A

Das A drängt, so weit
wir erfahren konnten, allein durch den strikten Ordnungseifer
Thomas von Aquins auf die erste Stelle im Alphabet, denn niemand
vermag sich bis heute auf die Regeln seiner wirklichen Reihenfolge
zu besinnen. Man kann Gestirne der Sprache nicht regeln. Man
bedenke, das Alphabet war einmal auf mehreren mondhaften Schlitten
über den Milchbart eines höheren Gottes hinabgefahren. In süßen
Strömen flossen die Buchstaben zur Namensstiftung von
Sternschnuppen und anderen Hustenanfällen des Himmels nieder in die
frühesten Fangnetze aller wahrhaft großen Stiftungen bis zu den
Zeiten Grabbeaus.
Unsere Fangnetze, eingeölt vom Malfett der Gnome, sind den
Abdrücken des Himmels zugeneigt und bilden die ersten Landkarten
menschlicher Abkunft, blau wie der Himmel, rot wie die Hölle und
gelb wie die asiatischen Wiesen bei Lhasa. Gestern erst lasen wir
zweimal ›Taipeh‹ und ›Karma‹ und empfanden den Widerspruch aller
Schuld auf Erden. Davon später, wenn die Verwirrung genügend Worte
erzeugt hat.
So nahm die frühe Magie das gespreizte A als passende Staffelei zu
Hilfe, auf dass man die ersten Leinwände astrologischer
Darstellungen, vor tellurischen Stürmen gesichert – auch sie
durchpflügen ja schließlich den breiten Himmel –, aufrichten
konnte. Noch lange hat es öffentlich unter Malern Wolken von oben
und unten gegeben, die als himmlische Kissen, in Wahrheit als
Polster der Inspiration, auf dem edlen Gerüst dieses Buchstaben
ihren Platz finden konnten. Joseph Donner von Richter galt das
gespreizte Gestell sogar als Criterium primum der Würde eines jeden
Malers und er verlästerte in seinem Hauptwerk gegen die Muse von
Cortona die späte französische Staffelei, deren Abdrücke er im
Wachs dieses Bildes gefunden haben wollte. Sie galt ihm als
infantiler Besenstiel mit verschiebbarem Unterkiefer. - PM
ABENDLÄNDEREI

»Das ist Deutschland« – vergebliche Parole wie »Das ist die Welt«, denn beide sind schon, so angesprochen, andere: Alles, worüber gesprochen wird, liegt in der Vergangenheit, die von der aktuellen Statistik ›festgehaltene‹ Realität ebenso wie die Gedanken und Eindrücke, aus denen sich Summen formen und zu Ländern, Erdteilen und Größerem addieren, sie sind, bestenfalls, Geschichte, größtenteils bereits Schrott, Abfall, Abhub, beiseitegetragen, beiseitegeschoben, zu Haufen getürmt und unterirdisch verfüllt, in Teilen verbrannt. »Verbrannte Erde«: eine Horrorvorstellung und eine zutiefst menschliche Realität. »Ich könnte dort nicht mehr leben, wo es mir gerade noch gut ging.« Wie kann das sein? Die Verhältnisse fragen nicht danach, es ist einfach so. Auch ich bin bereits über den hinausgewachsen, der da soeben die Straße entlangging. Eine Strecke weiter, eine kleine nur, unmerklich fast und dennoch: radikal weiter, ohne Zugang zu dem, der ich gerade noch war, außer dem holprigen, löchrigen, rutschigen Pfad der Erinnerung, der kaum die Richtung hält, geschweige denn ein Versprechen.
»Aber so kann ich nicht leben« – wohl wahr, sehr richtig. Keiner kann so leben. Dazu bedarf es der Ideen, vergleichbar den vor öffentlichen Gebäuden aufgezogenen Fahnen, mit deren Hilfe Menschen sich Orientierung schaffen und, jeder für sich und alle gemeinsam, das ausbilden, was ›Welt‹ genannt wird und ebenso überzeugend als Rätsel tituliert werden könnte. Die Welt wird durch Ideen geschaffen, manche sagen ›gestiftet‹, aber das klingt altertümlich und reizt den Lachmuskel. Ideen haben, wie gewisse Wörter, ihre Zeit, sie erfüllen das Denken und verblassen auch wieder, aber sie
gehören nicht der Zeit – sie besitzen keinen Zeit- oder Verfallsindex.
Töricht mutet es daher an, Menschen vorzuhalten, sie lebten im Mittelalter, während man sich selbst im Heute zuhause glaubt. Das hört sich an, als gebrauche jemand Hausrecht in der Zeit, um unliebsame Mitbewohner zu entfernen oder zu unterwerfen. Ideen sind genau dann an der Zeit, wenn (und solange) sie in den Köpfen der Leute spuken. Wer das Abendland beschwört, um seine Idee von Europa zu ›konkretisieren‹, dem kann man im Namen anderer Ideen die Hölle heiß machen, aber man kann ihn nicht zur Selbstverbrennung zwingen. Nichts anderes hieße es zu verlangen, er müsse, aus Gründen eines imaginierten Heute, seine Begriffe ›bereinigen‹. Ein solches Verlangen ist sinnlos, es ist sogar widersinnig, weil Ideen, so kämpferisch sie auch gegeneinander gestellt sind, different-gemeinsam genannt werden können. Man kann sie nicht ablehnen, ohne sie zu reproduzieren, es sei denn, jemand lehnte aus purer Ignoranz ab, was er nicht kennt.
Wer annimmt, ›Abendland‹ sei ein Kampfbegriff, der bekämpft werden sollte, weil er in der heutigen oder in
dieser Welt nichts zu suchen habe, der gerät in eine seltsame Schleife, aus der er ohne Kopfschmerzen nicht entrinnen kann. Kampfbegriffe oder ›Parolen‹ sind Verdinglichungen von Ideen, dem lebendigen Denken entzogen und für reale Kampfsituationen zurechtgezimmert, weil es nur wenigen Menschen gegeben ist, gleichzeitig zu denken und zu kämpfen oder gar denkend zu kämpfen. Kein Kämpfer für Demokratie und Menschenrechte, der im Gefecht steht, treibt Institutionenkunde oder leiert (eine eher redundante Form des Denkens) die Charta der Vereinten Nationen herunter. Er kennt die Parole
und das genügt – manchmal auch nicht, falls er am falschen Ort mit den falschen Freunden unter falschen Prämissen kämpft.
Das Abendland existiert als Idee und es existiert in den Köpfen derer, die es denken. So einfach ist das. Wie und zu welchem Zweck es in diesen Köpfen existiert, was daraus folgt (oder wird) und was nicht, das ist niemals ganz entschieden, es ist Auslegware wie bei allen Ideen. Im übrigen hängen irgendwo alle Ideen zusammen – andernfalls lebten wir nicht in
einer Welt, sondern im Feuer radikaler Vernichtungsmaschinen, die einander nichts zu sagen und nichts zu geben hätten. Ideen, die ihre Bezeichnung verdienen, bekämpft man nicht, man kämpft oder streitet um ihre Auslegung. Die schlichten sind nicht immer die schlechtesten.
ABENTEUER
»Lust auf...?« »Aber nur ein kleines, für das man den Klee nicht
verlassen muss.« »Das soll etwas Kleines sein? Ist das nicht groß?
Etwas ganz Großes, für das man sich recken und strecken und
schlagen muss?« »Sie reden irre.« »Und wenn schon. Ist das kein
Abenteuer? Da haben Sie Ihren Klee, er geht nicht mehr heraus. Und
ginge er einmal heraus, wer wüsste schon, welcher Anwandlung er
dabei folgte. Nein, warten Sie. Ich habe Klee gesehen, der seine
Farbe wechselte, so fiebrig war ihm zumute. ›Kein Klee, niemals
mehr Klee‹, hörte ich ihn murmeln. Er wirkte so blass, so nervös,
als wollte er sagen: ›Man kann nichts machen.‹ Seither beschränke
ich mich darauf, den Reinigungskräften die Fünfziger zuzuschieben.
Solange sie keine Siebziger wollen, bin ich zufrieden. Nützt es
nichts, so schadet es nichts. Auch so kommt man voran.«
ABGANG

Das Paradies der Schrecken schließt seine Pforten, es weicht zurück, den Entronnenen dämmert ein neuer Tag – nicht so strahlend, wie die Hoffnung ihn zeigte, nicht so schwarz, wie die Angst ihn auf den Grund projiziert. In solch schlichten Bildern malt sich, was Leben und Weg heißt, als Flucht in eine Zukunft, deren imaginäre Anteile mit der vergangenen Welt verschmelzen, aus deren Abgang sie stammen. Das ist bestürzend, das ist normal, das ist enorm, da es die Normen aufs Äußerste spannt und ihr Zerbrechen kalkuliert. Erst die zerbrochene Norm setzt die Norm frei, der es zu folgen gilt, obwohl das unmöglich ist und jeder Tag den Beweis dafür liefert. Der Entronnene ist nicht entronnen, er spürt den eisernen Griff, dem er sich entwinden will, er trägt ihn als Halsband, als Ohrring, als Tätowierung, er ist stolz darauf, ihn zu tragen und belauert die Haut, die sich arrangiert, statt in Aufruhr zu geraten. Er bedauert und verachtet sie, weil sie stillhält, er verachtet sich, weil er verachtet, und bedauert sich, weil er bedauert.
ABGESCHRIEBEN

Bitte gehen Sie nicht zum Teufel. Ich frage Sie, was wollen Sie dort? Bleiben Sie hier, wo es Ihnen gut geht. Man hat Sie abgeschrieben? Sie sind doch keine Maschine, lassen Sie sich so etwas nicht einreden. Nie, unter keinen Umständen. Sie selbst haben abgeschrieben? Ach so, das wäre dann etwas anderes. Was haben Sie denn...? So eine kleine Abschreibung wird mit Ehrverlust nicht unter... wie?... nicht unter fünf Jahren... Sie haben gar nicht abgeschrieben? Jetzt wirds kompliziert. Sie haben abschreiben lassen? Aber wie denn, wo denn? Sie wissen nicht? Sie können sich nicht erinnern? Es tut Ihnen leid? Entschuldigen Sie, das verstehe ich nicht. Also von vorn. Nein, nicht von vorn? Unter keinen Umständen von vorn? Ich muss schon sagen, Sie haben Nerven. Wenn Sie jetzt damit durch sind, wie Sie sagen, dann frage ich mich, warum Sie die Sache nicht ruhen lassen. Einfach ruhen, verstehen Sie? Wie, Sie unternehmen ja nichts? Sind Sie von Sinnen? Machen Sie was. Einer wie Sie wird nie ganz abgeschrieben. Woher ich das weiß? Sie meinen, ich hätte auch...? Was soll die Andeutung? Was bilden Sie sich eigentlich ein? Glauben Sie, weil ich mich für Sie einsetze, lasse ich mich mit Ihnen in einem Atemzug...? Nein, das tut mir jetzt leid, ich glaube, wir müssen unser Gespräch jetzt beenden. Ich hätte Ihnen gern geholfen, aber nicht um jeden Preis. Sie wissen, ich war immer Ihr Freund, diesen Affront begreife ich nicht. Sie enttäuschen mich, mein Guter, Sie enttäuschen mich. Das wird Sie teuer zu stehen kommen. Bitte, halten Sie davon, was Sie wollen, aber halten Sie mich nicht auf. Wir sind hier nicht im Exil. Das Leben geht weiter, wissen Sie, und Sie, pardon, sind der Schnee von gestern.
ABGRUND
Es ist nicht wahr, dass, wer auf dem Kopf geht, den Himmel als
Abgrund unter sich hat. Allein die Anstrengung, auf dem Kopf zu
gehen, verhindert den freien Blick in die Abgründe. Den Rest
erledigt die leichte Umstellung, die im Wissen darum liegt, auf dem
Kopf zu gehen: Der Himmel bleibt oben, man selbst ist tiefer
gerutscht, man ist abgerutscht –
that’s all. Vielleicht nicht ganz,
denn wer den Himmel aus den Augen verliert, dem wird die Welt
fadenscheinig oder ›halbdurchsichtig‹, um ein neutraleres Wort in
einer Sache zu wählen, die keine Neutralität verstattet. Die
halbdurchsichtige, in einem Nebel von Befindlichkeiten schwimmende
Welt trägt den Himmel in sich, aber als Bedrängnis. Man will
hinaus, wohl wissend, dass dort draußen nichts ist. Man will das da
hinter sich bringen, ohne es zu verlassen. Der Schmerz ist die
schützende Hülle der Weltlosigkeit, die, zu sich selbst befreit,
verfliegt – ein Seelchen ohne Zentrum, ohne Zusammenhalt, ohne
Kontur, ohne... ja was denn? Ohne ›Fühligkeit‹, den Wetterlagen
entronnen, in denen dergleichen sich herstellt.
ABLASSHANDEL
Irgendwie tut es gut zu wissen, dass pünktlich zur Fünfhundertjahrfeier der Reformation der Ablasshandel in voller Blüte steht und die katholische Kirche, die ›alleinseligmachende‹, damals wie heute die richtige Seite vertritt: von der Klima- bis zur
Refugee-Rettung bleibt es nicht zuletzt den als Europäern verkleideten Deutschen auf Grund ihrer ›besonderen Verantwortung‹ auferlegt, durch erhöhten Mitteleinsatz dem allgegenwärtigen Bösen, dem ›Herrn der Welt‹, dem
Junker Valand ein Schnippchen zu schlagen. Wo doch, streng alt-theologisch gedacht, diese Welt nicht zu retten ist – tut nichts, der Ketzer wird verbrannt, vorausgesetzt, man bekommt ihn rechtzeitig zwischen die Finger, was damals wie heute nicht immer so einfach geht. Dafür forscht heute auch die Wissenschaft, wie man weiß, auf der richtigen Seite, ein neuer Fall Galilei soll ihr nicht wieder passieren: undenkbar, unter einem Giordano Bruno 2.0 könnte aus Versehen ein Feuerchen prasseln, das die Welt erhellt, denn heute – weiß sie Bescheid. Wie sehr Wissenschaft Bescheid weiß, erfährt man, wenn man ihre Vertreter einträchtig neben den neuen Tetzels am Kartentisch sitzen sieht, versunken in ihre Modelle und doch hellwach, denn ohne Karriere kein Wissen, worum es geht, und darum geht’s doch, nicht wahr?
ABLEBEN
Neben dem gewöhnlichen Ableben oder Verscheiden tritt das aktiv betriebene Ableben weniger klar in Erscheinung. Nicht ohne Grund, denn es meint nicht, dass einer sein Leben so oder so herunterlebt – vom berüchtigten
Abreißen ganz zu schweigen –, sondern jenes Schattenhandeln des Lebensgefährten, das auf ein Leben nach dem Tode des Partners ausgerichtet ist, ihn zwar nicht aktiv herbeiführt, aber in einer Art Vorab-Gestorbensein bereits kassiert und konsumiert. Wie das zugehen soll? Die Frage an sich klingt heuchlerisch oder naiv, sie setzt einen Menschen mit sehr geringer Lebenserfahrung voraus oder eine entsprechende Praxis, die notgedrungen vieles verschleiert, auch vor sich selbst – was nicht so sehr erstaunt, da es für viele ökonomische Praktiken gilt. Vielleicht verschleiern Praktiken generell mehr, als sie zeigen, vielleicht sind sie mehr oder weniger auf das Ableben eines Anderen ausgerichtet, jedenfalls hat der Lebenswille der meisten Menschen etwas Todbringendes. Am deutlichsten zeigt sich das in der Politik. Hier ist der wahre Tummelplatz der Ableber: Abzulebende und Ablebende sind identisch, sie fügen einander zu, was sie erwarten. Doch bleibt ein Hoffnungsschimmer für jeden, solange politische und biologische Existenz auseinander klaffen. Im Privaten ist das anders. Wo immer abgelebt wird, ist Politik im Spiel, große Politik wohlgemerkt, die sich in kleiner Münze ausgibt, also nicht in Haupt‑ und Staatsaktionen, sondern in Ansprüchen, deren Begründung jenseits der kleinen Person liegt, die sie in ihren Praktiken formuliert. Wer eine
schöne Rente erwartet, der sieht manches gelassener. Seine Steuerungskapazität – wunderbares Wort! – ist anders gefordert als die eines Menschen, der den anderen lebend braucht. Es existieren Renten im Gehirn, die von keiner Kasse ausgezahlt werden können, Bezüge an Status, Bewegungsfreiheit und ‑lust, ja Prestige, gegen die kein lebender Organismus ankommt, selbst der scheinbar gesunde.
ABNAHME

Wann immer dich der Schlund verschlang und, nach gehöriger Zeit, wieder freigab, gingst du als weniger aus ihm hervor: du merkst es nicht gleich, weil du dich erst einmal wichtiger nimmst, aber mit der Zeit ist hier kein Zweifel möglich. Du wirst weniger, du nimmst ab, du achtest den Rest, aber nicht zu sehr, du siehst die Schlangenhaut und ahnst, dass du sie abstreifen wirst. Nein, du ahnst, dass du selbst die Schlangenhaut bist, die abgestreift werden wird. Das beunruhigt, aber es lullt auch ein. Kaum einer bemüht gleich das Universum, wenn er die Instanz ermitteln will, die ihn loswerden möchte, den meisten genügt schon der Nachbar oder die nahe Verwandtschaft. Glücklich die Naturgläubigen, die darauf bauen, dass die Erde sich häutet, sie hoffen darauf, dass sie einen guten Dünger geben und sterben gern, wenn es den Artenschwund aufhält. Andere tun sich da naturgemäß schwerer. Merkwürdiger Ausdruck: sich schwer tun. Das ist, als gäbe man heimlich etwas hinein. Dabei nimmt man sich nur weniger als andere heraus. Das Ende ist leer.
ABSCHAUM

Offenbar kann Gesellschaft nicht auf Dauer existieren, ohne
sich auf irgendeine Art des Abschaums – z. B. im Sexuellen – geeinigt zu
haben. Die Bilder wechseln, ebenso die Methoden des Aussonderns
und der Übertreibung, ebenso die Formen des Durcheinanderschüttelns
und ‑rüttelns, ebenso die Praktiken der Benennung und des
Aussparens, der aussparenden Benennung und der benennenden
Aussparung. Was bleibt, ist der ewige Pranger, das Erzeugen der
Meute, die Gier nach Bezichtigung, die Stunde der Leute, die sich
›genau erinnern‹, das zwielichtige ›Geradestehen‹ von Menschen, die
zufällig gerade da stehen, wo sie stehen, schließlich die Arbeit
für Polizei und Justiz, die dem allem nachgehen und es wieder in
die nicht ganz unvertraute Proportion zurückbringen müssen. Die
liberale Gesellschaft ist liberal gegen ihre Kaprizen, solange sie
stürmt, geht man ihr besser aus dem Weg. Die Wogen gehen hoch, wenn
ein Zeitgeist einen gewesenen hetzt oder am besten gleich
aufknüpft. Der nächste steht ihm schon in den Hacken und lernt
seine Lektion: er wird sie nützen, wenn die Zeit gekommen ist.
ABSTAND

»Eine Armlänge Abstand!« – wer das verstanden hat, hat viel verstanden, deshalb sträubt sich das Gros der Menschen so, es anzunehmen. »Bleib mir vom Leibe!« – so schreien sie und wollen dabei nur das eine: berührt werden, wo und wodurch auch immer. Ohne Abstand kein Anstand, ohne Anstand kein Stand, ohne Stand kein Darüberstehen, ohne Darüberstehen kein Aussicht, vor allem auf Besserung. Sich im Bett wälzen und den Arzt beschimpfen, der Besseres zu tun hat – was ist das für eine Art? Nicht jeder, der sich fernhält, ist säumig. Zwar ist die Armlänge kein Maß, aber sie enthält eine Idee: Kommt sie heraus, dann schnellt die Faust nach vorn und vollendet das zaghaft Angedachte. Im Faustrecht verkehren wir alle auf eine Armlänge Abstand, das ist nicht verkehrt, bloß verkehrte Welt, die Abwesenheit der Ordnung als Ordnung, in der das Recht dessen gilt, der auf Abstand zu halten weiß, und sich Respekt verschafft, wer weiß, wie man die Faust auf den Tisch legt, ohne dass ein anderer sie abhackt.
ABSTURZSIEG
Die größten Siege, schreibt Rilke, werden im Fallen errungen. Geht es einmal bergab, gerät jeder Maulwurfs- zum Feldherrnhügel und derjenige, der ihn zuerst besteigt, dünkt sich Herr der Zukunft. Leider gleicht jeder Maulwurfshügel dem anderen, er ist schneller zertreten als bestiegen, jedenfalls sinkt ein, wer zu steigen glaubt, und darin liegt die egalisierende Kraft solcher Siege. Am Ende ist aus dem Sieger einer wie ich und du geworden, ein Ritter ohne Fortune, ein Husar ohne Pferd, eine Schaluppe ohne Segel, ein Hansdampf, dem man die Gasse stibitzt hat und der jetzt im Wohnzimmer röhrt, bis ihn einer am Ohr packt und an die frische Luft befördert, zur Abkühlung, wie es heißt. Absturzsieger benützen das Blaue vom Himmel als Packpapier, die Blessuren schlagen aber durch und der Himmel, der Himmel … wo ist er hin?
ABWAHL
Eine Regierung fällt auseinander und die Regentin sucht sich eine andere: wo bleibt da die Demokratie? Besser gesagt: wo steckt sie? In der Klemme, gewiss, vorausgesetzt, das herrschende Volk hat zwar die Regierung abgewählt, aber die Regentin
gemeint – es hat aber, der Parteienlogik zufolge, nichts zu meinen, sein einziger Ausdruck ist die Wahl und die ist unendlich interpretierbar. Interpretierbar durch wen? Die bezahlten Interpreten der Macht leben von der Macht, also folgen sie ihren Bocksprüngen willig. Wer das Wahlvolk behandelt, als sei es Luft oder, besser noch, eine übelriechende Substanz, der attestiert ihm, gelinde gesagt, Ohnmacht, gepaart mit Dummheit. Der geläuterte Antidemokrat mokiert sich über den Ausdruck ›Volksherrschaft‹, er würde ihn gern für ›diskreditiert‹ erklären und schwafelt von der ›Gemeinschaft der Demokraten‹, als handle es sich um einen Klub von Verschwörern, dem nur ein Ziel heilig sein darf: Machterhalt um jeden Preis. Gewiss, es gibt sie, die Gemeinschaft der Demokraten – in Diktaturen, unter feudalen Regimen, überall dort, wo das Volk nicht ›die Macht hat‹, wie immer man diesen Ausdruck verstehen mag. Sie will, dass Demokratie sei, nicht, dass sie ihr gehöre. Der geläuterte Antidemokrat schwärmt von Führung und meint das Gleis, aus dem er ohne Gesichtsverlust nicht mehr herauskommt. Er hat verlernt, was es heißt abzutreten: er begreift’s nicht. Der Demos mag verführbar sein, aber dumm ist er nicht … vornehmlich, weil sich Intelligenz nicht addieren lässt. Parteien müssen verführen, aber auf intelligente Weise, so dass die Bürgerintelligenz mit an Bord ist und die Mannschaft weiß, was zu tun sei. Bleibt die Frage, woran es fehlt.
ABWEHRZAUBER
Dass eine Gruppe unterdrückt ist, wenngleich nicht ganz, erkennt der versierte Leser daran, dass ihre Angehörigen einander einen höheren Wert beimessen als dem Personal, das sie umgibt. Stefan George, der im Gedicht die Keuschheit eines römischen Strichjungen gegen die ›Feilheit‹ der zeitgenössischen Frauen ausspielt, wäre da nur ein Beispiel unter vielen. Er wird kaum damit gerechnet haben, dass ein junger Revolutionär darin Verachtung der Zeitgenossen zu erblicken glaubte. Was George schrieb, sollte als Abwehrzauber gegen die gefühlte Verachtung der Mitwelt wirken, während bereits eine Generation heranwuchs, der, jedenfalls in den klügeren Köpfen, diese Verachtung verächtlich vorkam. Die Dümmeren allerdings… In dieser Geschichte sind die Gerechten Freiwild, das den Mördern den Weg zeigt. Zwei Lebensalter später hat nur der ›höhere Wert‹ sich erhalten und nährt das Ressentiment, bei dem sich jede Seite für ›etwas Besseres‹ hält und Kompensationen fordert.
ADOLFINE
Der Deutsche greift zum Vornamen wie andere Leute zur Waffe. Er richtet ihn auf die Brust des Nachbarn und bellt kurz und knapp: »Adolf«. Da fällt der andere um. Wem das nicht gefällt, der soll auswandern. Manche tun es, manche lassen es bleiben, denn es ist teuer und verheißt Scherereien, denen nur der Starke gewachsen ist. Unter denen, die bleiben, genießt Adolfine einen seltenen Ruf. Zückt der andere den Namen, zückt sie ihr Geschlecht: So stehen sie einander gegenüber, zu allem entschlossen, von allen guten und bösen Geistern verlassen – ein Bild, gedacht für die Ewigkeit, doch zu schlecht in der Ausführung, um auf Dauer genossen zu werden.
ADORF

Der Neid der Bs auf die As (Asse?) ist unerträglich, doch nicht aus der Welt zu schaffen. Wer sich im A eingerichtet hat, blickt mit einer gewissen Gelassenheit auf das, was sich hinter ihm tummelt. Im B existiert keine Gelassenheit, sie ist dort nicht möglich, weil das B außer der Eigenschaft, nach dem A zu kommen, nichts Positives enthält. Auf dem Land liegen die Dinge einfach, indem man sich in sie vertieft, werden sie kompliziert. Vor den Bedörfern liegen die Adörfer, sie liegen dort seit geraumer Zeit – seit Urzeiten, sagen die Adörfler, seit letzter Nacht, sagen die Bedörfler und wollen, dass sie verschwinden, am besten auf der Stelle. Vergebliche Mühe! B kommt dahinter, ist dahinter, bleibt dahinter. Das nennt man allgemein Schicksal, manche nennen es Karma, das sind Bedörfler, die sich heimlich beadorfen, als handle es sich um ein Deodorant. Dächten Bedörfler souverän, sie könnten in den Adörflern die wahren Ignoranten erkennen. Sie ignorieren z.B. den Fortschritt, weil er mit Sicherheit über sie hinausginge. Doch wissen erstere, in Unkenntnis der befreienden Kraft des C, nicht, wie es weitergehen könnte, und bleiben deshalb auf die A-Formation fixiert, eine, genau besehen, bescheidene Hüttenkette zwischen ihnen und dem Meer des Immergleichen, dem sie beide mit knapper Not entronnen sind. Die Adörfler haben gute Gründe, den Fortschritt zu ignorieren, die Bedörfler nur schlechte. In den Bedörfern herrscht die nackte Erregung, dauernd findet sich jemand, der mit langem Finger auf einen Adorfiker im Gelände zeigt, auch wenn die Entfernungen riesig sind und das Tun des anderen unergründlich bleibt: Bedörfler haben scharfe Augen und kurze Schaltwege. Das zahlt sich aus und das zählt.
ADORNO

Winkelschriften sollte man lesen, solange es Winkel gibt, also
immer. In einem entfernten Winkel der philosophischen Welt, fernab
von den gelehrten Strömen, auf denen die denkerische Fracht des
Jahrhunderts in riesigen Kähnen abwärts dem Meer der allgemeinen
Verwertbarkeit zugeführt wird, ruht dieses Werk, das seinerzeit zu
den aufregendsten zählte und seither Gelegenheit fand, auch die
Gelassenheit kennenzulernen und in sich einzulassen. Ein
dekapitiertes Corpus, wenn man so will, denn seine Hauptsache war
der Zeitgeist selbst, und der Verräter, der mit ihm auf und davon
ging, wusste wohl, welche Folgen seine Tat zeitigen würde. Ein paar
Blumen, jahreszeitlich erneuert, schmücken das Grab des Entsorgten,
und einige unsterbliche Seiten, keiner weiß sie zu deuten, wie es
der Meister gewollt, zieren die Stätte zur Linken wie zur Rechten.
Hier herrschen Popeia und selige Eintracht, nur lebendig soll nicht
mehr werden, was da vergraben wurde. Man hat dem Meister
Melancholie attestiert, als sei das ein Tadel. Was sicher stimmt,
aber nur dann, wenn man hinzunimmt, dass er sich unmittelbar gegen
den Tadelnden wendet und ihn richtet. Man nimmt dem Verblichenen
übel, dass er die Verzweiflung kennen gelernt und herausgelassen
hat; das Herauslassen des Eiters, an dem sich die anderen langsam
selbst vergiftet haben und nun zugrunde gehen, könnte immerhin als
die unkonventionelle Schönheit durchgehen, der dieser Ästhet anhing
und von der er einen seltsam unvollständigen Begriff besaß – zum
Schaden seines Werks, das just an der Stelle zur Unform anschwoll
und kein Ende fand. Zum Ruhme des Autors hingegen sei es gesagt: er
kam mit der Kunst nicht zu Rande und zu keinem Ende – das scheidet
ihn dauerhaft von den auf Kritik abonnierten Banausen, die ihn
beerbten.
ÄNGSTLICHKEITSWÖRTER
Wörter, die Ängstlichkeit ausdrücken, könnte man ›Ängstlichkeitswörter‹ nennen. Das würde auch bereits die erste Ängstlichkeit nehmen, die darin besteht nicht zu wissen, ob man angesprochen ist oder nicht. Ängstlichkeitswörter kennen diese Ängstlichkeit nicht, sie fehlt ihnen also, und darin liegt schon ein erstes Paradox.
Wie können sie es wagen…, etwas auszudrücken, das ihnen explizit fehlt? Grammatiker kümmert das nicht, für sie sind Wörter nichts als beliebige Zeichen, X für U undsoweiter, dabei weiß jeder Gebildete, dass sie Gemütswerte bergen und die Welt ins Gemüt holen. Nehmen wir das Wort ›Beben‹ – beben Sie nicht? Das Wort ›Beben‹ funktioniert in etwa so wie das Wort ›Freibier‹ – Sie hören davon und schon ist es konsumiert, manche sagen ›inkorporiert‹, aber es bebt nicht der Körper – außer bei den Sensibelchen –, vielmehr die Seele, das Organ für Erschütterungen, die nicht nach außen dringen sollen, außer in Not- oder Begehrensfällen. ›Beben‹ ist ein Ängstlichkeitswort erster Güte. Das Nachrichtenwesen bringt es mit sich, dass Angst vor Beben auch in Weltgegenden grassiert, denen Erschütterungsforscher nicht die kleinste Chance einräumen. Die Menschen wollen aber erschüttert werden, um jeden Preis, solange es sie nichts kostet – mit diesem Paradox müssen sie leben. Die meisten Ängstlichkeitswörter sind allerdings konjunkturabhängig, manche sind längst bekannt, bevor sie einen Ängstlichkeitsindex tragen, irgendwann jagen sie keinem Kind mehr Angst ein, nicht die geringste. ›Klima‹ zum Beispiel, oder ›Asteroid‹: Spüren Sie, wie Angst in Ihnen hochkriecht? Wir leben auf einem gefährlichen Planeten, das ist allgemein bekannt, alle paar tausend Jahre passiert, menschlich gesehen, etwas Furchtbares, dagegen muss man sich unter Einsatz aller verfügbaren Mittel wappnen.
An der Zeitkante leben – das nimmt dem, was Menschen einander antun, den Schrecken, man zieht nur die Braue hoch und verlangt Rechte für Opfer, obwohl gerade Rechte dem Opferwesen kritisch gegenüberstehen, es sei denn, es betrifft sie selbst. Darin treffen sie den Nerv der Gesellschaft, die ›Opfer‹ sagt und ›Einkünfte‹ meint, auch wenn es sich oft nur um symbolische Beträge handelt. Kann, wer totgefahren wurde, Opfer sein? Natürlich nicht. Opfer sind immer die Hinterbliebenen, denn sie wollen entschädigt werden, zumindest bildet sich die Allgemeinheit das ein. Deshalb verhält sie sich ängstlich gegenüber Hinterbliebenen, da sie die eigene Tendenz zur Maßlosigkeit kennt und nicht überfordert sein möchte. Vielleicht liegt darin der Kern aller Ängstlichkeit: sich zu kennen und zu wissen, man ist nicht allein. Ängstlichkeitswörter sind Streu- und Schiebewörter: sie decken das Feld der Angst und lassen nur die minderen Ängste durch, nicht um die Hauptangst zu bändigen, sondern um sie zu bedienen: die Angst davor, der Bequemlichkeit verlustig zu gehen.
ÄRGER

