt das
Weltbild blank. Der Materialismus der Wissenschaft konkretisiert
sich im Wunsch nach Geld und Anerkennung. Vor allem ersteres, vor
allem letzteres – wer sich nicht davor fürchtet, falsch
wiedergegeben zu werden, kann den Job auch gleich selbst erledigen.
Dafür gibt es Organe. Hauen wir also auf die Pauke: wir haben die
Funktionsweise des Gehirns noch nicht ganz entschlüsselt, aber die
Grundfragen sind gelöst; wir können kein Bewusstsein erzeugen,
wissen aber im Prinzip, wie es geht; wir lassen die Zeit mit dem
Urknall beginnen, der Rest ist metaphysisches Gequatsche; wir sind
Funktionalisten, denn wir verfügen über die Substanzen und können
sie spritzen; wir sind Konstruktivisten, denn wir kennen die
Verhältnisse in- und auswendig; wir sind überzeugt, denn so etwa
könnte es sein; wir wüssten mehr, besäßen wir bessere und teurere
Apparate; wir könnten die Menschheit retten, könnten wir die
Gefahren, die wir soeben mit unseren teuersten und besten Geräten
zu entdecken beginnen, mit besseren und teureren Geräten besser
erkunden; wir sind Drücker aus Überzeugung, nicht aus schmutziger
Geldgier, denn wir brauchen mehr, als letztere einbringt; wir
wissen, dass der Wahrheitsbegriff, aufs Ganze gesehen, nichts
gebracht hat, davon sind wir überzeugt. Das alles hat mit
Forschung, mit reeller, ausführender, von Tag zu Tag ihre
Ergebnisse sichernder und geduldig in Frage stellender Wissenschaft
– vielleicht – nichts zu tun. Es ist aber kommunikative Realität. Die
Wissenschaftschimäre hält die Gesellschaft in Bann und schlägt ihre
Beichtstühle in jedem Einzelnen auf, dem das schlechte Gewissen
aufs Lebensgefühl drückt. Verunsicherung ist ihr Geschäft. Das
schlechte Gewissen... die essentielle Ressource des Westens, der
Treibsatz hinter der Bereicherungsgier, dem angstvollen Schielen nach dem Vorsprung.
Es muss Geld kosten und mit Tod, Verderben und Rettung
herumfuchteln, dann wird es wohl stimmen.
Witz haben, Geist haben,
Geist zeigen, das Seine dazulegen, zeigen, dass man ein Mensch ist,
dass man in Betracht kommt, dass man aus Eigenem da ist und nicht
nur, weil man funktioniert, das alles weist auf einen
unerschütterlichen Rest von Mündigkeit, von durch-den-Mund-Leben,
den sich Menschen nur sehr schwer nehmen und schon gar nicht
abschwatzen lassen. Man hat in diesem unerträglichen zwanzigsten
Jahrhundert einen Mechanismus zur Triebabfuhr daraus machen wollen,
einen Ausdruck unbewusster Spannungen und eine Spannungsentladung,
die auch eintritt, aber zwischen den Leuten, wenn er anstelle
des kalten und anonymen Verkehrs einen dann ›menschlich‹ genannten
Umgang provoziert. Diese Provokation, das Risiko, sich unvermittelt
zu geben, ist naturgemäß dort am größten, wo die schärfsten
Sanktionen lauern. Da kann es schon passieren, dass einem ein Witz
über die Lippen kommt – dass er die öde Maulhalterei passiert, ohne
angehalten zu werden, weil... nun, weil der Kontrolleur zufällig
gerade absent ist. Aber wie Menschen so sind: manch einer brennt
darauf, den neuesten zu erzählen, selbst um den Preis, sich um Kopf
und Kragen zu reden. Auch das bleibt der Konstellation geschuldet,
bleibt sekundär und medioker, überdies subaltern. Was Witz zum Witz
macht, ist eine traurige Sache.
Jordan Peterson, Psychologe mit einem fatalen Hang zur Wahrheit,
hält die Literaturwissenschaft für die Mutter aller Wokeness.
Was ist ›Wokeness‹? Im Deutschen wäre ›Aufgewachtheit‹ die
passende Übersetzung: Kennzeichen einer Erweckungsbewegung, die
zumacht, sobald normale Aufgewecktheit sich ihrer Gegenstände bemächtigt.
Herr Peterson sieht darin die Überlegenheitspose des literary
criticism am Werk: Wer die Erzählungen kontrolliert, der kontrolliert
den Weltzugang seiner Mitmenschen.
Das ist Akademismus pur. Nicht Literaturwissenschaft, sondern Literatur ist die Mutter aller
Erzählungen. Literatur erzählt nicht einfach, sondern schlägt
Erzählungen vor, die weitererzählt werden, jedenfalls idealiter.
Sie ist die Herrin der Erzählungen. Zumindest wäre sie es, hörte
ihr jemand zu, was nachweislich nicht mehr der Fall ist. Der
gesteigerte Gruppenwahn ist ein Produkt der neuen Medien, genauer,
der sozialen Medien. Er entspringt den kommunikativen Abläufen in
einem Gehege, in dem jeder zu Wort kommen will und wirklich zu Wort
kommt, ohne das Wort zu bekommen: einem beleidigten Irresein als
Dauerzustand des Teils der Menschheit, der sich wichtig nimmt, aus
welchem Grund auch immer. Die Geisteswissenschaften, um diesen
altertümlichen Ausdruck zu benützen, liefern nur einen kleinen Teil des
Vokabulars. Den Vulkan schüren andere Mächte.
Als Wölkerchen sein Amt antrat, schwor er sich, nimmer von ihm zu lassen. Das war auch nicht nötig, denn das Amt nahm sich seiner an und verschmolz mit ihm. Ist Wölkerchen Amt? Mag sein, mag nicht sein. ›Kein Wölkerchen trübt den Himmel‹ … was dann? Vielleicht den Blick? Das mag sein, denn Wölkerchen ist ein heftiger Späher und seinem Blick hält kein anderer stand. Wer behauptet, sein Blick ruhe auf dem und dem, der irrt. Dieser Blick ruht nie. Scharf durchdringt er die falschen Werte derer, die sein Missfallen erregen, also aller. Aller? Ganz recht, denn außer Anhängern lässt er nur Feinde gelten. Seine Betform ist der Kampf. Das verstört die Schafe, es sei denn, sie stehen in Reih und Glied, also dort, wo sie hingehören. Ist Wölkerchen Hassprediger? Aber nicht doch. Er predigt gegen den Hass wie andere Leute gegen den Missbrauch und so meint er es auch. Hass, so seine innerste Überzeugung, ist Amtsmissbrauch, begangen von Leuten, deren Amtes es wäre, sich gefügig zu erweisen, denn als Intrigant seines Herrn weiß er: Wo ein Wille, da ein Weg. »Weg da!« lautet die frohe Botschaft, die aus seinem Haus um die Welt geht – ein Mausklick und sie rast, als Bumerang, auf ihn zurück.
Wölkerchen promovierte im Fach ›Straßenkirchliche Gestaltungslehre‹ mit einer Arbeit Über den politischen Missbrauch öffentlicher Bethäuser. Das zahlte sich aus, als er ein großes Haus übernehmen durfte. »Licht an, Licht aus« singen seither die Messdiener, wenn sie es klingeln lassen, sie singen es leise, zwischen den Zähnen, damit der Große Gestalter sie nicht hört. Sie wissen nicht, dass er gut findet, was sie da singen, er hält sie für pfiffig und hat viel mit ihnen vor. Das ist nichts Besonderes, denn vieles vorzuhaben ist sein Markenzeichen. Darf er das? Erlaubt es sein Amt? Keiner weiß es. Tatkraft im Amt hat schon manchen zu Fall gebracht. Wölkerchen hat, wie viele bedeutende Menschen, bedeutende Feinde. Oft murmelt er: »Das bedeutet mir nichts«, und er hat Recht. Es bedeutet nichts, wenn Leute schlecht über ihn reden oder ihn für eine Fehlbesetzung halten, denn das Amt trägt ihn und er ist ein rüstiger Schwimmer. ›Amt‹ ist für ihn ein Anagramm von ›Macht‹, wenngleich ein korruptes.
Darf Wölkerchen, was er darf? Diese Frage wird von vielen gewälzt, sie kommt einfach nicht zur Ruhe. Zum Beispiel ist nicht klar, ob das Ausgrenzen von Schäfchen zu seinen Hirtenpflichten passt. Das wäre ja, wie wenn Christus mit der mürrischen Bemerkung vom Kreuz kletterte: »Mit euch hat das keinen Zweck.« Das verstört viele. In den Kreisen der Beflissenen, die stets einen Schritt voraus denken, kursiert die Fangfrage: »Am Himmel erscheint ein Wölkerchen – ist das Religion oder muss das weg?«
Wörterbücher sind das Α und Ω der Information. So steht am Anfang der Aufklärung – andere sagen: an ihrem Ende – Diderots Projekt der großen Encyclopédie: wer in ihr nachsieht, erfährt viel darüber, wie sich Menschen die Welt einmal gedacht haben. Die Welt? Welche Welt? Ihre Welt? Bei allem, was der Fall ist: so ist es nicht. Man erwirbt durch Schreiben keine Eigentumsrechte an der Welt, sonst sähe die Skala der Millionäre anders an. Andererseits: was wäre das Rechtsgeschäft ohne die Schrift? Eine dubiose Geschichte, wie mit ihr auch. Wer die Schrift beherrscht, beherrscht die Menschen. Beherrscht, wer die Schrift beherrscht, auch das Schreiben? An dieser Frage trennt sich die Welt. Buchstabe und Geist, was immer sie zur gemeinsamen Sache beitragen, sind voneinander geschieden, seit es Reformen gibt, die dann von ihren Nutznießern zu Grabe getragen werden. Die Handlanger des Erreichten sind überall dadurch kenntlich, dass sie den Geist liquidieren und die Buchstaben – die Kultur – behalten. In der Hand vermutlich, wo sonst? Ob es die linke sein soll oder die rechte, darüber muss gestritten werden – diese Phrase sagt viel über den Zustand der Gesellschaft aus, wie die zweite beteuert. Eine Gesellschaft, in der Information und Desinformation beständig ineinander übergehen, verfügt doch über ein Element der Beständigkeit, ein A oder AA oder AAAAA, eine Technologie der Artikulation. Ein gutes Wörterbuch wäre demnach der Abriss einer Technologie der Artikulation. Es informiert durch Desinformation und es macht vor, wie es geht, indem es vormacht, wie es nicht geht. Das Vormachen beschäftigt diejenigen, die es gern nachmachen würden, wenn es sie nicht überforderte. So machen sie vor, wie es geht, und gehen daran zugrunde.
Wortrausch, in Wortekel umschlagend: eine mindere Form des
Weltekels, darum nicht wirkungslos. Man soll solche Effekte nicht
abtun oder unter dem Stichwort ›Sprachkrise‹ in die
Geistesgeschichte verbannen. Es handelt sich um einen radikal
ungeschichtlichen Vorgang, um eine Wiederkehr im Einzelnen, dem
sich die Sprache verflüssigt – zu welchem Zweck? So fragt man, wenn
die Lavaströme bergab fließen, man weiß, wie töricht diese Frage
ist, nichts als ein Ausdruck der Fassungslosigkeit, denn da unten,
direkt in der Rinne, liegen die Felder, auf deren Ertrag man
angewiesen ist und bleibt, wenn die Stunden der Erregung vorbei
sind. Der Ertrag ist hin, man weiß es genau, und es kommt der
Moment, da sieht man die Realität doppelt: eine, die nicht
verschwinden, nicht aufgezehrt werden will durch diese
Richtungsänderung der Ereignisse, und eine, die sich schonungslos
darüberwälzt, gewalttätig, mit einer ungeheuerlichen Sanftheit und
Selbstverständlichkeit, die einen benommen macht und bis an die
Grenze des Erbrechens mitnimmt. »Das nimmt dich mit«, sagt der
Bauer, bevor er ausspuckt und seinem verschwundenen Land den Rücken
kehrt.
Kann es sein, dass Menschen vierzig, fünfzig Jahre alt werden, auf
die sechzig zugehen, ohne ein eigenes Weltverhältnis zu
artikulieren? Es kann, es geschieht alle Tage, es ist nichts
Besonderes. Aber gilt das auch für ganze Altersgruppen,
Jahrgangskohorten, wie man sie nennt? Kann es sein, dass sie
langsam von jüngeren eingeholt und abgelöst werden, die die
heuchlerisch über die Jahre festgehaltenen Konzepte, den
maschinellen Verkehr vergangener Jahrzehnte als ihre Sache, sogar
als neu wieder aufnehmen – in Treue feste Nachfahren eines früheren
Hochmuts, der sich in ihnen vorderhand ein zweites Leben ergattert?
Es kann, es geschieht dort, wo institutionell verfestigte, durch
Markt- und Medienmacht oder durch administrative Einflussnahme
homogenisierte und perpetuierte Ideologielagen den individuellen
Bildungszyklus überrunden und zu einem Schattendasein verurteilen.
Dort, wo es geschieht, sollte man nicht leichtfertig davon
ausgehen, dass die verächtlich beiseite geschobenen
Zwischenjahrgänge nichts zu sagen hätten. Es geht einem mit ihnen
wie den Archäologen mit Kulturen, aus denen die schriftlichen
Zeugnisse fehlen: man muss die stummen Zeugnisse studieren, die sie
hinterlassen, die Strukturen der Sprachlosigkeit selbst, die sie
dem Gerede hinzufügen, die sie ihm einziehen, als handle es sich um
tragende Schichten, die verhindern, dass das ganze fügsame
Mitmachen in sich zusammenfällt. Wem die Sprache verweigert wird,
der rächt sich stumm, der rächt sich durch Autoaggression, durch
die Hässlichkeit, die von seiner Erscheinung ausströmt und ihn als
Funktionstypen kennzeichnet, als Leistungsträger, auf den niemand
verzichten kann, auch wenn allen vor der Art der erbrachten
Leistung graut. Die gnadenlosen Exekuteure, die fügsamen
Vollstrecker, die hochkarätigen Sesselfurzer findet man am besten,
wenn man Geburtsjahrgänge studiert. Ihre passiven Gegenstücke
ziehen Invalidität und Familienpflege vor. Man achte auf diese
Passiven: es sind die Aktiven ihrer Generation, aus denen nichts
geworden ist, weil aus ihnen nichts werden konnte – geborene
Wortführer, denen es am Wort gebricht, das andere, weniger
skrupulöse, sich selbst im Mund herumdrehen.