All diese Leute, sagt G., sind durch eine Phase des Verhaftetseins
hindurchgegangen, die es ihnen nicht erlaubt hat, ihr Wort zu
sagen. Sie waren gebannt durch ein Ich-weiß-nicht-was, das sich
ihnen in immer neuer Form darbot, aber als Tendenz konsumiert
wurde, als unaufhaltsamer Zug in der Zeit, ein Zug, nicht der Zeit
selbst, sondern, wie soll ich es ausdrücken, eines Denkens, einer
Sprech- und Machweise, hinter die man nicht zurückfallen durfte.
Und das, obwohl man gegen jede einzelne Form, ja praktisch gegen
jedes Detail sofort Vorbehalte hätte geltend machen können. Man tat
es ja auch, und diese Vorbehalte wurden aufgenommen, sie wurden ein
Bestandteil der Maschinerie, die alle vorwärtsstieß und ihnen das
Gefühl gab, trotz allem aufgehoben und dabei zu sein. Nun, da sie
gereift sind, ist die Verbindung gebrochen und sie gestehen sich
ein, dass sie ein Leben lang gefoppt wurden und, was mehr bedeutet,
sich selber foppten. Sie waren nie gemeint und sie haben ihre
Aufgabe versäumt. Manchmal überfällt sie das Gefühl, auf einer
Bühne zu stehen. Sie wissen nicht, welches Stück gerade gegeben
wird und lungern im Grunde nur herum, weil sie schon bisher keine
Rolle spielten und deshalb auch keinen geregelten Abgang bekommen.
Sie breiten die Arme aus und fallen jungen Schauspielern ins Wort,
die ihr Bestes geben und es schon gewöhnt sind, sich im Gedränge zu
behaupten. Keiner will Ärger, das ist das Ärgste und kränkt am
meisten.
ÄRGERNIS

Mit der Abschaffung des Greisenalters als fester sozialer Größe –
keine wirkliche Abschaffung, sondern eine der üblichen
Überblendungen – diffundiert auch die Figur des unwürdigen Greises,
man könnte sagen, sie taucht unter in der Masse all derer, die sich
ohne Sinn und Verstand die seltsamsten Blößen geben, als hätten sie
es vorsätzlich darauf angelegt, mit Hilfe kleiner und großer
Intrigen aus allen Verhältnissen herausgeschossen zu werden, in
denen sie sich eingenistet haben, weil man sich ihrer anders nicht
zu entledigen wüsste. Aber das ist nur die eine Seite der Sache.
Der Wahn, mitten im Leben zu stehen, entsteht ja nicht zwingend in
diesen Personen selbst, er fliegt ihnen aus der Gesellschaft zu, er
ist auferlegt und sie tragen ihn um den Hals wie ein
Elefantengeschirr, das blankpoliert ihr Elend verhöhnt. Für die
etwas Jüngeren, die nicht so genau hinsehen wollen, mag darin eine
Beruhigung stecken: Es geht doch, weiter geht’s, aber sicher,
Jahrzehnt um Jahrzehnt. Nur die Konkurrenz mit den Alten wünschen
sie zu gewinnen, darauf bestehen sie und fühlen sich ungewöhnlich
vital. Der banale Widerspruch, der darin liegt, ist den wenigsten
merklich: eine sonderbare Taubheit flüstert den meisten zu, was
geht und was ›wirklich‹ nicht geht. Die Alten sind, alles in allem,
folgsam, wenn sie ein Ärgernis geben. Das macht den Umgang mit
ihnen nicht leichter.
AFFENOLYMP
Wirf jemanden, der auch nur entfernt die Wonnen
der Prominenz erfahren hat, aus dem Betrieb, der ihn trägt und
nährt, und du bannst ihn auf ewig an den Affenfelsen seiner
rausgeworfenen Majestät. Kein Unberufener darf sich ihm nähern,
ohne das leise Fauchen zu vernehmen, das signalisiert: ›Abstand!
Hier hockt ein Berufener.‹ Er wurde wie zu seinem Glück so zu
seinem Unglück berufen und nun ist er ein Unberührbarer. Von daher:
Haltet Abstand, Leute! Wenn’s hoch kommt, verfügt er über
eine Entourage, die ihn anhimmelt und ihm täglich versichert, er sei
der Olympischen einer, sein Tag werde kommen und die höchsten Ämter
stünden ihm offen, während die Feinde im Staube sich vor ihm
ringelten etc. Er nimmt es huldvoll zur Kenntnis und schreitet
lächelnd darüber hinweg. Wohin er schreitet? Keiner weiß es.
Manchmal kreuzt sein Weg den eines neuerlich Abgehalfterten. Ihre
Hoheiten heben die Braue, wer will, kann den Gruß erkennen, der
hinter halb geschlossenen Lidern glimmt. Aber keiner verringert das
Tempo und so schreiten sie aneinander vorbei ins turbulente Nichts.
Dort wartet das Interview mit einem der üblichen Medien, sie
bereiten sich sorgfältig vor und haben zu allem, was aktuell
passiert, eine passable Bemerkung bereit, die, da nicht abgerufen,
wieder im Orkus des Nichtstuns verschwindet, der sie hervortrieb.
Aber gewiss, übers Stadium des Beleidigtseins sind sie längst
hinaus. Die beleidigte Majestät hängt im Privatmuseum mit dem
Eingang gleich neben der Garderobe, im restlichen Haus bewegt man
sich ungeniert. Vieles wüsste man über vergangene Zeiten zu sagen,
nichts fiele leichter, als den Bruch zu kitten, nachdem die Scherben der
Vase wieder zueinander gefunden haben, sie ist eben doch eine Vase
und gehört, wie es sich gehört, in die Vitrine.
ALLTAGSTRAUMA
Wörter gibt es, die haben gesellschaftlichen Biss – jeder kennt sie, jeder benützt sie (oder spürt den Drang, sie zu benützen), jeder beutet sie, auf seine individuell-vertrackte Weise, aus, als handle es sich um eine Goldmine mit öffentlichem Zugang, an der man sich nach Lust und Laune bedienen darf. Solche Wörter, häufig der Wissenschaftssprache entschlüpft, besitzen, sobald sie im öffentlichen Raum auftauchen, die Aura des Maßlosen, die Menschen erzittern unter ihnen wie unter einem Keulenschlag: Soviel Unheil, das man schon kannte, und nun das! Musste das sein? (Die Frage ist insofern kompromittierend, als sie Glaubensprobleme aufwirft und den nicht wegzuschaffenden Prozentsatz Ungläubiger ausweist, die jeder öffentlichen Erregung per se misstrauen.) Natürlich musste es sein. Dem Maßlosen musste, aus Absorptionsgründen, ein Maß gegeben, es musste klassifizier- und beschreib- und vor allem therapierbar werden.
Auch dieser Erfahrungssprengsatz wurde einmal Erfahrung. Damit gehört er zur Menschheit und sie darf sehen, wie sie damit zurechtkommt. Es kommt die Zeit, da will jeder daran teilhaben wie an einem Familienschatz, das Schreckliche selbst bildet einen Bodensatz an Gewöhnlichkeit, der gewöhnliche Mensch darf alles schrecklich finden, schrecklich gewöhnlich, wie er nun einmal ist, findet er immer Abnehmer für seine Visionen, und sollte die Phantasie einmal nicht zureichen, so findet er leicht einen Therapeuten. – Auf solche Weise fügt sich auch das Trauma ins Selbstbild der medial Gebildeten ein, als sei es ganz normal, dergleichen aufzuweisen, normaler jedenfalls als ein elfter Zeh oder eine Eins in Mathematik. Ein Trauma findet sich immer, schließlich hat es einmal den Ödipuskomplex beerbt und trägt mit Anstand an seiner Bürde. Alles Schreckliche kehrt im Kleinsten wieder, das darum auch das Gemeinste genannt wird. Als ›Alltagstrauma‹ bezeichnen Experten dies wunderbare Phänomen, schließlich wollen sie den Menschen ihre Selbstbeschreibung nicht nehmen, sondern sie nur veredeln. Wo jeder schon weiß, was er verdrängt, ist schärferes Geschütz vonnöten, ein bisschen Bohren rechtfertigt keinen Arztbesuch, hier muss gezogen werden. Erst das gezogene Trauma erzeugt die Anwesenheit der Abwesenheit der Anwesenheit, in der sich die ganz persönliche Leere vollendet, als Offenbarung. Ein Deutungsmuster, ganz recht, ein bewährtes dazu – kein Grund, das zu verschweigen.
Am Quell deiner Leiden sitzt ein Frosch, geh hin und erlöse ihn.
ALPHA’S ZET
Nein, nicht vom Zetern soll hier die Rede sein, sondern von Alphanöten, den unnötigen, aber beileibe nicht unbedeutenden: Wer Alpha sagt, wirft einen Schatten auf Zeta, die schmale Nichte, deren dürftiges Lächeln immerfort meldet:
Alles ist aus. Das mächtige Alpha, dem nichts gebietet außer dem Drang zu gebieten, muss sich das bieten lassen, teils aus Familiensinn, teils aus Ratlosigkeit, denn dort, wo nichts mehr geht, ist auch sein Pulver verschossen. – So weit reicht die Buchstabenlogik, ab jetzt wird es ernst.
Alpha’s Zet, ein Pub in einem der schäbigsten Winkel der Hauptstadt – das Wort ›Pub‹ ist, wie der Geschmack, den die Einrichtung atmet, geborgt, auch dem Gros der Kundschaft, die zahllos die Pforte durchströmt, scheint das rückgabefreie Borgen keine ganz fremde Tätigkeit zu sein –,
Alpha’s Zet also, dem der sogenannte Deppen-Apostroph, Liebling aller Gastwirte, real oder imaginiert, so kunstvoll den tiefrot glimmenden Schriftzug scheitelt,
Alpha’s Zet zum dritten: ihm steht, bildlich gesprochen, das Wasser bis zum Hals. Längst sollte es geschlossen sein. Manche behaupten: am besten von Anfang an. Verantwortungsbewusste Mitbürger finden dort das Ärgernis, das sie sonst anderswo suchen müssten. Ein wenig Haschisch, das eine oder andere Amphetamin-Säckchen, ein gewisses Maß an politisch motivierter Randale,
mehr bedarf’s nicht, um dem gesellschaftlich Unmusikalischen den Umschlagplatz anzuzeigen: »Der muss weg.« Kommt dann noch ein auf dem Klo gefundener Drogentoter dazu, pro Monat, wie Eingeweihte unter der Hand verraten, aber das ist nicht leicht verifizierbar, so ginge im Grunde alles seinen gerichtlichen Gang, setzten nicht gerade an solcher Stelle Gegenkräfte an, die sich niemals verraten und deren stilles Wirken dahin führt, dass
Alpha’s Zet bleibt, wie und wo es ist – ein Hauptstadtwunder. –
Alpha’s Zet ist ein Politikum, ein Neutrum der Politik mit unbestimmtem Artikel, was sich dort abspielt, wird von vielen beobachtet, die selbst gern im Dunkeln bleiben, jedoch weitergeben, was sie gesehen haben. An wen? Nun ja, an wen schon.
Alpha’s Zet: eine Bombe im Herzen der Stadt, die entschärft werden muss, eine von vielen bekannten und unbekannten, die Fachleute sind am Werk, aber das kostet Zeit, es kostet auch Nerven. Manche betrachten es daher, mitsamt seinen Gästen, den dubiosen wie den dubitierenden, als Kunstwerk, nur an die Wand hängen wollte es sich keiner. Wozu gibt es Museen?
Die Gegenwart gehört ins Museum – heraus mit dem, was seine Zeit bereits hatte und so vergeudete! Das Gezeter möchte man hören.
ALPHAZET

Man darf
das Etzeterarische der Grundbegriffe nicht willkürlich übertreiben,
doch man darf es auch nicht verkleinern. Sie werden nachgeliefert,
daran besteht kein Zweifel. Niemand beginnt mit ihnen, wo käme er
denn da hin? Grundbegriffe führen nirgendwohin, wer auf dumme
Gedanken kommt, kann ihnen nachgehen, aber nur vage, auf
unbestimmte Zeit, man fängt sich leicht den Spott der Leute dabei.
Eher gehen sie einem nach, in ihrer eigenen Ordnung und in ihrem
eigenen Rhythmus. Doch keiner sollte darauf vertrauen, dass sie
schon nachkommen, man kann sich da arg täuschen und manchem bläst
es die Ausrüstung weg, ohne dass auf Ersatz zu hoffen wäre. Viele
halten es mit der Ansicht, Grundbegriffe seien einfache Begriffe,
aus denen sich die anderen dann zusammensetzen. Das ist keine
Täuschung, das ist eine Dummheit. Grundbegriffe sind, wie ihre
Bezeichnung, zusammengesetzte Begriffe, jeder von ihnen enthält das
volle Alphazet, aber in der Nussschale. Man blickt auf sie wie auf
die Steine auf dem Grunde des Wassers, die Gedanken fließen darüber
weg und sie liegen ruhig auf ihrem Platz, aber das scheint nur so.
Auch sie wandern, wie der Dichter schreibt, mit unterschiedlicher
Geschwindigkeit und in unterschiedliche Richtung, und nicht nur am
Grunde der Moldau, das ist ganz normal. Man erkennt sie zwischen
den anderen, im Verbund. Allein, auf dem Trockenen, geben sie
nichts her. Sinnsucher, die barfuß auf ihnen zu laufen versuchen,
empfinden sie leicht als spitz und versuchen, rasch wieder Land zu
gewinnen. Was nicht so leicht ist! Aber was ist schon leicht. Ein
Leichtsinn vielleicht, er ist schon weg.
ALPHAZETISMUS
Es gibt kein Alphazet, außer man schreibt es. Der Alphazetismus
besteht darin, einen Gedanken, den man lange gedacht hat, zu
ergreifen, sobald er sich flügge zeigt, als eine Geste der
Erschließung all dessen, was Menschen mangels überzeugenderer
Konzepte niemals aufhören werden, als wirklich zu bezeichnen. Ins
Gehege des Alphabets findet die Wirklichkeit kaum anders hinein als
eine Daphne in den Lorbeer – rasch, aus einer gewissen
Atemlosigkeit heraus, im Sich-Umwenden, im Entgleiten der Bewegung,
die eben noch alles beherrschte und jetzt den Körper in Wellen
verlässt, die den Betrachter wie Windgekräusel anmuten. Das
Alphazet will betrachtet werden. Bereits darin liegt ein
Alphazetismus, ein Unwille, sich zu bedienen und bedienen zu
lassen, ein Verweilen, das darüber hinausgeht und still steht,
jedenfalls der Tendenz nach. Denn der wirkliche Stillstand ist auch
der Stillstand des Wirklichen, seine Auflösung in etwas, das sich
dem
Leben entzieht, eine
fürchterliche Windstille, in der ein Blumentopf auf die Straße
fällt, bloß damit etwas passiert. Etwas passiert immer, im Alphazet
liefert es einer anderen Gangart, einer anderen Passierweise das
Geländer, an dem sie das bisschen Halt findet, dessen sie bedarf.
ALYMENTE

Abgaben intellektueller Art an die Kirchengemeinde zur rechten Wegweisung, sogenannte Zuarbeiten zu einer umfassenden Sicht der vergangenen Dinge, darunter derjenigen, die nie vergehen, weil sie sich im Schmerz der Generationen erneuern. Die Sekte (denn um eine solche handelt es sich) ›zur rechten Wegweisung‹, auch die Sekte der Darüberstehenden genannt, scheidet reinlich zwischen ›den Deutschen‹ und sich selbst, während sie ihre Kompetenz just daraus bezieht, sich das Recht, als Deutsche zu sprechen, von niemandem nehmen zu lassen, schon gar nicht von den aggressiven Verteidigern, Verheimlichern und Vertuschern des wahren Deutschtums, welches das falsche ist, weil es des moralischen Impetus ermangelt, der es berechtigen würde, ›im deutschen Namen‹ zu argumentieren. Verstehe das, wer will. Andererseits: so schwer ist das alles nicht zu verstehen, wenn man erst weiß, dass dieselbe Sekte auch einen Hintereingang besitzt, über dem steht: »Zur unbefleckten Empfängnis«. Wer sich zu ihr bekennt, der hat sein ›Deutschsein‹ per Wiedergeburt ohne Makel empfangen, so dass er ohne weitere Skrupel sich über seine eigene und seine Vorgängergeneration erheben kann, um mit ihnen abzurechnen, wann immer er ihrer ansichtig wird – was oft geschieht, da die Generationsansprache sein eigentliches Metier bildet. Das Erstaunliche ist, dass er in seine Gegner wie in einen Spiegel hineinblickt, ohne sich selbst jemals in ihnen zu erkennen. Darin wiederum ähnelt er – entfernt, entfernt! – jenen Weltbrandstiftern, deren grauenhaftes Erbe er und seine Mitstreiter in gleicher Weise, wenngleich andersherum, ebenso gern und gut verwalten wie die Relativierer der anderen Seite, die finden, einmal müsse Schluss sein mit den Selbstanklagen und -bezichtigungen: auch er will Schluss machen, so wie praktisch alle Schluss machen wollen mit irgendetwas, warum nicht mit irgendwem, um die reine Welt zu erschaffen, in der alle Rainer heißen, am besten
Candidus oder
Candida hinterher oder gleich
Pura, obwohl sich hier das angelsächsische Wörtchen ›poor‹ ernüchternd einmischt, so dass sie in letzter Sekunde Abstand nehmen und in ihre Studierstuben zurückkehren, als habe die Berührung mit der gemeinen Wirklichkeit sie soeben verletzt. »Leck m…« soll einer von ihnen gesagt haben, nicht wirklich, sondern per Götz-Verweis, wie es sich im Deutschen, wo es zu den kulturellen Wurzeln geht, gehört.
ANALPHABETEN
Wer sich informieren will, geht nicht ins Kino. Man kann diesen Satz auch umdrehen: wer ins Kino geht, will sich
nicht informieren. Aber wer spricht vom Kino. Die visuelle Zunft hält die Leute im Griff, weil Sehen und Wissen, Wissen und Handeln so entsetzlich auseinander klaffen. Doch kein Griff hält ewig. Die Menschen merken bei alledem, was sie angeht, es fließt, wie alles Bemerkte, in ihre Wahrnehmung ein und gibt ihr langsam, mäandernd eine andere Richtung. Die allzu smarten Regenten des Medienzeitalters, vollgesogen mit Bildern der von ihnen gefütterten Fernsehanstalten, haben gute Chancen, als die letzten Analphabeten in die Geschichte der menschlichen Saurier einzugehen.
ANALPHAZET
Das Analphazet wäre das Alphazet noch einmal, aber rückwärts, doch da diese Vorstellung unbefriedigend bleibt, entspricht jedem Artikel des Alphazet ein zweiter, unter einem anderen Stichwort, als Gegenstück, das die Information enthält, die dem Leser gerade abgeht. Das wurde so eingerichtet, weil Information von Haus aus paradox ist und nur Leute anspricht, die schon informiert sind. So ruft ein Gedanke Aha!, wenn ein weit entfernter gemeint ist. Der entfernte muss also gefunden werden, aber keine Suche bringt ihn dem Suchenden näher.
ANGST

Das ängstliche Angekettetsein der Philosophen erweist sich, aus der
Nähe besehen, als leerer Schein. Er ist zweifellos ihr größter
Trick. Sie werfen ihn in die Luft und fangen ihn mit dem bloßen
Munde auf. Entfesselungskünstler, die sie sind, reizen sie mit ihm
das Problem. Je enger er am Körper geführt wird, desto sicherer
winkt der Beifall des sachkundigen Publikums. Keiner macht sich
Gedanken darüber, dass so ein leerer Schein lebt – anders als das
rote Tuch der Toreros. Man behandelt ihn, als sei er so gut wie
tot, also schlecht. Dabei hat er Geschwister, allen voran den
vollen Schein, den die Winzer lieben und die Eigenbrötler des
Denkens vorsichtig umgehen, als neide er ihnen ihr Asseldasein. Man
sollte wissen, dass beide, der leere Schein und der volle,
miteinander in einer weitgehend unenträtselten Verbindung stehen,
die niemals abreißt und vermutlich auch im Tod nicht erlischt. Das
Hervorgehen der Theorie aus der Selbstverhedderung des
philosophischen Gedankens ist das Leben des leeren Scheins. Solange
sein Auftritt währt, vergnügt sich der volle Schein im Schatten der
Versorgungsfahrzeuge, wo die Probleme auf Abruf lagern. Manchmal
tritt er in die Sonne, ruft lässig ein Taxi herbei und entschwindet
gen Westen. Das ist die Stunde der wirklichen Angst. Matter werden
die Griffe der Denker und hektischer, das Publikum fragt sich, ob
der Problemdruck, der auf den entferntesten Sitzen spürbar ist, sie
alle in einer gewaltigen Explosion hinwegfegen wird. Die
Veranstalter gehen im Geist die Sicherheitsvorkehrungen durch und
überschlagen die Einnahmen. Entweder sind sie tot oder sie werden
es binnen kurzem sein.
ANGSTHABEN

Angst gehört, auch wenn das nicht immer deutlich wird, zur Klasse
der undeutlichen Besitzgegenstände (indiscretae). Angst hat
einer, sofern sie ihn hat. Die Sprache ist in diesem Fall
merkwürdig, man ›hat‹ Angst, aber man ›hat‹ nicht Liebe, sondern
man liebt. ›Liebe haben‹ bedeutet die Fähigkeit, lieben zu können,
die analoge Aussage verbietet sich praktisch von selbst. Ängstlich
sein bedeutet nicht, Angst haben zu können, sondern sie an der
falschen Stelle zu haben, vorne links zum Beispiel, wo sie nicht
hingehört, wo, im Gegenteil, des Lebens Pulse schlagen oder
schlagen sollten. Auch hier führt die Liebes-Analogie in die Irre,
denn lieblich sein bedeutet gerade nicht, an der falschen Stelle zu
lieben, sondern zur Liebe zu verführen – nicht aktiv, durch
ergriffene Mittel, sondern von innen heraus, durchs bloße Dasein,
nichts weiter. Wer hingegen zur Angst verführt, ist ein
Angstmacher, das besagt alles. »Du solltest mir besser keine Angst
machen«, sagt das Märchen-Kind zum Märchen-Drachen. Darin liegt
eine Drohung, die dem Drachen, in dem ein Angsthase schlummert,
unmittelbar eingeht. Dabei kann, was Angst einflößt, völlig
unbeteiligt dahinplätschern. Unbeteiligt am Einzelnen zum Beispiel
geht das Universum seinen Gang. Das scheint bloß so, aber es ist
die Wahrheit, und sie ruft Angst hervor. »Stirb nicht, liebes
Universum«, murmelt das sterbliche, das allzu sterbliche
Menschenwesen, »stirb nicht, jedenfalls nicht jetzt, wo alles so
schön ist!« Und es richtet sich auf zu seiner vollen Größe und
schwingt die Fäuste gegen die bösen Mitwesen, die das schöne,
schaurige, allzu sterbliche Universum durch ihre bloße Überzahl und
ihr ekelhaftes Glücksbegehren in echte Bedrängnis bringen.
Wenigstens aufpassen sollten sie, dass ihm nichts passiert, dafür
lohnt sich’s zu kämpfen. Die Welt so klein und das Verlangen so
groß – wie passt das zusammen? Niemals und nirgends. Dieses
Missverhältnis, nun, findet in der Angst seinen Ausdruck. Zur Kunst
erhoben, hängt sie in den Museen, füllt die Bibliotheken, rauscht
in Form elektronischer Klänge durch die Weiten der Milchstraße. Wer
weise ist, bekämpft die Angst nicht, sondern verwandelt sie in
Überschuss. So muss er keine Angst haben, dass sie zurückkommt, im
Gegenteil, er darf sich ihrer erfreuen, sobald es ihn anwandelt.
Wer die Pulks aus älteren Mitbürgerinnen sieht, wie sie mit ihren
Klapphockern durch die Museen ziehen, eine erklärungswütige
Plaudertasche vorneweg, der weiß Bescheid. Sie wollen die Angst
sehen, aber nicht deutlich, scharf, klar, sondern blinzelnd,
plaudernd, nebenher und unterwegs. Seit die Bildung die Bilder
vergessen hat, gehören sie ihnen. Vielleicht gehörten sie ihnen
immer und die Kenner, die sich dazwischen drängten, waren nichts
als verkappte Hüter einer tyrannischen Ordnung, die den Auftrag
bekommen hatten, sie abzudrängen. Heute, da die Museen, abseits der
großen Ausstellungen, auf ihre anthropologische Funktion beschränkt
sind, haben sie freie Bahn. Man versteht unmittelbar, dass sie hier
zu Hause sind, man merkt es an Stimme und Gang.
ANNAHME

»Angenommen also...« – Was ist das überhaupt, eine Annahme? Doch
wohl die Entgegennahme eines adressierten Gegenstandes, einer
›Sendung‹. Aber nicht irgendeine Entgegennahme, bewahre, vielmehr
eine, die rechtmäßig erfolgt oder unrechtmäßig, also eine, die
durch Recht und Gesetz geregelt ist... Das sind ein wenig viel
Annahmen für so eine kleine Annahme, die leicht durch die Maschen
schlüpft und mit unterläuft, wie man sagt. Angenommen also, es
fände sich ein Briefträger und er hätte recht mit der Annahme, den
rechtmäßigen Abnehmer seiner Sendung vor sich zu haben, und die
Annahme erfolgte nach Recht und Gesetz: angenommen, es handle sich,
alles in allem, um eine formal korrekte Annahme, so könnte man sich
ja bequem über die Inhalte beugen und darüber die Kautelen des
Empfangens vergessen. Aha! Man muss also vergessen, um zu
begreifen, worum es in der Sendung geht. Aber angenommen, man kann
nicht vergessen...? Wer kann denn glauben, er begreife im Ernst den
Sinn der Sendung, wenn er bereits vergisst, woher sie kommt? Wenn
er es auch nur einen Augenblick lang vergisst? Aber warum ist es
denn nicht gleichgültig, woher die Sendung kommt? Wenn sie zum
Beispiel eins meiner Kinder in meiner Abwesenheit erbricht, wäre
sie dann nicht mehr dieselbe? Man bedenke auch den Fall, die
Annahme erfolge unrechtmäßig, dafür in einem höheren Sinne
rechtmäßig: alsbald steht Sinngemäßheit gegen Buchstabentreue,
Begreifen gegen Begriff, der wahre Empfänger gegen den supponierten
– da tauchen also neue Annahmen auf, man kann nicht einmal sagen,
am Rande des Blickfelds, sondern buchstäblich dahinter, dahinter...
Das muss man sich einmal vorstellen. »Was sagen Sie? Eine Annahme
wäre eine Supposition? Eine Unterstellung? Moment mal. Wer
unterstellt hier wem was? Ich Ihnen? Wie kommen Sie dazu, so
etwas... Schauen Sie doch unter sich. Da ist doch gar kein Platz.
Und überhaupt: ich kenne Sie nicht. Ein Untergestell, das könnten
Sie brauchen, ich sehe jetzt Ihr Problem. Aber ist es meines? Sagen
Sie mir das eine: ist es meines? Ich nehme an, was ich will, damit
entferne ich mich von Ihnen beträchtlich. Lassen Sie mich ausreden.
Ich nehme an, was man mir eingibt. Oder auch nicht. Nicht jede
Eingabe zählt, wenn Sie verstehen... Manche sind dringlich, die
lege ich beiseite, für später. Es hat keine Eile.«
ANÖDE
»Streck deine Füße, die Langsamkeit fliegt uns voran«: ein
Jubelwort aus der Litanei der Anöde, der Zuflucht aller, die, mit
Helmen und Lanzen bewaffnet, im Kampf mit den Windmühlen erlagen
und nun ein sicheres Plätzchen wittern. Da sitzen sie, rundum
gepolstert wie Armlehnen und hören einander zu, während sie ihre
Wunden versorgen. Die alte Versorgungsmentalität beherrscht sie
noch immer. Und warum alt? Wunden müssen versorgt werden, zu allen
Zeiten, immer.
Von
daher, wie mein Vertreter sagt... Die Wunden bluten ja, sie
tropfen den schönen Kirschboden voll, auf dem jedes Sandkorn
knirscht, als sei es ein großer. Ein Großer? Ein großer was? Ein
Brocken, sage ich Ihnen. Diese da waren Kämpfernaturen, sie haben
Anstoß genommen, wie es ihrer Natur entsprach, ihrem Naturell,
sozusagen. Sie hatten wohl etwas zu sagen und sagten es laut und
vernehmlich, mehrfach, in einem fort. Nun ist es fort und kommt
nicht zurück. Sehen Sie den Horizont? Der lange schwarze Strich, da
steht es, äugt herüber und bewegt sich nicht mehr. Vielleicht äugt
es auch nicht, sondern blickt unverwandt in die
Zukunft.
ANPASSUNGSKRISE
Die Krise, ungleichzeitig wie stets, überkommt den, der sich in
Sicherheit weiß, der sich in sie gerettet hat – mit einem Sprung,
einer letzten verzweifelten Anstrengung, einem leichten Heben des
linken Zehs, unmerklich für die Umgebung, mit was auch immer. Sie
überfällt ihn hinterrücks; je größer die Anstrengung des
Entrinnens, desto vehementer der Aufprall. Angekommen und nicht
angekommen zugleich, weiß er weder, wie ihm geschieht, noch, was
von ihm verlangt wird. Vor allem letzteres beunruhigt ihn sehr. Er
möchte sich gern erkenntlich zeigen für die neu erworbene
Sekurität, leider enthält sie die größte Täuschung. ›Aber ich bin
doch dankbar‹, ruft, nein, intoniert er in allen Tonlagen,
vergebens. Es hört ihn auch keiner, denn äußerlich bleibt er stumm.
ANSCHLUSSFÄHIGKEIT
Die Hasenfüßigkeit macht vor den Toren der Wissenschaft nicht Halt,
sie schlüpft vielmehr mit der ihr eigenen Behendigkeit unmittelbar
hinein. Ihre ersten Opfer sind die Helden des Alltags, die davon
träumen, einmal im
Leben
einen Trend zu inaugurieren. Man muss die herrschenden Trends stark
empfinden, um diesen Wunsch zu hegen, das heißt, man muss den
beherrschenden Anspruch, der von den Inaugurationstexten ausgeht,
in einem Maß respektieren, das mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit verhindert, dass der tief gehegte Wunsch
in
Erfüllung geht.
Es sind tüchtige Arbeiter, gut konditioniert, sie wollen die
Verhältnisse ändern, zumindest in ihrer
Disziplin, sie wollen dazu beitragen, dass sich
etwas bewegt. Sie haben ein starkes Ego, ihre Auftritte sind
durchdacht, sie verlangen, dass man ihnen zuhört, aber im
Entscheidenden zeigen sie sich taub und richtungslos. Es ist nicht
die Zeit für das, was zu sagen bliebe – den Rest, den sie sich nur
über das entschiedene Urteil aneignen könnten, das sie sich
versagen. Die Urteilsabstinenz ist über sie verhängt und manche
tragen ihr Los mit Grazie. Was für Leute wie sie ›ganz normal‹ ist,
drückt Standorte, an denen ein solches Verhalten endemisch wird, in
die Zweitklassigkeit oder in die Bedeutungslosigkeit. Das Spiel
machen andere. Da hilft kein
Förderwille.
ANSCHLUSSFLUG