Der höchste Ausdruck der Seele als Pneuma findet sich im
Mittelpunkt eines jeden Wortes, das, ohne einem Urteil unterworfen
werden zu können, durch den Mund dessen, der es ausspricht, den
Körper verlassen hat. Jeder Gedanke um seine Bedeutung ist
zweitrangig gegenüber dem Wert des ausgestoßenen Wortes als
Seelenprodukt. Das Wort ist an sich beseelt.
Die Gestalt des Wortes als ein zartfarbener, manchmal auch bunt
geränderter Fleck vor dem Angesicht jedes Sprechenden ist allein
durch die Art einer malenden Geistestätigkeit zu erfassen, durch
welche das einzige vera ikon eines Menschen sichtbar gemacht werden
kann. Es zeigt sich nie weiter als 12 Zentimeter, oft auch ein
wenig näher, vom Mund eines Sprechenden entfernt. Nur so allein
gilt, das Wort sei Fleisch geworden, in größerer Entfernung wird es
zum reinen Ton.
Spötter zu Zeiten Ingres’ nannten ein solches nur selten von
hellsichtigen Künstlern der Schule von Port Royal gemaltes Abbild
Crêpe de Visage oder Gesichtspfannkuchen. Doch
hielt man seine Existenz immerhin für möglich. Es ist nach
Homomaris dem Jüngeren, der sich auf die Schriften Poussins beruft,
durch eine mit Essigsaurer Tonerde bestrichene Glasplatte viel
leichter zu erkennen als durch Kirchners Camera obscura, deren sich
die malenden Jesuiten bedienten. Man zählt kunstgeschichtlich noch
etwa vierzig bekannte Wortgeistporträts der Sammlung Coeleste ohne
ein eigentliches Gesicht. Es wird aber angenommen, es habe viel
mehr gegeben, die man als bloße Flecken verkannt oder auch als Werk
der Zerstörung betrachtet und demnach übermalt oder weggeworfen
hat. - PM
In den Grabschbreiten ist alles erlaubt außer dem Grabscher selbst. »Grabsch dich doch selbst!« schallt es ihm im Chor entgegen, sobald sein Köpfchen irgendwo auftaucht wie das des sprichwörtlichen Hasen im Klee. Und schon ist er wieder verschwunden. Nur die Wortgrabscher haben Oberwasser und fassen jeden unter die Gürtellinie, als handle es sich um ein Menschenrecht, das täglich praktiziert werden sollte, damit es nicht in Vergessenheit gerät. Überhaupt sind, ihrer Ansicht nach, diejenigen unter den Anspruchsrechten die besten, die einer steten Ausübung bedürfen, weil sonst die Peinlichkeit überhandnimmt und niemand mehr begreift, wie er sich das antun konnte. Wortgrabscher tauchen immer in Rudeln auf, haben sie einen erst am Unterleib, wird nicht mehr losgelassen, bis das Opfer am Boden liegt und keinen Mucks von sich gibt. Mehrfach Attackierte sind das Opferspiel irgendwann leid und manche von ihnen ziehen vor Gericht: dann geht das Hallo erst richtig los. Nur deftige Schadenersatz-Drohungen können den Wortgrabscher bremsen, denn er ist abhängig und fürchtet, die Rechnungen könnten ihm zur Verdammnis gereichen. Und trotzdem, trotz alledem sehen er und seinesgleichen sich immer und überall im Recht, gleichviel, in welchem. Am besten, finden sie, stünde es um die Welt, gewährte man ihnen allerorts freien Lauf. Denn mit der Welt, glauben sie, stehen sie im Bunde, sie sind welt-läufig und führen sie überall im Mund, als handle es sich um ein Spülwasser, das die Bakterien tötet, von denen es zwischen den Mahlzeiten nur so wimmelt. Zwischen den Mahlzeiten! Wann denn sonst? Wenn es ans Essen geht, sind sie gierig wie irgendjemand. Doch kaum haben sie sich das Fett aus den Mundwinkeln getupft, schreien sie »Scheiße!« und starren dem nächsten Esser ins Gesicht, als zeichnete sich dort das Resultat ihrer Verdauung ab. Woran sie kranken? Vielleicht an zuviel Verdauung... In ihren Gehirnen zieht die aseptische Welt ihre Kreise, während in den unteren Windungen Notstand herrscht – ein Herrscher der Finsternis, der es versteht, sich Ausdruck zu verschaffen.
§ 1 Die Würde des Kunstwerks ist unantastbar.
§ 2 Der Respekt vor den Werken der Kunst ist die Grundlage jeder
menschlichen Kommunität.
§ 3 Die Unversehrtheit bestehender Werke der Kunst ist zu
gewährleisten.
§ 4 Die Auffassung, Kunst müsse nach Funktionen beurteilt werden,
zeugt von Anmaßung und ist zu verwerfen.
§ 5 Die Auffassung, Kunstwerke seien Fetische, zeugt von Einfalt
und verfällt der Strafe der Lächerlichkeit.
§ 6 Die Unterscheidung ›wahrer‹ und ›falscher‹ Kunstwerke arbeitet
den Banausen in die Hände und ist daher abzulehnen.
§ 7 Die Ablehnung der Unterscheidung wahrer und falscher Kunstwerke
arbeitet den Fälschern in die Hände und ist daher abzulehnen.
§ 8 Die Ablehnung der Ablehnung der Unterscheidung wahrer und
falscher Kunstwerke arbeitet dem Kunstmarkt in die Hände und ist
daher abzulehnen.
§ 9 Die Ablehnung der Ablehnung der Ablehnung ist
kunsttheoretischer Unfug und daher abzulehnen.
§ 10 Die Klassifizierung von Kunst nach Jahrgängen oder Jahrzehnten
(›Kohorten‹) verstößt gegen die Würde der Kunstwerke und ist unter
die Strafe der Nichtachtung zu stellen.
§ 11 Wer Werke der Kunst nachmacht oder beschmiert oder
nachgemachte oder beschmierte in Umlauf bringt, wird zur
lebenslänglichen Lektüre des Struwwelpeter verurteilt und
unverzüglich seiner Strafe zugeführt.
§ 12 Wer Werke der Kunst versteckt oder zerstört oder versteckte
oder zerstörte vergisst oder zerstörte oder vergessene aus den
Registern entfernt, wird einer so altertümlichen Strafe zugeführt,
dass sie unaussprechlich erscheint.
»Ach die Würde«, seufzt Pelerina, an der manches abtropft. »Die
Würde des Menschen ist unbeweisbar. Aber die der Dinge! Da hatten
wir doch gestern... oder war es vorgestern? Ein Ding, sage ich
Ihnen, groß wie ein Kürbiskern. Was für ein Ding! Präsenz! Wer mit
Menschen was machen will, kommt mit der Würde nicht weit.«
Lauter Würstchen, denkt sie. Die jungen Frauen können einem Leid
tun. Können nichts dafür. Müssen die Suppe auslöffeln, die ihre
Mütter ihnen eingebrockt haben. Von Männern kann nicht mehr die
Rede sein. Würstchen halt. Rücken dir auf die Bude und dann kriegen
sie den Moralischen. Oder Angst. Die wunderbaren Folgen der freien
Liebe. Der Abschaffung der Ehe zugunsten einer Beziehung, die man
fährt, so lange sie hält. Kinder sind da nicht vorgesehen. Kommen
sie trotzdem, muss es halt irgendwie gehen. Das ›Wie‹ auszuloten
bleibt immer noch Zeit, wenn die Beziehung im Eimer ist. Zeit satt.
Die Post-Beziehung hat Konjunktur und die Söhne dieser Beziehungen
haben rascher einen eigenen Haushalt ›als sie gucken können‹, wie
man zu sagen pflegt. ›Hotel Mama‹ nennt man das dann und hält für
einen wärmenden Ort, was eine menschliche Hölle ist. Vor dem Kamin
lässt sich schön träumen, während die Mädels ihrer Wege gehen. Mama
wird es schon richten, schließlich war sie auch mal jung und ihre
Würstchen sind noch immer die besten. Ein Paar Würstchen bitte,
aber mit Ketch-up! - AC
Die Wüste wächst, schrieb Nietzsche, weh dem, der Wüsten birgt! Das wirft Fragen auf, zunächst nach der Wüste selbst, sodann nach dem, der sie ›birgt‹ – Fragen, die keineswegs mit der gängigen Rede von der ›Heraufkunft des europäischen Nihilismus‹ als beantwortet gelten sollten. Zum einen lässt sich das, was da flächendeckend heraufkam, nicht auf Europa beschränken, es ist, was immer man von dem Begriff halten mag, ein globales Phänomen mit vielen, allzu vielen Facetten. Doch um im Bild zu bleiben: Die Wüste in den Köpfen, interpretiert im Sinn des großen Ni(hi)l, wäre das nicht ein allzu schlichtes, ein allzu plattes Bild aus der Feder des hintersinnigen Denkers? Wüste ist vieldeutig – Todeszone und Lebensraum, Leere und Phantasieort, Schreck- und Lock-Ikone, eine krasse Überzeichnung des Verhältnisses von Distanz und Intimität, jedenfalls aus mitteleuropäischer Perspektive. Wer Wüsten birgt, der birgt das alles, er birgt es als Botschaft für die anderen, jedenfalls legt der Wortlaut das nahe, er ist der Prophet eines Untergangs, das rechtfertigt das Weh! Eine neue Lebensart zieht herauf, eine neue Art die Wirklichkeit zu gestalten, eine neue Aufteilung der Welt – das vorherzusagen war um 1900 – mein Gott, wie lang ist das her! – nicht sonderlich schwer, umso schwerer, es zu gewichten. Seither ist Europa mehrmals versunken und versinkt noch immer. Doch die Leere, die als sicher erwartete Leere ist jedes Mal ausgeblieben. Noch immer muss einer Wüsten bergen, um die umgebende Wüste zu empfinden. Noch immer ist er der Einsame weit und breit inmitten einer Betriebsamkeit, in der das Nihil bloß eine Nummer ist, die der Ehrgeiz zieht, um damit Ansprüche anzumelden. Ansonsten wächst die Wüste nicht überall, wie Klima-Apokalyptiker das gern hätten, es gibt Regionen, in denen sie zurückgehen soll … da schweigt der Prophet und das Leben geht seinen Gang.
Der Nachgeborene spricht: Die Wüstenpropheten kamen und gingen. Wir, die Söhne und Töchter, die Enkel und bereits wieder Urenkel, haben nichts zu verbergen oder zu offenbaren. Denn Wüste sind wir ganz und gar, jedenfalls wenn es nach ihrer Diktion geht. Auf Erbauung läuft hinaus, was als Verdammung begann. Das ist ein allgemeines Gesetz, das kein Flüssigkristallmedium auslöscht. Wer sich erbauen lässt, ist schon verdammt – mit solchen Sätzen setzt sich zur Wehr, wer sich selbst zu erbauen gedenkt. Niemand hindert ihn daran, niemand unterstützt ihn dabei. Er wird sich seine Materialien also zusammenstehlen und eine Träne der Dankbarkeit dem Wüstenpropheten spenden, der bereits nichts anderes tat. Ein großer Dieb, in der Tat! Oder ein kleiner, da Größe in diesem Gewerbe nur hinderlich ist. Die Kleinen haben überall die schrecklichsten Wörter und bringen sie hemmungslos an.
In Holland serviert man sogenannte Benedikt-Eier zum Gedenken an gewisse Verirrungen im Leben der Heiligen, die nun nicht mehr schamhaft verdeckt werden, sondern allesamt auf den Tisch müssen. Entsprechend könnte man in aufgeklärten Ländern Wüsten-Eier auf den Tisch bringen, weniger um die wüsten Reden bellizistischer Fernsehphilosophen auf ihre Genießbarkeit hin überprüfen zu lassen, als um die historische Rolle des Elysée bei der Förderung der Demokratiebereitschaft im Wüstensand dem gebildeten Gaumen gebührend einzusenken. Wohl bekomm’s! Nur die Dünnhäutigen unter den Heutigen haben vielleicht ein Problem, wenn Bomben und Raketen vom Himmel regnen, vielleicht haben sie auch mehr gelesen als die Klügeren oder ein fatales Gedächtnis, das nicht weiß, wie manipulierbar es ist und deshalb Erinnerungen produziert, die nicht en vogue sind, richtige Ausreißer. Wovor sie ausreißen? Vielleicht vor dem Ei des Philosophen, der einmal große Politik anschieben wollte und seither in Lach-Haft sitzt, bis die letzte Gurgel sich über seinem Einfall geschlossen hat.
Der Wummeneiser hat zwei Möglichkeiten. Er kann ein Loch in das
Eis schlagen oder auf Tauwetter warten. Am liebsten verbindet er
beides: abwarten und zuschlagen. Oder anders herum: zuschlagen und
abwarten. Das wundert das Eis, das sich längst schon geschlagen gibt: Was
zum Teufel soll jetzt die Warterei? Es wartet ja nicht allein, es
gibt viel Eis auf der Welt, das sich geschlagen geben möchte, es
gibt also viel zu tun für einen Wummeneiser, vor allem, da er nichts
umsonst tut. »Umsonst«, sagt er, »ist der…« – schon gefriert
ihm das Wort im Munde und er macht sich davon, denn die Welt kennt
mancherlei Baustellen, die der Vollendung harren, und er darf doch auf keiner fehlen.
Unter den Weichenstellern der Politik gibt es welche, denen man die Persönlichkeit schon von weitem ansieht. Sie steckt in ihnen wie ein Griff – ziehe ihn heraus und du verstehst ihre Motive nicht mehr. Im Näherkommen verwischt sich der Eindruck und es geschieht, was immer dann geschieht, wenn Menschen einem Gattungsgefährten begegnen, den ein Zufall über ihre Köpfe erhob. Sensible Flachköpfe erstarren, ihr Blick flackert, sie ›haben ein Erlebnis‹. Flachköpfe ohne Wenn und Aber erblicken einen gewöhnlichen Menschen und verstehen das Gewese nicht, das um ihn gemacht wird. Man könnte meinen, solche Eindrücke seien flüchtig, entstanden aus falscher Nähe und leicht durch wirkliche Nähe, also durchs Kennenlernen, zu korrigieren. Wer das Kennenlernen so aufwertet, der sollte nicht erstaunt reagieren, wenn es ihm hinterrücks auf den Mantel spuckt. Kein Kennenlernen gleicht dem anderen.
Ein Weichensteller kommt nicht allein, doch seine Entourage ist weit davon entfernt, ihn als solchen zu würdigen. Je mehr er bewegt, desto mehr zeigt sie sich überzeugt, dass sie selbst die Weichen stellt und er als ihr liebstes Organ dafür vor der Öffentlichkeit posiert. Welch ein Irrtum! Weichensteller sind selten Poseure. Das Ohr des gewöhnlichen Weichenstellers liegt auf dem Gleis, vom automatisierten Fahrbetrieb hält er nichts, sein Traum wäre es, sich einmal überrollen zu lassen, doch solange er noch gebraucht wird, sieht er keine Chance. Seine Chance liegt im Kennenlernen und die liegt bei Null. Niemand will ihn so kennenlernen, wie er ist, alle Welt zieht es vor, ihn zu kennen: der X! Macher X, da weiß man gleich, wen man vor sich hat. Weichen finden sich unendlich viele, wer weiß, welchen Schalter er gerade jetzt umlegt. Man legt auch Menschen um. Manchmal reicht ein einzelner Schalter und wusch: Tausende sinken dahin.
So denkt das Gros. Dagegen hilft nur einfache Größe.
Alles Sichtbare hat seinen Preis sowie eine Rückseite. Das ist das Kreuz mit der Präsenz. Die Sichtbarmacher tragen die Zeichen des Ärgers nicht im Gesicht, sie bestehen aus Zeichenketten, die unsichtbar bleiben, solange die Präsenz ihre Fangarm ausstreckt. Auch die Zeichenketten sind vorgeschoben, sie wären nicht, wenn sie nichts bewirkten. In ihnen zeigt sich die Tätigkeit, die das Sichtbare sichtbar macht, die unermüdliche Eingabe von Werten in unbegrenzt aufnahmebereite Systeme, jedenfalls fast. So gesehen, wäre XORG eine Handbewegung, die das Dunkel auf den Schirmen hinwegräumt: eine Bewegung in der Bewegung, eingebettet, ansonsten sähe diese Hand alt aus. Die Bewegung in der Bewegung ist eine Parabel, sie steht für vieles, aber nicht ohne weiteres. Der Trick, dem Publikum eine Nichts-als-Welt vorzugaukeln, liegt darin, jene zweite durch Zureden zum Verschwinden zu bringen. Das wirkt, seltsamerweise, obwohl jeder sie wahrnimmt und sorgsam in der Bewegung verbirgt, vermutlich, damit sie ihm nicht abhanden kommt.
Wer nichts verstanden hat, darf ausnahmsweise passieren.
Fast ist es geschafft.
X. nennt man im Yagir die Abfallprodukte von Prozessen, die dem Einzelnen, nachdem er sie redlich genährt, über den Kopf wachsen. Was heißt schon über den Kopf? Kaum zur inerten Größe erwacht, verlieren sie jede Kontur und mutieren zu Nebeln, in denen nach und nach jede Orientierung erlahmt. »Was soll ich machen?« fragt der Yagirit, der noch nicht gewohnt ist, sich nach der Decke zu strecken und den Anweisungen Folge zu leisten, die von allen Seiten her auf ihn einprasseln. Gute Frage! »Nichts«, wäre eine Antwort, »alles« eine andere, beide gleich unbrauchbar, wenngleich intellektuell reizvoll. »Die Lautsprecher ausschalten« wäre eine andere, aber sie klänge bereits nach Aufsässigkeit und verbietet sich von selbst. »Man lernt es auszuhalten und dabei kommt immer etwas heraus.« Der geübte Yagrit weiß, was die Stimme verschweigt: ›Halte dich an die Xotuln. Am besten gehst du dort entlang, wo sie dicht an dicht liegen.‹ Der Weg nach Orb ist mit Xotuln gepflastert: eine geflügelte Redensart, die man den Fremdlingen in die Schuhe schiebt, damit sie sich besser in ihnen verlaufen.
Im Yagir ist das Rauchen verboten und das ist gut so. Riesige
Gebiete der Wildnis sind der Verrücktheit von Menschen, die
unbedingt ihren Glimmstengel brauchen, bereits zum Opfer gefallen
und weitere werden folgen. Kein Verbot kann dieses Laster
beseitigen. Nur verringern kann man es, wenn man die Alten und
Schwachen beeindruckt, die sowieso immer aufgeben wollen. Jetzt
fühlen sie sich genötigt und protestieren heftig, übertreiben ihre
Sucht bis ins Lächerliche und lassen die zittrigen Finger von der
Packung, weil sie sich nicht trauen. So ist das mit den Verboten.
Allerdings wird der Anteil derer, die aufgeben, bei weitem
aufgewogen durch den Anteil derer, die durch das Verbot erst
angelockt werden. Ihre sehnige Muskulatur, verborgen unter einem
Fell, das sich von der Savanne kaum abhebt, verheißt nichts Gutes.
Immer weiter gehen sie jetzt in den Yagir hinein, die Spurenleser
sehen die Zeichen und schweigen, denn sie fürchten die Entlassung,
wenn sie von erhöhten Gefahren berichten. Dabei ist der Yagir so
groß, dass man eine Vorsicht, wie sie im Rauchverbot zum Ausdruck
kommt, für unangebracht halten könnte. Dem ist aber nicht so. Im
Yagir gibt es viele einsame Existenzen, die sich nicht zu helfen
wissen, wenn die Brandwolken am Horizont erscheinen. Jetzt
verschließen sie Tür und Fenster und hoffen, das sehnige Pack
zieht in der Ferne vorbei. Denn die ohnehin stetig wachsende
Brandgefahr wiegt wenig angesichts der Aussicht, von ihm aufgespürt
und zum Objekt seiner sadistischen Späße gemacht zu werden. Über
die Art und das Ausmaß dieser Quälereien sind viele Hypothesen im
Umlauf, aber es bleiben Unsicherheiten. Den geräuschlosen Peinigern
nützt der Umstand, dass man im Yagir nur Wörter für das besitzt,
was man nicht wirklich fürchtet. In vielen Belangen ist das von
Vorteil. Aber wohl nicht in allen. Im gegebenen Fall scheint es
aber, als habe man die Bedeutung der vorhandenen Bezeichnungen
willkürlich auseinander gebogen, um einen namenlosen Raum zu
erzeugen, in dem diese Wesen ohne Anzeige zu gleiten vermögen. Es
heißt, die Romanproduktion im Yagir nimmt zu.
Die Ersetzung der Struktur durch den Diskurs und dessen Verdrängung durch den Social-media-Hype bei den Allerweltsdeutern der Kultur hatten und haben etwas Atemberaubendes, in anderen Zeiten hätte man gesagt, es bleibt einem dabei die Spucke weg. Nur die Zeit-Ziehharmonika stellt immer wieder den Abstand des ganz Anderen her. Sie benötigt dabei viel Luft und Ellbogenspiel. Nun, reden wir von etwas ganz anderem. Reden wir davon, wie diese von Differenz strotzenden Zeitzeugen es innerhalb von anderthalb Generationen geschafft haben, alles wegzureden, was sich aus dem selbstgenügsamen, auf Geld, Freizeit und Spaß abonnierten Kollektivwesen auch nur millimeterweise entfernt, so dass es allmählich an seiner eigenen Existenz irre geworden ist und zu den eifrigsten Totrednern des Geistes zählt. Mag es zählen. Mag zählen, was will. »Schon eure Zahl ist Frevel«, fabelte einst der aristokratisierende Wirtssohn George, dem sein Hang zu jungen Männern und ihren ›Idealen‹ die Poesie verdarb und die Neugier herablassender Biographen einhandelte. Sinnigerweise lässt der Vers aus, ob die große oder die kleine Zahl das größere Übel stellt. So zählt, wer beizeiten das Zählen geübt hat. Ein Klassiker muss mit allen Lagen zurecht kommen und diesen hier: finde ich gut (x).
Niemand kennt den dramatischen Ursprung der Zähne. (Eluard / Ernst)
Das mag sein. Wer wollte darüber rechten? Aber, wie immer,
ein bisschen wissen wir schon. Ödipus zum Beispiel, mit diesem
unfassbar feinen Gehör begabt, das nichts hören will, bis alles
zugleich darin Raum findet, benützt die Zähne noch kaum, jedenfalls
nicht, um seine Zunge zu hüten. Gewiss hätte er sie sich sonst
abgebissen, statt sinnloserweise Rache an seinen Augen zu üben. Mit
kleinen spitzen Zähnen öffnet Sokrates die Ampulle mit dem
Schierlingsgift, um es den Freunden einzuträufen. Zugegeben, der
Weg von dort zu den blendenden Gebissen unserer Schauspielerinnen,
die man auf jedem besseren Basar für ein Spottgeld erstehen und
sich über den Kamin hängen kann, ist noch weit. Aber ein Anfang ist
gemacht. Man hätte gern das Gebiss der Maria Stuart, doch der
Anblick könnte enttäuschen. Sicher wäre ich mir im Falle Hamlets:
ein ungeheures Gebiss, einer Raubkatze würdig, käme zum Vorschein,
könnte man es wagen, den bleichen Prinzen zu exhumieren. Doch das
sind Petitessen im Vergleich zu der Frage, worauf der dramatische
Biss zugegebenermaßen hinauswill. Vor dieser praktisch
unverantwortlichen Frage erstarrt das Publikum, bevor es in hellen
Haufen das Foyer flutet und letztlich die Straße gewinnt. Die
Straße gewinnen – das wird es sein. Aber um welchen Preis? Wer das
Gras wachsen hört, dem ist das Wachstum der Zähne zuwider und er
will es nicht sehen. »Ein scheußliches Schauspiel!« murmelt er
beinahe tonlos hinter einer geschlossenen Reihe von Zähnen, die er
niemandem zeigt außer dem Spiegel, der sich pflichtgemäß schüttelt.
Dass einer zu Boden fällt, ist ganz selbstverständlich, fragt sich
nur, wie er aufkommt, ob als Kopf oder Zahl. Das zu entscheiden
fällt nicht immer leicht, es täuscht sich da mancher fürs Leben.
Fein heraus sind Leute, die mehrfach aufschlagen, es sei denn, der
Mutwille hat sie verführt, aber auch so einer findet leicht
Kundschaft. Auf den Aufschlag kommt es an. Was einmal die
Unfallstatistik füttert, führt ein andermal eine stabile Lage
herbei – den Kopf oben tragen ist weniger Haltung als das, was
herausspringt. Das Wort klingt ein bisschen ordinär, weil die Leute
nichts anderen kennen als ihren Vorteil, aber es trifft die Sache.
Überhaupt das Springen: an unsichtbaren Seilen übt es sich fast so
gut wie an sichtbaren. Sie lassen sich leicht höher stellen.
Wenn das Genie zu pöbeln anfängt, wirft es mit Zahlen um sich. Das ist schade,
denn im allgemeinen weiß es, was zu sagen wäre, damit die Menschen begeistert
applaudieren und nicht nur dumm herumstehen. Mit Zahlen beeindrucken wollen ist
etwas für Anfänger, die noch nicht wissen, dass es die Zahl an sich ist, besser
gesagt, ihr Schein, der beeindruckt, jedenfalls in der Masse, die auch gern die
breite genannt wird, denn es scheint auch schmale zu geben. Die menschliche
Auffassung, stets begierig nach alten Informationen in neuer Verpackung,
überschlägt den Inhalt und nimmt das bloße Dastehen einer Zahl als Bestätigung
ihrer Sicht der Dinge. Ist der Rezipient anderer Ansicht als der Referent oder
passt ihm die ganze Richtung nicht, dann ist ihm ohnehin jede Zahl schnuppe. Er
ist überzeugt davon, jederzeit tonnenweise andere beibringen zu können, mit
denen er zu beweisen im Stande wäre, woran ihm liegt. Das öffentliche Hantieren
mit Zahlen verfolgt zwei Zwecke, die einander offenkundig ausschließen: erstens
das Volk gaffen zu lassen, weil es, solange die Magie der Zahl wirkt, nichts zu
sagen weiß, zweitens das naturwissenschaftlich beleckte Gewissen zu beruhigen,
das selbstverständlich begriffen hat, dass Zahlen die Welt regieren. Und darin
liegt auch der Sinn des Pöbelns: die einen wissen, die anderen fühlen zu lassen,
dass man es weiß oder, wie der Hund die Wurst, intus hat.
Zahnlos sein, das zeichnet den Löwen auf Urlaub, den Löwen a.D., den Löwen an sich, der beschlossen hat, sein Wirken vorbehaltlos dem Wir, der Weltgemeinschaft derer, die guten Willens sind, zur Verfügung zu stellen. Es zeichnet ihn, soll heißen, er fühlt sich in seiner Rolle unaufdringlich bestärkt und manchmal sogar auf unangenehme Weise nach vorne geschoben, als wolle man ihm signalisieren, dies sei nun einmal seine Rolle und er solle sich nicht genieren. Geniert er sich denn? Solange er in Reih und Glied steht, fühlt er sich gern als primus inter pares, doch so, vor der Reihe, allein dem Oberlehrer gegenüber, der an der Tafel die Einsatzgebiete malt, während in den Bänken Tumult herrscht, weiß er nicht recht, was er von der Sache zu halten hat, er wäre gern einer wie alle und weiß, gerade das ist ausgeschlossen, und er weiß den Grund, ohne ihn zu erraten. Er weiß ihn, soll heißen, er blickt auf die Reihen blitzender Gebisse in fröhlichen Raubtierköpfen und träumt von Anschaffungen, die er nicht wird bezahlen können.
Seltsame Vorstellung vom (menschlichen) Gehirn: hinten wird gedrückt und vorn
spritzt es heraus. So jedenfalls läuft das Spiel in den sozialen Medien, dieser
Massenververanstaltung, bei der jeder jeden aufklärt, indem er ihn für dumm
verkauft. Man muss sich eben im Gespräch halten. Am besten gelingt das, wenn man
die eigene Zahnpasta allem beifügt, was die Publikumsmagneten täglich ablassen,
oder gleich ganz ohne Paste sich an seiner Verbreitung beteiligt. Das pastafreie
Posting ist gleichsam die Königslösung der Sprachlosigkeit: wer denkt, hier
werde gedacht, fällt auf den herein, der bloß auffallen will. Er hat sein
Wichtigkeitshäkchen angebracht und damit die Botschaft geadelt, und er hat seine
Gründe für sich behalten – welch innerer Reichtum! Welches Engagement! Welcher
Mut in öffentlichen Belangen! Aber alles in allem ist die Zahnpasta dem
wortlosen Reichtum doch vorzuziehen. Der Mensch ist das Wesen, das auf
Entgegnung lauert. Um sie zu provozieren, hat es die Lauersprache erfunden, die
Sprache, mit der im Einzelnen die Gemeinschaft am Drücker sitzt und nicht
loslassen will. Denn, um ehrlich zu sein: sie muss unter Druck stehen, die
Gemeinschaft, um nicht zu zerfallen, und das erreicht man am besten durch
Drücken.