Ein Land, das für sich in Anspruch nimmt, als Schlachtfeld der Ideologien den Gang der Welt zu beeinflussen, braucht Leute mit starken Nerven. Hier wurde der große europäische Religionskrieg ausgetragen, der die Hälfte der Bevölkerung das Leben kostete, hier fand das Armageddon der drei Welt-Ideologien statt, auf das fromme Amerikaner noch immer warten, hier importiert man die letzte kriegerische Religion des Erdballs, damit den Kommentatoren nicht langweilig werde, hier ist man davon überzeugt, genügend Moral zu besitzen, um anderen davon abgeben zu können, vor allem, wenn sie an den Brennpunkten des Welthandels sitzen und ihre Rüstung auf dem neuesten Stand halten. Man ist, mit einem Wort, sich für nichts zu unbedeutend und kann sich nicht vorstellen, eines Tages wirklich angegriffen zu werden, das wäre, dem zwanzigsten zum Trotz, tiefstes neunzehntes Jahrhundert und gilt mittlerweile als überholt. Dieses Land glaubte lange Zeit, seine Geschichte noch vor sich zu haben, inzwischen ist es davon überzeugt, sie hinter sich zu haben und möchte dieses Modell exportieren. Als Exportweltmeister prüft es seine Bestände, sobald sich etwas findet, das man verwerten könnte, beginnen die Sondierungen. Ich erinnere mich an eine Diskussion zwischen ein paar Literaten, die den Konflikt zwischen Palästinensern und Israel unter sich beilegten, als handle es sich um zwei rabiate Fanclubs, die ihren Vereinsbetreuern entglitten sind und ›zurückgeholt‹ werden müssen. Eine seltsame Tätigkeit, dieses Zurückholen – mit dem Ausdruck versierten Bedauerns geht sie über Leichen und Ansprüche zur Tagesordnung über: hier liegen ihre Stärken, hier weiß jeder, was zu tun bleibt und wieviel Zeit zur Verfügung steht, damit keiner den Anschlussflug verpasst.
ANSEHEN
Es ist, unter Menschen, nicht schlecht, ein gewisses Ansehen zu
genießen, was nicht heißen muss: ein gutes. Das Ansehen
unterscheidet Völker wie Menschen, es schert sich wenig um
Staatsgrenzen und Bevölkerungsmix. Zum Beispiel haben die Deutschen
stark unter ihrem Ansehensverlust gelitten und sind erleichtert,
etwas davon wieder ihr eigen zu nennen. Sie bauen, mit einem
Augenzwinkern wird es gesagt, ›fine cars‹. Leider schmeckt das
Lob verdächtig nach jenem
Aber die Autobahnen, mit dem der geistig-moralische Wiederaufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg
begann. Und ein gewisser Zusammenhang ist schwer zu leugnen. Eine
Industrie, von der die Hälfte der Bewohner eines Landes abhängig
ist, muss etwas Ungemeines besitzen. Sie birgt den Tempel und
vielleicht auch die Bundeslade, um die das geheime Leben aller
zirkuliert. Aus dem Ansehensverlust der Kultur haben forschere
Zeitgenossen geschlossen, dass sie nichts wert sei – ein
klassischer Fehlschluss, der mühsam die Einsicht verdecken half,
dass die anderen sich ein paar Jahre lang von
denen da nicht über
die heikelsten und bedeutsamsten Elemente des Menschseins belehren
lassen wollten. Die Kultur hatte
das da nicht verhindert, wozu
sollte sie gut sein? Vielleicht war
das da sogar aus ihr
herausgekrochen, so dass man mit Fug sagen konnte, sie habe sich in
ihm entpuppt? Ein Hauch von Krieg gegen das eigene Herkommen liegt
über den Jahrzehnten nach ’45, ein zeit- und objektversetzter
Widerstand gegen wehrlose Klassiker, von toten Lebenden gegen
lebendige Tote geführt, als gelte es, eine bereits von den
Vorgängern demolierte Sache gemeinsam mit den Alltagszeugnissen der
Schande zu verscharren. So sind die Deutschen in dem, was sie ihren
Lernprozess nennen, erneut die Barbaren Europas geworden – fleißige
Lieschen ohne Alltagskultur, mit viel Kunst
und
Events, ohne eine
nennenswerte Literatur, ohne eine nennenswerte Philosophie, ohne
nennenswerte Humanwissenschaften, sogar ohne ein Bewusstsein, etwas
verloren zu haben. Auch hier glauben sie sich, nach einer langen,
frenetischen, blutigen und sterilen Stunde Null, endlich
angekommen, endlich des Makels ledig, etwas Besonderes zu sein. Ein
Irrtum? Nein, kein Irrtum, ein Grobianismus.
ANTICHRIST

Das ist der von einem nicht mehr personifizierbaren Gott-Teufel
künstlich geschaffene Gegenbruder Christi zum Schutze all derer,
die Jesus den Nazaräer verstoßen haben. Jene und ER gelten als
antispirituelle Zerstörer der klassischen Feste im Kirchenjahr und
überhaupt im weiteren Sinne als Verwirrer der Kathedralen der
Seelen. Man findet IHN und seine Anhänger mit schwarzen, übergroß
nachgeahmten Priesterkappen, Pantoffeln und Stolen auf Glasfenstern
und Wandgemälden, vornehmlich der Tempi sancti, innerhalb
mediterraner Orte, etwa auf jenem Bild vom Umbau Jerusalems zur
Schädelstätte durch Al Chumä den Lästerer. Von hier aus fuhr
dieser, als Begleiter des Antichristen, sehr häufig, wie von
französischen Kreuzrittern bei ihren Prozessen bezeugt, nach Westen
in gewisse Seelen phantastischer Prägung. Voller Wut behauptete
Ernst Hello, dieser niedere Knecht sei jeden Tag »voller Schmutz an
den Stiefeln« in die Köpfe der französischen Dichter gefahren.
Lautréamont war sich jedoch der köstlichen Gestalt des Inspiration
durchaus bewusst und erwähnt Al Chumä in Briefen als den
humoristischen Überbringer aller Aufträge des Antichristen, deren
Purifikation ihn allerdings immer viel Zeit gekostet habe. »Meine
Gesänge Maldorors wären fünfmal länger geworden, hätte Al Chumä
nicht soviel geschwätzt. Manchmal sprach er sogar von den
unterschiedlichen Marktpreisen für Brennholz auf den verschiedenen
Plätzen von Paris oder selbst von Grenoble.« Man kennt zahlreiche
Rezepte einer fleischlichen Wiedererweckung des Antichrist nach
1789 bei Gegenaufklärern und Satanisten in Frankreich durch
Pottasche und tierischen Leim, Weihwasser und Quecksilber. In
Barcelona zeigte man bis in die Neuzeit seine Mumie, vom Speer
eines Glaubensritters der ›vier Gelübde der Cavalleria andante‹
durchbohrt. Er wurde dort Don Spirito Diavolo contra Jesum genannt
und auf Verlangen nach Beiwohnung einer frommen Messe gezeigt. Er
war mehrere Meter lang und weiß wie Kreide, überhaupt vielleicht
eine Gipsfigur aus den Händen eines frommen oder besessenen
Künstlers. Er lag in einem Gefäß aus Kupfer und wurde gerollt wie
eine Tonne, wenn er sich offenbaren sollte.
Dehio fand ihn aber schon 1903 nicht mehr an der bekannten Stelle
und vermutete seine Abschaffung durch den frommen Erzbischof
Trivolo Maria sul davantorre del Christobal di Alicante. In einem
tieferen Sinne ist der Antichrist eine Hoheitsgestalt der älteren
Wissenschaften, die sich bewusst oder unbewusst auf ihn berufen.
Dreimal sei das Haupt, umflossen von den Primzahlen, zur Wurzel
Jesse gelangt und so zur Mutter aller Zahlen geworden. Dies lehrte
man noch für gebildete Berggänger unter den Goldsuchern der
Solothurner Bergakademie zu den Zeiten Lavaters. Von dieser
magischen Dreierreihe gingen hypnotische Kräfte aus, die Kranke
heilten und Schlaflose müde machten.
Eine neuere Forschung durch die
freie religiöse Phantasie gibt es leider bis heute nicht. -
PM
ANTWORTEN

Wo immer einer hinkommt, wollen die Menschen wissen, wie es
weitergeht. »Die Menschheit hat ein Recht auf klare Antworten.« So
las man es gestern, so liest man es heute. Die Menschheit, das sind
die Leute, denen das Fernsehen das kleine Einmaleins beibringt,
bevor es sie mit ein paar Kindergeschichten zu Bett bringt, dazu
jene Unverdrossenen, die sich aus dem öffentlichen Medium
nichts machen und stattdessen zu Vorträgen laufen, bloß um hinterher
mit dem Autor zu diskutieren oder sich ein Autogramm abzuholen.
Jeder, der sie kennt, weiß, dass sie nichts weniger befriedigt als
klare Antworten. Sie lieben es, ihre Vordenker in die Klemme zu
bringen. Die Menschheit weiß in einem Ausmaß Bescheid, das denen,
die ihr etwas bieten möchten, mehr Stoff zum Nachdenken böte, als
sie verkraften könnten. Nein, die Menschen wollen keine klaren
Antworten. Sie wollen auch nicht belogen oder betrogen werden,
jedenfalls nur nach dem Maß dessen, was sie sich selbst zumuten.
Sie wollen … alles Mögliche, und immerhin wäre es möglich, dass
sie beim Zuhören auf ihre Kosten kommen. Manche wollen sich etwas
dabei denken, wenn andere reden, im Hinterstübchen, dort, wohin sie
niemanden blicken lassen. Sie sind, wie man hört, in der
Minderzahl, aber diese Annahme ist vielleicht ebenso töricht wie
der Appell an die Menschheit. Was sie zu denken gedenken, ist
unabsehbar, und selbst wenn es ein Immergleiches wäre, hätte
niemand ein Recht, es ihnen zu verwehren. Dieser Niemand, das ist
die unsichtbare Figur im Spiel, sie kreuzt die Bahnen der Akteure
und mancher trägt eine lahme Ferse davon.
APHOSACK
Sagen wir, so ein Aphorismus ist eine feine Sache – fragt sich, für
wen, fragt sich wozu? Ein
coltello ist ebenfalls eine feine
Sache, warum nur misstraut man dem, der ihn in der Tasche mit sich
herumträgt? Und dann: Warum ein stumpfer? Warum einer, der so klein
ist, dass er nicht einmal dazu dienen kann, ein Brot sorgfältig in
zwei Hälften zu zerlegen? Geschweige denn, ihn dem Gegner zur
rechten Zeit ins Herz zu bohren? So ein
coltello ist, recht betrachtet, zu gar
nichts nütze.
Betrachten wir die Sache von einer anderen Seite. Für viele
Mitmenschen ist es eine Notwendigkeit, der sie sich nicht entziehen
können, gefährlich zu erscheinen. Nur: in einer Gesellschaft wie
unserer erscheint man nicht lange gefährlich, ohne auf die eine
oder andere Weise aus dem Verkehr gezogen zu werden. Die Nachbarin
hat es genau bemerkt und die Polizei – gehen Sie mir mit der
Polizei! Das ist ein unnützer und gefährlicher Aufwand, anderen
gefährlich erscheinen zu wollen. Er bleibt auch vergebens, da die
Leute einen gefährlichen Menschen ungefähr so ernst nehmen wie
einen ausgebrochenen Zirkuslöwen oder einen Braunbär auf Urlaub.
Ein Anruf genügt und mit der Gefährlichkeit ist es aus.
APOKALYPSE
Die Apokalypse ist, auf ihre alten Tage, Schauspielerin geworden. Ihre Spezialität: der Totentanz vor weit geöffneten Kamera-Augen, zu dem ein Klangbrei aus Politiker-Statements, Kenner-Kommentaren und, über, neben und unter allem, journalistischem Dauerabgang die Gehirne des Publikums flutet. ›Nicht mehr beherrschbar‹, ›außer Kontrolle‹, ›nicht mehr aufzuhalten‹, ›Ereignisse überschlagen sich‹ .......
abschalten, abschalten, wummert des Volkes Seele, sie meint die Kraft, die in ihren Adern kreist und hier und da auszutreten beginnt. Völlig verseucht, wie sie sich vorkommt, will sie den erlösenden Schnitt jetzt. »Geht doch«, sagt die Apokalypse und packt ihre Klamotten in den Wander-Rucksack, bevor sie verduftet, »man muss das Unglück der Menschen packen und etwas daraus machen, etwas Großes, Mächtiges, in die Zukunft Weisendes. Welche Zukunft soll man Leuten schon weisen, die alles glauben, weil sie die Zukunft hinter sich wähnen? Diese tiefsitzende Überzeugung, dass es ›im Grunde‹ vorbei ist, während doch alles vor dem Einzelnen liegt, ist eine Goldgrube, sage ich Ihnen. Die Lust am Untergang wächst im Quadrat der Entfernung vom Geschehen. So gesehen, befinde ich mich auf der sicheren Seite. Im Grunde wollen die Leute nicht, dass sich etwas ändert, sie wollen es nur sofort. Das Unglück der anderen ist eine Kompression: alles, was gewöhnlich Jahre auseinander liegt, schiebt sich in ein paar Sekunden, Stunden oder Tage zusammen. Manchmal wirkt es wie eine Kompresse, der Effekt greift schon, ehe alle Toten gefunden, geschweige denn begraben sind. Man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Wir sind alle Opfer, wissen Sie, wir haben ein Recht darauf, uns von Worten erschlagen zu lassen.«
ARMLÄNGE
Habe Mut, dich deines langen Arms zu bedienen! Kein Klassiker hat diese Maxime formuliert, kein Philosoph sie begründet, und doch ist sie der Klassiker unter den Handlungsmaximen, die Urmaxime schlechthin, ohne die hinieden nichts blüht und gedeiht, geschweige denn ausschlägt, zu unser aller Besten zum Beispiel oder zu anderen, verzwickteren Zwecken. Dabei ist, woher dieser spezifische Mut kommen soll, genauso unerfindlich wie das Vertrauen in einen langen Arm, wovon manche Langarmige unter den eher Kurzgewachsenen ein Lied singen könnten, deren Hände so schnell in fremden Taschen stecken, dass es kaum lohnt sie herauszufischen. Dem Hochgewachsenen dient der lange Arm dazu, die Dinge zu sich emporzuheben. Das kräftigt die Rückenmuskulatur, vor allem, wenn es regelmäßig ausgeführt wird, wovon selten die Rede sein kann und nie auf Dauer – am Ende zerstört es das Rückgrat und bereitet all jene Scherereien, vor denen die Ratgeber Ost seit altersher warnen. Die Ratgeber Ost, wo sind sie geblieben? Ein paar Kassandren im Lande, sollte das alles sein? Dafür das welthistorische Experiment? Dabei wusste keiner wie sie, wozu so ein langer Arm fähig sein kann und welche Organe ihm zuarbeiten.
ARMLEUCHTER
Der Armleuchter hat einen bescheidenen Ruf und einen noch schlechteren Stand.
Nicht umstoßen lautet seine Devise, damit meint er:
Bitte verstoßt mich nicht, ich hab’s auch ohnedies schwer. Und das ist wahr. Wie wahr, das versteht seinesgleichen immer dann am besten, wenn ihm wider Erwarten ein Licht aufgeht: »Hab ich’s nicht gesagt? Hab
ich’s nicht gesagt?« Natürlich hat er’s gesagt, alle Welt hat es gesagt, warum nicht er? Er jedoch trägt schwer daran, es gesagt zu haben, und beschwert sich übers geziemende Maß hinaus. Er sollte philosophische Bücher schreiben, das hülfe ihm über die Zeit. Doch er kann nicht schreiben und traktiert die Tastatur der Gedanken wie das Nachbarskind das unlängst angeschaffte Klavier. Lebenslang üben hält jung. Unter Wissbedürftigen: Wer lernte nicht gern dazu?
ARMUTSFALLE
Seit Adler arm ist, beschränkt er sich beim Kaufen aufs Nötigste.
»Sieh her, was ich brauche«, sagt er, »das ist nicht der Rede
wert.« »Welcher Rede?« fragt G. interessiert, es freut ihn, wenn
einer Ausflüchte gebraucht, sie liegen dann nicht so am Boden herum
und er kann sicherer auftreten. »Dummkopf«, sagt Adler, denn er
kann Sophisten nicht leiden und kehrt gern den Wisser heraus.
»Armer Adler«, seufzt G., nachdem er in
Würde geschwiegen hat, »er sitzt in
der Falle und merkt nichts davon. Er glaubt noch, er könne fliegen,
wann immer er wolle, und es liege am Auftritt. Lassen wir ihm
seinem Glauben. Es ist besser, er stößt sich den Schnabel, als dass
er uns abstürzt.« »Adler stürzen nicht ab, mein Lieber«, ruft Adler
hinter ihm her, »sie bewachen den Mond.« »Wie er sie«, murmelt G.
und rudert zurück in die Armutsfalle.
ARTGENOSSEN

Was Sie hier sehen, ist ein neues Jahrhundert, was sage ich, ein neues Jahrtausend, keine Schiefertafel, stattdessen ein riesiger leerer, von keiner Kondensspur durchzogener Raum über unseren Köpfen, unbetretbar, er jedoch hat Besitz von uns genommen und lässt keinen mehr los. Unbeschrieben, nein unbeschreibbar, ist es das? Ist es das, was lockt? Andere mögen das nicht so krass empfinden, sie stehen in Kontinuitäten, die in unseren Breiten niemand so recht übersieht, sie halten vielleicht nicht soviel von Wenden oder sie wenden gerade das Schicksal der Welt, sind also praktisch beschäftigt, aber Europa, das seinen Aufstieg und Abgang in die Nussschale eines nun vergangenen Jahrtausends packen kann und gerade anfängt, erdgeschichtlich zu denken und, was mehr zu denken gibt, zu empfinden, weiß um den Moment und ist bereit, sich ihm anzutragen. Der eitle Drang, seinen Schriftzug in die leere Fläche zu setzen, möglichst als erster, sieht sich durch die Fülle an Aussicht sonderbar gebremst. Eine leere Aussicht am Ende? Eine Aussicht aufs Ende, eine Aussicht, die rasch zum Ende kommt? Niemand glaubt im Ernst, dass die Menschheit das angebrochene Jahrtausend überlebt. Das ist ein seltsam starker Glaube, der als Unglaube maskiert zwischen den Leuten herumgeht. Das neue Jahrtausend wird das Verschwinden der Gattung bringen und wir sind die, die es ihr beibringen müssen. Das Ende des Menschen ist also wirklich angebrochen, nachdem es lange bedacht und auf den verschiedenen Schlachtfeldern der Zivilisation eindringlich geübt worden ist. Es schmerzt auch nicht mehr, dieses Stadium haben wir hinter uns. Ehrlich gesagt, es wird von vielen ersehnt. Sie wollen der stummen, aus allen Rohren feuernden Natur zurückgeben, was sie so unerbittlich zu fordern scheint: die Ruhe nach der Schlacht, das reine An-sich-sein ohne jedes Für-sich, so winzig es sich auch, kosmisch gesehen, ausnehmen mag. Das sind Puristen, wie immer von der Mehrheit belächelt, die ihren Verstand, wie sie sagt, noch beisammen hat. Er wird schon auseinander fallen, auch dafür ist gesorgt. Unter uns: er fällt täglich mehr auseinander, aber das ist nur ein Bild.
Mehrheiten ändern sich, das ist der Lauf der Welt, dafür sorgt schon die Biologie, wo sie ausbleibt, meldet die Medizin sich zur Stelle. Der Glaube an die Menschheit ist eine seltsame Machination, die nur auf Zeit glücken konnte und durch den Glauben ans physische Ende künstlich gestreckt wird. Niemand glaubt an ein Ende, das bereits im Gang ist. Die Bereitschaft zu glauben richtet sich auf künftige, wichtige Dinge. Wie sieht sie aus, diese Welt ohne Menschen? Sie liegt in uns, sie liegt unter, neben und über uns, sie muss nur hervorgeholt werden. Ein starker Forscherimpuls ist hier am Werk. Der fromme Wunsch, die Menschheit möge sich, bilanztechnisch gesehen, so verhalten, als gäbe es sie nicht, markiert bloß den Anfang, er haftet überall an der Oberfläche, vergleichbar dem Wunsch des Todeskandidaten, er möge noch eine Zeitlang unbemerkt fortexistieren, um zu sehen, wie es ohne ihn weitergeht. Nichts fühlt sich leichter an als so eine Fortexistenz, in der Lug und Trug ihren lange angemeldeten Anspruch auf Wirklichkeit glücklich einlösen dürfen. Ein poetisches Pärchen, mancher wünscht ihm, neben einem energetisch gesunden Gefühlsleben, die endliche Einsicht, dass ein Jegliches gut sei, bloß als sich erneuernde Aufgabe. Allein ein paar Astrophysiker, die extra dafür bezahlt werden, hoffen auf den Zwillingsplaneten im All, auf dem alles gleich und anders ist und auf dem deshalb alles neu beginnen kann. Auch sie erwarten also das Ende, sie sind verblendet genug, es nur als Anfang begreifen zu können. Vielleicht auch nicht, denn alles ist Auftrag, auch hier.
Die genossene Art ist die beste.
ASTLACHEN
Sich einen Ast lachen: soviel wie
sich krumm lachen, einen
ungewöhnlichen Heiterkeitsausbruch hinlegen, auf Kosten anderer
triumphieren, aber im Verborgenen (oder auch nicht), einen vom
anderen übersehenen Vorteil einstreichen, unverhofft auf seine
Kosten kommen, dem (den) Mitmenschen das Nachsehen geben. Dass bei
solcher Gelegenheit etwas zum Vorschein kommt, gleichsam aus einem
herauswächst, scheint zunächst einmal nichts Außergewöhnliches an
sich zu haben, es versteht sich fast von selbst. So ein kleiner
Auswuchs – wo darf es sein? Unterm Ärmel? Aus dem Kopf? Aus der...?
Nana. Und doch... vielleicht. Die... hören Sie, ich kann mich vor
Lachen nicht halten, worauf wollen Sie hinaus? Wo wollen Sie hin?
So ein Aphorismus ist rascher entführt als die Vorstellung, die er
enthält. Allein gelassen, kauert sie einsam am Wegrand. Lachen Sie
ruhig, das ist die Wahrheit, nicht die ganze, aber ein Gutteil. Die
Vorstellung ist die Falle, die der Astlacher seinen Mitmenschen
stellt. Die Vorstellung, dass sie da draußen sitzt, erheitert ihn
in der Seele. Er hat sie gut sichtbar versteckt, man könnte sie
einen Fetisch nennen, einen Wegweiser vielleicht oder eine Grabrede
für niemanden. ›Lust, niemandes Grab zu sein‹ unter soviel
Plünderern.
ATTENTISMUS
Leicht schockiert, wie die Menschen sind, bleibt ihre Realitätsverankerung schütter. Tritt ein stärkerer Eindruck in seine Rechte, dann kommt es zu einem Attentismus, der alles für möglich hält, gleichgültig, ob das Netz der Kategorien es hergibt, in dem sich Menschen normalerweise bewegen. Physikalische Gesetze? Technische Daten? Psychologische Kenntnis? Das weit geöffnete Auge, das jede Bewegung registriert, kennt keine Gesetze, keine Daten, keine gesicherten Begriffe: es ist offen für alles, was kommen
mag, gleichgültig, ob es überhaupt kommen
kann. Ein Überlebens-Mechanismus, kein Zweifel, aber auch ein Einfallstor für Panikmacher und Scharlatane. Immer vorneweg der Sensations-Journalismus, der gerade die sensibelsten, offensten, beweglichsten Menschen im Handumdrehen in einen Haufen Narren verwandelt, die mit jedem Unsinn stürmen, in bar und auf Pump, ehe so etwas wie Scham einkehrt und sich das nüchterne Alltagsbewusstsein wieder zu Wort meldet.
AUFBRÜCHE

Du siehst ein Kunstwerk und bist entzückt. Du liest die Theorie,
die vom Künstler ausgeheckt wurde, um seine Richtung begreiflich zu
machen, und bist gelangweilt, befremdet, irritiert. Du fragt dich:
Wie konnte dieser schwache, offenkundig leicht zu verwirrende Geist
so ein Werk hervorbringen? Und du liest weiter. Du findest die
Theorie mit anderen im Bunde, die den gleichen Geist atmen:
Ansichten einer Clique, einer Schule, einer Bewegung. So geschieht,
was geschieht: auch die dazugehörige Praxis kann nicht länger
überzeugen. Du siehst das Gewollte, das sinnlos Erzwungene, du
siehst, wo du hinsiehst: falsche Theorie. Wohin ist das Sehen
entschwunden? Welche Sicht der Dinge hat es unaufhaltsam verzehrt?
Geht das Gedachte dem Gesehenen so weit vor? Ah, da kommt es
zurück. Beginnen wir also von vorn. Nein, du bist nicht länger
entzückt, aber du lässt gelten. Du lässt gelten, weil du nicht mehr
gefordert bist. Eine naive Sicht der Dinge lullt dich ein. So geht
es den Künsten, so geht es der Kunst. Man muss ihr die Aufbrüche
nachsehen, wie sonst käme sie zustande? Am Ende gilt, was du
siehst. Es gilt nicht wirklich, nur ein wenig vermindert, du muss
dich darein versehen, sonst siehst du nichts.
AUFPASSER

»Pass auf«, riet der Aufpasser, »dass du nicht abgepasst wirst
und eine verpasst bekommst!« »Das will ich nicht verpassen«,
murmelte der Boxer im Schlaf und und legte sich den Pass unters
Genick. »Passt schon!«, rief der Schaffner dem Fahrgast nach, der
den Zug verpasst hatte und seine Beine in die Hand nahm. Na wenn
schon. Wer aufpasst, dem passieren Dinge, die anderen nicht einmal
auffallen würden, geschweige denn zustoßen. Dabei ist nur das
Zugestoßene echt, alles andere Plunder. Deshalb glaubt, wer das
Zustoßen in die eigene Hand nimmt, er sei den anderen stets eine
Armlänge voraus. Was, wenn er recht hätte? Nein, er hat unrecht. Die
Welt ist voller Aufpasser. Wer aufpasst, dem kann praktisch nichts
passieren, es sei denn, er geht seinesgleichen ins Garn. Da passen
sie aufeinander auf, dass es eine Freude ist, andere meinen, es sei
nicht zum Hinschauen. Und schon ist es passiert. In einem Staat, der
die Zahl seiner Aufpasser unauffällig vermehrt, wird alles auffällig. Das
Unscheinbare zeigt seinen Wundercharakter und benimmt sich scheinbar
daneben. Warum? Weil nur daneben noch Platz ist. Der Hauptplatz, der
eigentliche, ist der Platz, den die Aufpasser brauchen, weil sie
sonst leer nach Hause gingen und wegen Unbrauchbarkeit ins Visier
gerieten. Lehrsatz: Wenn alle aufpassen, passiert nichts. Wenn aber die
eine Hälfte der Menschen auf die andere aufpasst, dann füllt das
auf diese Weise erzeugte Wissen das Universum: alles Menschliche ist darin
enthalten und alles Weitere bleibt ihnen fremd. Ihnen? Gewiss: den Aufpassern
und denen, die sie, so oder so, kontrollieren.
AUFREGEND

Warum die aufregenden Schriftsteller die langweiligen sind.
Auffällig ist: was in seiner Zeit ankommt, vergeht mit ihr. Später,
unter der Lupe kulturhistorischer Untersuchungen, mutiert es zum
Exempel von Trivialkultur. Alles, was den Zeitsinn stimuliert,
wirkt aufregend, es steigert das Bewusstsein der Gegenwart, die
Empfindung, gerade jetzt durch offene Türen zu gehen. Da in der
Regel niemand Zeit hat, um auf sein Pfingsten zu warten, lässt er
es sich vermitteln. Die Agenturen, die dieses Geschäft betreiben,
wissen, was an der Zeit ist, sie können sich auch täuschen, aber
das lässt sich rasch reparieren, ein Hauch genügt und sie stehen
auf dem Plan. Ein kleiner Ableger dieser Agenturen sitzt in den
aufregenden Schriftstellern, sie vibrieren gleichsam mit ihrem
Schreiben mit und verlangen von sich das Äußerste: Aktion. ›Die
Aktion‹ hieß das von Pfemfert vor dem Ersten Weltkrieg
herausgegebene, übrigens bis 1932 existierende Organ, in dem die
Aufgeregten sich sammelten, um Aufregung zu verbreiten. ›Irgendwie
links‹ geriert sich das bestehende Aufgeregtsein bis heute.
Manchmal kommt kurzfristig richtige Aufregung auf, wenn ein
Aufgeregter über die Stränge schlägt und alles zurücknehmen muss
oder rasch von der Bühne gezerrt wird, zurück ins Dunkel, wo das
Zwielichtige siedelt. Am aufregendsten ist natürlich der kühle Typ,
um den herum das Publikum in Wallung gerät. Überhaupt gilt: die
aufregendsten Menschen schreiben die aufregendsten Bücher. Ist das
nicht aufregend? Mitnichten. Jedenfalls darf sich die Aufregung
legen, wenn das Leben sich legt, teils zum Schlaf, teils zum
Entschlafen. Eine verblichene Aufregung gilt zwei geschälte, mit
denen sich ein paar Saurier bewerfen, zwischen denen man ein Netz
gespannt hat.
AUFRUHR
Solange die Toten fehlen, herrscht Aufruhr, denn sie sitzen unsichtbar mit an den Tischen. Wo immer aufgetragen wird, verlangen sie ihr Recht, dabei zu sein. Erst wenn sie nach allen Regeln des Menschseins gestorben sind, ändert sich das. Wer gewaltsam aus dem Leben gerissen wurde, lebt es in seinen Nächsten zu Ende. Wer zusammen mit seinen Nächsten aus dem Leben gerissen wurde, der lebt es in den Fernsten zu einem Ende, das keiner kennt.
AUFSAGER
Du sollst nicht aufsagen! stand in großen Lettern über den Schulstunden der Kindheit, in denen es doch um nichts anderes ging als ums Aufsagen des Gelernten. Gern hätte ich meinem Banknachbarn eingesagt, der, unfähig zu größeren Merkleistungen, unter dem lauernden Blick des Lehrers bloß darauf wartete, stockend und gierig ein paar seitwärts geflüsterte Brocken lauthals zu wiederholen. Doch lieber hätte ich aufgesagt, nicht aus Eitelkeit oder Ruhmsucht, nur weil nun einmal aufgesagt werden musste, damit, was zu sagen war, hell und klar im Raum stehen würde. Der Pauker allerdings – ich muss ihn so nennen – war anders unterwegs: eingedenk des vor ihm kauernden Wunsches, der nicht nur Wunsch war, sondern Befehl, ein Hilferuf der gemarterten Wörter, machte er sich ein finsteres Vergnügen daraus, das zu seinen Füßen spielende Miniaturdrama zu ignorieren und, offen die Stümperei der Mitschüler verhöhnend, die Übung ergebnislos abzubrechen. Heute ist meine Stimme ausgebleicht, kaum zu verstehen, wie man mir andeutet, wann immer sie Erwünschtes aufsagen soll, weicht sie aus, auch bedarf sie der fordernden Instanzen nicht mehr und sie scheut keinen Umweg, um das bitter Gelernte zu bestreiten: Kausalität.
AUFWURSTELN
Du brauchst mir doch nicht deine Meinung aufwursteln – Ausruf einer in die Defensive geratenen Mutter, die weiß, was eigenem und fremdem Nachwuchs frommt. »Ich kann doch positiv Vorbild sein, auch wenn ich selbst nicht daran glaube?« Wer das nicht einzusehen vermag, unterschlägt die positive Funktion der Sitte oder interessiert sich nur für die Sittenpolizei. So verderbt sind die Sitten nicht, dass jeder Versuch, sie zu emendieren, zwangsläufig an den Verhältnissen scheitern müsste. Und wenn schon! Den Versuch ist es wert und das Leben wird dadurch wertvoll. Wem? Dem Leugner natürlich, der den Gesinnungsspagat tadelt und sich am Anblick des Fleisch und Rede gewordenen Widerspruchs berauscht. Nur
aufwursteln, das will er nicht, brav und ordentlich will er zur Sache gehen.
AUFZIEHTHEORIE

Da ich ein Knabe war, ach...! Damals gab es diese Spielzeugautos
mit einem Loch in der Seite, aus dem ein kräftiger Stift
herauslugte: man steckte einen Schlüssel hinein und zog damit eine
verborgene Feder auf, die Antriebsräder musste man währenddessen
festhalten, am besten mit dem Finger, ein Tipp für später, den
keiner verstand. Leider reichte die Spannung nur für kurze Sprints
– genug, immerhin, um die bange Frage aufzuwerfen, ob einer auch
rechtzeitig losstürzte, um das rasende Vehikel aufzufangen, sobald
es über die Tischkante hinausschoss. Stärker beeindruckten die
Aufziehmäuse aus grau lackiertem Blech, die mutig in Buchseiten
hineinfuhren, aber an einer nicht genau vorhersehbaren Stelle
umkippten und sich um sich selbst zu drehen begannen,
weitergetrieben durch einen geheimnisvollen Kraftschluss zwischen
dem dünnen, biegsamen Gummischwanz und der nur scheinbar glatten
Papierfläche, die hinreichend Haftung für das Spektakel bot. Später
habe ich Menschen hochgemut zwischen die Seiten eines Buches
geraten und zum Ergötzen und endlich zum Erschrecken ihrer Umgebung
nicht mehr herausfinden sehen. Ob sie allerdings um sich selbst
kreisten oder um einen geheimnisvollen Punkt des Entsetzens, der
nicht weiter benannt werden konnte, blieb in den meisten Fällen
unerfindlich. Immerhin hatte das Buch etwas bewirkt: die Geburt
eines Wesens, das einem Perpetuum mobile erstaunlich ähnlich sah
und am Ende doch nur liegen blieb. Ein schlimmes Los, ein schönes?
Einen, der das wüsste, könnte man auch nach anderen Dingen fragen,
zum Beispiel, woher es kommt, dass die Klingel stumm bleibt,
solange man auf sie hört oder warum es keinen Zweck hat, auf die
Straße zu laufen, wenn man Besuch erwartet – lauter Dinge, die
einen flüchtig zwischen zwei Abwesenheiten beschäftigen.
AUGENBLICK
Die Zeit zwischen zwei Wimpernschlägen vergeht, wie man weiß, im
Nu. Das ist leicht gesagt, im Bedenken stockt nicht allein die
Zeit, sondern auch der Gedanke. Im Nu ist einer bei sich, denn er
ist außer sich. Mehr zu sagen hieße, den Wimpernschlag
herausfordern, der den Gedanken unterbricht wie ein Glockenschlag.
Zwischen zwei Glockenschlägen findet der Gedanke keine Ruhe, ihm
fehlt das Widerlager, auf dem er sich strecken und in seiner
natürlichen Proportion zeigen kann. Stattdessen zeigt er seine
Panikfigur. Es soll Menschen geben, denen die Wucht des
Glockenschlags die Besinnung raubt. Der Augenblick besitzt seinen
unnachsichtigen Widersacher im Erz, das zur Besinnung ruft.
AUGENVERDREHEN