Der Zauber ist faul, ein träger Lump, der lieber zu spät kommt als
wirklich zu helfen. Aber es gibt Lagen, da kommt so einer gerade
recht. Die wirklichen Helfer verrichten ihren Dienst und sind
verschwunden. Das spricht nicht gegen sie, aber auch nicht für sie.
Wären sie doch nur ganz verschwunden! Aber selbst das gelingt ihnen nicht.
Einmal in dein Leben getreten, schwärmen sie in
Gegenwarten aus, die noch kommen. Jede von ihnen erinnert an eine
fatale Lage, an die du nicht zurückdenken magst. Es sind blockierte
Erinnerungen, sie umkreisen dich und ihr Treiben wird zusehends
dichter. Auch harmonieren sie untereinander nicht, sie versuchen
sich auszustechen, zusammen mit den verdeckten Gesichtern ergibt
das den Eindruck einer großen Gemeinheit. Eine Hatz aus nichts, aus
den zartesten Anfängen, aus lauter Rührungsresten sozusagen.
Dagegen hilft nur der Zauber – nicht der große, niemals
aufgedeckte, sondern der kleine Schwindel, dem man nicht von hier
bis da traut, den man durchschaut hat, bevor er sein Spiel beginnt,
dem sozusagen von sich selbst bereits schwindlig wird. Ein solcher
Zauber kommt stets wie gerufen, er hat sich auf diese nicht
ergangenen Rufe spezialisiert und kennt sie in- wie auswendig. Wer
die unerwiderten Rufe zu den Kostbarkeiten eines Menschenlebens
zählt, sollte diese hier nicht vergessen, ebenso ihre prompte
Erfüllung. Wie sich nichts von selbst versteht, so auch dieses
System der kleinen Erfüllungen, das sich mit der Zeit um und über
jeden Einzelnen rankt und das er, wie es ihn, gegen die anderen
abschirmt. Lieber bietet er die Oberfläche des Unglücks, eine leere
Hülse, deren Anblick viel wirkliches Unglück erzeugt.
Angenommen nur, Sie sind an der Macht – angenommen nur, denn in Wahrheit sind Sie ein Würstchen –, wie stehen Sie da vor Ihrer Primadonna? Wer sich dieser Frage nicht stellt, ist kein Mann und die Macht zerrinnt ihm, ein wüster Traum, an dessen Ende man dankbar aufwacht. Eine Frau an der Macht hat den Mann nicht nötig, sie schnipst ihn weg und holt ihn heran wie am Gummiband. Das ist Kinderpsychologie, man erfährt sie aus Märchen und sie berät einen zuverlässig ein Leben lang. Nur laut werden lassen darf man sie nicht. Wer glaubt, das Regieren besitze kein Geschlecht, der hat den Kinderglauben an Riesen und Zauberinnen verloren, verloren irrt er zwischen den Steinbrocken des Riesengebirges umher und Rübezahl beobachtet ihn lächelnd. Jedes hinzugedachte Geschlecht dient dazu, Machtverhältnisse zu verschleiern: die Menschen verstehen die Beweggründe derer, die sie regieren, nicht länger und folgen ihnen betäubt, doch willig. Bloß an den Rändern bröckelt es laut oder leise. Das große Drama spielt zwischen Frau und Mann. Das Spiel der sexuellen Minderheiten und Identitätssucher mag eine Zeitlang
die Szene beherrschen, aber es unterminiert den Glauben an die Macht (was viele gut finden). Sein Stichwort lautet: Angst vor Gewalt.
Man hält die Produktion von Zauberwörtern für eine Erfindung der
Romantik, doch das ist ein Irrtum, den Studenten zu büßen haben,
wenn erst ein sogenannter Abschluss ansteht. Anfangs wissen sie
noch nicht, dass es Bußarbeit ist, was da auf sie zukommt, sie
wollen, wenn sie klug und nicht ganz so korrupt sind wie ihre
Lehrer, ›etwas herausbekommen‹. Dabei stopfen sie unentwegt etwas
hinein: Angst-, Schuld-, Beklemmungsgefühle, weil ihnen die Leere
dessen aufgeht, was sie sich ›erarbeiten‹ müssen, aber
seitenverkehrt. Die Wissenschaften von der Kultur haben etwas
Hechelndes. Da die Theorien, auf die es ankommt, kurz sind, werden
sie nur im Plural gehandelt – allein das enthält eine
Schwierigkeit, die leicht unübersteigbar wird. Entsprechend ist der
Anschauungsgehalt der meisten Theorien dürftig und häufig gar nicht
vorhanden – eine verzweifelte Kombinatorik vor leerem Tresor,
angesichts derer einem nichts aufgehen kann, weder draußen noch
drinnen. Da kommt jedes Zauberwort recht: es erschließt und
versiegelt auf der Stelle, in einem oder ›ineins‹, um gleich eines
der beliebtesten zu verwenden. Verschwommen sehen, verschwommen
lesen, verschwommen denken – soviel Bewegtheit verlangt nach etwas
Festem, auf das Verlass ist, jedenfalls bis nach der Prüfung,
danach finden sich andere. Schön am Zauberwort ist das Prestige,
das es genießt und auf das man sich einlässt wie auf die Innereien
eines Sonnenstudios, um ein wenig Sonne auf sich zu lenken, auch
wenn kein Strahl am Himmel zu sehen ist. Jedes Wort hat einen
kleinen Schalter, an dem man die Zeit einstellen kann, die man mit
ihm verbringt, und einen großen Ein-Aus-Schalter, den nur
diejenigen betätigen dürfen, denen es Geld, Ruhm und Freizeit
einbringt.
›Zeitbombe Mensch‹ – dergleichen liest man hin und wieder in den Zeitungen und es ist ganz
recht, dass nach all den Zeitbomben, die man in Natur und
Gesellschaft aufgespürt hat, auch einmal der Mensch an der Reihe
ist, das Wesen, das, wie jeder weiß, irgendwann hochgeht – sei es,
dass es zu sehr getriezt wurde, sei es, dass es mit freundlicher
Beihilfe oder ganz von selbst auf den Trichter kommt: jeder Einzelne,
jeder kann hochgehen, einige tun es, bei einigen kann vom Tun
nicht die Rede sein, aber auch von keinem Erleiden, jedenfalls nicht
in des Wortes verlässlicher Alltagsbedeutung. Meist geht das Leiden dem
Hochgehen voran. Wer hochgeht, will nicht länger leiden, was
um ihn oder in ihm geschieht, lieber verursacht er Leiden. Ja, er will
leiden machen, darin steckt Macht, vor allem die Macht zu
ändern, vor allem die wundersame Macht zu ändern, was sich nicht
ändern lässt. Einmal hochgegangen, ist der Mensch nicht mehr
derselbe. Er ist anders, er fühlt anders, denkt anders, gehorcht
anders, jedenfalls für den Fall, dass er nicht gleich auf frischer
Tat erschossen wurde: denn dann hat er die Chance verpasst, ein
anderer zu sein, er hat seine Chance verpasst und jetzt ist er
tot. Ein rechter Amokläufer weiß das und kalkuliert das Ende ein.
Nicht anders ein Gotteskrieger, der das Paradies in einem
Anlauf zu entern entschlossen ist; er besitzt das Mittel, er kennt
den Weg, er kennt den Haken, den die Sache trotz allem besitzt, und
will ihn nützen. Überhaupt glauben mehr Menschen, als man denkt,
sie könnten den Haken nützen, an dem sie am Ende baumeln. Als
Zeitbombe ist der Durchschnittsmensch Blindgänger. Von seiner
Gefährlichkeit überzeugt, bleibt er brav, teils aus Überzeugung,
teils, weil die Gelegenheit, für die er sich aufspart, niemals
eintritt, teils, weil der Zünder versagt. Den meisten fehlt einfach
die Ladung, sie gehen ganz allein dorthin, woher uns keine Antwort
kommt, und nehmen niemanden mit. Man könnte sie Bombendarsteller
nennen, aber welche Rolle wäre das schon? Gelegentlich explodieren
sie, wie es heißt, im kleinen Kreis – das gibt ein bisschen Ärger
und am Ende amüsieren sich alle darüber.
Jesus und Pilatus haben viel Zeit gebraucht, um sich aufeinander zuzubewegen. Man kann auch sagen, sie haben sich Zeit gelassen. Aber was heißt das schon? Nun, da sie einander gegenüber stehen, Gesicht an Gesicht, Kinn an Kinn, Nase an Nase, Braue an Braue, spüren sie beide, dass eine Geste vonnöten ist, wollen sie nicht die Menschen enttäuschen, die sich viel von diesem Treffen erwarten. Beide verfügen über einen großen Vorrat an Gesten und dächten sie darüber nach, es käme ihnen so vor, als hätten sie ihn auf diesen Moment hin angelegt. Natürlich ist das der Grund, aus dem er nicht in Betracht kommt. So, wie sie jetzt gegeneinander stehen, Mann gegen Mann, entscheidet der nächste Einfall darüber, wer von beiden das Rennen macht. Jesus, der Mann, der der Welt ein neues Staunen bescherte, ist da natürlicherweise im Vorteil. Wie immer muss er nur tun, was niemand von ihm erwartet. »Ich werde dich jetzt töten«, flüstern seine Lippen, ohne sich zu bewegen. Auch Pilatus bleibt unbewegt. »Das habe ich erwartet«, flüstert der Stahl seiner Augen, sich in die des anderen senkend. »Sicher?« fragen die unbewegten Lippen, man könnte meinen, sie lösten sich ein wenig aus ihrer Starre, aber das ist der Großaufnahme geschuldet, der sich der Mensch nicht gewachsen zeigt. Auch der Stahl bebt ein wenig und es bleibt reine Spekulation. »Don’t forget«, schreibt der Stahl, er schreibt es in der Sprache des Siegers, dem alles gehört – die Häuser, die Stallungen, die Esel, die Ochsen, die Frauen – und der großmütig darauf verzichtet, seinen Anspruch soweit hinunter durchzusetzen, da ihm doch alles entgegenkommt: satis est. Und nun? »Genug ist nicht genug«, bebt es von unbewegten Lippen – ein schwacher Einfall, wie sich am Gegner erweist, der seine Schergen herbeiruft. »Bevor sie bei dir sind«, bedeuten die Lippen, deren Beben verschwunden ist, »bevor sie bei dir sind, werde ich in dir sein.« Diese Szene kennt Pilatus, er ist ein begeisterter Kinogänger und freut sich, wenn die Wirklichkeit sich ans Drehbuch hält. »He won«, ruft er mit diesem Lächeln, das seine Fans von ihm erwarten, und dreht ihm den Arm nach oben, der ehernen Zinne zu.
Bekäme jeder die Zeit, die er bräuchte, um sich zu entfalten, so träte ein, wovor alle Welt sich seit Anbeginn fürchtet, der Zeit-GAU: ein allgemeines Zeit-Bewusstsein träte an die Stelle der individuellen Lebenszeiten, aus deren Ballung und Zerstreuung die Zeiten hervorgehen, die alle kennen, lieben, verehren, verabscheuen, verleugnen und entsorgen, sofern sie ihnen nicht in ›vollendeter Gleichgültigkeit‹ entgegentreten – Weltleute alten, sehr alten Schlags, die ihr Universum bereits mitbringen und nicht durch ein zweites belästigt werden wollen. Das gemeine Zeit-Bewusstsein, nennen wir es Fritz, meinethalben Zeitfritz, tendiert, wie jeder weiß, der seinen Gang verfolgt hat, zum Ungemeinen, mithin zur Negation seiner selbst: ein Reservoir vieler Ungereimtheiten, vieler Unstimmigkeiten, sehr vieler Unannehmlichkeiten...
Wer zum Teufel befiehlt Zeitfritz, jedem Gegenlüftchen zu folgen, das seinen Weg streift? Er muss, denn der Weg ist die Zeit, und er muss sie sich nehmen, um nichts zu versäumen. So geht er dahin. Wohin? Ins vorgefertigte Zeitlos. Er ist unser Mann im Off. Viele kreuzten seinen Weg, aber aus Versehen. Verständlich, denn außer der Zeit, die er die seine nannte, war er selbst niemand, ›hervorstechend niemand‹, wie einer, der ihn, lange nach seiner Zeit, beobachtete, einmal niederschrieb. Jawohl, man konnte ihn niederschreiben, nur das Aufgeschriebenwerden besorgte er selbst.
Wie man hört, gestaltet er neuerdings Zukunft.
Irgendwo, in Köpfen oder aus Kloaken, die wir nicht sehen, erneuert
sich gerade die Welt – an diesem Gedanken wird jede
Zeitgenossenschaft zuschanden. Sie wird zur Schande, nicht gesehen
zu haben, an der die Nachwelt unbeirrt festhält. Man hätte sehen
können, da es doch andere gab, die sahen, und: man hätte sehen
müssen, da es doch anderen (oder in anderen) geschah – zwischen
diesen beiden Polen irisiert, was als Vorwurf absurd, als
moralisches Gebrechen unabweisbar ist. Zeitgenossenschaft ist ein
Konstrukt post festum – Trittbrettfahrer vergangener Zeiten fühlen
sich zum Urteil über ihre Mitwelt berechtigt und fordern
unnachsichtig von ihr, ihm zu entsprechen. Der intellektuelle
Spießer ist Zeitgenosse – wer immer ihm für seinesgleichen gilt,
ist ihm weit voraus oder er wurde, als halbseiden, von ihm erkannt.
Stunden werden nicht in Minuten gemessen, sondern nach Stundungen: eine, zwei, drei Stunden bedeuten Aufschub. Nicht den kleinen, der nach Sekunden zählt, nicht den großen, der nach dem Leben trachtet, sondern Aufschub pur. Das unterscheidet sie von den Minuten. Deren Bedeutung erschöpft sich darin, dass sie einfach vergehen – es ist ihr Los hinieden, niemand kann sie davon erlösen. Sekunden hingegen hüpfen ins Jenseits: sie erinnern daran, dass Zeit, gleichgültig, was die Putzfrau davon hält, ein Diskontinuum ist, etwas, das ›mit jeder Sekunde‹ hervortritt und sich davonmacht, keiner weiß wohin. Unterhalb der Sekunde beginnt das Reich der Physiker, hier leben sie wie die Götter in Saus und Braus. Tag, Monat, Jahr hingegen gehören dem Arbeitgeber, dem Staat und, wo sie noch das Sagen hat, der Religion. – Die Stunde ist die Zeit, die der Einzelne braucht, um sich zu finden. Hat er sich erst gefunden, dann ist er, jedenfalls in der Regel, auch bereit zu zahlen. Wofür? Törichte Frage. Wer sich fand, der findet es ganz in Ordnung, die Schuld des Daseins zu entrichten. Alles andere wäre Verrat. Wird die Stunde verweigert, dann fällt er in einen Abgrund, aus dem nur das blinde Aufbegehren hilft, das von keiner Schuld weiß als der seiner Peiniger. Eine gute Stunde: wer sie findet, dem gilt sie als Geschenk, wer sie vermisst, der fürchtet, sich abhanden zu kommen, wem sie verweigert wurde, der wird zum Explosionskörper: Nicht anfassen! Wann wurde sie verweigert? Von wem wurde sie verweigert? Wer das weiß, erhält ein Handlos und kommt, falls das Glück lächelt, weiter. Dem Terroristen schlägt keine Stunde, er schlägt zurück. Der eine oder andere Großtheoretiker folgt ihm darin, er spart sich aus und erbaut sich, klamm oder heimlich, an jedem ausgebrannten Omnibus, den er in den Nachrichten findet: wieder ein Kollektiv, dessen Bestimmung er prognostiziert hätte, hätte er es gekannt.
Der Beobachter hat keinen Zeitplan. Das unterscheidet ihn vom Befreier, dem er sich innerlich verwandt fühlt. Der Befreier, könnte man kalauern, hat keine Zeit, zumindest nicht übrig, da er die seinige völlig in den Zeitplan investiert hat, der ihn vorantreibt. Das sind die üblichen Kalamitäten der Freiheit, die sich schnell zu Paradoxien erweitern, bevor sie als Aporien verkümmern und am Ende von gleichgültigen Horden zertrampelt werden. Doch nicht davon möchte ich heute reden. Heute, Freunde, feiern wir den Beobachter. Der Zeitplan sieht ihn nicht vor. Sicher, es gibt diese Leute, die darauf achten, dass Zeitpläne eingehalten werden, und mancher hält sie für die wahren Beobachter. Nicht so der Beobachter selbst. Er kennt ihre Nervositäten und Tricks, er weiß, wann sie ins Schwitzen geraten und wie sie in ihren Berichten lügen und täuschen. Der Beobachter weiß, dass der Zeitplan, um eingehalten zu werden, zu Maßnahmen nötigt, die – idealiter – keiner sieht: Luftnummern der Geschichte, wie man sie nennen könnte, schnellstmöglich aus dem Gedächtnis zu streichen, wenn alles vorbei ist. In ihnen erkennt er die wahren Übergänge. Ob sie brutal sind oder nur komisch, ficht ihn fast weniger an als das Gefühl, der Zeit auf die Finger zu sehen. Was andere Plan nennen, ist für ihn diese unglaubliche Dreistigkeit zu sagen: HIER GESCHIEHT ES.
Man denkt sich die Zeit gerne randlos, in alle Richtungen hin
ausgebreitet, jedenfalls nach hinten wie nach vorn, und man nimmt
die Rede vom Urknall und dem endlichen Anfang der Zeit als
gottgegeben hin wie zu früheren Zeiten das kirchliche Dogma – man
weiß, wer dagegen spricht, kommt in Teufels Küche, also lässt man
es bleiben. Der Gedanke, dass die Zeit einen Rand hat wie jeder
beliebige Gegenstand, löst hingegen ein Befremden aus, das sich in
keine Ergebenheit auflöst. Ein Rand, wieso? Ist denn die Zeit ein
Ding im Raum? Ist sie begehbar? So fragen heißt, die Einsicht in
das Unvermeidliche des Gedankens willkürlich aufzuschieben. Wer
dabei verharrt, macht sich lächerlich. »Jetzt lass es gut sein!«
»Hör doch mal auf!« Der Zeitrand stößt auf Interesse, wo immer
einer ihn aufblitzen lässt. Das kommt daher, dass Ränder gefährlich
sind, insbesondere solche, von denen man weiß, dass es dahinter ins
Bodenlose geht. Über den Zeitrand schubsen: eine neue Gefahr und
ein neues Spiel. Man weiß, dass sich die Leute am Zeitrand drängeln
werden, weil das Bewusstsein der Gefahr das Lebensgefühl steigert.
Man weiß auch, dass sie Ketten bilden und sich weigern werden, auch
nur einen Schritt weiter zu gehen, obwohl dort alles ›normal‹ und
›wie immer‹ auszusehen scheint. Sie werden den Abgrund der Zeit
fürchten, weil sie instinktiv wissen: Er ist da. Und sie werden den
Rammstoß von hinten fürchten, der sie über den Rand hinaus
befördert. Sie wissen, er wird kommen, und sie werden alles tun, um
ihn abzufangen. Soviel zur Zukunft.
Der Zeitraum, in dem ich denke, schreibe, male, hat eine
Grundfläche von drei x drei Tagmetern. Das ist nicht viel, aber
wenn man bedenkt, dass die meiste Arbeit untertage geschieht,
sollte es ausreichen. Mit Tagmetern umgehen ist nicht so einfach,
ganze Kohorten von Kinowissenschaftlern beschäftigen sich damit
ohne Ergebnis. Der junge Mensch, machen wir uns nichts vor, ist in
dieser Hinsicht unbedarft. Er kennt die Zelle nicht, in der er sich
bewegt. Er hält sich für mobil, aber das ist ein Irrtum. Ein
nützlicher übrigens, sonst wären alle jungen Menschen Künstler und
das wäre das Ende. Wir haben es an uns selbst erprobt und können
berichten. Es gibt Organe, sage ich Ihnen, die daran sehr
interessiert sind. Nicht, was Sie denken, aber denken Sie
überhaupt? Sie warten doch nur auf die Pointe. Die kann ich
liefern. Aber halt, warten Sie. Den Zeitraum, soviel kann ich
verraten, erfüllt man durch Warten. Die Wartearbeiten, von denen so
viel die Rede ist, erfüllen ihren Zweck vornehmlich dadurch, dass
das in die Ferne gerichtete Warten, das den Menschen so
eigentümlich ist, umgegossen wird in ein Warten an Ort und Stelle,
im Hier und Jetzt. Wie das geht? Das kann ich Ihnen sagen. Wer
begriffen hat, dass nichts Besseres nachkommt, wer weiß, dass es
gilt, das Nächste zu fürchten, weil es seine eliminatorische Kraft
zuallererst an denen erprobt, die es einlassen, für den wird das
Warten zu einem kunstvollen Gefüge von Verrichtungen, in denen der
Horror vacui überall spürbar ist. – Mach die Tür zu, ich könnte
mich anstecken. Letzte Woche schon hatte ich einen Anflug, er hat
mich zurückgeworfen und es ging mir nicht gut. Nun bin ich
verspätet und muss aufholen. Ja, du hast recht. Nichts von dem, was
ich einst wollte, hat sich erfüllt. Und? Nichts davon ist verloren.
Mein Werk, mein persönliches, mir auf den Leib geschrieben, ist die
Zeit. Ich gestalte sie, ich gebe ihr Raum. Ich überlasse ihr meinen
Raum, ich gewähre ihr, was sie am nötigsten braucht: Raum. Ohne
Raum keine Zeit. Ohne Zeit kein Ich. Das haben wir beide begriffen,
es ist die Grundlage unseres Pakts. Durch mich tritt die Zeit in
den Raum aus. Sie darf ihn erfüllen, ich betätige das Ventil. Wehe
dem, der mich dabei stört. Ich blase ihn weg.
Wenn es die Zeit ist, die den Raum entfaltet, dann enthält jede Raum-Ordnung auch eine Zeit-Ordnung und unterschiedliche Weltordnungen bergen unterschiedliche Zeitordnungen respektive Zeitstrukturen. Solange sie nebeneinander koexistieren, markiert der Übertritt des Einzelnen den Eintritt in eine andere Zeit, eine Zeitreise, von der man Eindrücke und Souvenirs nach Hause mitnehmen kann, falls man es nicht vorzieht zu bleiben – ein Schritt, der von der neuen Umgebung belohnt wird, nicht aber vom eigenen Inneren, das es vorzieht, der neuen Zeit die Struktur der alten einzuziehen und damit ein spannungsreiches Innen-Außen-Gefälle zu errichten. In Wendezeiten, in denen die Systeme konfundieren oder eines das andere überwältigt und in sich aufsaugt, stürzen auch die Zeit-Ordnungen ineinander. Die siegreiche Weltordnung drängt die Bewohner der untergehenden aus der Zeit und hält ihnen die eigene hin, zusammen mit der Aufforderung: Spring! Und sie springen. Einer neben dem anderen, einer nach dem anderen, jeder einzeln, für sich, lösen sie sich vom Beckenrand und gleiten hinein ins unvertraute Element, in ein Zeitregiment, das sich anschmiegt und jeden Griff nach dem hingehaltenen Apfel mit Ereignissen konterkariert, denen noch keine Erwartung entspricht oder, da nichts zu erwarten keine menschliche Option ist, eine falsche. Falsch ist die Erwartung, die beim Kontakt mit der Wirklichkeit stirbt.
Man macht sich selten klar, dass uns die Nietzsche, Freud, Weber so
nah sind wie ihnen, zu ihrer Zeit, ein Rousseau, Kant oder Goethe –
also sehr nah, während letztere doch für uns, bei aller
dokumentarischen Sichtbarkeit, hinter historischen Nebeln verborgen
bleiben, in denen man endlos stochern kann, ohne die Frage
entschieden zu bekommen, wie es denn nun weitergehen soll mit den
geliebten Problembeständen und Menschheitsfragen, deren
Beantwortung man nicht gern dem Postboten oder dem Gedankenfriedhof
überlässt. Das heißt, wir gewinnen, nach Veränderungen, die uns
ohne Beispiel dünken, erst langsam das Bewusstsein der historischen
Distanz wieder, das uns den Älteren gegenüber nicht weniger als
selbstverständlich ist. Was man Posthistoire nennt, war, bei
allem seither sichtbar Gewordenen, ein Gedankenspiel von Leuten,
die sich und den anderen eine Zeitlang Ruhe verordnen wollten –
nach den ungeheuerlichsten Schrecken, das muss man zu ihrer
Verteidigung festhalten. Es ist das klassische Konzept einer
Geschichtsbetrachtung aus der Sicht von Siegern und Verlierern: die
einen wünschen, dass der einmal errungene Sieg ewig währe und
wollen nur noch Verkehr und Kommerz zugelassen sehen, die anderen
verlangen, dass die Situation der Niederlage sich nie wiederhole
und das Gehäuse der Welt sie ein für allemal aufgenommen habe.
Omnipotenz- und Ohnmachtsgefühle können eine Zeitlang zu gleichen
Ergebnissen führen. Beide beruhen auf Phantasien, die langsam
verblassen und einer realistischeren Weltbetrachtung Raum geben.
Die Sieger stehen vor neuen Herausforderungen und die Verlierer
begeben sich auf Felder der Auseinandersetzung, auf denen sie sich
Erfolg ausrechnen. Der eine oder andere Sieger kollabiert und
genießt den Fortschritt, der sich daraus ergibt. Die Fixierung auf
die immer gleichen Vordenker führt zu vergleichbaren Ergebnissen:
je heftiger die Beziehung, desto abrupter, desto sprachloser kommt
das Ende. Oder, schlimmer, das Bereden der Trennung hört nimmer auf
und die Zukunft wird zum Appendix der Vergangenheit. Besser wäre
es, man trennte sich rechtzeitig und bliebe ›in Freundschaft
verbunden‹ – eine Schimäre, aber keine unfreundliche.
Zeitzeugen haben eigentlich keine Zeit, da sie nicht über sie
verfügen. Über ihre Zeit verfügen andere gleich Naturgewalten, die
sich jeder Kontrolle entziehen. In ihren Leben steht ein
Zeitfenster offen, durch das andere hindurch zu sehen wünschen,
immer und immer wieder, denn dahinter liegt die Vergangenheit pur.
Sobald sie es schließen, sind auch sie weg vom Fenster und vom
Winde verweht. Das wissen sie und hüten sich vor unbedachten
Bewegungen. Damit nicht genug, sind sie ja Zeugen nur im Stand der
Gnade, den die anderen ›Zeugenstand‹ nennen: einer Gnade auf Zeit,
von denen gewährt, die sie zu Zeugen berufen haben. Auch diese Zeit
geht von ihrer Lebenszeit ab, aber anders. Im Zeugenstand bewegt
sich die Zeit vertikal. Man könnte versuchsweise sagen, sie fällt
von den Zeugen ab – ein lästig gewordenes Kleidungsstück,
ehrerbietige Hände tragen es aus dem Saal.
Zerstörung, Zerstreuung, Zufälle, Zwecke
Verschiedene Grundlagen der Motive fleißiger Täter und Denker.
Eines geht oft dem anderen voraus, anderes geht dem ersteren nach.
Auch der geschwindeste Kopf kennt seine inneren Landschaften samt
den Wurzeln philosophischer Säulen nur wenig und die Hoffnung auf
den Tod ist trotz seiner allgemein bekannten Gewissheit kein
Ratgeber.