Das Augenverdrehen ist eine Kulturtechnik, vergleichbar dem
Wettermachen oder dem Wettrüsten. Irgendwann zeigt sich ein
Ergebnis, aber keiner begreift, wie es dazu kam und wie die
wirklichen Bahnen zwischen Ursache und Wirkung verlaufen. Der
klassische Augenverdreher weiß nicht, was er will. Er nimmt auch
nicht wirklich übel, er dreht sich vielmehr heraus – aus einem
Gespräch, einer Wendung, einem Gedanken, einer Stimmung oder einem
Gefühl –, und zwar so, dass derjenige, der zufällig einen Blick auf
ihn wirft, Bescheid weiß. Im Grunde geht es ihm um nichts weiter
als diesen Zufall. Er will, dass der Blick, der auf ihn fällt,
etwas zu sehen bekommt. Er weiß sich nicht anders zu helfen als
dadurch, dass er den Blick, den er auf sich ziehen möchte, mit
einem Schabernack im voraus belohnt. Also sucht er in einem Spiel,
das zu spielen er keine Sekunde lang vorhat, den Verbündeten.
Eigentlich möchte er unsichtbar sein und aus dieser sicheren
Position heraus auftrumpfen. Besser, er möchte aufgetrumpft haben,
um es desto sicherer leugnen zu können. Noch besser: Er möchte sich
hier und heute aus seinem künftigen Grabe davonstehlen, um den
anderen das Nachsehen zu geben. Oder: Er möchte sich lieber
begraben lassen, als sich all das ungerührt anzuhören, was seine
Mitmenschen in ihrem täglichen Wahn von sich geben. Er hat eine
gute Haut, warum sollte er eine sein?
AUSFÄLLE

Der Ausfall der Männer, bemerkt Adler, geht hierzulande ins dritte Glied. Ich sah die Geschlagenen zurückkehren, sofern sie zurückkehrten, woher und wohin auch immer. Sie hatten dem Staat alles gegeben, aber er war mit ihnen noch nicht fertig und verlangte den Wiederaufbau. Übrigens taten sie es aus freien Stücken, die Ruinen schmerzten in ihren Augen und erinnerten sie an etwas, das sie nicht wirklich verstanden hatten. Sie wussten, wie alles richtig war, so wie ihre Söhne, nur nichts voneinander. Unter sich blieben sie, was das Mordhandwerk aus ihnen gemacht hatte, alte Kameraden, die sich das eine oder andere zuschustern konnten, wenn sie es selbst nicht brauchten. Reden wir nicht von den Söhnen! Eitle Sieger in einem Krieg, der zu Ende war, als sie noch in die Windeln schissen. Gerade sie entdeckten, immerhin, das Gedächtnis. Die wahren Gedächtnismeister aber scheinen die zu sein, die jetzt das Heft in die Hand nehmen. Um sie zu verstehen, muss man vergessen können. Wer kann vergessen? Bitte sagen Sie mir: wer kann vergessen? Die Leute tun so, als hätten sie alles vergessen, es sind Heuchler, die nicht zurückstehen können.
AUSSATZ

Ist die Jagd auf Indigene einmal eröffnet, ist das Land schon verloren, denn die Auszeichnung wirkt wie ein Aussatz und jeder, der seine Sinne beisammen hat, flieht die Berührung. Deshalb ist Hohn die Grundnorm einer Kultur, die sich, der Gewalt der Waffen oder einem inneren Zwang gehorchend, zurücknimmt: gestern noch Träger eines reichen Erbes, herkommenssatt und institutionensicher, ist der sogenannte Indigene das biologische Überbleibsel einer Vergangenheit, die mehr oder weniger rasch vergeht, die in den meisten Zeitgenossen bereits vergangen ist, denn Bewusstsein ist großenteils Antizipation. Ein Land, leidend unter einer Vergangenheit, die nicht vergehen will, mag darin Erlösung finden, Erlösung von dem Übel der Welt, wie es in sakralen Texten heißt, die keiner liest und fast jeder lebt, gerade weil er sie nicht liest und deshalb auch nicht verständnislos das Haupt schütteln kann, denn Leben und Verstehen schließen einander bekanntlich aus. Als ›indigen‹ gezeichnet zu sein und auf das Überleben der Institutionen hoffen – das ermöglicht jenen Abgang ›in Würde‹, der so nicht genannt werden darf, denn das wäre falsches Bewusstsein und erzürnte die Mitwelt.
AUSSENSEITER
Wer außerhalb der Zäune läuft, der gewinnt kein
Rennen, auch wenn er schneller läuft als die anderen. Der Grund: Es
gilt nicht. Warum läuft er überhaupt, wenn es doch nichts zu holen
gibt? Die Antwort ist einfach. Die Lust an der Bewegung hält ihn am
Laufen. Warum nicht innerhalb der Umzäunung, also dort, wo es gilt?
Vielleicht deshalb, weil er Zäune nicht mag. Vielleicht läuft er in
einem anderen Rennen, dessen Regeln, auch wenn das Gros seiner
Mitmenschen sie nicht kennt, ebenso streng oder strenger sind als die
der professionellen Läufer. Nicht jeder, der die übliche
Professionalität für sich ablehnt, ist deshalb ›unprofessionell‹.
Der eine findet sich vor einem größeren Richter wieder, den anderen
verschlingt die eigene Nichtigkeit. Die Figur des Richters ist
unserem Denken so eigen, dass es sich verantworten
muss –
auch dort, wo es jede Verantwortung ablehnt. Man könnte diesen
Gedanken anschärfen, indem man sagte: Erst wer jede Verantwortung
von sich weist, steht in der Verantwortung, aus der einen niemand
befreit.
AUSSETZER
Man muss seine Gedanken aussetzen, wie man Fische aussetzt – nicht
der obligaten Kritik, diesem Gesäusel unter dem Einfluss widriger
Analgetica, sondern dem Element, in dem sie ihre natürliche
Regsamkeit unter Beweis stellen, in dem sie sich paaren und
irgendwann absterben, so wie man ihrer
ab ovo eingedenk bleiben sollte, falls
sich einige Prachtexemplare darunter finden. Ich persönlich – sagt
G. – gehöre ja einer Generation an, der die Lust am Gedanken abgeht
– man könnte auch sagen: fremd ist, aber das zu behaupten
überschreitet dann doch jede Kompetenz. Nein, sie geht ihr ab.
Darum handelt es sich: eine tragische Geschichte. Man sollte von
solch einem Abgang viel mehr Aufhebens machen. Nicht, dass er von
der Öffentlichkeit unbemerkt bliebe, aber das ist es ja – dieses
schier unendliche Gesäusel und Geflüster, dieses Hand-vor-den-Mund
und Darf-man-das, dieser Anschlusswille vor jeder Fähigkeit, dieses
zäh und stur Tertiäre, in jeglichem Sinn des Wortes, wo kommt das
her? Wo strebt es hin? »Auf den Friedhof, mein Freund, auf den
Friedhof. Gondwana stirbt«, krächzt dunkel die Stimme Waputas. Aber
– wäre das nicht zu leicht gedacht? Dieser Generation (vielleicht
ist es auch nur eine Halbgeneration, und darin liegt bereits die
ganze Tücke) eignet eine Behäbigkeit des Urteils, der allein mit
Gedankenschwere begegnet werden kann. So wankt der Gedanke langsam,
auf hohem Kamele reitend, herbei und gleitet herunter, als berge er
eine Kostbarkeit, dabei ist er nur unförmig. »Nietzsche sagt –«: so
beginnen viele ihrer Sätze, zu viele, an die sie sich in der Wüste
gewöhnten. Auch andere bedeuten ihr manches, haben sie erst einmal
volle Zitatreife erreicht. Im Land der getrockneten Feigen schmeckt
das Leben süß.
AUSZUG

Das Bewusstsein für Kontinuitäten schärfen – so etwas sagt sich
leicht und trifft schließlich die, die sich als erste dafür
erwärmten. Vielleicht zu recht, schließlich haben sie den Stein ins
Rollen gebracht, wohl wissend, dass immer etwas nachkommt, wo
keiner etwas erwarten konnte. Was kann schon kommen? Das ist die
Frage all derer, die sich aufmachen, die sich bereits aufgemacht
haben, weil sie es zu Hause nicht mehr aushalten konnten, weil sie
es nicht länger als ihr Zuhause betrachten, schließlich, weil sie
nicht länger nach einem Zuhause trachten, aus welchen Gründen auch
immer. Unter der Oberfläche wächst das Verbindende nach, es wächst
unaufhörlich, eine subkutane Realität, die der äußeren an Dichte
und Zusammenhang in keinem Punkte weicht. Warum das so ist? Keine
Ahnung. Oder doch? Betrachten wir den Vorzeichenwechsel: das
Negierte schielt über den Negator hinweg und ruft sein »Hier bin
ich«. Damit lässt sich vieles erklären, wenngleich nicht alles. Ein
anderer Grund: wer will, findet immer umfassendere Kausalitäten,
die sich per Willensentscheid nicht aushebeln lassen. Die
Konstellation frisst ihre Kinder. Auch sollte nicht übersehen
werden, wieviel Energie sich in Auszügen und Aufbrüchen verbraucht.
Woher sie stammt, wohin sie geht, ist das eine, ihre schiere Bilanz
das andere. Manch einer dünkt sich am Anfang und ist schon am Ende:
soviel hat es ihn gekostet, einen neuen Anfang zu machen. Und was
heißt schon neu? Mancher, der sich unvergleichlich vorkommt, müsste
sich verschämt in die Ecke drücken, wüsste er um die verborgenen
Motive in den Anfängen derer, die er verachtet. Der Manichäismus
zwischen den Generationen, dieses verzweifelte Ringen ums
Sagen-können und Sagen-haben, endet auf dem Richtplatz der Gefühle,
mit dem Eingeständnis der eigenen Niederlage dort, wo er begann.
Solange der Hochmut regiert, solange regiert auch die Not, der er
entstammt, die Not all derer, denen alle Wege versperrt erscheinen,
außer dem der Schande. Die Schande ist ein feiner Begleiter, sie
durchdringt die Metamorphosen, die sie initiiert, sie ist
urheberisch beteiligt an allen Urheber-Streitereien, sie ist causa
sui und causa causarum, Ursache einer Ursachenkette, die über die
Erde wegläuft, scheinbar glatt, aber ›dumpf in der Erde / wandert
es mit‹. So kommt es zur Figur des Verlorenen Sohns, dem
unerwarteten Wiederauftauchen dessen, der sich selbst enterbte,
inmitten des Erbes, das ihn aufnimmt, als sei er niemals fort
gewesen, obwohl... ihm dieses Fremde anhaftet, das nicht weggeht,
etwas Befremdliches, spürbar genug, damit man ihm Platz macht. Und
das wollte er ja: Platz.
BABELFRITZ
Die verwirrende Neigung der heutigen Deutschen, jedes Wort, das ihnen nicht oder nur wenig geläufig ist, ›englisch‹ auszusprechen, führt hin und wieder zu Komplikationen, vor allem, wenn das Missverständnis Ausdrücke der eigenen Sprache betrifft. Solche Sinnknäuel, in denen mehrere Sprachen an einer partizipieren, sind Sprachwissenschaftlern eine Lust, doch nicht nur ihnen. »Vom Vergnügen an faden Witzen«: so ein Titel träfe manchen nicht-beamteten Sprach-Transmitter mitten ins Herz. Da den Deutschen gleichzeitig immer größere Teile des heimischen Wortschatzes abhanden kommen, ist der Zeitpunkt absehbar, zu dem sie ihr Idiom
aussprachemäßig ganz und gar umgekrempelt haben werden. Sie werden dann immerfort Wörterbücher wälzen müssen, um nichts zu finden. »Aber da steht doch nichts«, könnte ein gutmütiger Mensch einwerfen, doch da es ihm vermutlich an Aussprache mangelt, dürfen sie ihn nicht verstehen.
BABEROWSKI-EFFEKT
Der B.-Effekt ist eine Art stiller Post, bei der einer vorn eine Ansicht äußert, um von hinten niedergebrüllt zu werden. Benannt wurde er nach dem Historiker B., dem es gelang, bloß mit dem Ratschlag an seine Regierung, sich nicht leichtfertig an einem Krieg zu beteiligen, der ihr eines Tages über den Kopf wachsen könnte, als Kriegstreiber und Radikaler im öffentlichen Dienst am Pranger zu landen. Dergleichen geschieht, wenngleich nicht alle Tage, und selten ohne rechtliche Gegenwehr. Daher bedurfte es eines geeigneten Unter- und letztlich auch Überbaus, der, als Rechtsgrundsatz gefasst, wie folgt lauten müsste:
Nemo contra B nisi C, auf deutsch: Niemand gewinnt gegen B., außer die Chemie stimmt, z.B. zwischen Richter und Kläger, denn etwas muss doch stimmen, wenn sonst nichts stimmt. Ehrabschneidung wird eher selten dadurch geheilt, dass ein Gericht sie durchgehen lässt, voraussehbarerweise vervielfacht sie sich. Es soll Richter zwischen Himmel und Erde geben, die erkennen in ihrem Beruf nur das kleine Ich, das ihnen unentwegt zuflüstert:
Verrücke, was dich verrückt macht. Was gibt es Verrückteres als Gesetze? Sie weichen nicht, sie wanken nicht, und sie verändern sich doch. Zwischen zwei Rechtsgütern klafft heute vielleicht eine Wunde – morgen ist sie verheilt. Wer das im Kopf aushalten will, muss einen zweiten in Reserve halten, und sei es als Spucknapf. Man braucht kein Jurist zu sein, um die Anspielung zu verstehen. Man muss nur offenen Auges die Anschläge an deutschen Universitäten betrachten. Ein AStA (Allgemeiner Studenten-Ausschuss) zum Beispiel ist in seinen Ansichten nicht halb so allgemein wie die katholische Kirche katholisch, nur das Wort ›Ausschuss‹ müsste sorgfältig erwogen werden, da sonst der Schuss leicht nach hinten losgeht.
Dein AStA erklärt dir die Welt – basta. Damit ist schon geklärt: der Professor, der sich aufs Meinungsparkett wagt, ist immer der Bastard, gemeinfrei, er kann nur darauf hoffen, dass ein Schmutzfinger hin und wieder den Abdruck beseitigt, den sein Vorgänger hinterließ. Politiker kennen das, dem Professor geht es gegen die Ehre, aber so ist die Welt. – Wer das Verdrehen nicht schätzt, der kann dem B.-Effekt aus naheliegenden Gründen nicht viel abgewinnen, es sei denn, er gehört zu jenen seltenen Zeitgenossen, die ihr Glück darin finden, das Verdrehte zurückzudrehen, so dass es anschließend, als sei nichts geschehen, so daliegt wie am ersten Tag, als die Welt noch frisch war und nach Babyöl roch.
BÄRENHÄUTER
Dichter, sagt mein Freund TK – er sagt es nicht wirklich, aber ich
sehe es ihm an –, wird man nicht durch Dichten, sondern durch diese
Fähigkeit, die Zeit in Worte zu fassen. Ich weiß, die Philosophen
haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf
an, sie so, wie sie ist, zu
werfen. Manche tragen das Fell des
Bären über der Schulter und man erkennt sie am Hasenfuß.
– »Besser am Hinkfuß. Das wäre doch ein Zeichen.« – »Man muss
etwas drauf geben, von nichts kommt nichts.« – »O doch. Eine ganze
Menge.« – »Das mag sein, aber unter Brüdern, da muss geteilt
werden.«
BAHNBRECHEND

Der Ausdruck ›bahnbrechende Forschungen‹ ist ein Re-Import aus der Gesellschaft in die Wissenschaft. Er wird dort kaum benützt, aber gern vernommen. Schon der verbindliche Plural zeigt an: Exaktheit ist dabei nicht gefragt. Für die Informationsorgane der Gesellschaft gilt die in ihrer Mitte betriebene Forschung als Zauberkasten, aus dem von Zeit zu Zeit erstaunlich schlichte Erkenntnisse purzeln. Hätten Sie’s gedacht? Es darf gekichert werden (hinter vorgehaltener Hand, versteht sich), aber nicht öffentlich gelacht. Mag sein, die Erkenntnisse sind, von einem menschlichen Standpunkt gesehen, banal, aber wenn man zuletzt damit auf dem Mond landet, dann hat sich die Reise gelohnt. Mit der Opakheit ihrer Methoden verschafft Wissenschaft sich Respekt. Zu Recht, denn in den sogenannten Ergebnissen fürs staunende Publikum, bei laufender Kamera, verkauft sie ... ihre Seele? Ihre Kultur? Ihre Wissenschaft, also sich selbst? Die Methode steht zwischen der Wissenschaft und der Gesellschaft: ein Damoklesschwert, bereit, auf jeden niederzusausen, der die Ergebnisse der einen an die andere Seite verkauft. Wissenschaft produziert Antworten auf Fragen, die außerhalb ihrer Areale niemals gestellt werden, Gesellschaft kauft ihr ab, was sie so nie behauptet, geschweige denn bewiesen hat.
BAHNHOFSVORPLATZ

Im Yagir soll ein Bahnhof unter die Erde verlegt werden und die Bevölkerung steht Kopf: nicht, um besser sehen zu können, was unten geschieht, sondern um zu verhindern, dass es geschieht. Eine ratlose Politik drischt auf die Köpfe ein, Blut fließt und einer vertraut sein lose baumelndes Auge dem Fernsehen an, wo er es sicherer wähnt. Die Politik gewinnt das Spiel und verliert die Wahl. So kann es kommen, so ist das Leben. Derweil dämmert der Bahnhof im Zwischenreich der gemischten Empfindungen: der alte ist der alte nicht mehr und der neue will nicht hervorkommen. Ist das ein Bild? Wenn ja, wofür? Vielleicht ein Test – im Yagir wird viel getestet und dann verworfen, aber nicht wirklich, manchmal nimmt die Wirklichkeit Züge von Verworfenem an, dass einem angst und bange werden kann. So erfährt man, an Stelle des Bahnhofs könnte schon bald eine shuttle station für den Verkehr in den erdnahen Raum entstehen. Die Bewohner des Yagir hören das gern und befinden, dann habe der Kopfstand sich doch gelohnt. Befragt, wie sie das meinen, schütteln sie den Kopf und liebkosen die Bäume, die bald gefällt werden müssen.
BALTHUS
Die Entdeckung des
Struwwelpeter für die Malerei lassen
wir Ihnen gern durchgehen, das ist hübsch, das hat Verve, das macht
Laune und besitzt sogar Farbe, mit einem Schuss
Gouvernanten-Familiarität à la Hogarth, vorsichtig modernisiert,
und die Mädchen in ihren Söckchen und all die Engelchen mit einem
aufgemalten Geschlecht, das zu ist wie der Bankschalter am Sonntag
und einer mit einer klitzekleinen Karte in der Hand darf sich
Hoffnungen machen, unberechtigte hoffentlich, das ist alles hübsch
und sogar recht schön und sehr schön gemalt, das muss einer sagen.
Aber was Sie hier angestellt haben, ist eine Wucht, da mag sich
einer heraussehen, wenn er mag, was er will. Das hat eine Klasse,
die zur ewigen Malerei gehört, und warum? Ich will es Ihnen sagen.
Es ist eine stille Raserei in diesem Bild, die sich dem Malakt
verdankt, einem langen, vollständig ausgeführten, nirgends
überdehnten oder gar überschrittenen Akt, in dem ein Pinsel
Gelegenheit erhielt, alles auszudrücken, was in ihm lag und
vielleicht noch liegt, vielleicht noch liegt. Ein äußerlich
bescheidenes Bild mit einem ruhigen, un
aufregenden, gewissermaßen banalen Motiv, das hier
nicht verraten werden soll, denn irgendwo muss das Sehen beginnen,
jenseits der nachvollzogenen Urteile und dem Suchen nach dem, was
alle Welt kennt.
BAU-KÖRPER

Für einen Architekten muss es seltsam sein, zu Füßen eines Gebirges aus Beton und Glas entlang zu schlendern, das keiner sieht, weil es erst in seinem Kopf existiert, und auch dort nicht richtig: jetzt, auf diesem Spaziergang, fiele es ihm schwer, die Berechnungen zu reproduzieren, geschweige denn alle Detaillösungen, und dass an diesem sonnigen Wochenende keine der Schwierigkeiten, die sich beim Bau einstellen werden, den Finger hebt, versteht sich von selbst. In so einer Situation ist ein Schriftsteller alle Tage. Der Bau, den er sich ausgedacht hat, wächst, aber es wächst nur die Masse an Geschriebenem, der Bau bleibt immer gleich abgedunkelt. Er existiert im Kopf, er existiert in unterschiedlichen Spannungszuständen, er existiert in Spannungsbögen, die notwendig immer wieder aufsetzen müssen. Im entspannten Zustand ist der Bau zwar da, aber nicht vorhanden, es fehlt jeder Zugang zu ihm, er ist hier und heute nicht zu realisieren. Das schreibt sich so leicht, aber es grenzt an Selbstvernichtung.
BEBENKUNDE
Wenn ein Gebäude zu wanken beginnt, das man lange bewohnt, an dem man selbst mitgebaut, an das man zumindest, gefragt oder ungefragt, mit Hand angelegt hat, wenn seine Fugen sich lösen und Teile des Fundamentes ins Unbekannte entgleiten, wenn in dem, was immer noch da ist, vage die Umrisse dessen erscheinen, was künftig an gleicher Stelle Haltbarkeit und Dauer ausstrahlen wird, dann ist es Pflicht des Historikers, diesen Moment festzuhalten, wissend, dass auch die eigene Existenz soeben zu bröckeln beginnt und er Gefahr läuft, von Trümmern erschlagen zu werden. Pflicht? Lust? Sagen wir, er weiß sich nicht anders zu helfen und behilft sich mit dem, was er gelernt hat.
BEDENKEN
Irgendwann verläuft sich jedes Argument und die natürliche
Bizarrerie des Bedenkens tritt hervor. Es handelt sich, ganz recht,
um einen Akt der Wegelagerei. Zumindest könnte man es so sehen.
Aber wer will das schon. Man kann eine Sache zudenken, bis sie
verschwunden ist, und wenn man sie dann befreit, ist etwas anderes
aus ihr geworden, etwas, von dem man Stein und Bein schwören würde,
man habe niemals daran gedacht. All diese Schwüre sind nichts wert.
Auch im Aufdenken ist das Bedenken groß, es bedarf kaum eines
Schlüssels und das Bedachte geht auf, groß wie ein Sarg, und
entlässt ein Blütenmeer. Schwerer geht das Entdenken, das Abziehen
der Gedanken, und selten ohne Getöse, an dessen Ende ein Wimmern zu
vernehmen ist, das dem eines Neugeborenen gleicht oder zu gleichen
versucht. Man weiß nicht und man wird niemals wissen, was in
solchen Momenten wirklich geschieht. Das Entdachte, seiner
natürlichen
Würde
zurückgegeben, erhebt sich augenblicklich und geht. Im
Fortdenken bleibt das
Denken sich selbst
überlassen, es ist ganz bei sich, ganz
forte. Nur mit dem Ankommen hapert es;
so wie die großen Seeschiffe weit draußen vor den Häfen ankern, hat
das starke Denken seine Anlegepunkte, wo die meisten nichts sehen.
BEDIENWESEN

Bedient werden möchte jeder, nur die Bedienungen kommen nicht nach und die Selbstbedienung leidet an dem nicht auszurottenden Selbstwiderspruch, dass, wer sich bedienen muss, in der Regel bereits bedient ist, wenn das Diner beginnt. Das liegt daran, dass der Selbstbediener mit vollen Backen zum Mahl kommt, während Distinktion keinen Hunger kennt, nur den feinen. Fazit: nur wer sich bedienen lässt, kann dem Drang einzusacken, wo es ums Zupacken geht, einigermaßen erfolgreich Paroli bieten. Man sieht das z.B. in der Politik, wo die Tantiemen vor der Wahl eine andere Brisanz besitzen als nach der Abwahl. Ein anderer Anschauungs-Bereich wäre die Drittmittelwissenschaft, in der das Einsacken vor der Erkenntnis steht und diese substituiert – eine ausgewiesene Erkenntnis, was soll das sein außer einer, die schon jeder kennt und die alle Schalter offizieller Billigung bereits durchlaufen hat? Solche Durchlauf-Erkenntnisse sind teuer, weil ihre Zahl begrenzt ist. Man braucht einen guten Leumund, um in die erlauchten Zirkel vorzudringen, in denen man Eigentumsrechte an ihnen hält und untereinander zum Tagessatz tauscht. Was Politik, was Wissenschaft! Wer die Straße kennt, weiß in der Regel auch zu beurteilen, wer von seinen Mitmenschen die Regeln gefressen hat, statt sich an sie zu halten. Bereitwillig lässt er ihn – vorbei. Oder auch nicht.
BEFORSCHUNGSOBJEKT

Man stelle sich vor: eine Spezies von Männern, die so beseelt sind vom Gedanken der Gleichheit aller Gesellschaftsglieder, dass sie darüber das eigene Leben versäumen. Jene winzige Ungleichheit, die sie ins Spiel brächten, wenn sie sich ausspielten, empört ihren Sinn und lässt sie in unendliches Grübeln verfallen. Schrecklich ist immer das Los der anderen, das eigene ist und bleibt auf die eine oder andere Weise, in der einen oder anderen Bedeutung, verhängt. Sich selbst als jemanden konstruieren, der anderen schrecklich wird, sollte er sich einmal entschließen, den schützenden Kordon der Familie, die ihn hält und hätschelt und verdirbt, zu verlassen, was ist das? Wozu taugt ein solches Konstrukt? Wozu es nicht taugt, ist offensichtlich, aber in einer Gesellschaft, in der Familien untergehen, um als Familienbande wieder zu erstehen, erlaubt es auch ein Leben, und schließlich: Gesellschaft ist alles. Was die Freundin verhindert, nützt der Mutter, was die Mutter verhindert, nützt dem Arbeitgeber oder seiner Partei, was die Arbeit verhindert, nützt dem System von Trägern, das auf Zufluss angewiesen ist und seine Klientel zusammenhält. Schließlich dient alles der Wissenschaft, die ihre Freude an dem hat, was sie beforschen kann. Hier kommt ihr ideales Objekt. Auch wenn sie nichts zu finden begehrt: etwas Nützliches findet sich immer.
BEFREMDEN
Was soll ich sagen? Dass ich euretwegen gelitten habe, wie ein Tier
meinethalben, und dass ich es nicht einmal sagen darf, weil es euch
nur befremden würde? Das ist ein schönes Wort:
befremden, ein Wort voller Heimtücke,
voller Fußangeln, voller Blaff und Bluff, ein Radauwort auf leisen
Sohlen, ein Fortgänger im Ankommen, ein Unbelangbarer. Befremdet?
Das kann ich mir vorstellen. Ein Hauch fällt auf die Rede und
löscht ein Gesicht aus. So etwas geschieht, es geschieht andauernd,
es trotzt aller Aufklärung und allem Bedenken, es ist das
Unbedachte im Bedachten, aus dem einfachen Grund, weil es die
Grundform des Bedenkens darstellt. Im Befremden ersteht die
Welt, wie sie ist, mit ihren Schärfen und Kanten, ihrem Sortieren
und Sortiertsein und Umsortieren, ihrer Kälte und dem, was man
unvorsichtigerweise ihre ›Unbewohnbarkeit‹ nennt. Das Befremden
absorbiert jede Theorie, jeden Ansatz, so wie es jedes Gesicht zum
Verschwinden bringt. Es absorbiert sich selbst und das Spiel geht
weiter. Manche bleiben befremdet, sie gehen ein oder werden
entrückt. Das Befremden annulliert jeden Fortschritt, es stellt die
intimsten Beziehungen auf NN und ermöglicht den Neuanfang. Es
bewirkt, dass das Entsetzliche nur auf
Augenblicke sichtbar wird. »Das klingt doch
positiv.« Sagte ich’s nicht? Nun, was soll...?
BEGRIFFSSCHLEUSER

»Wer das Denken beherrscht, beherrscht die Menschen. Wer die Sprache beherrscht, beherrscht das Denken. Wer die Begriffe beherrscht, beherrscht die Sprache.« Bei so viel Herrschaft wird der Zeitgenosse nervös – nicht zu Unrecht, nicht zu Unrecht. Sehen wir zu. Wer das Denken der anderen beherrscht, der muss nicht zwingend das eigene ... beherrschen. Das Gegenteil wäre eher der Fall. Und erst die Sprache! Mein Gott, die Sprache! Jeder denkt, er beherrscht sie, sobald er nur ein paar Ausdrücke kennt und anwendet, wie es ihm in den Sinn kommt. In den Sinn! Darin liegt schon der Ärger. Die Sprache spielt mit den Menschen Katz und Maus und die Sprachregler sind die größten Hasenfüße. Zu Recht! Das Publikum staunt, wenn sie im Gelände ihre Haken schlagen, darüber vergisst es den Weg, den sie eben noch nahmen. Zickzack! Jawohl, Zickzack! Im Zickzack vergisst es sich schneller, woher einer kommt und wohin die Reise geht. Wer das Vergessen beherrscht, der, ja der... – Schade dass, wo es sich rasch vergisst, das Vergessene flotter wieder aufersteht als geglaubt. Das gilt in vielerlei Hinsicht. So jagen die jungen Hasen dahin und halten sich für die Jäger, während die alten Hasen dem Treiben zusehen, als ginge es sie nichts an. Oder kaum. Unterdessen beherrschen sie die Szene, ein Wink von ihnen und die Jagd gewinnt ein anderes Aussehen. Schleuser sollte man sie nennen, warum nicht? Sie lassen fallen – ein Wort hier, ein Wort da, erwogene Wörter und vergiftete dazu, Wörter wie Juckpulver, sie brennen sich ein und gehen nicht weg. Ihre Spur geht nicht weg, auch wenn sie selbst längst entsorgt, pardon: versorgt sind. Das Einschleusen von Begriffen sollte unter Strafe gestellt werden. Nur so wäre Denken, was es niemals war: ein duftendes Paradies, ein wogendes Meer törichter Jetztgedanken, im husch! entsprungen und im herrje! dahin.
BEHÄNDIGKEIT
Die Behändigkeit ist ein besonderes Gut, ein Selbstläufer unter den
Gütern (und den Begüterten), entfernt der Beidhändigkeit verwandt,
aber doch nicht so sehr, dass sich daraus Schlüsse ergäben.
Überhaupt hält sie es weniger mit der Ergebung als mit deren
Mitläufer, der Ungeschert- oder Ungescheutheit, die an der Scheu
wie am Gescheitsein gleichermaßen partizipiert. Wie das?
Gescheitsein ist, wie es scheint, ein hohes Gut, das wird den
Kindern von früh auf eingebläut und sie wissen es auswendig. Was
sie keinen Deut gescheiter macht, aber in die Lage versetzt, nicht
so dumm zu sein, wie es nötig wäre, um zu dem zu stehen, was der
Verstand einem eingibt. Ungescheut das Rechte sagen, das wäre was
Rechtes, das könnte manchem so passen, der sich besser bedeckt
hält. Ein unerquickliches Wortfeld, fürwahr. Behände ist einer über
das hinaus, was ihn flugs einholt und hurtig verspeist, zur
Nachtzeit, sobald der Uhu schreit.
BEHAUPTUNGSMASCHINE

Das Gegenstück zur Enthauptungsmaschine ist die Behauptungsmaschine. Die Behauptung geht dahin, dass jede Enthauptung eine Behauptung nach sich zieht, eine Behauptung nach Maß, und dieses Maß gibt eben die vorausgegangene Enthauptung. Ich erkläre das so: kein Haupt existiert ohne ›Träger‹, soll heißen: die etwas trägere Masse, als deren Haupt es figuriert. Die Enthauptung lässt diese Masse nicht verschwinden, im Gegenteil: sie wird, während sie in sich zusammensinkt, kraft irgendeiner sozialen Formel, größer, unförmiger vielleicht, aber auf jeden Fall größer, massiger, fordernder, selbstbehauptender. Gerade darauf läuft es hinaus: die enthauptete Masse hat ein Selbstbehauptungsproblem, das muss sie lösen. Wo Köpfe rollen, läuft die Behauptungsmaschine auf Hochtouren. Das Gros der Behauptungen verschwindet im Nirgendwo, deshalb ist Nachschub immer gefragt. Unter uns, er ist schneller zur Hand als die Nachfrage. Der Behauptungsstau ist die Grundform der Freiheit, die aus der Enthauptung entspringt. Wie ihm entkommen? Das wäre die Frage. Zu vieles drängt hier zusammen, schon ein Nebensatz gilt als Parade und zieht Enthauptungen nach sich, die jede Fassungskraft überschreiten. Behauptung, Enthauptung – irgendwo sind beide ununterscheidbar und das Haupt, als Spielball, springt zwischen allem, was Hand und Fuß hat, hin und her:
diese Kurve möchten wir haben, auf dem Schirm, wo sonst.
BEIFALL

Als es darum ging, die menschliche Sprache vor dem Vergessen zu
bewahren, kam der Beifall von der falschen Seite und behauptete, er sei der
rechte. »Etwas ist faul im Staate Dänemark!« rief der
Schauspieler von der Bühne – und tausend Nicht-Dänen trappelten
mit den Füßen. Mancher von ihnen wäre gern nach Hause gegangen,
aber die Faulheit bannte ihn auf seinen Platz. »Was fällt Euch
bei?« flüsterte mein Nachbar zur Linken, es schien ihm ernst zu
sein. Erstaunt blickte ich auf seine schwieligen Hände, die so gar
nicht zu seinem Aristokratengesicht passen wollten. Rechts von mir
gähnte die bürgerliche Leere. So rückte ich ein bisschen von ihm ab, doch nicht
weit genug, um ihn nicht zischen zu hören: »Geht nur nach
rechts. Da heulen schon die Wölfe.« Es heulten aber nur die
Sirenen. Warum? Ich weiß es nicht. Resigniert entnahm ich meiner
Hose ein Taschentuch und reichte es ihnen hin. »Reicht es? Reicht’s
noch?« Stumm drückten sie mir die Hand und wischten sich die Tränen
aus dem Gesicht. Ein Krankenwagen fuhr vorbei und sammelte die
Verletzten auf, aus dem letzten Bürgerkrieg, wie die Umstehenden
versicherten. Es war aber keiner da, der sie fragte, so versicherten
sie es der Straße, der Ampel, den Tauben und der Kanalisation, die
sich bedeckt hielt. War es der letzte? War es wirklich der letzte?
Mit letzter Gewissheit weiß man dergleichen nie, die Ver- und
Vorletzten stechen die Letzten aus, da gibt es kein Zuhause.
BEINHART & SPRACHLOS

Mörderduo aus dem faschistischen Untergrund. Zwischen ihnen: Angelita, die Schöne als Biest in der Rolle der Schweigerin. Duldete sie’s (aus Liebe?) – oder stiftete sie’s an? War sie, ganz banal, Handlangerin eines Verbrechens, das seinen Gang auch ohne ihr Beisein genommen hätte? Die verhandelten Gesinnungen mögen der Steinzeit entstammen, aber: eine Emanzipierte ist schon vonnöten. Nur die aktive, selbstbewusste und ideologisch firme Frau kommt als (Mit-)Täterin in Betracht, gleichgültig, was man sonst von ihr hält. Gleichgültig auch, um welche Ideologie es sich gerade handelt. – Dieses Schweigen vor Gericht: die Mimesis darin ist mit Händen zu greifen. Überhaupt die RAF-Parallele, mit einer Ausnahme: damals wussten es alle, wenn letztere zuschlug. Wahr ist: ihre Leute haben sich gegenseitig gedeckt, wenn sie vor Gericht schwiegen. Wenn diese hier schweigt, redet ihr Schweigen: »Da war was, aber ich sag’s nicht, weil es sich so gehört. Was wisst ihr denn schon? Falls wir gemordet haben, was geht’s euch an?« Politischer Mord, von dem niemand weiß: Ist das Kampf? Krampf? Verdeckte Mimesis? Apropos verdeckt: zum verdeckten Terror gehört die verdeckte Operation der verdeckten Ermittler vor verdecktem oder verschaukeltem Publikum. Urteilsfindung mutiert zum Spießrutenlauf. Auch das geht: vorbei. Die Spießruten ruhen, verpackt gegen die Nässe, um Fäulnis zu verhindern, das Gefühl, etwas sei faul im Staate Dänemark, hat sich, seiner Allgegenwart ungeachtet, etwas gelegt, verständlicherweise, denn es ist ein Sinkgefühl, das aufgerührt werden muss. Naht das Urteil, springt alles an seinen Platz. Fehlt nur das Duo: weggefault, kaum der Betrachtung wert. Gäbe es keine Überwachungskameras, wo wäre es dann?
BEISSRÜPEL
Der Beißrüpel ist überzeugter Europäer, nach wie vor. Warum er
letzteres so betont? Er will sich nichts vormachen. »Ich entstamme
dieser Kultur«, pflegt er zu sagen, »ich kann nicht anders. Wäre
ich Brite, ich hätte Alternativen. Aber so – was soll ich tun?« Als
Europäer ist er Atlantiker. »Der Atlantik«, sagt er und schneuzt
sich, »darf kein Graben werden, er muss Brücke bleiben.« Dann sieht
er sich um und forscht, ob die Mienen Widerspruch zeigen. Die
Mienen freuen sich, dass er wieder in Form ist, und hüten sich,
etwas zu zeigen. Der Beißrüpel ist von Haus aus Mienenforscher, das
hat er nicht abgelegt, seit sein stürmischer Aufstieg begann,
vermutlich blieb keine Zeit. Seine
Karriere geht auf die Zeiten des
Kalten Krieges zurück, an den er sich mit Freude und ein bisschen
Stolz erinnert. »Das war eine gute Zeit«, seufzt er nicht selten,
»wohin gehen die guten Zeiten, vielleicht in den Abgrund?« Im
Grunde hat ihn das von
Homomaris gezeichnete Porträt
nicht schlecht getroffen, sogar zweimal, was einiges heißen will.
Oder so manches. – Als Atlantiker ist der Beißrüpel Pharisäer. Er
weiß, das ist kein Beruf, nur ein Wort, aber auch hier gilt: Er
kann nicht anders. »Wo ich bin, muss Klarheit herrschen«, herrscht
er seine der Melancholie ergebenen Untergebenen an, »völlige
Klarheit, verstehen Sie? Wir können und dürfen uns keine
Zweideutigkeiten leisten. Dafür stehe ich mit meinem Wort. Wieso
übrigens ›stehe‹? ›Dafür sitze ich...‹? Hm. Das scheint nicht zu
gehen. Scheißsprache. Muss reformiert werden.« Schon macht er sich
an die Arbeit, ist tagelang nicht zu sehen. Seine Frau kennt das
und geht auf Sauftour, die Mitarbeiterin beschließt definitiv, in
den Bundestag einzuziehen, sobald sie ›das hier‹ hinter sich hat.
Langsam, Stückchen für Stückchen, gewinnt die Sprachreform Profil.
O unsere Beißrüpel! Wenn wir sie nicht hätten, welche Unkultur!
Welche Friedhofsruhe! Welcher Abfall! – Als Pharisäer ist der
Beißrüpel Exzentriker. Er leistet sich seine Ausfälle wie andere
eine Reise nach Panama. Oder Honduras. Oder Afghanistan.
Brandgefährlich, aber es zieht ihn hin und er denkt nicht daran,
sich zu sträuben. Schließlich bevorzugt er Gruppenfahrten, die er
Inspektionsreisen nennt. »Ich muss wissen, was da unten los ist«,
bellt er auf Anfrage. Was wird schon sein? Ein paar Scherereien,
das bringt einen Kerl zum Anfassen nicht aus der Fassung. Da muss
er durch. Vor seinem Konterfei stehend, gefragt, wie er sich fühle,
bricht es aus ihm heraus: »Alles Lüge! Alles Fratze! Ich ist ein
anderer.« Auch das: geklaut. Als Exzentriker ist der Beißrüpel...
Aber das steht schon auf einem anderen Blatt.
BEKENNTNISZANGE

Niemand lässt sich gern in die Bekenntniszange nehmem, doch steckt er erstmal darin, sprudelt es nur so aus ihm heraus. Wohlgemerkt: wir reden hier nicht über Folter, sondern nur über Menschen, die guten Willens sind. Der gute Wille... wo trägt er uns hin? Über Dämme und Deiche, über Nachbars Hausschwelle, wenn es sein muss, über Wüsten und Wüsteneien, über Schock und Schein, über Leichen sowieso, warum denn nicht? Wer über die passenden Instrumente verfügt, will sie auch einsetzen, das ist ganz natürlich. In Verfolgung der Menschenrechte erweist sich so mancher als unerbittlich, der in minderen Angelegenheiten zwischen Mein und Dein nicht recht zu unterscheiden vermag. Und was heißt schon mindere Angelegenheiten? Lasset uns also bekennen. Als kulturelle Errungenschaft ist das Bekennen an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Eine davon ist der Glaube, von dem es keinen Dispens gibt. Keinen Dispens? Keine Instanz, die eine Lösung verspricht, wenn es knirscht zwischen den Bekenntnissen? Nein, es kann sie nicht geben, weil es sie nicht geben darf, zum Beispiel beim Recht auf Unversehrtheit, das ist sonnenklar. Wir können das nicht immer durchsetzen, auch klar, vor allem nicht gegen uns selbst, aber: mach dir mal darüber keine Gedanken. Wir verändern gerade die Welt. Wusstest du das nicht? Gerade jetzt, hier und heute, und du darfst dabei sein. Die Völker lassen sich nicht länger bevormunden und wir preschen vor, um ihnen zu zeigen, wie es geht. Gewaltprävention, ein altes Thema, wir praktizieren sie in großem Stil. Wie wir das machen?
Rechtzeitig eingreifen, das ist so eine Formel, die Menschen bewegt, seit sie ihre Zunge bewegen. Man muss sich zum Herren der Zeit machen, dann weiß man, was recht ist, denn: es ist an der Zeit. An der Zeit ist, was in meiner Macht steht, ergo: ich halte das Recht in meinen Händen. Was ich damit mache? Zukünfte austauschen, die schön schaurigen gegen die schönen – nur dafür rasen wir göttergleich über die Erde und klinken aus, was wir haben. Besser als Klinkenputzen ist es allemal.
BELLTÜRME
Belltürme? Aber nicht doch... Wo bitte wollen Sie die denn aufstellen? Am Stadtrand? In die Stadt hinein...? Das ist nicht Ihr Ernst. Nun gut, wenn Sie es wünschen... welche Ausführung darf’s denn sein? Die klassische, hölzern, immer noch sehr... sehr robust, möchte ich sagen. Bringt so eine Art Klangkörper mit,
old style, fürs Melodische. Wird gern genommen. Aber falls Sie einen gerichteten Schall vorziehen, kommen Sie, da habe ich etwas Besseres. Sehen Sie: hier durchläuft das Bellen ein System von Kammern und Reflektoren, ein Labyrinth, wenn Sie so wollen, und kommt am Ende gebündelt heraus. Sie können daneben stehen und hören nichts. Solange Sie nicht in den Bellkanal treten, hören Sie nichts. Dort allerdings wird’s infernalisch. Was?? Keine Sorge. Die Reflektoren sind wartungsfrei. Sie werden sie nie zu Gesicht bekommen, sie sind fest in den Kammern montiert und praktisch unsichtbar, sie reflektieren nicht bloß, sie verstärken das Bellen ganz ungemein. Schicken Sie einen Seufzer hinein und Sie erhalten – im Bellkanal, wohlgemerkt, denn sonst merken Sie nichts –, das Angriffsgekläff einer Staffel Rottweiler, den Rest können Sie locker... Wieviel sollen es sein? Zwei? Zwanzig? Hundert? Aber sagen Sie mal, bekommen Sie dafür auch die Genehmigung? Wie, die haben Sie schon? Von wem, bitte, nur aus Neugier, wenn ich fragen darf? Von ganz... oben? Wer ist das? Sie haben die Erlaubnis, uns das Leben zur Hölle zu machen und schneien hier so einfach herein? Gehen Sie, gehen Sie, den Vertrag schicken wir Ihnen zu. Einen guten Tag noch, einen guten Tag, jaja.
BENNPHASE
Eine Stimmungskanone –! Ein ZDF ganz für sich allein, für nicht
Anschlusswillige, die an allem sparen, selbst an dem, wofür einer
steht. Dieser hier steht für nichts, das gefällt den Adepten. Was
einfällt, muss doch einmal gestanden haben. So ein Geständnis...
Ein Glück, dass die Hüter des Missbrauchs kein Verhältnis zum
Geschriebenen haben, längere Partien stehen sie nicht durch, das
sind die glücklichen.
BEOBACHTERSTATUS
Eine gewisse Superiorität in kulturellen Belangen lässt sich der
DDR posthum nur schwer absprechen. Es waren ihre Schriftsteller,
die im Westen die größte Aufmerksamkeit genossen. Natürlich nur
solche, die den Dissidenten-Nimbus mit dem Kulturbotschafterposten
zu vereinen wussten, speziell ausgesuchte Leute von erlesenem
Lebenswandel, die nach der Wende überwiegend in die Krise gerieten
oder ins Gerede. Die Misere des ersten sozialistischen Staates auf
... Boden brachte es mit sich, dass auf der anderen Seite des
Vorhangs eine kritische Öffentlichkeit auf dem Posten blieb und
Beachtung produzierte – ein rares Gut, um das man im liberalen
Staat kämpfen muss wie die Löwin um ihr Neugeborenes, was die
einschlägigen Kreise spät, aber gründlich begriffen haben.
BEOBACHTUNG
›Beobachtung zweiten Grades‹ ist selten, sie ist nicht
institutionalisierbar, jedenfalls nicht auf dem Weg einer auf Dauer
gestellten Produktion hochgestochener Thesen. Sie tritt in der
Gefahr hervor oder gar nicht. Die besten Beobachter vergangener
Jahrhunderte waren ihren Zeitgenossen fast vollständig unbekannt.
Warum sollte das inzwischen anders sein? Die Kaste derer, die sich
heute den zweiten Grad attestieren, produziert für das Vergessen.
Das sollte nicht vergessen werden, wenn sie sich öffentlich auf die
Schultern klopfen, als käme gleich darunter das alte Lametta zum
Vorschein.
BERATERTÄTIGKEIT

Zu den bedenkenswerten Vorgängen der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts gehört auch
die nachhaltige Abdankung der Intellektuellen, die Einschmelzung
dieser Spezies zu etwas, das man ›beratende Intelligenz‹ nennen
könnte, wäre man nicht besser beraten, es zu lassen. Nicht dass
hier Zweifel an der Beratertätigkeit im Allgemeinen oder an der
Intelligenz gewisser Berater geschürt werden sollen! Aber den
beratenden Typus hat es immer gegeben und das sonderbare Verhalten
der neuen Freibeuter, die sich plötzlich in seine Jobs drängen,
verdient vielleicht doch eine deftigere Charakterisierung.
Wahrscheinlich wären schon frühere Zeiten darüber erstaunt gewesen,
wie wenig die Vorgänger der heutigen Pseudoberater in concreto zu
verändern gewusst hätten, hätte man ihnen die entsprechenden Rollen
angedient. Aber da man die Intellektuellen stets als Statthalter
des Feindes im eigenen Lande wahrnahm, an denen die Herrschenden
ein – friedliches, entspanntes, offenes, liberales, deutliches,
strenges – Exempel zu statuieren hatten, bestand das Spiel, in dem
alle Seiten sich trefflich einrichten konnten, doch eher darin, sie
von den Schalthebeln dieser Welt fernzuhalten. Das galt im Westen,
das galt, mit anderer Skalierung der Werte und Mittel, östlich des
Eisernen Vorhangs. Seither haben die Kassandren des Weltgeists
gelernt und sind fort – ein seltsamer Zusammenhang, der jeden
Gedanken daran verbieten sollte, Vögeln in großem Stil etwas
beizubringen. Nein, nicht alle sind fort, ein paar Invaliden sind
zurückgeblieben und vertreiben sich die Langeweile abwechselnd
damit, von den alten Zeiten zu schwärmen und sich gegenseitig zu
denunzieren. Auch sie juckt gelegentlich die Beraterei, aber da sie
die Epochen im Flug überblicken, genügt es, ihre guten Ratschläge
mit Verwunderung und einem warmen Gefühl unirdischer Beglückung zur
Kenntnis zu nehmen.
BERECHENBARKEIT
Sollten wir irgendwann – es kann ja nicht ausgeschlossen werden, dass einmal dergleichen geschieht –,
sollten wir irgendwann in die Lage kommen, selbst zu entscheiden, worauf es mit uns hinauswill, so wäre es vielleicht nicht so prickelnd, auf die bewährten Standards zu setzen. Aber es hätte den Vorteil zu wissen, woran der Andere mit uns ist – vor allem im Ernstfall. Nein, schlecht wäre es nicht, als berechenbar zu gelten, es am Ende sogar zu sein. Berechenbarkeit und Verlässlichkeit sind bekanntlich fast dasselbe, vor allem dann, wenn jemand selbst sich für berechenbar hält.
– Wie, das wäre unmöglich? Das kommt alle Tage vor, daran ist nichts unmöglich.
Der Berechenbare, sagen Sie, ist leicht auszurechnen. Gewiss, darum geht es ja. Jedes Kind soll wissen, woran es mit ihm ist – so denkt der Berechenbare. Die Welt besteht nicht aus Kindern? Das stimmt – zwar nur in Maßen, aber es stimmt. Erwachsen ist, wer es gefährlich findet, wie ein Kind zu denken? Sagen wir: blind zu vertrauen, ohne Hintergedanken? Das mag sein, darüber könnte man nachdenken... Der verlässliche Mensch will, dass man ihm vertraut: so etwas erzeugt Misstrauen. Wer Vertrauen erzeugt, erntet Misstrauen? Traurig, aber wahr. Vertrauen will gewonnen, nicht erzeugt werden. Wie also gewinnt man Vertrauen? Durch Berechenbarkeit? Zugegeben, das ist schwieriger, als man denkt. Genau betrachtet, schließt eines das andere aus. Der da will als berechenbar erscheinen? Verdächtig, höchst verdächtig. Er hält sich selbst für berechenbar? Seltsam: leidet er unter Realitätsverlust? Gefährlich, höchst gefährlich. Gegenprobe: Jemand hält sich für unberechenbar. Er will unberechenbar wirken, er will unberechenbar sein: nichts leichter auszurechnen als das. Unberechenbar sind wir alle in unseren Hintergedanken. Nun, wer sich auskennt, der kennt sie alle.
BESCHISS
»Beschissen seid ihr!« Wer so redet, hat nicht alle Tassen im Schrank oder er sieht etwas, das außer ihm niemand sieht (oder auszusprechen wagt). In der Regel ist bereits der Versuch, es auszusprechen,
sanktioniert, so dass jede Anspielung sich von selbst verbietet. Dieses Selbstverbot weist Gesellschaft als solche aus: Gesellschaft ist, was beim Einzelnen Selbstverbote auszulösen vermag. Er mag dann auch nicht mehr hinsehen. Das Sehen gleitet über das verbotene Objekt hinweg, als existiere es gar nicht, der Anreiz, es zu bemerken, fehlt und also bleibt es unbemerkt. Man nennt dergleichen ›Tabu‹. Aber Tabus existieren selbst dort, wo das Selbst nichts weiter ist als ein kümmerliches Anhängsel von Stammesverhältnissen und keine weitergehenden Ansprüche stellt. Der Mechanismus, von dem hier die Rede ist, erscheint in reifen Verhältnissen – dort, wo das Selbst es zu einer gewissen Beständigkeit gebracht hat, mit einem eigenen Kopf sowie der Bereitschaft, ihn zur Geltung zu bringen. Ein solches Individuum kann prinzipiell jederzeit zur BSI-Formel greifen, stellt daher eine ständige Gefahr für den sozialen Körper dar. Der vollendete Doppelsinn der Vokabel ›Beschiss‹ zeigt den Übergang des Sozialen zum Körperschaftlichen an, zum Verbund. Nur wer sich körperschaftlich verbunden weiß, kennt den kollektiven Schmerz, der aus dem Gefühl des Erkanntseins fließt, und schaltet auf Abwehr um. Merke: beschissen werden kann jeder. Sich stellvertretend für alle der Einsicht in den Beschiss zu verweigern gelingt nur, wenn aus den Tiefen der Gesellschaft etwas heraufdrängt, was sich als ›Denken in Körpern‹ umschreiben ließe, so wie es ein Denken in Zahlen oder in Stellungen gibt, die eingenommen und behauptet werden wollen – zu gegebener Zeit, am gegebenen Ort.
BESCHREIBUNG
Man bekommt es in Europa schnell mit Leuten zu tun, die denken
können, so weit ihre Englischkenntnisse es ihnen erlauben, das
heißt, nicht sehr weit. Diese Leute sind überall zu finden, wo man
auf die eine oder andere Weise über die Realitäten des Kontinents
verfügt. Da sie nicht wirklich verstehen, was sie tun – oder,
sofern eine Ahnung davon in ihren Köpfen spukt, diese nicht
ausdrücken können und daher lieber heimlich entsorgen –, geschieht,
was geschieht, hinter ihrem Rücken, zwischen zwei
Entscheidungsgängen. Man sollte nicht glauben, sie hätten die
Verhältnisse, die sie produzieren, im Griff. Das Im-Griff-Haben ist
ihre schwächste Stelle – wer immerfort neue Beschreibungen ordern
muss, um den Griff nicht zu lockern, bleibt irgendwann auf ihnen
sitzen. Auch das Unverkäufliche hat seinen Preis; es strapaziert
die Nerven der Anbieter. Da haben sie die Realität, die sie meinen.
BESTIMMUNG

Das ist ein großes Wort und
Grabbeau bediente sich seiner oft
unter Tränen. Im
Wilhelm
Meister hat Goethe diesen Begriff mit tiefen Worten
gedeutet. »Sie ist es«, lässt er Wilhelm am Bett des Flötenspielers
gestehen, »die uns einfängt wie ein Netz, uns niederwirft und
aufrichtet, sodass unser Brot, in Tränen genossen, nach den Feldern
und Bergadern jenes anderen zweiten Mondes schmeckt, von dem das
wahre Getreide der
Kunst
oft so unheilvoll auf uns niederrieselt. Wohl dem, der eine Mühle
hat, es süßer zu mahlen.« Auch kennt die wahre Bestimmung keinerlei
Grenzen. Jemand ward früh verworfen und später mit Hilfe Grabbeaus
erhoben, ein anderer stieg mit jämmerlichen Kunststücken auf, aber
Grabbeau warf ihn nieder und so ward sein Name für immer
getilgt.
In Marbach zeigt man, wenn auch nur ungern, die oft sehr
zahlreichen und über Nacht völlig verdörrten Zeitungsartikel der
›Frankfurter allzu kleinen‹, die niemand mehr lesen will. »Aus«,
sagt der berühmte Schneider der Hölle, der Infant mit dem
Ziegenbart, und zeigt seine gelben Zähne. Wir müssen ihn nicht
beschreiben, wir kennen ihn alle, auch er hat seine Bestimmung im
unteren Grenzenlosen. - PM
BETRACHTUNG
Siehe –: die Lilien auf dem Felde haben Anzeige erstattet und
bewegen sich in großer gedanklicher Schnelligkeit auf den
Betrachter zu. Ich finde sie aggressiv heute morgen, obwohl ich
zugeben muss, dass etwas herausspringen sollte, so wie sie sich
hergeben. Ich bin keine Lilie, ich weiß nicht, wie man sich fühlt,
wenn man wie sie in der Betrachtung lebt – so versunken in
sie, dass der Boden, in dem sie stehen, nicht weiter in Betracht
kommt, es sei denn, sie laufen Gefahr zu vertrocknen. Da springen
die Helfer herbei, hurtige Burschen, denen kein Weg zu weit und
keine Bürde zu schwer ist. Ein Leben in der Betrachtung, genauer
(was beinahe auf dasselbe hinausläuft): im Betrachtetwerden,
fördert zweifellos den Verdacht, die andere, abgedunkelte Seite
führe etwas im Schilde. Was ja auch stimmt. Wer im Blickpunkt
steht, steht auf Nägeln, und man weiß nie, wohin die Spitze weist.
BETRIEBSAUSFLUG

Das Wirksamste am Betrieb ist die vollkommene gedankliche Leere, in
der er sich vollzieht. Das heißt nicht, dass in ihm nicht gedacht
würde. Im Gegenteil, nirgendwo wird vielleicht so viel gedacht wie
im Gewimmel der Termine und Interessen. Das betriebliche Denken
vollzieht sich im Modus des Im-Bilde-Seins, und es wäre doch
erstaunlich, den Engel die Jungfrau fragen zu hören, in welchem
Bild er sich jetzt eigentlich befinde und ob sie ihm aus dem Rahmen
hülfe, damit er sich ein Bild machen könne. Nein, er beugt das Knie
und überbringt seine Botschaft, Tag für Tag, Nacht für Nacht, er
denkt nicht daran, davon abzulassen, sein Blick glitte an jedem ab,
der ihn zu ein wenig Reflexion anhalten wollte. Man nennt das die
Macht der Rituale, aber da täuscht man sich. Das ist kein Ritual,
nichts, was sich wiederholte, das geschieht, einmal und
unwiederholbar, aber – und das ist das Unfassliche –
ununterbrochen, ohne Unterlass, bis in alle Ewigkeit. Es ist mit
dieser Ewigkeit nicht weit her, wie man sagt, sie liegt gleich um
die Ecke, man biegt einmal ab und ist schon angekommen für immer.
»Das weiß doch jeder«, sagt G., »aber was das Schönste ist, sie
werden unruhig, wenn sie die Ecke nicht gleich finden, sie werfen
ihre Hände und Füße und finden es unerhört, so dass man nicht
unterscheiden kann, ob sie nun hinein wollen oder sich mit Händen
und Füßen dagegen sträuben.« »Weder – noch«, meint A., dem die
Pfeife nie ausgeht. »Sie glauben, sie müssten sich sträuben, aber
es reißt sie dahin, sie finden die Schwelle, wenn sie zu stolpern
meinen und richten sich als andere auf wie in einem Bild von Max
Ernst: auf einmal tragen sie Vogelfedern im Gesicht und sprechen
die Sprache ihrer Hundsnatur.« »Das ginge noch an«, sagt G.,
»könnten sie auch schweigen. Aber wer ihnen zuhört und die Melodie
der Leere vernimmt, ist gebannt für immer. Er müsste sich
freikaufen, doch da wäre eine Schwierigkeit: solche Summen kommen
selten in einer Hand zusammen.«
BEVÖLKERUNGSWACHSTUM
Erste Regel für Politiker: Nie die Wahrheit sagen.
Zweite Regel: Die Wahrheit, falls nötig, sagen, aber im Folgesatz
wieder verschleiern.
Dritte Regel: Der Wahrheit alle Fetzen vom Leib reißen und auf
den Publikumsreflex vertrauen, der diesen Anblick, als unerträglich,
dem Auge aller zuverlässig entrückt.
Wer diese drei Regeln verstanden hat, sollte keinerlei Mühe haben, dem
öffentlichen Diskurs zu folgen, der sich mit bestimmten planetarischen Wirkungen
befasst, aber jede Erwähnung ihrer Ursachen mit der Bemerkung
Darum geht’s
nicht einkassiert. Zum Beispiel zählen sowohl das ungleich verteilte
Bevölkerungswachstum auf dem Planeten als auch das Bedürfnis der Menschen nach
Wohlstand oder zumindest nach einer gewissen Grundsicherung zu den treibenden
Faktoren der Weltwirtschaft. Erklärt man das ›unkontrollierte‹ Wachstum der
Weltwirtschaft zur Ursache gewisser Umweltmiseren, ohne die Gründe der
Begehrlichkeit dabei zu erwähnen, so ist klar, dass
die Wirtschaft, die
noch keiner gesehen hat, zum Feind der Menschheit mutiert, welche bekanntlich
keinen anderen Wunsch hat, als sich im Stande der Unschuld mit der Natur zu
vermählen. Ein solcher Feind muss bekämpft und auf Kurs gebracht werden, damit
wir nicht alle untergehen. Am besten bekämpft man ihn durch neue, noch
unbelastete Formen des Konsums, also dadurch, dass man gezielt neue
Begehrlichkeiten, zum Beispiel mit einem schicken Ökologie-Index versehene, in
der Bevölkerung weckt. Die einen Länder haben die Kinder, die anderen den
ökonomischen Erfolg. Das ist so und daran arbeiten wir. Daher sind letztere des
Teufels, während auf ersteren der Glanz einer Zukunft liegt, die wir ihnen
schulden. Wer weitere Fragen hat, möge sich melden. Antworten gibt es gratis,
doch nur freitags und sonntags.
BEWEIS