Schon im Pseudo-Wallenstein bat dieser Seni vergebens um eine
einzige innere Landkarte, gleich von wem und wäre es die des
Kaisers. »Gib er sie mir und Gold soll dir in Strömen fließen.«
Seni antwortet: »Mein guter Herr, gäbe er mir die passenden Flügel,
Papiere und Stift zu solch einer Reise, ohne zu schaudern wüsste
ich ihm die Antwort zu malen. Wenngleich dies auch leicht unser
beider Ende bedeuten könnte. Denn ungestraft drängt bloße Neugier
sich nicht in solche Höhlen. Auch fehlte dazu die Lampe des
Psychopompos.«
Dennoch sollte an dieser Stelle der angeborenen Theogonie jedes
einzelnen Menschen gedacht werden, von der er sich weder durch
öffentlich vorgetragene Wut, durch Zerstörung von Kirchen oder
äußere Zwecke entfernen kann. Je lautstärker die Gotteslästerung,
desto näher die Theogonie, die eiserne Wand mit rätselhaften
Gesetzen, an die der Lästerer stößt. So lehrte es Garganelli am Abend zu Lichtel. -
PM
Das Alphazet... was wir uns dabei gedacht haben? Vielleicht nichts, vielleicht nicht einmal das, jedenfalls alles Mögliche. Heraus kam etwas anderes als das, worüber damals gesprochen und sicher auch nachgedacht wurde. Etwas nicht so anderes, muss redlicherweise hinzugefügt werden, dass die Differenz das Gemeinsame überwöge. Also: was uns vorschwebte, war ein Wörterbuch der unnötigen Begriffe, mit Ausflügen in den Bereich der unmöglich scheinenden, aber doch der Begriffe. Das Begreifen also stand im Vordergrund, so wie das Schneiden im Vordergrund steht, wenn man das Messer neu erfindet oder eine neue Sorte Messer auf den Markt wirft, die das Schneiden revolutionieren könnten, wenn die Menschen daran ein Interesse hätten. Für jeden, der liest, steht fest: es steht viel Unbegreifliches zwischen den Zeilen, das ein Recht darauf hat, auch einmal begriffen zu werden, es müsste eben anders begriffen werden, mit unebenen Mitteln sozusagen. Das Alphazet ist zur Welt gekommen wie das Messer zum Leichnam. Allein, für sich, hat es gar keinen Weltbegriff. Erst durch die Häufung der Fälle stellt sich heraus, was sich damit anrichten lässt. So verwandelt es nach und nach das bescheidene Witzwort eines Philosophen, die Welt sei alles, was der Fall ist, in eine ernsthafte Sache. Was, bitte, ist der Fall? Alles, was fällig ist. Nun, heute ist manches fällig, und wir leben heute. Die Welt ist alles, was fällig ist. Fällig war – und ist – das Alphazet. Da steht es und es ist die Welt, hier, heute, morgen, gerade so lange es sich verzettelt.
Die Leute lieben das dumme Zeug über alles und schenken es ihren Kindern, zum Beispiel zum Weihnachtsfest – wann immer sich eine Gelegenheit bietet. Im Politischen wird daraus etwas, das von Unbedarften, die alles glauben wollen, was nicht zu glauben ist, gern ›esoterisch‹ genannt wird. Sie nehmen für bare Münze, was der Weihnachtsmann für die Großen ihnen erzählt, und bekommen davon Zustände, die andere, freiere Zeitgenossen als Krampf diagnostizieren, ihnen selbst sind sie teuer. Wie teuer, das lässt sich selten ergründen, weil der Vergleichsmaßstab fehlt. Leider existieren keine verbindlichen Einheiten, in denen Unfug gemessen wird, daher kann jeder frei damit schalten. Die Herstellung von Esoterica ist einfach: Grammatiker alten Schlags sprechen von Substantivierungen ohne Substanz, Realpolitiker, sofern sie in die Arena gelassen werden, von verblasenen Ideen. Das Wort ›verblasen‹ beschäftigt den teilnehmenden Verstand – ›verblasen‹ klingt wie ›verweht‹, aber es steckt eine Kraftanstrengung dahinter, der Versuch, aufzublasen, was sich nicht aufblasen lässt und sich stattdessen mit einem unfeinen Geräusch davonmacht. Dass sich auch Ideen davonmachen können, ist ein tröstlicher Gedanke, doch findet man überall Leute, die gerade sie im Besitz zu haben versichern. Die Idee der Verblasenheit wird selten evaluiert. Dabei wäre gerade sie es wert, verfolgt zu werden: Einmal pusten und schon ist sie über alle Berge.
Man kann, was Lola rennen lässt, ›Leben‹ nennen, man kann es auch
lassen. In jedem Fall handelt es sich um eine Okkupation. Wer
okkupiert hier wen? Das Leben das Leben? Die Besinnungslosigkeit
die Besinnung? Aber das stimmt nicht, auch die Besinnung rennt,
dass es eine Lust ist, ebenso der Instinkt und alle Instanzen
dazwischen. Sie alle sind nach einem Ziel unterwegs. Nein, nicht
der Tod ist das Ziel, auch nicht das erfüllte Leben. Das Ziel ist
der Okkupant: die einzige Gestalt der Unfreiheit, die dem
Freiheitsdrang nicht nur erträglich, sondern unumgänglich
erscheint, da sie konturlos bleibt. Das Ziel als unbestimmte Größe
– vergleichbar dem Verlangen, der Lust und der Neugier – bleibt
weder einfach noch einsinnig, es bildet ein Geflecht sui generis,
es erzeugt eine eigene Ebene der Selbstverständigung und der
Feinabstimmung: von Tag zu Tag, vielleicht von Minute zu Minute. Es
macht den Heutigen, so wie man sagt: Er hat sich gemacht. Das sagt
sich leicht und unterschlägt die Mühen der Realisierung. Wer als
Kind darauf gedrillt wurde, immer ein Ziel vor Augen zu haben, und
sich dann als Erwachsener in einer Welt bewegt, die in toto, soll
heißen nach dem Selbstverständnis der Mehrheit ihrer Bewohner,
angekommen ist, kennt nur noch Ziele, er lebt in einem
Zielpluriversum, das ihn verdauen muss – mit Haut und Haar, mit
Mark und Bein, von Sekunde zu Sekunde.
Man hätte wissen müssen, dass der Kampf um den Menschen vor den Zigaretten nicht haltmacht. Nun ist es geschehen und keiner kann sagen, er habe es nicht gewusst. Man hat es geschehen lassen, als läge man noch in den Windeln und das, was geschieht, gehe wie ein fernes Verantwortungsbrausen über einen hinweg. Die Raucher stehen vor den Türen und treten ihre Kippen in den Asphalt, als wollten sie sich gleich mit zertreten, aber so, dass niemand es merkt. Sie stellen ihr Laster aus, doch sie sind es selbst. Das Laster zeichnet ihre Bewegungen und macht sie kenntlich. »Was sind das für Männer?« fragt das Kind am Arm seiner Mutter, die es hastig weiterzerrt. »Still, das sind Raucher.« »Rauchen Frauen auch?« »Darüber spricht man nicht.« Warum nicht, denkt sich das Kind und beschließt, eine Frau zu werden, um Klarheit zu schaffen. Besser unter dem Schafott leben als daneben, immer zusehen und weggezerrt werden ist langweilig.
Zikaden – so nannte Oriana Fallaci die üblichen
Gesinnungsträger in Politik und Medien, deren Geräusch den Lesealltag
der Informierten erfüllt: weder artikulierte Rede noch kollektiver
Gesang, stattdessen gleichmäßiges, auf- und abschwellendes Hintergrundsirren,
das allzu oft mit dem persönlichen Tinnitus
verschmilzt, so dass eine Trennung der Elemente praktisch
undurchführbar erscheint. »Denke ich wirklich so? Wer gibt mir das
ein? Wer sind die gesichtslosen Wesen, die mich daran hindern wollen
(und oft genug daran hindern), einen klaren Gedanken zu fassen?«
Bekommt man eins dieser Wesen zu fassen, dann wundert man sich
darüber, wie unscheinbar es sich ausnimmt. Und wirklich, es nimmt
sich durch Sichtbarkeit aus, es bleibt eine Sichtbarkeit am Rande des
Unsichtbaren, gleich ist sie wieder von ihm verschlungen. Grundfalsch
wäre es, dieses schmächtige Wesen für mein Unbehagen und meinen
Groll verantwortlich zu machen. Nie hätte es mich, so betrachtet,
verletzen können. Fühle ich mich denn verletzt? Aber sicher. Dieses
Schwirren aus der Nacht, in der alle Kühe grau sind, verletzt das
Verlangen nach Distanz und Unterscheidung, also intellektuelle
Grundbedürfnisse, es annulliert mich als denkende Person. Der daraus
resultierende Ärger, einmal in der Welt, lässt sich nicht mehr aus
ihr entfernen, er bleibt, bis ans Grab, ein ständiger Begleiter.
Dagegen rebelliert der innere Mensch, täglich erzählt er sich die
Geschichte seiner Abgeklärtheit aufs neue, es bleibt aber eine
Geschichte und insofern fadenscheinig.
Offen gesagt, es wird einem nicht wohl unter denen, die alles
durchsetzen müssen. Die Durchsetzungskraft bleibt eine Resultante
aus Infantilismus und Gemeinheit, was immer man darüber denken mag.
Das gilt im Feld der Gedanken, wo die Orchideen immer als erste
dran glauben müssen, sobald die Vermesser kommen. Es gilt auch
andernorts, doch Vorsicht ist angebracht. Lieber sind mir die
Vermessenen, ihr Maß ist die Maßlosigkeit. Das leuchtet ein,
bedenkt man, dass sie schon vermessen wurden. Dieses Bedenken! Wenn
einer meine Gedanken sichtbar macht, dann danke ich ihm sehr. Was
denn sonst? Ich weiß, ich kann nicht mit ihm konkurrieren. Will ich
es denn? Wo alles falsch ist, verdirbt das Richtige schnell.
Pathos wird durch Pathos bekämpft, vertrautes Pathos durch vertraute Pathosformeln –: so wird Religion ›zivil‹. Zivilität, für sich betrachtet, hat, unter Glaubensaspekten, einen schweren Stand. Wer soll da glauben, wo es nichts zu glauben gibt? Wer soll da vertrauen, wo es nichts zu glauben gibt? Die zivile Ordnung, soweit sie kein bloßer Ausfluss nackter Gewalt ist und nicht nur als glänzender Überzug einer militärischen Ordnung daherkommt, fußt auf dem Vertrauen in die Institutionen, also auf Glauben. Woraus dieser Glaube besteht, ist nicht von Belang, solange er nur das nötige Vertrauen erzeugt. ›Sollen Menschen unterschiedlicher Religion zu unterschiedlichen Göttern beten – solange die Götter in einem Punkt dasselbe verlangen, ist der zivilen Ordnung Genüge getan.‹ Dieser Punkt ist leicht benannt, es ist eine Tautologie: Recht ist Recht und Gesetz ist Gesetz. Eine Religion, die Recht und Gesetz zu profanem Unrecht oder ›bloßer‹ Gewalt stempelt und dem ihr eigenes Recht entgegensetzt, kann nicht länger zivil genannt werden, sie ist kriegerisch und fordert, sobald sie Unruhe schürt, die kriegerische Gewalt des Staates heraus. Dann schlägt die Stunde der Zivilreligion, des Glaubens an die alleinseligmachenden Institutionen des Staates. Der ›endliche Gott‹ des Herrn Hobbes erwacht aus seinen Träumen und fordert: Tribut. Worin er besteht, das erfährt jeder, wenngleich der Reihe nach. Er erfährt es, sobald er die Zeitung aufschlägt, er erfährt es am Arbeitsplatz, in seinen vier Wänden, sobald der Fernseher läuft, von den eigenen Kindern und auf seinem Blog, dort, wo er sich sicher wähnte wie in Abrahams Schoß. Zerstört der Kampf für den liberalen Staat die liberale Gesellschaft? Ganz recht, so wie das Schwimmen die natürliche Bewegung des Gehens zerstört – den, der ins Wasser fiel, kümmert es wenig. Wer genießt, genießt, wer kämpft, kämpft. Unter dem Vorwand, die Feinde der Freiheit zu bekämpfen, zur Verfolgung ihrer Verteidiger aufzurufen, ist, zivilreligiös gedacht, infam.
Wir sind notorische Zivilisten, wir verachten den Krieg der Welten
ebenso wie die Feldzüge der Großkonzerne, die wir in Sandkästen
nachspielen, kritisches Bewusstsein geheißen, wir erschrecken über
die gewalttätigen Zusammenstöße zwischen Zivilisationen, die sich
so manches zu sagen hätten, wären sie nur bereit, einander ins
Gesicht zu sehen und nicht zu spucken, wir glauben nicht an die
Beherrschbarkeit der Natur, speziell der Kernspaltung, zu
friedlichen und anderen Zwecken, wir schlafen unruhig, weil wir uns
vor der Gewaltbereitschaft der Nachwachsenden ebenso fürchten wie
vor dem hemmungslosen Gerede der Älteren, wir sind Heutige, weil
wir zu wissen glauben, welche Dämonen im Vergangenen lauern, wir
haben die Leichenhaufen in Schwarz und Weiß nicht vergessen, auch
nicht in Technicolor, wir gedenken der Asche und sehen mit
Schaudern den Finger des Mörders am Hals des Opfers. Unsere Hände
sind leidlich adrett, nicht, weil wir fürchteten, sie zu
beschmutzen, eher, weil wir das Zupacken für eine unanständige
Tätigkeit halten, aus der viel Unheil entsteht. Wir sind mündig,
nun ja, man sieht unseren Gesichtern nach, dass in ihnen Münder
sitzen, die sich gelegentlich öffnen, nicht, um zu schreien oder zu
lachen, sondern um Sätze von gediegenem, der Situation angemessenem
Ernst abzusondern, Weinkrämpfen vorzubeugen, die Erregung zu
dämpfen, zu begütigen. Wir wissen, was gut oder schlecht wäre, wir
wissen schon weniger, was gut oder böse ist, das Vorbeugen nimmt
unsere Kräfte in Anspruch, so dass wir manchmal auch gelobt werden
wollen, was sogar geschieht. Dieses immer ein wenig Vorgebeugtsein
wirbt, warum es verschweigen, um Sympathie. »Es muss doch möglich
sein...«: so beginnen viele unserer Sätze, es sind nicht die
schlechtesten, möglich ist alles, die Träne blinkt, das Leben hat uns wieder.