Dieser Beweis ist das Papier nicht wert, auf das er notiert wurde, jener ist so kostbar, dass ihm alle Papierbestände der Welt geopfert werden könnten, ohne dass jemandem Einbuße widerführe ‒ Beweise, Beweise, nichts als Beweise... Was sonst? Das Schöne an allen Beweisen ist, dass sie etwas vorausssetzen, selbst das Voraussetzen ist vor ihren Nachstellungen nicht sicher und lässt sich voraussetzen, als habe es hinten herum nicht genug zu tun. Der Beweis ist das Salz der Erde, der Mensch wäre ein Nichts ohne einen Beweis, dass es ihn gibt, und nichts hinderte ihn daran, die fälligen Konsequenzen zu ziehen. Einen Beweis ohne Konsequenzen gibt es nicht, kann es nicht geben, Konsequenzen sind indirekte Beweise, so wie es indirekte Fortschritte gibt, die nichts bedeuten dürfen, während sich alle Welt an ihnen bedient. Ja, man kann sagen, an diesen Fortschritten, die keine sind, die den Fortschritt ausschließen, sofern man ihnen glaubt, hängt die Welt, zumindest ihr Schicksal, wenn nicht mehr. Ein Fortschritt, der keiner sein darf, der nach nichts schmeckt, aber das große Fressen verhindert, zumindest hinausschiebt, lässt den Beweis, dass es so nicht weiter geht, alt aussehen. Zu Recht, denn auch er nimmt am Alterungsprozess der Welt teil, ein sich selbst verzehrender Terminkalender, stets aufs Neue zusammengestellt, denn Büros sind erfinderisch und schrecken vor keiner Planung zurück.
BEWUSSTSEINS-WELTEN
Wie wenig die öffentlichen Verteidiger der Vernunft gewillt sind,
die Büchse der Pandora zu öffnen, für die sie geräuschvoll eine
Lanze brechen oder auch zwei, erweist sich am Schicksal von
Büchern, die nicht bloß vor Vernunft strotzen, sondern sich den
Grundlagen aller Vernünftigkeit widmen, dem Denken in seinen
Möglichkeiten und Gliederungen, seinen Funktionen und
Wirkmechanismen, seinen Fähigkeiten und Modi der Weltverhaftung.
Diese – wenigen – Werke liegen wie Blei in den Regalen, die
Bibliothekarin blickt auf das Anschaffungsdatum und bläst besorgt
den Staub von den Kanten. Ein schönes Buch, warum wird es nicht
angenommen? Es liegt ein bisschen still da, es ist vielleicht schon
ein wenig dick für sein Alter, aber sind das Gründe? Das Denken
denken – vor dieser Parole laufen alle davon und halten sich noch
auf sichere Distanz die Ohren zu. Was nicht schlecht ist, weil sich
so manches Geschrei erübrigt.
BILANZHOHEIT
Warum wohl steigert sich so oft die kritische Nachlese zum
Berufsleben, die Bilanzierung von Licht- und Schattenseiten einer
gelernten Praxis, zum Rausch des Verwerfens? Die einen, wollte man
sie befragen, würden angeben, sie hätten schon immer so gedacht,
aber aus pragmatischen Gründen geschwiegen, die anderen, das hätten
sie in jüngeren Jahren
so nicht gesehen, erst die Distanz des
fortgeschrittenen Alters habe ihnen die Binde gelöst: zwei
Altersattitüden, die einander an zweckhafter Verblendung nicht
nachstehen. Wahrscheinlich war es gerade umgekehrt und denjenigen,
die behaupten, sie hätten nie anders gedacht, wäre vorher nie in
den Sinn gekommen, was ihnen jetzt so geläufig von der Zunge geht.
Wäre es anders, so wären ihnen die schleichenden Veränderungen im
Denken, seine Um- und Neudispositionen, die meist nur Ausdruck
veränderter Lebensumstände sind, nicht heute noch ein fremdes
Terrain, das sie nur mit Widerwillen und der Bereitschaft, sich davon
auszunehmen, betreten. Gern möchte man jenen Alterserleuchteten
entgegenhalten, dass die großen Umschwünge in den Denkweisen der
Menschen, von einer externen Warte aus betrachtet, bloß
Akzentverschiebungen sind – die große Masse des Gedachten bleibt
davon unberührt oder schmiegt sich willig den neuen
Deutungsverhältnissen an. Worin bestehen die neuen Verhältnisse?
Der Pensionär ist in die Wüste gegangen, teils aus eigenem Antrieb,
teils ungewollt. Wie Jesus kehrt er nach einem Jahr zurück. Er ist
sehend geworden oder geheilt und bereit, Wunder zu wirken, um seiner
neuen Lehre Nachdruck zu verleihen. Wer dann
sein Buch
mitbringt, der hatte noch etwas nachzutragen oder er war allzu
begierig, die Fesseln des Gewohnten abzuwerfen – beides im Grunde
unproduktive Attitüden, die durch starke Effekte aufgehübscht
werden müssen. Die Weisheit des Alters, sollte sie jemals kommen,
hätte reifen sollen. Die Angst des alten Eisens vor dem Durchrosten
wirkt da wie ein verlässliches Präservativ.
BILDERBERG
Auf einem Berg aus Bildern sitzen die Reichen und Mächtigen dieser Welt und spielen Karten. Warum sie das tun, bleibt unklar, klar ist nur, dass sie alle dabei gewinnen. Alle? Alle. Allmächtiges Kartenspiel, das du denen, die dich zu spielen niemals innehalten, alles zuschiebst, was sie begehren, ist das gerecht? Andererseits: was begehren sie denn? Nichts kannst du ihnen geben, was sie nicht bereits hätten, außer dem ewigen Weiter!, das sie vorwärts treibt. Ihr Treiben also ist es, was du ihnen gibst. Dafür der Aufwand, wer hätte das gedacht. Vielleicht hält sich ja auch der Aufwand in Grenzen. All die zerbrochenen Bilder, wer sonst höbe sie auf? So dienen sie, auf einen Haufen geworfen, noch einem guten Zweck.
BILDERHANDLUNG
Dass Bilder eine Geschichte erzählen, ist ein frommer Wunsch, der
viel damit zu tun hat, dass sie so müßig herumhängen. Nicht anders
der Film: die bloße Abfolge von Bildern erzeugt keine Handlung.
Dennoch redet man von der Handlung eines Films, als sei gerade sie
das Reale daran. Jeder ist eingeladen, sich eine zu denken und
folgt spontan. Diese Folgsamkeit, die beim Kinogänger größer ist
als beim Bildbetrachter, erschreckt, sie zeugt von einem Mangel an
Phantasie oder ihrer willkürlichen Beschneidung. Dabei gibt es
Unterschiede. Das Bild
zeigt eine Handlung, der Film
hat eine Handlung. Über
den Unterschied lohnt es sich nachzudenken. Schließlich hat der
Film seine Handlung nicht verschluckt, so dass sie jetzt in ihm
steckt und herausgezogen werden kann wie ein Knochen oder ein
Tennisball, er hat sie auch nicht zur Hand, eine solche Vorstellung
wäre ganz widersinnig, man sagt, er
besitzt sie. Das lässt aufhorchen: der
Film als Handlungsbesitzer erinnert an einen Kioskbesitzer oder den
Besitzer eines Juweliergeschäftes, in dem die Auslagen diskret
andeuten, was es alles zu kaufen gibt. Der Film verkauft eine
Handlung, dafür ist er gedacht, es ist seine Aufgabe. Zusammen mit
dieser Handlung verkauft er noch andere Dinge: den Geschmack an
bestimmten Landschaften oder Stadtvierteln, an teuren Autos, an
ausgefallenen Klamotten, an Gesten und Blicken, am Typus der
Schauspielerin oder des Schauspielers und natürlich das ›Image‹
genannte Bild dieser Person, das kein Bild ist, sondern ein
Phantasma, mit dessen Hilfe die Kundschaft zur Selbstbefriedigung
schreitet. Dies alles hängt an der Handlung, die er verkauft. Sie
muss gut sein, damit der Film glaubwürdig wirkt und die restlichen
Verkäufe nicht ins Stocken geraten. Gut ist eine Handlung dann,
wenn man zu wissen glaubt, was der Regisseur sich bei seinem
Streifen gedacht hat. Wem das zu schwer ist, der hält sich an die
Schauspieler: wenn sie überzeugen, dann muss auch am Ganzen etwas
dran sein. Dieser Schluss vom Teil aufs Ganze, von der
darstellenden Person auf den Sinn eines Ablaufs, ist widersinnig.
Aber das stört nicht – es hebt die Stimmung. Ein guter Film liegt
leicht auf, er verfliegt. Er ist schon verflogen, nur die
Schauspielerin war süß, sie würde man gern kaufen, aber man muss
warten, bis ihr nächster Film kommt.
BILDUNGSAUFGABE

Gegen eine journalistische Ungeheuerlichkeit stehen hundert andere, aus allen erdenklichen Lagern. Das gehört zum Journalismus dazu, es ist sein Markenzeichen oder wäre es, wenn die von ihm Porträtierten keine Ungeheuer wären. So finden die Ungeheuer sich gut getroffen, nur ihre gegenwärtige Rolle scheint ihnen ein wenig verzeichnet. Der Journalismus weiß also Bescheid, wenn er lügt, fälscht, unterdrückt. Die Leute nehmen ihm dieses Bescheidwissen ab, ansonsten fühlen sie sich allein gelassen. Sie kaufen alles, heißt das, aber sie glauben nicht, dass sie davon etwas haben. Eine gesunde Internet-Recherche befördert die gegenteilige Einstellung: die Leute denken, etwas dabei zu erfahren, für das sie um nichts in der Welt etwas geben würden. An dieser Stelle entdeckt sich der Internet-Journalismus als unendliche Bildungsaufgabe: dem Volk einzureden, es müsse für etwas bezahlen, was es umsonst gibt, weil es sonst nichts wert sei – das scheint nicht unmöglich, es scheint durchaus vorstellbar, aber eben nur als Aufgabe, vielleicht sogar als Selbst-Aufgabe. Man wird sehen.
BILLIGKEIT
Nicht jede Demonstration beweist Stärke, manche bringt den Gegner gleich mit, der sie niederschreit. Ein kluger Schachzug, der beweist, dass es ums Ganze geht, mit all seinen Antagonismen und Widersprüchen. Der Schreier weiß, dass der Niederschreier sein Werk vollendet, der Niederschreier, dass der Sieg sein ist, solange er nur, organgestärkt, den Platz behauptet. Und das ist bloß die geringste aller Behauptungen:
Jeder Schuss ein Russ’. Die guten Bürger, weit davon entfernt, sich wegen Ruhestörung zu beschweren, blasen die Backen auf und knallen munter mit, manche werden darüber so rot wie seit Jahren nicht mehr, aber nicht vor Scham, sondern aus Druck. Ein guter Bürger empört sich nur gegen sich selbst, aber auf Zuruf. Kaum fühlt er, dass sich der Antityp in ihm regt, geht er gegen sich auf die Barrikade und sagt, was Sache ist. Maßlos ärgert ihn das lose Mundwerk der anderen, zerschossen, wie es ist, lässt es Laute frei, die allerdings besser in der Brust des Einzelnen verborgen geblieben wären, vielleicht auch in anderen Körperteilen, wer weiß. Der Mensch ist des Menschen nicht wert, das macht, er ist sein eigener Gegen-Wert, auf der Waage der Billigkeit tendieren alle gen Null.
BINKAPUT
Binkaput, eine Meisterin ihres Fachs, zögerte nie lange, wenn es galt, sich eines Gegners hinterrücks zu entledigen. »Warum von vorn?«, pflegte sie zu fragen, »was soll das bringen?« Außer Scherereien natürlich, aber die wurden ausgeblendet, sobald sie ihre großen stahlblauen Augen in die ihres gewöhnlichen Gegenübers versenkte. Binkaput und ihr gewöhnliches Gegenüber, ein unzertrennliches Paar, gondelten durch die USA ihrer Jahre, stets einen
joke im Gepäck, als bereisten sie die Galaxis: auf exakt vorausberechneter Bahn, mit majestätisch gehisstem Sonnensegel, von einer Massenansammlung zur nächsten sich schwingend, deren jede ausgereicht hätte, sie spurlos zu verschlucken, Kälte verströmend und Kälte empfangend – frenetische Kälte, die ein Beobachter leicht für Hitze hätte halten können, doch Naturwissenschaftler sind schwer zu täuschen. Das Ziel ihrer Reise: ein weißer Zwerg, kaum zu entdecken im Sternengewirr der Milchstraße. Ein Zwerg, ganz recht, manche nennen ihn ausgebrannt, aber welche Anziehungskraft! Einer für alle! Wer ihn einmal entdeckt hat, kommt von ihm nicht mehr los. Mag ruhig hier ein Bein, dort ein Arm verlorengehen in den Weiten des sogenannten Alls,
why not? Ah, mein Gebiss – ich hätte es brauchen können, kein Zweifel, da braust es hin, möge es in Jahrmillionen einer ins Maul fliegen, der es steht, wem fehlt schon ein Gebiss? Aufgeben einer solchen Lappalie wegen? Nie und nimmer. Niemals und nirgends.
BIODEUTSCHE

Nein, er ist nicht lustig, der Ausdruck ›Biodeutsche‹, er ist faschistisch, ohne Abstriche, ohne Wenn und Aber. Hervorgekrochen aus Regionen der Gesellschaft, in denen gestänkert werden darf, weil der Gestank aus den Poren des vorbereiteten Bewusstseins quillt, hat es der Vorsitzende einer etablierten Partei sich nicht nehmen lassen, ihn in die feine Welt der ›wertebezogenen Auseinandersetzung‹ und des medialen Gerangels um die beste Lösung des Zukunftsproblems emporzuheben – zum stillen Vergnügen mancher Gesinnungsfreunde, deren Hauptaugenmerk auf einer gesunden Gülle liegt, zur lauteren Freude von Zwangsneurotikern, die, weil es zur Selbstscham nicht reicht, sich ihrer Mitmenschen schämen und dafür nach dem ideologisch korrekten Ausdruck fingern, zur heimlichen Befriedigung quergestrickter Bevölkerungsplaner, die mit dem Gedanken an künftige Reservate hausieren gehen (»Rosenheim Ost«, »Uckermark«, »Prenzlauer Berg«) und gern schon einmal die Eintrittkarten drucken, zum Was-auch-immer von Masochisten, die blinzelnd ihre waidwunde Seele nach außen kehren und dafür Beifall von der falschen Seite einfordern. Er ist nicht lustig, weil er das Fortleben giftiger Distinktionen in den Köpfen ihrer angeblichen Überwinder bezeugt:
Es darf, vorerst verbal, gefoltert werden. Er ist nicht lustig, weil im Hintergrund ein Modell der ›Landnahme‹ aufscheint, dessen Vorhandensein anzudeuten unmittelbar in die glitschigen Gefilde der politischen Inkorrektheit und des ›Hate Speech‹ führt. Zu Recht! In einem von allen Landesbewohnern gewollten demokratischen Gemeinwesen darf und kann es dergleichen nicht geben. Darf und kann…? Parallelgesellschaften mit der Tendenz sich auszubreiten und zu konsolidieren, Inseln patriotischer, rechtlicher, kultureller Inaffiziertheit und herkunftsstolzer Separation, von ideologisierten Sprücheklopfern bewirtschaftet, die auf den ›biologischen Gang der Dinge‹ setzen, sind weder harmlos noch lustig noch ›kulturell bereichernd‹, wie manche zu glauben wünschen, sondern, ganz recht, Zeugnisse gelingender Desintegration.
BIOGRAPHIE

Dass etwas von A bis Z erlogen sein könne, ist ein Philologentraum.
›Alles Lüge‹ steht über den eifrig geschriebenen Biographien der
Künstler, der Autoren, der Menschen von außergewöhnlicher
Kompetenz. Glaubt ihnen kein Wort, denn den bedeutenden Menschen
gibt es nicht. Kennen Sie das Wort ›Litanei‹? Ein bisschen? Das
reicht nicht. Die Herstellung der Lügen erfordert eine eherne Stirn
und das Absingen immer derselben Strophen aus einem Buch. Und das
ist wahr. Über das Wunder der inversen Wahrheit wurde viel
geschrieben, überwiegend von Menschen, deren Biographien
selbstredend aus lauter Lügen bestehen, weil niemand die Wahrheit
kennt. Biographien sind Würfe. Ob sie ins Ziel gelangen, hängt von
der Art und Beschaffenheit des Ziels ab wie von der Art des Wurfs,
der bei Linkshändern anders aussieht als bei einem Neurodermitiker,
der trotz eifrigen Forschens nicht weiß, was ihn reizt. So wird ein
Leben emporgeschleudert und ein anderes in den Abgrund versenkt,
beides sinnlos. Dazwischen bewegen sich die Schlaumeier mit der
Unbefangenheit von Kröten oder Eidechsen: ein kleines Vergehen,
eine kleine Entlarvung, eine kleine Verächtlichmachung, eine
Andeutung, jemanden wie dich und mich vor sich zu haben, berechtigt
bereits zu den unsinnigsten Zuschreibungen. Jeder, der sich im
Leben halbwegs kundig gemacht hat, ist ein Kompendium seines
Jahrhunderts. Darin liegt nichts Besonderes. Fragt sich, wie
beschlagen der Biograph ist und woran ihm liegt. Entsprechendes
gilt für die Tat, die ihre Bedeutung aus flüchtigen Konstellationen
empfängt und deshalb mit der Zeit sinnlos erscheinen muss. Der
Biograph, der sie aus der Sinnlosigkeit erlöst, ist immer ein
Heiland. Oder ein Nussknacker. Die kleinen knackt er, die großen
lässt er unter dem Vorwand liegen, sie bestünden aus lauter
Missverständnissen.
Wir wissen
noch nicht, wie wir verstehen sollen, was damals geschah. Es ist
mir eine Ehre, jedem künftigen Verständnis vorgearbeitet zu haben,
das als solches wird auftreten können. Amen.
BLÄTTERFALL

Glücklich die Zeiten, in denen das Wort ›Weltblatt‹ ohne ein Grinsen passieren konnte. Heute versteht es vermutlich ohnehin keiner mehr. Die Blätter, wie wir sie kannten, sie existieren nicht mehr. Sicher, sie existieren noch, aber man muss, um sie zu entdecken, den verzweifelten Blick von den Kronen lösen und den mürben Haufen braunen Materials zu seinen Füßen zuwenden. Doch, da liegen sie: das einst stolze konservative Vorblatt, jetzt Vorreiter in puncto Lächerlichkeit, das liberale Wochenblatt, jetzt der Abscheu der Welt, stets bereit, Halali zu blasen… Ja, sie blasen und prusten, sie pusten, zwitschern und pfeifen und sind doch nur Abfälle einer langen Saison. Genau genommen ist es der Herbstwind, der sich in ihrem Getue regt, sieht man vom Rascheln ab, das entsteht, wenn ein einsamer Fuß sie durchquert. Am schlimmsten hat es die hyperkritischen Blätter von einst erwischt, sie treiben ziellos dahin, als schlügen sie Purzelbäume für Kinderherzen. Aber auch die Kinder haben jetzt andere Pläne.
BLEIGESTALT
Die Literatur, wie wir sie kannten, hat eine Bleigestalt, sie ist schwer, sie zieht nach unten, es braucht Ablagen, um sie festzuhalten. Irgendwann verwechselt man sie mit den Ablagen, das viele Blei scheint angewachsen, es wächst die Lust, sie sich selbst zu überlassen und zuzusehen, wie die Natur sie zurückholt. Die Literatur, wie sie heute entsteht, hat kein Gewicht, sie ist federleicht und jeder versteht sie – vielleicht nicht jeden Buchstaben, aber den Geist, der aus ihr spricht, auch wenn das Wort ›Geist‹ zu denen gehört, die auf der Ablage vermodern. Man liest, um zu verstehen, das ist richtig, das Wort Blei gemahnt an den Berg aus unverstandenem Zeug, auf dem man, recht bedacht, steht, auch wenn er längst abgesackt ist und eher einer Kuhle gleicht, in der das Regenwasser sich sammelt. Nie wieder Blei! ›Wir verstehen uns‹, das ist der Satz, der das Zeug hat, verstanden zu werden, er enthält alles, was von der Buchform übrigblieb, er ist
das Buch. Oder doch Blei? Es bleibt schwer, ein Buch zu lesen, es ist eine Kulturleistung, für die nur belohnt wird, wer bei der Stange bleibt.
Nicht aufhören! – so klingt der leise Sermon des Buches, wenn der ermüdete Arm es sinken lässt und die Sinnfrage weicht.
Nicht aufhören! – so klingt es zwischen den Seiten, wenn der Leser, erschöpft ob all des Überflüssigen, das er in sich hineinschaufelt, die Notbremse fixiert.
Dies hier ist Überfluss und Überfluss ist Kultur. »Soviel Kultur«, denkt der Leser, »ist das nicht anstrengend?«
Kultur ist anstrengend, zwitschert das Buch,
zwischen den Seiten ruht das Vergessen. »Kultur ist anstrengend, weil man vergisst?« denkt sich der Leser, »ich hätte gedacht, Denken strengt an, damit das Gedachte nicht mehr weggeht.«
Dummkopf, flüstert das Buch,
wer redet vom Denken? Literatur denkt nicht, sie regt das Denken an. Welches Denken kann das sein? Denk nach! »Aber wenn ich nachdenke, muss ich mich konzentrieren. Wenn ich lese, konzentriere ich mich, wie du sagst, auf nichts. Was soll denn dabei herauskommen?«
Das kann ich dir sagen, schwatzt das plötzlich vertraulich gewordene Buch.
Wenn du denkst, du liest, liest du dann nicht? Wenn du aber liest und denkst, dass du denkst, denkst du automatisch, dieser Bleiberg, auf dem du stehst, befinde sich in dir selbst, in deinen Eingeweiden, in deinen Muskeln, in deinen – achte auf meine Worte! – Gedanken. Wenn die Literatur eine Frage ist, dann bist du die Antwort. Wenn du die Frage bist, ändert sich daran nichts. Du bist also die Frage und die Antwort, doch nur, solange du liest. Noch Fragen?
BLINDGÄNGER
Die Waffe der Unaufrichtigen ist die Unaufrichtigkeit. Das ist allgemein bekannt. Weniger bekannt sind die Gründe der Unaufrichtigkeit (das liegt in ihrer Natur) – eine missliche Situation, vor allem, wenn es sich um Unaufrichtigkeit, begangen im öffentlichen Interesse, handelt wie zum Beispiel das Beschweigen und Beschönigen bestimmter Aspekte der Verbrechensstatistik, wobei mit den betroffenen Tatbeständen auch, bedingt durch den Wandel des Zeitgeistes, die Gründe wechseln können –
können, denn, wie gesagt, Genaues erfährt man nicht, wenn es sich nicht gerade um Schreibregeln für Journalisten handelt, die dann und wann an die Allgemeinheit durchsickern. Solche Regeln werden gern ›ethisch‹ genannt, nicht ganz zu Unrecht, da sie Verhaltensweisen vorschreiben und dafür Grundsätze anführen, die auf der Sonnenseite der allgemeinen Überzeugungen zu Hause sind. So den der Nichtdiskriminierung: wer nicht diskriminiert, also nicht unterscheidet, der bezichtigt auch nichts und niemanden, der hält sich heraus.
Die Frage wäre also stets, wer sich wo heraushält, mit welchen Folgen, bedachten und unbedachten, gerechtfertigten und ungerechtfertigten, und welcher Regel er dabei folgt. Wenn bei einer Gerichtsverhandlung herauskommt, der wegen Mordes und Vergewaltigung Angeklagte habe eine Schreinerlehre absolviert oder arbeite bei einem bekannten Bankhaus, dann geht das in Ordnung und niemand, der bei Verstand ist, wird daraus Vorwürfe gegen den Schreinerberuf oder besagtes Bankhaus ableiten. Diese Regel ist außer Kraft gesetzt, sobald sensible Bereiche der aktuellen Opfermythologie gestreift werden, wenn also der Täter einem bestimmten – unaussprechlichen – Personenkreis angehört, wenn seine Gruppe, mit einem Wort, der unterstellten Verletzlichkeit wegen privilegiert wird. Also versucht, wer kann, zu verhindern, dass eine entsprechende Linie gezogen wird, und der ethische Kodex bietet eine ausgezeichnete Handhabe dazu. Am Ende liegt auf der Welt ein Tabu, das nur zu berichten erlaubt, irgendjemand habe irgendein Unrecht an irgendjemandem verübt, denn das Opfer oder seine Verwandten und Erben könnten ebenfalls Verschwiegenheitspflichten anmahnen und verstehen sich oft genug dazu. Die Unterstellung in diesem Fall lautet, dass ›dort draußen‹ niemand bei Verstand ist und deshalb die einfachsten Zusammenhänge unerörtert bleiben müssen, um die Volkswut zu bändigen, selbst wenn die Erörterung im Interesse des Gemeinwohls zwingend geboten wäre.
Sinnigerweise nährt sich die Volkswut, wie jedermann wissen sollte, am besten an Kaum- und Halbwissen und an Gemunkel, womit sie im gegebenen Fall blendend bedient wird, während die genauestens Informierten, die es immer und überall gibt, sich ins Fäustchen lachen. Das Ergebnis der Operation besteht also darin, dass die Informierer sich selbst blenden, indem sie nicht mehr zu wissen wagen, was sie doch wissen können und wissen müssten – aus Angst, dem Feind in der eigenen Brust Vorschub zu leisten. Denn sie bewegen sich, wie sie glauben, in Feindesland, sozusagen von Berufs wegen und ohne die Möglichkeit eines Rückzugs. Die Unaufrichtigkeit ist ihnen zur ersten Natur geworden, sie sind sich keiner Machenschaften bewusst, sie attackieren diejenigen, die sie für uninformiert und ›schlimm‹ halten und die doch nur, von Unruhe für das Gemeinwesen gepackt, die Decke zu lüpfen versuchen, unter der die mit Fleiß zurückgehaltene Wahrheit lagert. Dafür sollen sie büßen.
BLOCH

Es gibt Stunden, da holt der alte Schallmeier seinen Bloch heraus,
putzt sich die Brillengläser und beginnt zu lesen. Drei Sätze nur
und er ist wieder im Rhythmus, dem eckig, ruck-zuck und dabei so
geschmeidig sich wälzenden Strom von Undurchdachtem, Verdautem,
Unverdautem, Verschrobenem und Gestemmtem. Er liest nicht lange und
er hält inne, die Erinnerungen haben ihn überwältigt, es glänzt die
Backe und eine Träne läuft darüber hin, als wollte sie sagen: Was
soll ich tun? – Und wirklich, was sollte sie tun? Eine Träne dem
Universum, der brodelnden Materie, dem prometheischen Feuer und der
Mission: Er war der letzte, der sie seinen Deutschen entlockte, der
sie ihnen entrang oder entriss, ja, entriss, das wird es sein, denn
eigentlich war, was da stand, komisch – es war schon immer komisch,
nur heiter, das war es nie. Schrecklich dagegen der gütige Apologet
des ›schon immer‹, der hinauswatete, wo dieser unterging. Dass der
sozialistische Held eines Tages sogar den Tod besiegt, das
Skandalon – diese Große Marotte des Denkers sagt viel, wenngleich
nicht alles. Immerhin verdeckt sie den Käfig, in dem der
Unsterbliche sitzt, abgewandt, bleich, mit erloschenen Augen
angesichts all der Tode, die aufgewandt wurden, um ihn für eine
Weltsekunde hervorzubringen – ein Untoter unter seinesgleichen, ein
Toter unter Toten und Lebenden. Zwischen diesen da und das All
passte nichts als eine Trompete.
BLÖDHALTUNG
Wie blöd muss einer denn sein, um endlich auch für blöd gehalten zu werden? –
Das ist eine Preisfrage. Wer die Antwort weiß, der heimst alle
Preise ein, die das Leben zu bieten hat, jedenfalls dann, wenn er es
geschickt anstellt und nicht zu blöd für den Erfolg ist wie alle
die anderen. Die meisten Menschen sind zu blöd, um Erfolg zu haben.
Daran erkennt der Gerechte, wie positiv diese Eigenschaft ist. Ohne
sie wäre Gesellschaft ein einziges Hauen und Stechen und der Erfolg
bliebe auf der Strecke. Medien zum Beispiel halten ihre Kundschaft
notorisch für blöd, solange sie sich auf der Erfolgsspur wähnen,
sie begreifen nicht, dass die Kundschaft sie nur ersatzweise
frequentiert, solange die
richtigen Informationen noch ausstehen, die
richtigen Analysen, sogar die
richtigen Ansichten,
denn das öffentlich-rechtliche Kommentatorengeschwätz kann es nicht
sein. Das heißt sich von Tag zu Tag informieren. Information
entsteht aus Desinformation, wer halbwegs informiert ist, misstraut
jeder Information. Mit wachsendem Misserfolg, das weiß jeder
halbwegs kluge Kopf, greifen alle Medien unter sich, sie begnügen
sich nicht länger damit, ihr Publikum für blöd zu verkaufen,
sondern versuchen es zur Blödheit zu nötigen: ein Circulus vitiosus
mit bekanntem Ausgang. Es geht ja mit, das werte Publikum, so wie ein
Gesunder mit einem Kranken mitgeht, in der Hoffnung, es ginge dann
besser, doch wenn alles nichts nützt und der nächste Termin drängt,
lässt er los und schon bleibt der Kranke mit seinem Gebrechen allein
zurück. Das mag bedauerlich sein, aber so grausam ist das Leben,
jedenfalls von Zeit zu Zeit. Meine Zeitung zum Beispiel, wie hieß
sie nicht gleich?
Blödgehaltene aller Länder – nein,
bitte, vereinigt euch nicht! Es wäre furchtbar.
BLONDE BESTIE

Man muss den Leuten nur sagen, der und der ist ein großer Denker, dann klauben sie den größten Schwachsinn aus seinen Sprüchen heraus und merken ihn sich. Überzeugungstäter gehen dafür durch dick und dünn, Berufsdenker nerven ihre Mitmenschen generationenlang, vor allem vom Katheder herab. Das ist nicht zu verhindern, da die schwierigeren Gedanken den meisten Verehrern verschlossen bleiben und alle an Größe partizipieren wollen. Der wirksamste Denker ist daher der gemischte, einer, der sich nicht scheut, krasses Zeug zu notieren, weil das sichernde Denken ihn nicht auslastet und er den Erfolg sucht, schon um zu spüren, was Leben heißt. Die blonde Bestie war die Erfindung eines, der auszog, die Menschen das Fürchten zu lehren, allein mit der Botschaft ›Fürchtet euch nicht‹. Zu diesem Zweck musste sie ein wenig umgestaltet werden, sie musste invers wirken, dafür durfte sie gern pervers sein. Übrig blieb von seinen feuchten Träumen der blonde Engel, der durch die Welt der Kinematographen geisterte, bis ihn der Serienkrimi zum Geständnis zwang.
BLUMENBERG

Wir fanden, das sei ein treffender Name, als wir daran gingen, das
kopernikanische All neu zu justieren, und nach einem Ort suchten,
an dem diese notwendige Operation mit Leichtigkeit vollzogen werden
konnte. Der Ort selbst war rasch gefunden: ein sanfter Hügel in
einem Gelände voller Bauschutt, durchzogen von gurgelnden
Wasseradern. Hier aber fanden sich Krokusse und, Glück eines neuen
Tags, wiegten sich Butterblumen im Wind. Auf diesem Hügel saßen und
redeten wir viel mit uns selbst, wir redeten uns die Tage weg, als
seien es Stunden. Jahre vergingen so wie nichts und Bücher
entstanden, von denen wir vordem kaum etwas ahnten, dickleibige,
wie es sich an einem solchen Ort gehört, wir aber ließen die Finger
unserer Gedanken wie Elfen durchs Gras laufen und dünkten uns
glücklich. Nur hier konnte es geschehen, dass einer, inmitten
restrukturierter Trümmer, die Legitimität der Neuzeit fand, diesen
ebenso bestechenden wie zeitlos gültigen Gedanken, in den sich alle
eintragen können, die noch vor Ablauf ihrer Frist seufzen möchten:
»Wir waren es auch.« Und das ist sogar legitim. Denn angenommen, es
wäre anders, so bliebe doch der Verdacht, es könne alles mit
rechten Dingen zugehen, die gezinkten Karten müssten so sein und es
komme nach und nach auf den Tisch, was darunter verkauft wurde.
Neuzeit ist immer, wie sollte gerade diese nicht legitim sein?
Welche Wucht steckt hinter einem solchen Gedanken? Man denke hier
an die stete Brise, das Säuseln der Gedanken im Denken selbst, aus
dem sie selten, und nicht zu ihrem Vorteil, herausbrechen. Von
diesem aber lernten wir viel.
BLUTZUCKER

Zweierlei Ekel: der erste angesichts des besinnungs- und grenzenlosen Auskostens eines Weltzustandes, in dem den Deutschen der allgemeine Scham-Part zufällt. Der zweite davor, wie schamlos die Deutschen dieses Geschäft betreiben. Es scheint, sie betrachten es als ihr Glücks-Los. Das mag psychologisch und ›moralisch‹ richtig (und gut fürs Geschäft) sein. Aber: was für eine Moral ist das? Nirgends ist Scham gleich Moral. Allenfalls darf sie Handlangerdienste verrichten. Erst die gebändigte, die für die ›richtige Sache‹ mobilisierte (und kanalisierte) Scham wird moralisch – oder sollte es. Scham zeigt sich – als was? Erzwungene Scham wird Beschämung, Beschämung Gefolgschaft, Gefolgschaft jener bedenkenlose Fanatismus fürs Gute, der jeden Einwand beiseiteräumt und, sofern man ihm freie Bahn lässt, schon den Ansatz von Fairness mit eigentümlicher Wut verfolgt. Was also wäre eine zur öffentlichen Anstalt mutierte Scham? Vermutlich: archaische Un-Moral, als Sensibilität getarnt. Bei soviel (gedoppelter) Anfälligkeit fürs Gewesene blüht der Manichäismus der Gegenwart. Immer auf der richtigen Seite zu stehen, das kommt, aufs Ganze gesehen, teuer zu stehen, vor allem, wenn die moralischen und ökonomischen Ressourcen der richtigen Seite schwinden. Die Schlauen wissen es wohl und wechseln die Seiten wie öffentliche Verkehrsmittel – Hauptsache, die Selbstgerechtigkeit des in dritter Instanz Geläuterten kommt mit. Wo alle Volk sind, sind die Antideutschen die Erwählten. Zu was erwählt? Erwählt wofür? Vor allem: Erwählt wogegen? Erwählt von wem? Kinder, stellt Fragen. Schließlich seid ihr erwachsen. Auch das geht, wie vieles andere, vorbei.
BOCKSHORN

Bockshörner gibt es in allen Größen und Preisklassen. Das, hier, so klein, so weich, so biegsam, noch kaum Horn zu nennen, für die lieben Kleinen: geht reißend weg, denn auch sie wollen schon verschaukelt werden, und nicht nur von den eigenen Eltern. Das dort ist ein edles, geradezu klassisches Stück. Man beachte die Krümmung. Damit lässt sich jemand in die Wüste schicken, der selbst sein Handwerk versteht, aber damit findet er seinen Meister. Es geht nichts über ein gutes Arbeitsgerät. Ein gutes Bockshorn verrät den Meister der Intrige. Oder soll ich sagen: die Meisterin? Es ist nicht alles Geschlecht, was sich unter einem Dach zusammendrängt, schon gar nicht unter dem eines Hohen Hauses. So ein Bockshorn… Wer weiß schon, was ein Bockshorn wiegt? Bockshornjäger oder -jagende, wie sie neuerdings nach offizieller Lesart heißen, bleiben deshalb meist unerkannt, weil ihr Opfer alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Doch gilt das bloß, wenn die Operation auch gelingt. Scheitert sie, möglichst sogar in Serie, so heißt es in der Politik dann gleich, klar doch, FDP. Als ob eine Partei ein Monopol auf Niedertracht besitzen könnte! Noch dazu gegenüber verantwortungsbewussten Bürgern, die ihr am Wahltag die Stimme geben. Was ist eine Stimme gegen eine Parteispende? Frei sein heißt eben, so frei zu sein, dass die eigenste Überzeugung als nichts Besonderes gilt, vor allem vor oder nach einer Wahl. Es gibt aber auch andere Anlässe. Wenn die Redner anderer Parteien am Parlamentspult rödeln und pinschern, um der Regierung zu Diensten zu sein, die längst schon vergessen hat, wen und zu welchem Ende sie regiert, dann ist es eine Freude, dem freien Menschen bei der freien Entfaltung seiner freiheitlichen Weltsicht zuzuhören und zu ‑sehen. Und wenn er dann seine Papiere zusammenlegt, sich umdreht und geht, dann weiß man, dass man einem Ereignis beiwohnen durfte – einem von denen, die neuerdings immer seltener werden. Wie gesagt, Bockshörner, in die Jahre gekommen, sind die edelsten Trinkgefäße. Man muss sich nur auf sie verstehen.
BODENSEE
Ein Ritt über den Bodensee kommt selten allein. Schon bei
paarweisem Aufritt verdoppelt sich die Annehmlichkeit des
Versagens. Darin liegt ein Geheimnis, das vielen bekannt und kaum
einem recht ist. So sieht man sie gekrümmt dahinjagen, auf
Tuchfühlung fast, aber ohne Blick. Wie das Eis trägt! Verblüffend,
ganz verblüffend.
BOTAMIN

Der fein zu verteilende Stoff – BW, das Salz der Erde, Be-Wusstsein: kein käufliches Produkt, dem es nicht beigemengt wäre, in niedrigen Dosen, versteht sich, unterhalb jener Grenze, an der die Hüter der Werte Einspruch erheben, obgleich sie beweglich ist und in Gefahrenzeiten leicht erhöht werden kann, so dass die Gefahr, wie jeder weiß, der im Bilde ist, augenblicklich zurückgeht. In der Gefahr weicht die Gefahr, um als Chance wiederzukehren. Das ist eins der Geheimnisse, vor denen die Misstrauischen zittern. Hölderlin hat es gewusst und Reagan, der Schauspieler, auch. Im therapeutischen Raum wird BW noch immer als Spritze verabreicht, man glaubt hier stärker dosieren zu dürfen und die Effekte ergeben ein rasch lesbares Bild. Vernünftigerweise lässt man es nicht dazu kommen. Was immer einst Psychoanalyse und Marxismus bezweckten, Designer können es besser und werden auf diesen Punkt trainiert. Die Welt steckt voller Bewusstsein, wussten Sie das? So lassen sich z.B. durch kleine Täfelchen Religionen verbreiten oder zerstören, eine geschickt gestaltete Website kann eine Region in den Wahnsinn treiben und, wer weiß, den Weltbrand entfachen. Daran arbeiten viele.
BOTSCHAFTER

Der Botschafter ist die Botschaft. Da schreitet er die Treppe herab, der alternde Neue, der neue Alte, denn auch dieser hat viel gestalten müssen, um in der Gestalt des Botschafters erscheinen zu dürfen. Nur die Botschaft wandelt sich nicht, sie ähnelt ein wenig der des Jüngsten Tags, wenn endlich alle Zukunft aufgebraucht sein wird. Nein, so weit ist es noch nicht. Aber der Verbrauch an Zukunft hat ein bedenkliches Maß angenommen und wird jetzt auf ein bedenkliches Maß zurückgenommen. Gleich fühlt die Gegenwart sich bedrängt und fordert ihr Recht. Welches sollte das sein? Welches Recht sollte die Gegenwart haben, wenn nicht das auf Gestaltung der Zukunft? Zukunftsfähig wollen sie sein und alles jetzt, das geht, unter Währungshütern, nur um den Preis der Falschmünzerei. Ganze Staaten lassen sich dabei erwischen und spielen mit ihren Flügeln, um Reue anzuzeigen und die Luft zu testen, vielleicht können sie noch entwischen. Der Botschafter kennt seine Kameraden, er ist einer von ihnen, er ganz allein, ein Staatswesen mit einem linken und einem rechten Flügel. Er weiß, wie man die Gewichte verteilen muss, auf dass niemand sich erhebt. Er weiß es gut, denn er ist gewarnt. Die Geschlechtslosen starren auf sein Geschlecht, als erwarteten sie dort ihr Los. Wenn es bitter kommt, tut es doch gut zu wissen, wo so einer den Most holt.
BRABBELSUMPF
Im Brabbelsumpf geht es uns wohl. Warum das so ist? Keine Ahnung. Ein richtiger Brabbler benötigt den Sumpf um voranzukommen ohne voranzukommen, aber das Rudern ist herrlich. Das Material ist zäh, es klebt an den Seiten, es klebt zwischen den Zehen, es verschmiert den Mund, sobald er sich öffnet, sieht es so aus, als öffne der Sumpf selbst seinen Schlund, oder besser: als öffne sich Schlund an Schlund, denn ein Brabbler kommt selten, eigentlich nie allein. Diese leuchtenden Zahnreihen haben etwas zu erzählen, etwas Großes, zu dem jede ihr Scherflein beiträgt, den Brabbelcent, erkennbar an seiner Unerkennbarkeit, die mancher für bare Münze hält. Keine Spielereien! Die Brabbler haben die Welt nicht erobert, sie haben sie nur verändert. Und das gründlicher, als sie es jemals verstanden. Verstehe einer die Welt.
BRANDT, PETER
Zu den überragenden Verdiensten Willy Brandts wird man einmal seine drei Söhne zählen müssen, von denen einer als Schauspieler die Nation allabendlich mit den Schrecken ungesetzlicher Handlungen versöhnt, während der andere, als Historiker, die Schrecken der Geschichte, ohne ihnen ein Jota abzunehmen, als lebbare Mitgift der Menschheit behandelt.
Denn tatsächlich blieb es dieser Generation vorbehalten, die Lebbarbeit der Geschichte neu zu erproben, insbesondere desjenigen Teils, den ihr die Vorgänger (und Vor-Vorgänger) hinzugefügt hatten. Dem Leben im Schatten der Bombe entsprach in diesem Weltteil symmetrisch das Leben im Schatten der mühsam geteilten Einsicht in die Realität des absoluten Grauens. Fälschlicherweise nahm man an, es sei an der Grenze des eigenen Daseins gestoppt worden, während es doch auf anderen Kontinenten fort- und koexistierte: eine doppelte Virtualität, die ihre eigenen Virtuosen hervorbrachte, Bewältigungsathleten im Zeichen der moralischen
terreur, die bei einigen, wie zu erwarten, in physischen Terror umschlug, bei anderen in eine Art von dauerhaftem Wundstarrkrampf mündete. Dass man im geteilten und geschrumpften Land die Nation zum Müllschlucker des Gewesenen deklarierte, lag wohl am Wege, in einer Welt der gelernten Lektionen blieb dies die gelernteste und gelehrigste. – Nicht das So-Sein, sondern das Sohn-(und Tochter-)Sein war über diese Generation verhängt, der noch immer etwas Blasses, Verwaschenes, Unfertig-Altbackenes und, ehrlich gesagt, bei aller vorgetragenen Entschiedenheit Unentschiedenes anhaftet. Der Sohn des zum Repräsentanten des ›anderen Deutschland‹, dann seines Landes und schließlich der sich restituierenden Nation aufgestiegenen Exilanten, des ersten und bislang einzigen Kanzlers, der nicht ›beliebt‹ war, sondern geliebt wurde, musste irgendwann wohl oder übel Historiker werden und die Linie, die der Vater in der Politik zog, ins Gewebe der Fußnoten und der gelehrten Parenthesen übertragen. Und wohl oder übel musste es die Nation sein, die ihn dabei beschäftigte: die besudelte, aber eben auch lebbare, jene geteilte, deren Einheit lange Zeit denkbar, aber praktisch unmöglich schien, die erneut vereinte, deren Ruhelosigkeit sich sofort neue Formen der Selbstnegation verordnete, auf dass sie ihrer Funktion als ideologische Schaltstelle Europas nicht verlustig gehe. Wer Peter Brandt für einen Apologeten des Ausgleichs hält, hat etwas grundlegend missverstanden. Wenn ›Verständigung‹ den rationalen, ›Ausgleich‹ den (macht-)ökonomischen und ›Versöhnung‹ den ethisch-religiösen Aspekt der Aufgaben umreißt, die nach Vernichtung und Aufbau anstanden, dann ist ›
Entwahrlosung‹ vielleicht nicht der heikelste, aber subtilste, da unmittelbar auf den Wandel der Selbstverständigung im jeweiligen Ganzen zielende Teil. Das ist, alles in allem, ein kollektiver Vorgang, dem vorzugreifen gefährlich, dem hinterherzutrotten tödlich sein kann. Wie alle historischen Prozesse braucht auch dieser Symbolfiguren. Voilà – bedient euch!
BRATENWENDER
Wer den Braten riecht, der muss ihn wenden. Das ist eine alte
Regel, herüberschallend aus Bereichen, in denen ›Kultur‹ weniger
mit einem Theaterabend assoziiert ist als mit den Fingerzeigen
einer nahen, nichtsdestoweniger schwer zu fassenden Gottheit, wie
es denn geht, das Leben, oder meinethalben:
wie Leben geht.
Die intellektuelle Ableitung kommt demgegenüber spät, fast zu spät,
aber sie bleibt deutlich, es handelt sich um eine der letzten
Zuckungen der Wahrhaftigkeit, bevor sie in der Fülle des
Gleichgültigen ertrinkt. Also: Wer den Braten riecht, muss ihn
wenden. Oder: Es geht nicht an, in einem Gehäuse aus Überzeugungen
weiter zu leben, dem bereits das Dach davonfliegt. Doch das ist ein
grobes Bild – wer sich auskennt, dem sagen weit subtilere Zeichen
Bescheid, er ist bereits im Bild, bevor es entsteht. Wer kennt sich
da aus? Ist es der, der unruhig wird bis in die Zehenspitzen, weil
ihm heiß und kalt ist, weil er es nicht mehr aushält im gesicherten
Heim? Oder ist es der, der in Ruhe den ersten Streich führt? Welche
Motive sind da im Spiel? Auch die Nachwelt ist kein genauer Herold,
sie kann sich schwer täuschen, wie man so sagt. Und wer ist die
Nachwelt?
Den Braten riecht keiner und mancher, der sich als
Verhängnis ausposaunt, sähe sich als Fliegenbeinzähler rasch
überrundet.
BRINGSCHULD

Diese Frau ist eine Heuchlerin, na und? Sie ist Alleinerziehende.
Der Mann an ihrer Seite, der als Vater konsumiert wird, weiß davon
und schweigt. Er schweigt nicht nur, sondern ist eifrig dabei,
geleitet von dem sonderbaren Gefühl, nicht hinter das Erreichte
zurückfallen zu dürfen, weil es sonst aus wäre. Was wäre wohl aus,
wenn er sich zurückzöge? Die Täuschung, was sonst. Die unerhörte
Täuschung, Vater sein zu können unter Konditionen, die von ihm
nicht gemacht wurden und die er nicht verantworten kann. Er
akzeptiert sie aber und versucht, mit ihnen ›zurechtzukommen‹. Das
Zurechtkommen ist eine merkwürdige soziale Tugend, die das Fußvolk
nicht gern analysiert. Man verdankt sie Trümmerlandschaften, von
denen manche glauben, sie existierten nicht mehr. Aus den Augen,
aus dem Sinn. Und wirklich: seit draußen alles so geleckt aussieht,
als stünde die große Flut gleich bevor, spielen sie Innenwelt.
›Erlaubt ist, was sich ziemt‹: der Zurechtkommer darf sich
aufbrauchen. Dafür gibts Urlaub extra. Vaterschaft ist Bringschuld
– ein Geschenkartikel, der sich im Geben verzehrt. Am Ende der
Seifenoper erstrahlt aus den Kulissen die Fratze der Kindheit, die
keine war. Erwachsene, gewillt, niemals erwachsen zu werden,
reichen einander die Hände und ein auf X-Beliebigkeit
heruntergedrückter Idiot murmelt bühnenreif: »Aber ich will
doch...« Sein Double nervt derweil die Gäste des Stammlokals,
sofern er nicht die Bedienung anmacht. Sie bringt das Zeug, das er
dringend benötigt.
BRODER-EI

Wäre Broder nicht Broder, er wäre dennoch Broder geworden. Das ist keine Kritik, sondern eine Feststellung. Sie zieht die berechtigte Frage nach sich, was aus Broder geworden wäre, hätte er nicht von Beginn an Broder sein müssen. Solche Fragen sind, ihrer Natur nach, nicht zu beantworten. Sie leben vom Paradox, lebendiger sein zu müssen als das bewegte Bild, das sie hervorruft, während sie doch nur seinen blassen Widerschein liefern. So wirkt die Vorstellung eines anderen Broder schlechterdings widersinnig: Sie beleidigt den guten Geschmack und tritt den schlechten mit Füßen, statt ihn zu hofieren, wie es sich doch gehört. Es gehört sich, Broder als Broder zu betrachten, als das Absolutum, zu dem der Mensch nicht heranreift, sondern als das er in die Welt eintritt, jedenfalls in die Welt des Feuilletons, wo er hingehört. Broder, das ist: das Ei des Kolumbus, auf sich selbst gestellt. Broders fundamentale Entdeckung, sein Einstieg in die Welt derer, die, nun ja, zählen, bestand darin, den fleißig-kritischen Geistern der Republik ihre Kolumbus-Eier zu entwenden und dem Publikum lachend unter die Nase zu halten:
Seht her, damit machen sie’s! Und alle sahen her. Bekanntlich entsteht ein Kolumbus-Ei dadurch, dass einer den Mumm hat, hart aufzusetzen, was partout nicht stehen will, und dadurch einen künstlichen Stand zu erzeugen:
Geht doch! Der künstliche Stand der Kritik ist der Kritizismus: ›Da Juden Opfer sind, sind wir alle Juden. Da Opfer Opfer sind, sind wir alle Opfer. Da alle Opfer sind, sind alle wir.‹ Die künstliche Jagd nach dem leeren Täter, der mittels abstrakter Worthülsen wie ›Kapitalismus‹, ›Imperialismus‹, ›Neoliberalismus‹, ›alte weiße Männer‹ etc. fluktuierenden Täter-Imago, erheitert Broder und lässt seine professionelle Zornader schwellen. Einer wie er wird nicht müde, unter den Wortkaskaden des Opferdiskurses und der durch ihn hofierten Unfähigkeit zu trauern die wirklichen Opfer hervorzuklauben und auf die Delle zu deuten, die der Kritizismus der Wirklichkeit zufügt. Kritizismus ist der Konformismus derer, die von der Kritik leben. Wovon lebt Broder? Von der Kritik des Kritizismus? So kann man es sehen, so sieht es Broder, falls er zu sehen geruht. Wie kann einer immer neu kritisieren, was sich im Kern immer gleicht? Broder, dem auf Dauer gestellten Kulturlärm dauerhaft attachiert, kann nicht anders, als die eigene Kritik auf Dauer zu stellen. Das ist das Broder-Ei, wie die Republik es kennt. Kein Wunder, dass ihre Grenzen in ihm, gegen den enthemmten Konformismus, einen ihrer eifrigsten Verteidiger finden. Sie ist sein Lebenselixier, sein Jungbrunnen, sein Haus ohne Hut, sein Eierlieferant: Knirscht, aber steht.
BRÜCKENKLAU
Offiziell besitzt Berlin 961 Brücken, leidenschaftliche Zähler kommen, laut Tagesspiegel, auf 1600 bis 2100, wer weiß, welche Zahlen Nachtzähler vorzeigen könnten, ließe man sie zu. An der Zulassung scheitern viele.
Diese Diskrepanzen…, denkt Adler,
das muss einen Grund haben, einen einzigen am besten, aber wir kennen ihn nicht und deshalb bleibt er geheim. Ein geheimer Grund ist so gut wie viele Gründe, er ersetzt sie im Handumdrehen, man muss nur drauf kommen. Der geheime Grund, denkt Adler, wäre ich auf allen Brücken präsent, ich hätte ihn schnell entdeckt, so muss ich mich auf meine alten Tage mit Mutmaßungen herumquälen. Was z.B. unterscheidet eine offizielle Brücke von einer inoffiziellen? Nichts, denn das Amt lässt keine inoffiziellen zu; sobald es von einer erführe, wäre der Abbruch beschlossene Sache und die Brücke registriert. Trotzdem scheint es immer wieder zu passieren, dass eine Brücke nicht registriert wurde, vielleicht eine Nachtgeburt, die sich tagsüber versteckt, in hohen Gräsern womöglich, oder im Schilfgürtel. Vielleicht sollten einige der leidenschaftlichen Zähler besser ›Brückenseher‹ genannt werden: sie sehen Brücken, wo für andere nur Wasser strömt, und das keineswegs metaphorisch – es strömt ja, es stromert, es bewegt sich doch und wer hineinspringt, kommt als ein anderer heraus, mit gebrochenem Genick bisweilen oder als halbwegs verfaulte Wasserleiche, jedenfalls verwandelt. Auch er ist hinübergegangen, er hat seine Brücke gefunden, im Mondschein meinetwegen, aber es geht auch bei Nieselwetter. Solche Menschen gibt es zuhauf. Natürlich werden sie registriert, nur die von ihnen benützte Brücke bleibt dem Amt ein Geheimnis. Ist es immer dieselbe? Vermutlich nicht, denkt Adler, das wäre unnatürlich. –
Berlin, Stadt der Brückenbauer. Bekäme jeder, der diesen Ehrentitel zu Recht trägt, seine eigene Brücke, die Spree wäre Publikumsblicken auf ewig entzogen. Bloß das Bootswesen hätte Konjunktur. Nein, denkt Adler, die wirklichen Brücken sind unsichtbar, sie verbinden Menschen, die einander sonst nichts zu sagen hätten, es sei denn Beleidigungen. Jetzt sind sie verbunden und reden miteinander all das dumme Zeug, das sonst ins Wasser gefallen wäre, es holt ja keiner heraus. Man sollte auch jene Über-Brücken nicht vergessen, die nur gebaut werden, damit die Zeit rascher vergeht, vermutlich, weil sie sich unter ihnen durchzwängen muss, anschließend erholt sie sich schnell und beginnt zu trödeln. Über-Brücken fallen unter die Rubrik ›nicht zählbar‹, damit käme man den Diskrepanzen schon näher. Nimmt man den seit Jahren grassierenden Brückenklau in die Statistik auf, dann rundet sich das Bild: selten zerfällt eine geklaute Brücke im Gelände, die meisten verrichten ihren Dienst wie gewohnt, nur versetzt. Kein Wunder, dass sie doppelt und dreifach in der Statistik erscheinen. Das LKA sollte, denkt Adler, entschlossen nach der Brückenkönigin fahnden: zigfach entführt und hundertfach wieder aufgebaut – das ist Berlin.
BRÜLLABEND

Anspielungen gibt es, bei denen das Publikum brüllt, ohne dass es verstünde, worum es geht. Warum? Weil das Brüllen in seiner Natur liegt? In seiner Theaternatur? Das Publikum besitzt keine Theaternatur, es fordert sie nur – von anderen, aber natürlich auch von sich selbst, wozu säße es sonst an diesem Ort, wo es bekanntermaßen laut zugeht? Natürlich nicht im Zuschauerraum, hier geht es still zu und unbeweglich, schließlich sitzen hier die Verhältnisse ein, die da vorne am Pranger stehen, doch keine Regel ohne Ausnahme. Warum brüllt das Publikum? Weil es sich vor Eifer nicht anders zu helfen weiß? Nein. Es muss nur einmal heraus. Alles muss einmal heraus. All das Ungesagte, einmal muss es gesagt sein, damit es gesagt ist, und wenn es gesagt ist, dann hat es doch einer gesagt, oder? Applaus! Genauso gut muss heraus, was alle dauernd sagen, wenn man genau hinhört, das Mitgeplapperte, das Geplappere überhaupt, das alle kenntlich macht. Selbstgenuss im Ekel, Sie wissen schon. Kommt so ein Ekel auf die Bühne …
we love it. Schon brüllt der Laden. Manchmal geht nur ein Stöhnen durch ihn hindurch, das ist dann grausiger als alles, was die Welt draußen zur Kenntnis nimmt, das geschieht nur hier.
BUCHDENKER
Wie sie lauthals das Ende der Gutenberg-Galaxis verkündeten und anschließend in die Hülle des Buches zurückkrochen … sie müssen ihre Gedanken
entwickeln, den Faden ziehen, von Seite zu Seite, von Kapitel zu Kapitel, um anschließend wieder von vorn anzufangen. Sieht so Denken aus? Gewiss nicht. Gewiss gibt das Netz andere Möglichkeiten an die Hand, ihm nahe zu sein. Warum werden sie nicht ergriffen? Vielleicht ist es mit dem Denken der notorischen Buchdenker nicht so weit her, wie sie behaupten? Vielleicht ziehen sie auch nur das Prestige dem Gedanken vor, die Schnecke Prestige, die dem Stand der Dinge stets hinterherkriecht, aber in ihrer Schleimspur alle Bedenken ertränkt.
Respice finem! Bedenke das Ende! Im einen wie im anderen Sinn.
BUCHFRONT
An der Buchfront wird munter gekämpft, es geht dort zu wie auf dem Basar, wenn die Preise verrutscht sind und dem Handel der Untergang droht. Das Buch schweigt zu diesen Kämpfen, es hat, wie zu allem, eine Meinung, und schwitzt sie aus, denn es geht um die Existenz. Was andere Front nennen, gerät ihm zur Fron, seit es die Welt nicht mehr abbildet, sondern verarmt. Die Welt ist mehr als ein paar Blätter Papier zwischen zwei Deckeln, das hat man immer gewusst, aber sein Wissen brav zwischen besagte zwei Deckel gepackt. Damit ist es vorbei. Was sich noch immer zwischen den Blättern tummelt, ist Betrug: man sieht sich von Marktschreiern hineingenötigt und strebt enttäuscht dem Ausgang entgegen, müde des Aufschubs, der sich im Wenden der Seiten kundtut, und entsetzt taumelnd angesichts des Versuchs, dem kindlich gebliebenen Gemüt das alte Quidproquo anzudienen. Schmeckt denn keiner die Asche? Nein, an der Buchfront wird nicht mehr gekämpft, man hat dort andere Sorgen.
BUCHSTABENLABYRINTH
Dass man aus Buchstaben Labyrinthe bilden kann, wissen alle, das
ist nichts Besonderes. Dass man Buchstaben aus Labyrinthen
verfertigt, wissen die wenigsten. Wie viele Labyrinthe gehen in
einen Buchstaben? Viele, sehr viele, die meisten vielleicht. Nicht
nur, dass man sie unter Buchstaben bringen kann – das geht
immer, aber es bleibt ein bisschen beliebig –, sondern auch, dass
die Grade ihrer Verschlingung nie zu hoch ausfallen können, um
nicht irgendeiner Figur zuzuneigen, macht sie anfällig:
irgendeine Figur ist bereits genug, um eine der robusten
Typen hineinzulesen, welche die Welt regieren. Da geht es den
Labyrinthen nicht anders als den Zeichen ohne Sinn, die sich eine
sinnlose Deutung gefallen lassen müssen. Apropos: Sind Labyrinthe
sinnlos? Doch nur, insoweit sie Buchstaben ähneln. Mit ihrer Hilfe
lässt sich jeder Sinn erzeugen: durch Legen und Deuten. Nur die
Freizeitlabyrinthe, an denen ein Schild hängt, das darauf hinweist,
wie bedeutsam sie sind, bleiben stumm. Das versteht sich von
selbst, der Buchstabe L, an dem ein Schild hinge mit der
Aufschrift:
Man kann damit lesen, böte einen ähnlich
traurigen Anblick. Labyrinthe gewinnen ihren Sinn wie die Kopula
für den, der nicht stehen bleibt, sondern weiter geht. Wer sie
anstarrt, kann lange warten: da rührt sich nichts. Wer hineingeht,
um eine Belohnung zu erhalten, dem winkt der Hirntod.
BUCHSTABENWISSEN
Wir wissen wenig darüber, was Buchstaben wissen, und dennoch
vertrauen wir ihnen unser Liebstes an. So sind die Menschen:
leichtfertig bis zum Exzess. Vor Jahren las ich eine Abhandlung mit
dem Titel
Können Buchstaben denken? Sie war, wie Sie sich
vorstellen können, das Papier nicht wert, auf das sie gedruckt war.
Können Sklaven denken? Stumm schleppen sie die Buchstabenfracht
über den Appenin und weiter bis nach Zeppelinheim, dort können sie
verschnaufen, aber äußern dürfen sie sich nicht. Zur Qual
verurteilt, dass sich andere bei ihrem Anblick etwas denken, leiden
sie erstaunlich wenig. Ihr Anblick, ließe sich raten, straft das
Denken Hohn. Wäre es nicht so selbstbezüglich, flösse etwas davon
in es ein. Nein, mit dem Wissen der Buchstaben ist es nicht weit
her, es lebt von der Hand in den Mund und freut sich, wenn der
Fernseher geht. Dann haben sie frei. Schriftzeichen nennt man sie,
das ist ungerecht, es unterschlägt ihren Eigenanteil an dem, was
recht ist. An ihren Zeichen erkennt man die Schrift, an seinen
Buchstaben hat man das Wort. Man kann es hochheben und wegtragen,
man kann es auf den Markt tragen und verbrennen oder es tief
vergraben, nur nicht in der Brust, die sich physiologisch nicht
dafür eignet. Zeichen lassen sich übermitteln, ein Buchstabe
erscheint, wenn man ihn am wenigsten erwartet. Das erscheint wenig
plausibel, doch es ist die Wahrheit, mit der keiner rechnet.
BUDGETSCHLACHT

Die wahren Schlachten des asymmetrischen Krieges sind Budget-Schlachten. Sobald Berichte über bewaffnete Konflikte in den gängigen Einflusszonen hochgefahren, sobald Gefechte, Niederlagen oder Massaker an Zivilisten in den ›Fokus‹ der allgemeinen Aufmerksamkeit gerückt werden, schreiten die Budget-Planer zur Tat: ein Fenster der Bearbeitbarkeit hat sich geöffnet, für eine kleine Weile lockert sich der Griff, der den Säckel des Finanzministers fest verschlossen hält ... gerade so lange, wie die Wogen einer diffus gefühlten Bedrohung durch die Bevölkerung laufen. Rasch und entschlossen müssen die Akteure zu Werke gehen, denn eine belanglose Nachricht lässt die Unruhe rasch wieder verebben. Bürger ist, wer morgens aufsteht und ganz vergessen hat, dass er sich gestern abend noch in tödlicher Gefahr befand. Das Leben geht immer weiter, das Büro ruft und die Kinder müssen zur Schule gebracht werden. Am Budget erweist sich die Wahrheit des Satzes, dass Krieg in bestimmter Hinsicht vor allem aus Warteschleifen besteht. Wer dem anderen an den Beutel will, muss nicht bloß auf eine passende Gelegenheit lauern, er sollte auch seine Zuarbeiter kennen und sich mit ihnen auf Zuruf verstehen. In der gekonnten Budgetschlacht wirken alle Faktoren, die sich sonst gegenseitig blockieren, in eine Richtung – wer auch jetzt nicht mitzieht, wird zum Mitwirkenden, ja zum Mittäter: das Ärgernis, das er den anderen gibt, fungiert als Katalysator, es regelt die Gemüter ein. Selbst ein Nichtsnutz, zum Beispiel ein Politik-Professor, findet dabei seine Aufgabe, indem er von postheroischen Gesellschaften fabelt, die sich mental irgendwie aufgegeben haben. Nichts peitscht die Wehrbereitschaft junger Männer mehr als dieser leise aus der Ampulle tröpfelnde Hohn, nur eben zu seiner Zeit, denn immer ist nimmer. Wo Männer sich wehrhaft fühlen, steigen die Ausgaben, übrigens auch die Unfallzahlen, also die Ausgaben: der Zyklus stimmt, das Leben hat alle wieder.
BÜCHERVERBRENNUNG

Da sich die Praxis der Bücherverbrennung nicht eindämmen lässt, wären alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen darauf zu verpflichten, eines jeden Autors, dessen Bücher auf seinem Territorium dieses Schicksal erleiden oder in der Vergangenheit erlitten haben, binnen Jahresfrist an einem zentralen öffentlichen Ort unter Angabe der einschlägigen Titel in würdiger und fortdauernder Form zu gedenken. Auf diese Weise wäre sichergestellt, dass sich die Verfolgung des Wortes nicht lohnt, es sei denn... Aber der an dieser Stelle keimende Gedanke ist trivial: ein Schriftsteller, der mit Verfolgung rechnet, kalkuliert ihre Wirkungen ein, einschließlich der erwünschten Umkehr der Verhältnisse. Er errichtet sich sein eigenes Denkmal und stünde gerührt vor dem staatlichen Monument – erstaunt darüber, das Herz aus Stein gerührt zu haben. Vielleicht wäre dies der Moment regierungsamtlicher Rührung und beide lägen sich in den Armen, bis die aufkommende Dämmerung und die allgemeinen Schalterstunden sie trennten.
BÜCHSENSPANNER
Vom Spanner zum Büchsenspanner – alle paar Jahre erfindet die journalistische Meute sich neu und vergisst, was zu erweisen davor als eins ihrer höheren Ziele galt: die Korruptheit des Krieges, die heuchlerische Bemühung von Recht und Völkerrecht auf Seiten derer, die da am Drücker sind. Das Vergessen kommt und geht anfallsweise, so bleibt immer zu tun und zu schauen, vom Durchreichen einmal abgesehen.
BÜNDNISFALLE

Ein Bündnis ist nichts für Leisetreter. Nur ein Bündnis, in dem es rappelt und knallt, ist etwas wert. Ansonsten fliegt es auseinander, sobald der Bündnisfall eintritt, und der Fall wird zur Falle. In der unendlichen Privatheit ihres Urteils lesen die Menschen ›Bündnis‹ als ›Beziehung‹ und fürchten sich vor dem, was sie selbst zielstrebig ansteuern, sobald sich Konflikte zeigen: dem Schlussmachen. Vor dem Schlussmachen steht das Alleinsein. Wer in der Beziehung allein ist, fürchtet sich davor, das leuchtet ein und es ist der Irrtum. Wer sich im Bündnis allein wähnt, der begeht die ernstesten Fehler. Ein Bündnis ist etwas für den Ernstfall. Der Ernstfall... Schon vergessen, worin er besteht? Der Fall, an dem nichts zu deuteln ist? Vorausgesetzt also, er tritt ein und der, den es trifft, vertraut darauf, dass alle sich ›ihrer Verpflichtung bewusst‹ sind, dann zählen nicht die Zeiten des gefahrlosen Miteinander. Dann zählt, wer zählt. Wie kann einer zählen, dessen Wort nie gezählt hat? Jedes größere Bündnis besitzt seine Mitmacher. Nicht der Eifer macht den Verbündeten, sondern der Verbund, man kann auch sagen: das Einvernehmen, das seine Differenzen austrägt, solange es Zeit ist. Immer gibt es Verbündete ersten, zweiten und dritten Grades und immer sind es die Eifrigen, die den ersten Grad verfehlen.
BURQUISE
Kaum erhebt sich irgendwo ein Geschrei über ein archaisches Kleidungsstück, das den Mindestanforderungen an die Beweglichkeit des menschlichen Körpers widerspricht und seinen Trägerinnen buchstäblich die Welt-Sicht nimmt – um von elementaren physischen Bedürfnissen wie dem nach Licht und Sonne, vor allem in nördlichen Breiten, ganz abzusehen –, tritt eine Modetheoretikerin ans Mikrophon und belebt die Debatte mit dem Hinweis auf das weibliche Ur-Recht, sich Männerblicken zu entziehen und dadurch dem über sie verhängten Dasein als Sexsklavinnen des anderen Geschlechts wenigstens ansatzweise Grenzen zu setzen. Im übrigen regle die Mode das diskrete Spiel aus Zeigen und Verhüllen viel wirkungsvoller als jedes Gesetz. Man werde sich des neuen Accessoires schon annehmen –
Raffinesse toujours, please! Wer so sehr von der Asymmetrie des Blicks zwischen den Geschlechtern überzeugt ist – der Mann blickt, die Frau wird erblickt –, der sollte seine Aufmerksamkeit doch auch für einen Moment auf den Umstand lenken, dass eine Person, die glaubt, sich den Blicken anderer durch Verkleidung zu entziehen, nicht weniger, sondern mehr Aufmerksamkeit erregt – und damit mehr Blicke, mehr Empfindungen, mehr
Fragen wie zum Beispiel die nach dem Männerbild der betreffenden Dame oder nach der Art von Männergesellschaft, in der sie sich zu bewegen wünscht und vielleicht wirklich bewegt. Da spritzt der Saft, wo nur ein Näschen oder Härchen sich zeigt, und es wächst der Wunsch, die Maskerade vom Leib zu reißen, an welchen Ecken und in welchen Häusern auch immer, ins Ungeheure.
Wenn Mode darauf zielt – pansexuelle Eindeutigkeit anstelle des diskreten Spiels der Blicke, der Begehrlichkeiten und der Freude am schönen Dasein –, dann ist sie bereits Komplizin der Überwältigung und Unterwerfung, der Vergewaltigung durch die Männergesellschaft und ihre Sendboten, gegen die sie angeblich aufbegehrt, Teil des großen Sado-Maso-Spiels, das in minder gesitteten Kreisen selten als Spiel ausgetragen wird und oft genug in Mord und Totschlag endet. Die Parodie der Sittsamkeit ist die Orgie, die Parodie der Selbstbestimmung die Unterwerfung aus Kalkül. Die Parodie der Mode trägt viele Namen, ihr Klarname heißt: Demütigung. Es existieren Lehrstühle in diesem Land, auf denen frau sie lehrt.
DÄMONENSCHEU