Beim Zuberrennen gewinnt immer der Beste. »Mach die Schotten dicht,
alte Halbleiche!« ist so ein flapsiger Spruch, mit dessen Auslegung
einer viel Geld verdienen könnte, der die Wettregeln kennt. Lernen
ließe sich daran viel. Die kalten Wächter, die manche Übertretung
gesehen und nicht geahndet haben, begießen die Stunde des großen
Verlusts. Beim Zuberrennen flattern die Herzen blank, wer mit der
Gabel hineinstoßen wollte, hätte sie gleich am Hals. Aber wer will
das schon. Alle Sieger werden erwartet, besonders einer, der
schönste. Ihm fliegen die Herzen zu, an ihm haften sie wie an
Papageno. Sie möchten ein wenig ruhen, die lieben, doch der
frenetische Lufthauch lässt es nicht zu. Im scharfen Wind der
Konkurrenz liegen sie sämtlich schief. Nur die Zuber, übereinander
gestapelt fürs kommende Jahr, geben ein Bild unerschütterlicher
Geduld. Wer dieses Gebirge überstiege, träumt der Wanderer, käme
ins andere Land, dorthin, wo die Schinken den Bären nachschlagen,
auch das kein Honigschlecken, o nein.
Mein Freund Zuckerbrot, ein entfernter Verwandter des großen
Zuckerbrot, der in aller Munde ist, war die verkörperte Allergie.
»Was soll ich machen«, sagte er, »wäre ich so verrückt, Süßes zu
wollen, bekäme ich sofort Saures. Die Leute fressen mich auf,
wenn ich damit anfange. Ich bin in einer verzwickten Lage.« Das
schien mir auch so. Dass es mir nicht gelingen wollte, ihn zu
bedauern, hat mich immer bedrückt. »Vergiss es«, entfuhr es ihm,
als ich ihn darauf ansprach, »du glaubst hart zu sein, dabei bist
du windelweich. Wie, zum Teufel, soll man sich an einen Waschlappen
anlehnen?« »Ich glaube gern, dass du recht hast«, gab ich,
innerlich beunruhigt, zurück. »Aber vergiss nicht, dir das Maul zu
wischen, bevor du fortgehst.« Er lachte. »Da hast du mich auf dem
richtigen Fuß erwischt, wer mit sich hadert, erntet die
letzten Brocken.« »Zumindest fischt er sie auf«, rief ich leidlich
pikiert, »was er damit anstellt, steht auf einem anderen Blatt.«
»Rede von dir selbst, dann hört dir ein anderer zu.« Nun gut, du bist ein alter
Mann, einer von denen, auf die schon viel zu lange gehört worden ist, da redet
sich’s leicht, vor allem unter Freunden. Auch von ihnen hat der eine oder andere
mittlerweile das Zuhören verlernt – auch gut, man versteht sich, aufs Ganze
gesehen, immer noch besser als in früheren Jahren, als alles auf Kraft und
Durchsetzung abgestellt war. Die Leute behaupten, die Auseinandersetzung liege
ihnen im Blut, dabei sitzen sie gern beisammen und lästern über die anderen.
Bloß über den Generationenzaun fliegen die Worte, das ist ein anderes Reden, und hat
erst einmal die böse Macht von ihm Besitz ergriffen, dann fallen die Worte wie
Streiche. Streiche ein, wer will! Was vor Menschen und Göttern angenehm macht,
das versagt vor Vätern und Söhnen und verwandelt Frauen in notorische
Mittlerinnen: das Wort, das gute Wort, das passende Wort zur rechten Zeit,
obgleich die Zeit selbst es ist, die entzweit. Dazu braucht es nicht viel. Es
sorgt ja auch nicht die Zeit (oder der Zeitgeist, das alte Gespenst), sondern
der Rausch für Entfremdung, man merkt schon, dass der Katzenjammer nicht weit
ist. Auch misstraut man leidenschaftlich den Einflößern, man hat ihresgleichen
allzu oft auf die Finger geschaut und weiß, wie sie zucken. Man selbst hätte,
noch aus altem Bestand, den teureren Fusel bereitliegen, aber niemand kommt,
sich an ihm zu bedienen. Die billigen Räusche der Jugend werden im Alter
kostbar, mancher Bejahrte gerät in Ekstasen, die keiner versteht, der den
Zersetzungsprozess dahinter nicht kennt und die Symptome als zeitbewegte Mimesis
deutet. Das Gegenteil ist der Fall: der Sturz aus der Zeit, der Eingang in die
ewigen Jagdgründe, der Schritt hinter den Vorhang, der leicht fällt und eine
gute Aussicht gewährt, jedenfalls scheint es so.
Wir haben, vielleicht zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte,
einen Zustand erreicht, in dem alle wesentlichen Ereignisse in der
Zukunft liegen: von der Erschöpfung der Ölquellen und allgemein
technisch-ökonomischer Schlüsselressourcen über diverse denk- und
errechenbare Klimaveränderungen hin zu den unmittelbareren
Drohungen der Statistik, unter denen der kerntechnologische GAU und
der versehentliche oder zielstrebig herbeigeführte
Atomwaffeneinsatz zu Recht noch immer die vorderen Plätze besetzen, gefolgt
von den Entgleisungsszenarien der Demographen und Seuchenforscher,
denen gegenüber sich auch eine so erdabgewandte Disziplin wie die
Asteroidenforschung nicht lumpen lassen möchte, nicht zu reden von
der seit Lissabon unter Intellektuellen stets ernst genommenen
Seismologie und ihren fatalen Szenarien. Was jetzt geschieht, ist schon Schnee von gestern. Überall, wo
geforscht wird, öffnen sich mit den Finanzsäckeln öffentlicher oder
privater Auftraggeber auch die Abgründe diverser, einander
gegenseitig die Priorität des Schreckens streitig machender
Zukünfte, angesichts derer die Gespräche der Menschen verstummen
und die Gesichter sich wegwenden, so wie man vordem auf lose Reden
über den Gottseibeiuns reagierte. Nur die jungen Leute plaudern
munter weiter, sie spüren instinktiv, dass sie hier gegenüber den
Älteren etwas in der Hand haben, schließlich geht es um ihre
Zukunft, sei es auch eine, die in fünfhundert oder fünftausend
Jahren ansteht, und die älteren sind praktisch schon tot,
jedenfalls kommen sie höchstens als Auslöser des kommenden Unheils
in Betracht.
Denn darin liegt der Kern der Angelegenheit: in der Zukunft
verdichtet sich das Unheil, so wie einst in ihr das Heil eine
sichere Bleibe suchte. Doch Sicherheit erwartet der Mensch hinieden
vergebens. Die Verwandlung großer Teile der sogenannten exakten
Wissenschaften in Buß- und Fastenpredigten nimmt insofern nicht
wunder, als die irdisch modifizierte christliche Heilserwartung
vormals diese Maschine in Gang setzte. Wir sehen den aus der
älteren Glaubensgeschichte vertrauten Übergang von der Nah- zur
Fernerwartung, die Ersetzung der Heilsnotwendigkeit durch die
Alltagsnotwendigkeit – es muss geforscht werden, weil der Status
quo dazu zwingt – und zuguterletzt die Rückkehr der Dämonen, die
ungute Aussicht, durch den angezettelten Glaubenskrieg, den zur
materiellen Gewalt der Gegenwart angewachsenen Elan einst friedlich
ersonnener Zukunftskonzepte, in Niederlagen nie dagewesenen
Ausmaßes gestürzt zu werden – und in Verzweiflungen, als deren Ende
sich nur das kosmologisch motivierte Erlöschen der unmöglichen Gattung empfiehlt. Hier
steht vorderhand niemand auf, der, das Pfeifchen in der Hand,
Wörter wie ›komisch‹ in den Mund nimmt: »Mein Gott, ist das
komisch! Hinweg mit dem Höllengeschwafel, wir gehen, auf diesen
Beinen und mit diesen unseren Gedanken versehen, über diese Erde
und fühlen uns heute so wohl wie gestern, abgerechnet das ungute
Gefühl, bei Gelegenheit verbrannt, erstickt, tiefgefroren und
geschreddert zu werden, mögen ein gütiger Himmel und mein gutes
Recht verhindern, dass es geschieht, solange ich Besseres vorhabe.« Niemand, wie
gesagt, schickt sich zu solchen Reden an, sie verbieten sich, wohl
erwogen, von selbst. Dergleichen Wohlerwogenheit findet in der
Vergangenheit einen harten Kern, der schon deshalb nicht
verschwindet, weil unentwegt Gegenwart zuströmt. »Aber es geschieht
doch: hier verschwinden Menschen und dort tauchen sie wieder auf,
in verstörenden Aggregatzuständen, wenn überhaupt, lasst uns
wenigstens gegen die Klimaerwärmung kämpfen.«
A, moderat:
»Wir haben, immerhin, zwei Generationen vor uns kennengelernt, deren Leiden an sich Leiden an Deutschland war, am Vaterland, das die Jüngeren gern ›Väterland‹ nannten, um anzudeuten, woran sie ihr Mütchen kühlten. Was danach kam, interessierte sie nicht, sie gaben der Gleichgültigkeit eine Reihe von Bezeichnungen, etwa die, sie müssten das zwischen Himmel und Hölle geteilte und später im Stil einer Provinzposse vereinigte Land ›zukunftsfest machen‹. Und wirklich litt, was nachkam, nicht an Deutschland, sondern an und unter ihnen. Das Wort ›zukunftsfest‹ verweist auf das ältere ›bombenfest‹, das den Nachgeborenen als Metapher erhalten blieb, wohl weil die Bombenarsenale, die sie bedrohten, den direkten Wortsinn nicht länger erlaubten. Bombenfest waren die Rituale, wer daran kratzte, flog raus oder bekam die rote Karte gezeigt. Aber es kratzte ja niemand, einer, der sein Auskommen fand, hatte genug gefunden fürs Leben und begehrte allenfalls Sex. So bleibt als Frage über ihrem Leben die eine: Wie lebt es sich, wenn die Zukunft zur Festung wurde, begehbar nur unter ideologischen Bücklingen und Ehrenbezeugungen für die amtierende Mannschaft? Gut, wird die Mehrzahl der noch Heutigen sagen, gut, sie sagen es, ohne zu lügen, weil die Wahrheit ihnen verschlossen blieb und als ›metaphysischer Restbestand‹ einer kuriosen Verachtung anheimfiel. Was soll auch verachten, wer, wenn er nur anfangen wollte, bei sich selbst anfangen müsste? Schon die Mahnung, moderat zu bleiben und gelten zu lassen, enthält eine Drohung. Wer sich selbst nicht gelten lässt, wie kann der gelten lassen? Daher beginnt das Unheil dieser Generation beim Sex. Er frisst sie auf, weil sie zu keiner anderen Praxis gefunden haben, er verspeist sie bei lebendigem Leibe, denn alles weitere ist Technologie und muss getan werden: hier verwirklicht sich, wessen Leben verwirkt ist. Nein, ich vergaß das Geld, die Musik und den Urlaub – also den Sex. Was daraus folgt? Wenig. Die Zukunft ist kein Fest, sie ist auch kein Test für die Gegenwart. Gehet also hin und vergesst, wer wir waren, es sei denn, der eine oder andere unter uns rafft sich noch auf und strömt über.«
Alle wollen die Zukunft öffnen, als handle es sich um eine Büchse,
aber das Gegenteil ist der Fall. Auch bliebe, falls es so wäre, die
Frage des richtigen Öffners eine, die man nicht ausschließlich
empirisch lösen sollte, da so eine Dose bei unsachgemäßer
Behandlung rascher ramponiert ist, als der praktische Verstand sich
das gemeinhin eingesteht. Andererseits bleibt die theoretische
Betrachtung einer Büchse, von der man mehr oder weniger nur weiß,
dass sie zu ist, unergiebig und führt zu nichts, welches, als erste
Eigenschaft einer Zukunft, die keiner kennt, weiteres Nachdenken
provoziert. Führt das Nachdenken über die Zukunft zu nichts, so ist
nichts zwar kein Ersatz für die Zukunft, doch ausschließlich
deshalb, weil nichts Ersatz für die Zukunft sein kann – Zukunft ist
unverzichtbar. An dieser Stelle hört man gern Rufe im Publikum: »So
kommen wir nicht weiter!«, »Aufhören!«, »Den Unfug lassen!« –
Trommeln, Pfeifen, Ungeduld, der ganze Bachtin kommt einem im Rudel
entgegen und tanzt den karnevalesken Reibach der Seele. Der Zukunft
eine Öffnung – wer nicht hineinkommt, hängt bloß herum und zählt
die Zeit der Entbehrungen. Man fragt sich oft, was sie nur
schlürfen wollen, wenn sie endlich ein Loch in die Zukunft gestanzt
haben und der Saft ihnen entgegenspritzt. Nichts ist besser als die
Zukunft und nichts ist verwandter als diese beiden, das kleine
Nichts und das große Zu, das unentwegt künftet, was ja nichts
anderes heißt, als dass der Saft schon weg ist, wenn sie sich
öffnet. Wenn! Große Dinge werden geschehen – manche auch nicht.
Das kommende Jahrhundert wird das
tragischste der Menschheitsgeschichte sein: unermessliche
Katastrophen, gegen die gehalten alles Vergangene wie
Sandkastenspiele aussehen wird. Damit kommen wir der
Substanz der Zukunft schon näher. Sandkastenspiele, soso. Man trägt
den Entwerter in sich und will dabei sein. Die Dummen wollen dabei
sein, wenn die Reichen, Schönen und Mächtigen beieinandersitzen
oder im Geländewagen die Wüste durchkurven, die Schlauen sehen den
Betrug und wollen sich salvieren: das Unbetretene ist ihr Revier
und unbetreten ist nur die Zukunft. Eine Büchse, die jeder mit sich
herumträgt, aber: unbetreten. Den einzigen Zugang, der halbwegs
reell scheint, gewährt die Statistik. Die Fortschreiber dessen, was
war und ist, wissen zwar auch nichts, aber sie malen den Verdacht
in Zahlen. Man kann der Zukunft die Verschlossenheit nicht
verdenken. Wo das Gegenwärtige nichts gilt, hätte sie schon
verloren, zu gewinnt sie
immer.
Ein Zungenschlag, und das Weltall birst auseinander. Das ist eine
bekannte Tatsache und geschieht alle Tage. Zwei Zungenschläge, und
es fügt sich wieder, als sei nichts gewesen. Wie kann ein Weltall
bersten? Es ist doch schon alles, geborsten wäre es zwei. Das weiß
der Zungenschlag, der sich fürchtet, allein aufzutreten, da er
unbedingt vermeiden will, was immer geschieht. Die Suche nach einem
zweiten Zungenschlag bestimmt sein Leben und es mutiert zur
Recherche. Das ist eine Vokabel der Ehrfurcht, eine Wünschelrute
mehr als ein Wort, aber in diesem Fall schlägt sie an. Sie ginge
weiter und schlüge den Fels, doch das ist gar nicht nötig: diese
Quelle sprudelt von selbst, so sehr hat sie den Tag erwartet, an
dem das Wort fällt. Nun, da es fiel, bückt sie sich tief und hebt
es auf – entrückt dem Schmutz und den Gefahren der Straße soll es
einen Verwahrort finden, vor dem es der Straße graut. Zu den Akten!
Das freut den Zungenschlag, da sieht er sich wieder, sich und alles
das übrige.
Eine Generation, von der wenig mehr bekannt ist, als dass sie die Ausgaben für die innere Sicherheit signifikant heraufgesetzt hat, muss sich gefallen lassen, dass man sie an diesem Etikett erkennt und dementsprechend über sie richtet. Diese Generation ist gerichtet, während sie noch in Amt und Würden schwebt, weil sie der Boden der Tatsachen nicht überzeugt. Nicht überzeugt sein: das ist ihr Markenzeichen und ihr Beginnen. Dabei begann sie überzeugt wie selten eine zuvor – überzeugt vor allem davon, dass die Gedanken, die sie sich machen sollte, bereits in der Welt waren und nur noch durchgesetzt werden mussten. Es war die Durchsetzung, die sie zwang, sich Gedanken zu machen, und es sind Durchsetzer-Gedanken, die dabei herausgekommen sind, durchsetzt von Zweifeln, die man sich und anderen an der Zunge verbieten muss.
Man weiß, man ist zu weit gegangen – also geht man hin und versucht
es zu korrigieren. Man rudert zurück, wie der Ausdruck lautet, die
Enten verfolgen den Vorgang und wundern sich. Wer zurückrudert, tut
dies ohne Überzeugung, sein Blick bleibt starr auf die Region
gerichtet, die ihm jetzt – nur für eine Weile, wie er hofft –
verschlossen bleibt. Deshalb kommt er auch nirgendwo hin, was ihn
nicht weiter kümmert, er nimmt es kaum wahr, denn... alles ist
jetzt Nirgendwo. Wem Alter und Konstitution das Zurückrudern
nahelegen, den halten die Leute für verbraucht. Die Weisheit, die
sie ihm attestieren, hat einen verächtlichen Geschmack, es ist die
Vorsicht des Angeschlagenen, die sich in ihr bekundet, und hat
nichts weiter zu bedeuten. Man erkennt an ihr nur, dass er gewillt
ist, sich noch ein paar Jährchen zu gönnen. Wer würfe den ersten
Stein? Doch so harmlos ist die Geschichte nicht. Je nach Position
wird sie erst richtig gefährlich – wer kein Ziel vor Augen hat
außer dem Unerreichbaren, wer selbst dieses vor sich selbst
verdunkelt, weil er das Erreichte nicht gefährden möchte, wer nicht
weiß und nicht wissen will, in welchem Gewässer er sich befindet,
weil es ihn nicht kommodiert, wer nicht weichen will, obwohl alle,
ihn eingeschlossen, wissen, dass er nichts mehr erreichen kann, ein
solcher Mensch bedeutet das, was man landläufig ein Unglück nennt.
Dabei behält man ihn bei, damit kein Unglück geschieht.
Währenddessen bewegt es sich geschickt, auf leisen Sohlen, mitten
unter den Akteuren.
Man wird, um einen vollständigeren Begriff der Malerei in der
Moderne zu erhalten, nicht umhinkommen, die Linie, die sich von
Böcklin, Klinger, Marees, dem mittleren und späten Chirico hin zum
jüngeren Mersmann zieht, in ihn aufzunehmen. Das ist mit
vereinzelten Ausstellungen nicht zu erreichen, ebenso wenig mit
einem Gedenkkult, dem die klaren Begriffe fehlen. Man hat genug
gesehen, um zu begreifen, dass es mit dem Gesehenhaben nicht sein
Bewenden haben kann. Andererseits hat man zu wenig gesehen, um die
Dinge im Zusammenhang zu begreifen. Der ›Fall Chirico‹ – in
Wirklichkeit ein ›Fall‹ seiner Verfolger – könnte hier von größerem
Nutzen sein als der übliche Ausfluss deutscher Gleichgültigkeit und
wirklicher Ignoranz. Der ›Rang‹ dieses Malers wurde nie bestritten,
nur beschnitten auf eine handliche Auswahl: ein klarer Fall von
ästhetischer Entmündigung mit allen bizarren Folgen. Soviel konnte
man sehen, um zu wissen, dass er das Malen nie verlernt hat – was
gelegentlich vorkommen mag. Übrigens auch nicht das Zeichnen, wie
ihm jüngst ein Altschwätzer des Feuilletons vorwarf. Mit Händen und
Füßen Front machen gegen die Kunst: Das reizt die Lachmuskeln, auch
wenn das träge Gesäß sich vorübergehend als siegreich erweist.
Zustände zu haben ist der Verfassung der Deutschen eingeschrieben –
nicht jener einst provisorischen, die sich allseits großer
Beliebtheit erfreut, sondern der wirklichen, die subkutan schlägt.
Eine schlagende Verfassung, in der Tat: Was als Zeige- und
Taktstock den Weg durch die Wirrnis der Gegenwart zeigt, dient
zugleich als Prügel für alle, in denen es anders fühlt, denkt,
redet, klärt: sie müssen hinein in den Zustand, der gerade angesagt
ist, wenn sie überhaupt zählen wollen. Unter Demokraten bleibt es
erstaunlich, wieviele Menschen in Deutschland nicht zählen, weil es
die Haupt- und Staatszähler so beschlossen haben. Man lässt sie
leben und füttert sie mit sozialen Privilegien durch, die im
Ernstfall bis zum berüchtigen Hartz IV herunterreichen, ansonsten
können sie reden oder schreiben, soviel sie wollen, nichts davon
kommt in Betracht. Wer kann, lacht, wenn er die Phrase vom ›neuen
Deutschland‹ liest, und fühlt sich erinnert. Man kehrt das Elend
der Menschen unter den Teppich der falschen Gesinnung und trampelt
darauf herum, als sei das Problem damit aus der Welt. Irgendwann
werden einem selbst einfache Wörter verdächtig, zum Beispiel
›berüchtigt‹: Wer kommt hier in welchen Geruch und in wessen Nasen?
Wer im Aasgeruch lebt, dem schlägt schon der harmlose Nachbar auf
den Geruchssinn, bloß weil er sich regt.
Zustimmung ist ein Ausdruck des Vergessens: das wissen viele, aber sie wollen es nicht zugeben, weil es ihre Kreise stört. Besser geben sie die Narren. Wenn etwas stimmt, dann muss man zustimmen. Die Frage ist also: Stimmt’s? Woran sonst soll man es erkennen als an der Zustimmung? Kommt einer daher mit einer Autorität, groß wie die Eiger-Nordwand, dann kann er Zustimmung fordern, er wird sie bekommen wie im Mittelalter die Kirche den Zehnten. In der Sache mag jemand recht haben, ohne dass jemand ihm zustimmt, aber Zustimmung findet er so nie. Wer im Recht ist und Zustimmung fordert, fordert die Menschen heraus. Stimmen sie zu, so fordern sie, dass er Ruhe gibt. So gehen ganze Länder verloren für ein Stück Papier, auf dem etwas steht. Wer nicht im Recht ist, fordert Zustimmung pur, er fordert Zustimmung zu seiner Person und verwickelt sich dadurch in Widersprüche. Das gefällt den Menschen, sie sehen sich involviert und denken, dass man sie ernst nimmt. Der größte Geck fordert den größten Ernst und erhält ihn ohne Umschweife. Wie darf er denn sein? Gar? Halbgar? Roh? Der rohe Ernst ist der heiligste, er ist dem Zorn verwandt, der uns alle tötet, während wir auf den Messias warten. Woher der Zorn? Eine Zustimmung, der ihr Objekt gerade abhanden kommt: da habt ihr euren Zorn.
Zwei Magier, einander zuzwinkernd, steuern ihre Wellenschiffchen
gegeneinander, sie steuern sie so, dass sie nicht zerbrechen,
sondern sich sacht ineinander legen und kunstvolle Schleifen
bilden, bevor sie auseinanderfahren und jedes getrennt seiner
Wege zieht. Und siehe, auch das ist nur Schein. Draußen, dicht
unter dem Horizont, wo unsereins wenig zu unterscheiden vermag, nur
Punkte, die sich berühren oder auch nicht, geschieht vielleicht
gerade dasselbe, vielleicht auch nicht, jedenfalls eint beide
dieses Spiel, halb sichtbar, halb verdeckt, mit Kräften, von denen
man wenig ahnt, unbeabsichtigt, unerwartet, nach Regeln, die sie an
Fäden aus einem Inneren ziehen, das sich ihnen gerade so öffnet,
wie man eine Tasse in der Luft schwenkt, bevor man sie ins Gebüsch
wirft: Mag sie finden, wer will.
Über die Tendenz zum Zweitarm wird selten gesprochen, meist nur im Flüsterton, denn sie ist ungebrochen. Was bedeutet das für den Verbraucher? Zunächst nichts, zumindest nichts Bedrohliches. Doch kann man davon ausgehen, dass die Preise anziehen. Ob sie davonstürmen werden, weiß im Moment keiner, die Gestalt auf dem Kutschbock scheint gefestigt, doch das liegt auch am Genre, das langsame Entfaltung der Motive verlangt. Wer einen Zweitarm benötigt, sollte ihn sich in der nächsten Zeit zulegen. Es hat keine Eile, lassen Sie es nicht so aussehen, als kämen Sie ohne ihn nicht mehr aus, am besten, Sie reden nicht darüber und weihen nur den engsten Freundeskreis ein. Das allerdings sollten Sie nicht unterlassen, denn andernfalls droht Ihnen Befremden und das wäre nicht in Ihrem Sinn. Noch steht das Tragen von Zweitarm nicht unter Strafe, auch das kann eintreten, wenngleich nicht vor dem nächsten Herbst, also nach der Wahl, lassen Sie die Anschaffung unter dem Ärmel verschwinden und halten Sie sie fest, am besten unter Aufbietung aller Kräfte. Sie werden sie brauchen. Warum? Aus zweierlei Gründen. Erstens kommt es wiederholt zu Armdiebstählen, manche Zeitungen berichten Fälle von schwerem Raub. Wieviel Panik hinter dieser Aussage steckt, ist schwer zu ergründen. Zweitens überspringen wir, es ist nicht so wichtig. Drittens wartet auf Sie die Echtheitsfrage. Welcher Arm ist echt? Die Echtheitsfrage wird durch Ziehen entschieden. Sollte in der Gewöhnungsphase, die auf die Anschaffungsphase folgt wie der Dritt- auf den Zweitwagen, der eine oder andere Ihrer Bekannten sich unauffällig anpirschen und mit einem energischen Ruck zur Tat schreiten, halten Sie ihn nicht gleich für einen Dieb. Im Zweifelsfall will er nur wissen, womit er es zu tun hat. Man hat, aus solchem Anlass, schon Massenprügeleien in Vierteln gesehen, in denen man Zweitarm offen trägt. Ganz recht, das ist in hohem Grade geschmacklos. Der Zweitarm gehört, wie jeder Gesinnungskauf, unter den Ärmel, am besten ins Hemd. Offener Zweitarmterror steht zu befürchten, falls die wahre Zahl der Zweitarmträger in die Öffentlichkeit gelangt, denn sie ist bereits horrend. Jeder reißt dann am anderen, dass die Gelenke knacken, das ist ganz normal. Fazit: der Zweitarm ist eine Gefahr für die öffentliche Ordnung. Der Gesetzgeber muss den Import verbieten und das medizinisch unnötige Tragen von Zweitarm unter Strafe stellen, die Täter öffentlich isolieren, im Zweifelsfall abschieben, was das Zeug hält. Hält es auch? Wird es den Belastungen standhalten? No Leichtsinn, please, nicht bei einer solchen die Existenz unmittelbar betreffenden Entscheidung.
Das Problem des Glaubens ist der Unglaube. Er widmet sich ihm nicht theoretisch, sondern praktisch: durch Gebet, Übungen, Fasten, Kasteiungen nach innen, durch Mission, Überzeugungsarbeit und Bekämpfung der Ungläubigen nach außen. Dabei ist ebenso ›innen‹, was ›außen‹ ist, und umgekehrt. Es entlastet, dem Unglauben, der Unmöglichkeit zu glauben, als Feind ins Auge zu sehen und ihm beizukommen, indem man ihn drangsaliert. Die innere Bedrängnis wird dadurch weitergegeben, externalisiert. Die Entlastung besteht, genauer besehen, darin, dass man zu tun hat. Man gibt sich zu tun und man hat zu tun: das ist eines der Geheimnisse des Glaubens. Daher die Aufgabe, die des Gläubigen harrt, wobei das Deutsche praktischerweise auch die Nebenbedeutung des ›Aufgebens‹, des ›Sich-Aufgebens‹ mit heraushören lässt. ›Es ist mir aufgegeben‹: Von wem denn? Durch was denn? Die Rede von Gott wird hier ganz praktisch, sie eliminiert das Erkenntnisproblem, reduziert es eventuell auf ein Erkennungszeichen. Wer auf Erfolg aus ist, sieht in ihm das Erkennungszeichen. Im Fall des Misserfolgs hat er sich eben geirrt oder den göttlichen Willen falsch interpretiert. Niemals bezieht er den Irrtum auf die ›Idee‹ des Zeichens. Wer ›nichts glaubt‹, hat es hier weder leichter noch schwerer. Er befindet sich im gleichen Fall. Auch er lauert auf Zeichen, auch er bangt darum, dass sie ihm zuteil werden. Auch er will den Erfolg. Auch er ist ein Gläubiger. Auch er gibt einer Idee ›Kredit‹. Diese Idee mag krude sein oder ausgebreitet, sie mag sich mit Bildungsstoff behängen oder mit Erfahrungen aus dem Schlachthaus – darum geht es nicht. Worum es geht, ist jedes Mal dasselbe: glaube ich oder glaube ich nicht, trage ich meinen Glauben vor mir her wie einen Schild oder ziehe ich ihn hinterdrein wie ein Hündchen, ein Zweitbewusstsein, von dem ich mich distanziere, weil ich’s für kindisch halte? Ich möchte aber um keinen Preis von ihm lassen, da es, so oder so, zu mir gehört. Vielleicht möchte ich es ja lassen, aber es trottet weiter hinter mir her und denkt gar nicht daran, mich zu verlassen.