Die Dämonenscheu wächst, unter dem Vorwand der Ratio, ins
Ungeheure. Vernünftig sein heißt, den Dämonen nicht Raum geben –
das ist eine Definition und nicht die schlechteste. Man versteht
plötzlich die zarten Gemüter, die eine Malerei als düster
empfinden, in der die Dämonen ... nein nein, nicht wüten, vielmehr
herumspazieren, als handle es sich um Lustgärten, die eigens für
sie angelegt wurden. Eine lichte Malerei – was ist das? Ein
Versäumnis. »Schweig, Kind, so etwas sagt man nicht.« Aber was sagt
man dann? Am besten gar nichts. Man verlagert die Rede, man redet
von etwas anderem. Bei Platon etwa oder bei Goethe ist das
Dämonische eine unpersönliche Instanz. Sich vor ihr verneigen
heißt, den dämonischen Fratzen, den halb- und
dreiviertelpersönlichen Angstmachern die glatte Stirn bieten, die
Fassade der Arglosigkeit. Was hinter ihr vorgeht, geht niemanden
etwas an. Oder doch? Sollte nicht eine verschwiegene Kommunikation,
ein kleiner Grenzverkehr, über den man besser schweigt, die
Drahtverhaue und Selbstschussanlagen einer rat- und rastlos der
unbekannten Vernunft opfernden Scheu überwinden? Man kann nicht
über Engel reden, ohne über Dämonen zu schweigen. Das ist der
Punkt.
DÄMONENSCHNACK

Ichschwäche ist eine schöne Vokabel, die viel Unsinn gebiert. Zur
Ichschwäche gehört der Dämonenglaube. Er personalisiert, wo das
starke Ich glaubt überwunden zu haben oder wo es überhaupt
überwunden glaubt. Seit die Philosophie als eine letzte Form des
Dämonenglaubens aus dem in schöner Idiotie ›gesellschaftliches
Bewusstsein‹ genannten Vorurteil getilgt wurde, grassiert der
theorieentkleidete Dämon und erschreckt seine Kundschaft diesseits
und jenseits des Lethestroms, in dem das schöne Überhaupt versank.
Das ist verständlich, denn überall dort, wo sich Menschen einer
großen Leistung verschreiben – den Aufgaben der Kultur, der
Gesellschaft, speziell der Zukunftsvorsorge –, überall dort also,
wo Unpersönlichkeit gefordert wird, wo sie bis zum Äußersten geht,
dort geht sie fort bis zum – nun, bis zum Abwinken, das weder Sieg
noch Niederlage eines Konzepts bedeutet, sondern seine Erschöpfung.
Es gibt Momente, in denen das ›Ich denke‹ nicht das Ich
stabilisiert, sondern die Gegenseite. Dann personalisiert sich die
unter dem Diktat des vernünftigen Ich zur Impersonalität
verurteilte Affektseite und erfreut oder ängstigt das offene Ich
mit ihren Heimsuchungen. Das Passionswesen trägt seinen Namen mit
vollem Recht. Der Dämonen sind viele. Das erschreckt wenig, wenn
auch die Vernunft sich diversifiziert. Im Schatten des ›Alles geht‹
schließlich tritt der Dämon in voller Kraft hervor: stark, einig,
all-einig, bereit, zu züchtigen und widerrufen zu lassen, was sich
an verzweifelter Freiheit auftut, bringt er die Frommen auf den
Plan, die seine Ankunft lange erwartet haben. Auch der Antichrist
ist eine der Kultur inhärente Figur. Die Reflexion selbst treibt
ihn hervor, wenn sie, wie einst der Hexenwahn, die Massen ergreift.
DAMENWAHL
Im Jahre des Herrn 2015 stürzte eine vom Parlament des Volkes gewählte
Kanzlerin, unterstützt vom willfährigsten aller Präsidenten, ihr Land und den
erreichbaren Kontinent in politische Agonie: Warum? Weil sie es leid war, bloß
nach Recht und Gesetz zu regieren und stattdessen ihrem Machtinstinkt folgte?
Weil es sie überkam wie ein exotischer Einfall, der doch auch einmal ausgelebt
werden wollte? Weil es sie fröstelte auf den Höhen der Macht und sie einfach nur
gut zu sein wünschte? Wer wird schon so weit denken! Das wahre Wunder,
vergleichbar dem der Resurrektion oder den Stigmata jener Resl von Konnersreuth,
deren Karfreitagsblutungen einst halb Europa verstörten, bestand aber in der
Folgsamkeit, mit der ein, relativ gesprochen, großes Land sich kurzerhand selbst
zerlegte und der Herrin an den Urnen dennoch die Treue hielt. So durfte sie ganz
allein drei altgediente Parteien verschleißen, deren jede, gemessen an ihrer
Herkunft und ihren historisch gewachsenen Ansprüchen, die Entfernung der
Amtsinhaberin hätte betreiben müssen. Stattdessen vermochten ihre führenden
Köpfe nicht einmal versuchsweise einen solchen Gedanken zuzulassen. Gegen jeden
Staatsrechtslehrer, der ihr Verfassungsbruch bescheinigte, standen zwanzig auf,
die dem verehrten Kollegen vorhielten, unter die Spökenkieker oder gleich unter
die Feinde der Demokratie, genauer, des demokratischen Aufbaus gegangen zu sein
und sich an ihrem Berufsstand zu vergehen. Die Medien applaudierten und
apportierten und beeilten sich, jede an höherer Stelle unerwünschte Meinung
beiseite zu bringen, Tatsachen oder, da die Welt der Information dicht ist,
Informationen inbegriffen, während immer mehr Leute dahinterkamen, welches Spiel
hier gespielt wurde, und ihr Leib-und-Magenblatt kurzerhand abbestellten. Man
nennt das Erosion. Sie blieb auch nicht auf Zeitungen beschränkt, sondern griff
auf die ältesten Stützen des Systems, die Kirchen über, deren Vorstände sich
geschmeichelt fühlten, wieder an gehobener Stelle dienen zu dürfen – wie in
alten Zeiten, wie in alten Zeiten. »Wie kann Bedeutungsverlust sein, was mein
Bedeutungsbewusstsein steigert?« So wird sich der eine oder andere Kirchenfürst
gedacht haben, entzückt, auch einmal selbst zur Kreuzabnahme schreiten zu
dürfen. »Wohin mit dem Leichnam?« So fragen viele seither, nicht Christen
allein. Es begab sich aber, dass einer großen Zahl von Ungläubigen der Glaube
plötzlich kostbarer erschien als den notorisch Gläubigen, denen bekanntlich
nichts abgeht, solange sonntags alles seine Ordnung hat – wochentags sorgt
ohnehin jeder für sich selbst. Die Kanzlerin aber, schwebend auf Wolke Sieben,
versunken in den Anblick der heimlich von ihren Helfern mit Stoff versorgten
Halleluja-Chöre, rief ihre Paladine zusammen, zählte die Häupter der Amtsmüden,
doch unverändert Karrieresüchtigen, redete jedem tüchtig ins Gewissen und wies
vorsorglich darauf hin, dass ihre weltgeschichtliche Sendung noch nicht
vollendet sei: »Denn schließlich sind wir jetzt da.« Und so geschah es dann auch.
DAMPFPLAUDERER

Wir entfernen uns schnell von den Katarakten und Stromschnellen
vergangener Debatten - allzu schnell, wie manche meinen, doch es
hat auch etwas Tröstliches. Wer eben noch, eher träumerisch aus dem
Nähkästchen einer unausgegorenen Zukunft plaudernd, den Grimm der
Auguren heraufbeschwor, tritt einem heute, feist geworden, als
etwas entgegen, das man in weniger geschlechtergerechten Zeiten
einen Dampfplauderer nannte und nicht unbedingt mit philosophischen
Qualitäten verband. ›Eher weniger‹ – das Motto könnte man über
viele Erregungen setzen, in denen sich Gesellschaft intellektuell
wird. Zuverlässig informiert die Wortverbindung ›intellektuelle
Erregung‹ darüber, wie Denken in der Gesellschaft ankommt, falls
ihm das jemals gelingt: als eine Art Schüttelfrost, der die Ärzte
aufspringen und die altbewährten Mittelchen verordnen lässt,
während sie bereits wieder hinter die Kulisse eilen, wo der nächste
Privatpatient auf sie wartet. Diese Ärzte... Man könnte den Kopf
über sie schütteln und Nachforschungen anstellen, wie und wo sie
sich ihre Meriten erwarben, aber das wäre unfein und das Meiste ist
auch bekannt. Doch scheint es Kollegen zu geben, die einst weniger
zum Zuge kamen und ihren Groll mit ins Grab nahmen; nur die
nächsten Angehörigen wissen davon und verteilen ihre Kenntnis in
feinen Dosen.
DANEBEN
Ein Holzkopf, der einen großen Maler bezichtigt, nicht malen zu
können, sieht vielleicht mehr als der Maler, denn er sieht das
Daneben. Das Daneben als die Folie aller Malerei, vielleicht aller
Kunst, ist das, was sie in der Zeit hält. Das Daneben lässt sich
nicht wegdenken, ohne dass man die Kunst wegdächte. Es bleibt aber
daneben, es bleibt eine falsche Sicht, erträglich nur dann, wenn es
wechselt. Kriegsheimkehrer, dem immer gleichen Daneben verhaftet,
haben der Kunst mehr geschadet als ihre Verächter. Man muss die
Kunst ein wenig verachten, um sie zu verstehen, und man muss sie
verstehen, um sie zu sehen. Nun, man muss sie nicht sehen,
vielleicht will sie nicht wirklich gesehen werden, jedenfalls
nicht, solange es dem Geschäft schadet. Aber ein wenig sollte man
schon. Wozu gäbe es sie sonst? Sagt die Verachtung.
DARÜBERREDEN
Das Verstummen vor großen Kunstwerken ist barbarisch und
reell, selbst das elaborierteste Darüberreden quatscht sie
herunter, nichts anderes ist ihm inhärent. Aber vielleicht liegt
auch darin eine
Kunst,
entfernt verwandt der Lebenskunst, die nicht teilt, weil sie nichts
besitzt außer dem Reichtum, der aus den Poren quillt und an der
Luft verdunstet. Die Kunst des Verstummens, im
Leben so glorreich wie vernichtend im
Kunsthandwerk, tritt spontan vor die großen Kunstwerke hin, sie
gesellt sich zu ihnen von gleich zu gleich, es wäre lächerlich, zu
behaupten, sie werde geübt. Das Herunterquatschen dagegen ist reine
Übung, zu nichts nütze, außer am Folgetag fortgesetzt zu werden.
Wie jemand morgens aufsteht, duscht, sich ankleidet, frühstückt und
das Haus verlässt, um abends ermattet in die Kissen zu kriechen, so
erhebt sich das Herunterquatschen vor den Arbeiten der Künstler, um
niederzusinken: Brückenwerke für einen Tag, über die ein
Ochsengespann zieht, einsam, einem fernen Horizont zu. »Lass uns
darüber reden«, sagt der Agent, er meint das Geld, das die Sache
einbringt, aber sein Angebot bringt den Horizont zum Leuchten. Ein
Sonnenuntergang mehr, da ist nichts zu machen. Jedes Kunstwerk ist
das letzte. Was nach ihm kommt, liegt im Ungewissen. Man hat
noch nichts gesehen, man will es wissen, hat aber nichts in der
Hand. Ein Prospekt wäre viel, manche gäben den Anblick dafür hin.
DASEIN

Dasein kann man nicht lehren und tut es doch, alle Welt tut es, falls nicht, tut es die Nacht. In der Philosophie finden sich Wörter dafür, sie ›leuchten ein‹ oder auch nicht, geht man in die Breite, dann versinken sie im Gezänk. Vielleicht wird Dasein kenntlich durch diesen Gürtel aus Gezänk, der es umschließt. So weilt man in Gedanken lieber bei denen, die nicht mehr da sind, und was ihnen an Fürchterlichem widerfahren sein mag, es kommt nicht an gegen die Nähe, die man empfindet, wenn man sie liest oder ›ihrer gedenkt‹: seltsam ungelenker Ausdruck für etwas, das der Gelenke fast gar nicht bedarf. Dass gerade hier von interessierter Seite heftig gelenkt wird, nimmt nicht wunder, schließlich ist jede Art von Intimität, zumindest geistiger, ein Verbrechen gegen die Gesellschaft und muss erodiert werden. Dasein lernt man von denen, die nicht mehr da sind. Was war, leuchtet aus der Tiefe der Zeit, dass Zeit tief ist, gehört schon zum Dasein. Alles Herkommen ist nur ein Herunterkommen, schließlich gehört den Heruntergekommenen das, was sie die Gegenwart nennen. Schenk sie ihnen! Gegen- oder widerwärtig zu sein ist eine Hauptaufgabe, die immer gelöst werden muss. Auch dich nimmt sie nicht aus. Sie nimmt dich mit, deine Organe zeugen davon. Als Zeuge bist du rasch ein Versager, es fällt dir schwer, dich auf die justitiablen Aspekte zu konzentrieren, was geschieht, verwandelt sich, während es dich durchläuft. Kein Zeuge zu sein wäre die Aufgabe, schwer zu lösen, beinahe unmöglich und fast schon unsittlich, weil ohne Zeugen bloß das Verbrechen negiert.
DAUMESDICK
Verstehe einer die Welt. Was gibt es da zu verstehen? Gib der Welt einen Sinn! Leichter gesagt als getan. »Gib dem Leben einen Sinn!« – so flüstert die Werbebranche, die das Leben für einen Kleiderhaken und Sinn für eine Parfüm-Marke ausgibt, in der alle anderen Platz finden. Es ist leichter, dem Leben einen Sinn, als der Welt einen Kinnhaken zu verpassen. Mit dem Sinn der Welt hält sich keiner auf. Was die Sprache ›Weltsinn‹ nennt, ist der Verzicht darauf, ihr einen zu suchen oder zu
verpassen, wie es so sinnreich heißt. Der verpasste Weltsinn steht in eigensinnigem Widerspruch zur Welt der Verpasser, er passt nicht in sie hinein, er steht abseits. Man könnte ihn umrunden, bloß um zu sehen, was hinter ihm steckt, aber dazu bedürfte es der Umkehr, die den wenigsten mundet. Die meisten erhaschen einen ersten und letzten Blick auf ihn, wenn er im Rückspiegel verschwindet. Und das ist viel. Ein Verpasser kommt selten allein, es ist das Rudel, das diese Dinge veranlasst, der Einzelne hat dabei wenig zu melden. Aber er darf mit sich ringen, das ist ein feiner Zug und verhindert, dass sich das Rudel vor dem Einlauf zerlegt.
DAVONLAUFEN

Wenn Sie immer davonlaufen wollen, wird es bald eng, das wissen
Sie, aber es hält Sie nicht auf. Also? Wo gehen wir hin? Treiben
Sie das Spiel, wie Sie wollen, aber nicht bis zum Äußersten. Das
Äußerste, da haben Sie recht, ist ein großes Ziel, wert aller
Anstrengung, wert auch, dass man alles andere wegwirft, dass man
sich wegwirft... sehen Sie, da beginnt es. Sie können sich
wegwerfen, das ist wahr. Sie können sich auch aufheben, das ebenso
wahr und überdies falsch, denn, wie Sie wissen, nichts ist auf
Dauer aufgehoben. Auf die Dauer ist jede Aufhebung passé. Sie haben
also die Wahl, sich gleich wegzuwerfen oder Stückchen für
Stückchen, peu à peu. Das hat Konsequenzen, die nicht jeder gleich
überschaut. Und wenn schon. Zum Beispiel könnte es vorkommen, dass
Sie hier und da ein größeres Stück von sich unterwegs verlieren,
einfach so, weil Sie schon daran gewöhnt sind, dass alles in
Auflösung – wie sagt man? – begriffen ist. Sie wollen auch kein
Aufsehen, das ganz sicher nicht, daher schauen Sie sich gar nicht
erst um. So verliert man den Überblick, irgendwann weiß man nicht
mehr, was an einem dran ist und was schon fort, so gerät man ins
Feuer der Zweifel. Oder Sie sind plötzlich in Geberlaune, das soll
vorkommen, im Grunde ehrt es Sie, und Sie spenden mit Freuden,
wovon Sie nichts, nicht das kleinste Fitzelchen hergeben dürften,
wäre es Ihnen ernst mit Ihrer Person oder Identität oder wie Sie
sich sonst nennen, dort, wo die Namen von einem abfallen und
anstelle der Nacktheit die innere Kleiderstange zum Vorschein
kommt, die allem den Halt gibt, den eine Form nun einmal benötigt.
Aber das ist ja... Ja? Was wollten Sie sagen? Nein? Zum
Davonlaufen, nicht wahr? Das wollten Sie sagen, stellen Sie sich
nicht so an, ich seh es an Ihrem Gesicht und an der Art, wie Sie
die Wange verbergen. Davon rede ich doch... Im Davonlaufen steckt
eine Kraft, die dem abgeht, der immer standhält. Irgendwann wird
sie böse, aber das ist eine andere Geschichte. Vielleicht auch
nicht, vielleicht sollte man sich stärker damit befassen. Das
Davonlaufen, als schöne Pflicht betrachtet, halten die Leute gern
für die Kür und klatschen Beifall, was sonst? So kann man sich
täuschen. Erst wenn der Davonläufer um sich schlägt und darauf
beharrt, dass er einer Pflicht obliegt, werden sie ärgerlich und
finden es nach und nach unerhört. Wer den ersten Preis im
Davonlaufen errungen hat, sollte sich daher zufrieden geben und
nach Hause gehen. Nach Hause? Leicht gesagt, da liegt das Problem.
D-DAY
Das Gros der Weltkrieg-II-Soldaten liegt unter der Erde. Die
wenigen, die noch leben, werden so sichtbarer, wenngleich nur auf
kurze Zeit. Sie haben ihr Leben gelebt – die meisten von ihnen in
der gusseisernen Überzeugung, wenn nicht das Rechte, so das
Gebotene getan zu haben – und fanden daran keinen Makel. Sie waren
Überlebende. Die Zartbesaiteten taten sich damit schwerer, sie
gingen zuerst. Kriegsversehrt waren sie alle. Das große Morden steckte
ihnen in den Knochen und begehrte im Sterben noch einmal Ausgang.
Sie haben, mit Berechtigungspapieren und Stempeln an den
vorgeschriebenen Stellen, auf Geheiß der Sieger und aus
unterschiedlichen Antrieben den einen oder anderen Staat errichtet.
Doch das kam
danach. Sie blieben Davongekommene. Daraus entsprangen
ihr Hochmut und ihre Verblendung. ›Nach uns wird kommen / Nichts
Nennenswertes.‹ Brechts Diktum könnte über jedem einzelnen dieser
Leben stehen, auch wenn das eine oder andere wütend Protest erhöbe.
Diese mit Trauer grundierte Herablassung, dieses Glauben-zu-Wissen
war fürchterlich für die folgende Generation, zu spät und zu selten
als Zeichen der Ausweglosigkeit erkannt. Vielleicht werden so
Staaten gegründet, vielleicht entsteht daraus die strukturelle
Gewalt, die sich nicht mehr aus ihnen entfernen lässt.
Glauben-zu-Wissen, das ist als Formel der Konversion schlagender
als jenes ›Schwerter zu Pflugscharen‹, an dem sich die
Ostgewaltigen ritzten. Was daran Glauben, was Wissen sein mag,
wissen die Götter, unscheinbare, in den Tempeln des Nachkriegs
nicht zugelassene Leute, die ihr Zeugnis für sich behalten.
DEBATTENANZÜNDER
Wie entzündet man eine Debatte? Was man braucht, ist ein Thema. Ich
verrate Ihnen, im Grunde ist jedes Thema eine Debatte. Wir beide können
sie führen oder auch nicht, dann führen sie andere. Ohne Debatte kein
Thema, ohne Thema keine Debatte: so einfach ist das. Ganz anders liegt
die Sache, wenn eine Nation debattiert. Die Nation debattiert ohne Wenn
und Aber, so dass sich mit Fug sagen lässt, an dieser Debatte kommt
keiner vorbei, zum Beispiel, wenn er auf Sitz und Stimme im Parlament
spekuliert. Gesetzt, Sie wünschen diese Debatte nicht, Sie wünschen
nicht, dass sie geführt wird, weil Sie finden, sie führt zu nichts und
schadet Ihrer Meinungsführerschaft, dann brauchen Sie eine andere. Und
um die zu bekommen – ganz recht –, brauchen Sie den
Debattenanzünder.
Ist er ein Mensch? Klare Antwort: nein. Sie
können einen Menschen zu allem möglichen gebrauchen, aber nicht als
Debattenanzünder. Ist er ein Gerät, käuflich zu erwerben und auf den
Tisch zu stellen? Man hält ein Thema dran und schon hat man die
gewünschte Debatte? So einfach könnte es sein, doch leider…
Wo
Mensch und Gerät passen müssen, geht
was geradewegs durch? Zeit.
Ganz recht. Die Zeit geht überall durch. Wie soll ich’s erklären … Sie
kennen Wärmetauscher? Sagen wir: ein Debattenanzünder ist ein
Zeittauscher. Wie das geht? Passen Sie auf. Sie sammeln ein paar
Menschen, drücken ihnen ein Plakat in die Hand, auf dem das Wort
»Zukunft« steht, und stellen sie auf einen öffentlichen Platz. Dann
lassen Sie sie von allen Seiten ablichten und warten ab. Nichts
geschieht. Sie mieten sich einen Debattenanzünder und er beruhigt Sie
im Handumdrehen: »Das haben wir gleich.«
Der Debattenanzünder
kommt aus dem Nichts. Das bringt die Sache so mit sich, es brächte auch
nichts, sie anders zu sehen. Wer nichts an der Backe und nichts in der
Hand hat, was hat der am Ärmel? Ganz recht, ein Händchen. Nun, der
Debattenanzünder verfügt, wie alles aus seiner Zunft, über ein
Zauberhändchen. Sehen Sie hin! Plötzlich, einfach so aus dem Nichts,
steht auf dem Plakat: »… und nichts geschieht!«
Da sehen Sie
schon, das beunruhigt die ersten Passanten. Sie finden, hier müsste
etwas geschehen und nichts geschieht. So etwas ärgert den Konsumenten:
Gleich fühlt er sich um den Eintritt geprellt.
Warten Sie ab.
Erkennen Sie das zweite und dritte Plakat gleich neben dem ersten? Was
steht darauf? »Warum geschieht nichts?« »Was muss noch geschehen, damit
etwas geschieht?«
Sie denken, das ist jetzt aber eine akademische
Frage, wo bleibt der Philosoph, der sie beantworten könnte? So geht der
gesunde Mensch in die Irre. Bemerken Sie das vierte Plakat gleich neben
dem dritten? Schauen Sie, da steht es schwarz auf weiß: »Heute
entscheidet sich unsere Zukunft und nichts geschieht!«
Hoppla,
denken Sie, diese Leute kennen bereits ihre Zukunft, das ist unfair,
warum weiß bloß ich nicht, wie’s weitergeht? Aber Sie wissen es doch!
Blind vor Eifer schnappen Sie sich das Plakat, das gerade herumliegt,
halten es hoch und stellen sich damit in Reih und Glied. Gruppennutz
geht vor Eigennutz. Was steht auf Ihrem Plakat? »Zukunft geht alle an!«
Wer sind alle, grübeln Sie und fast verfehlen Sie darüber den
Heimweg. Erst vor dem Fernseher fällt es Ihnen wieder ein. Denn wie der
Moderator zu sagen weiß, Zukunft geht alle an. Jetzt sehen Sie auch das
Plakat, nicht Ihres, es füllt die Rückseite des Studios und lautet:
»Wie wollen wir morgen leben?« Komfortabel, denken Sie sich, wie sonst?
Wie soll ich leben wollen? Will ich denn anders leben? Nicht wirklich,
denken Sie sich. Nichts ist gefährlicher als ein Blankoscheck für
Gefährder, die sich ein zweites Leben verschaffen wollen, indem sie
meines verändern. Weiß der Mensch nicht, wie nichtssagend seine Frage
ist? Er sollte sich schämen. Stattdessen beschämt er Sie mit dem
einfachsten Mittel: mit einer Umfrage. »Soll alles so weitergehen wie
bisher oder finden Sie, es muss sich ändern?« Schon wächst Ihre
Besorgnis und siehe da: 85,6% – in Worten: fünfundachtzigkommasechs
Prozent – der Befragten finden, dass sich etwas ändern muss, und zwar
unverzüglich. »Die Politik ist aufgerufen, dafür zu sorgen…«
Vergessen Sie nie, Ihren Debattenanzünder ordentlich zu bezahlen.
Er könnte sonst aus Versehen Ihr Haus in Brand stecken und das wäre, so
aus dem Nichts, ziemlich lächerlich.
DEFINITIONSMACHT

Solange die Definitionsmacht über die Kunst, sagen wir: bei einigen
New Yorker Galeristen und Museumsleuten liegt, solange liegt sie
gut, so gut wie fest. Was will man mehr? Ich frage: Was will man
mehr? Jedoch sollte sie einst, aus Gründen, die keiner überblickt,
ins Rollen geraten, sollte sie, denn ausgeschlossen ist nichts
hinieden, auf dich zurollen, dann... dann... Ja, was dann? Was denn
dann? Freude, Frohlocken über ein sichtbar gewordenes Stück
Freiheit, ein wenig – wie sagt man? – Eigenwelt? Nein? Was dann?
Betretenes Schweigen? Wegsehen, Wiederhinsehen, Panik? Springst du
dann auf und läufst vor ihr davon, aus lauter ungesicherter Angst,
sie könnte über dich wegrollen? Wohin könnte sie wohl rollen
wollen, wenn sie erst einmal den Weg über dich genommen hat!
Riefest du dann, noch platt vor Entsetzen, hinter ihr her: »Habe
ichs nicht gesagt? Habe ich es nicht vorher... schon gut...
gesagt?« Sei gewarnt: es könnte doch sein, dass sie zurückkommt und
noch einmal den Weg über dich nimmt, immer wieder, bis nur noch ein
wimmerndes Bündel zurückbleibt, unfähig, die zerschlagenen Arme zu
heben und »Halt! Halt!« zu rufen, wie es sich nun einmal gehört. So
ein Urteil wiegt schwer. Arme Schildkröte, kein Panzer hält das
aus. Jedenfalls nicht auf Dauer.
DEKLAMMEROSKOPIE
Die Deklammeroskopie (aus altd. Klammer, altgr. σκοπείν skopeín
›spähen‹) dient der Erforschung des Volkskörpers, genauer der
Entdeckung, Ausforschung und Anprangerung von Elementen, die sich der
Klammer der zum jeweils aktuellen Zeitpunkt angesagten Gemeinschaft
allein oder gemeinschaftlich mit anderen entzogen haben, sich zu
entziehen im Begriff sind oder sich in näherer oder fernerer Zukunft zu
entziehen gedenken. Die
Deklammerung (lat. de-
›ent-‹) wird gemeinhin als Akt der Subversion, soll heißen der
›Entbürgerlichung‹ im weiteren Sinn begriffen. Der Ausdruck umfasst
sowohl die aktive als auch die passive Version desselben Vorgangs – den
unaufhaltsamen Verlust bürgerlicher Ehren- und sonstiger Rechte,
als da (beispielsweise für Literatur- und Filmschaffende) sind:
das allen Menschen gemeinen Sinnes zustehende Recht, vom
Bundespräsidenten empfangen und / oder geehrt zu werden, vom Hausverlag
/ Hausverleih der Kulturschickeria verlegt / verliehen / vermarktet,
von der Kulturschickeria des Landes besprochen / verehrt / belächelt /
mit Sottisen bedacht zu werden, von ahnungslosen Menschen ›draußen im
Lande‹ gekauft, angelesen / angeschaut, resigniert in die Ecke gelegt,
ins Regal geschoben oder über einen Online-Verkäufer aus dem
Gesichtsfeld entfernt, schließlich, sofern es sich um einen Autor /
eine Autorin von Verkaufsrang handeln sollte, seitens gewisser
Buchhandlungen zu sogenannten Lesungen mit abschließendem Signierzwang
geordert zu werden
und dergleichen mehr. Der / die – aktiv oder
passiv – Entbürgerlichte sollte tunlichst den Gedanken vergessen,
irgendwann im Laufe seines / ihres Lebens für etwas in der Art des
Nobelpreises / Goldenen Bären u. dgl. nominiert zu werden. ›Vergiss
es!‹ steht als Motto über dem Leben der Entbürgerlichten oder aus der
bürgerlichen Mitte des Landes Entfernten; manche fügen aus eigenem
Antrieb hinzu: ›So soll es sein.‹
Die zwanziger Jahren des 21. Jahrhunderts sind die Zeit einiger
überflüssiger, aber lesenswerter Dissertationen über das Thema: »Kann
Deklammerung rückgängig gemacht werden?« Sämtliche Autoren verneinen
die Frage, mit Ausnahme eines, dessen Arbeit allerdings nie in
Fachzeitschriften besprochen wurde und daher als nicht ins Bewusstsein
der Menschen gedrungen gilt. Einem aus dem Bewusstsein der Menschen
gestrichenen Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts verdanken wir
eine der frühesten Definitionen der Deklammerung: »
Deklammerung ist
der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten
Unmündigkeit.« Allerdings tobt unter den berufenen Interpreten ein
Kampf um die Frage, ob eine Sentenz, in der die beiden seit der letzten
Rechtschreibreform getrennten Wörter ›selbst‹ und ›verschuldet‹
zusammengeschrieben werden, noch zitationsfähig und nicht vielmehr
unter die
pudenda (lat. ›Schamteile‹) des alten Denkens zu
rechnen sei. Diese Diskussion wird aber bloß akademisch geführt, da die
Kenntnis des Lateinischen bei den unter Hundertjährigen nicht mehr
vorausgesetzt werden kann und daher als versuchte Deklammerung gilt.
Als Pionier der Deklammerung kann übrigens Otto Lilienthal angesehen
werden, der stets klamme Erfinder von Gleitmaschinen, aus denen sich
das moderne Flugzeug entwickeln sollte. Er schaffte es in seinem Leben
zwar nur von Anklam nach Berlin, aber die wenigen Hopser, mit denen er
sich von seiner Umgebung abhob, ließen ihn bereits zu Lebzeiten als
Ausreißer erscheinen und sorgten letztendlich dafür, dass sein Name
während der Dritten Großumbenennungsmaßnahme von sämtlichen
Straßenschildern des Landes wieder verschwand. Das spurlose
Verschwinden geläufiger Straßennamen gilt als bekanntes Symptom der
Deklammerose, einer epidemisch auftretenden Krankheit, die neben
Herz und Lunge vor allem das Gedächtnis der Menschen befällt, und zwar
in der Regel gleichzeitig an unterschiedlichen, bloß durch Medien
miteinander verbundenen Orten.
DELTA
Die intellektuellen Bewegungen in Westdeutschland seit den frühen
siebziger Jahren, also
zu meiner Zeit, wurden von drei, vier,
vielleicht sechs Verlagen
gemacht – mit starrem Blick auf das
Machbare, internationaler Erfahrung, aufeinander eingespielten Autoren
mit dem richtigen Sinn für Bezüge, guten Kontakten und einem eisernen
Willen, links und rechts des Weges nichts Nennenswertes aufkommen zu
lassen. Die Wissenschaften haben es ihnen auf ihre Weise gedankt. Man
könnte die Gelehrten jener Jahre ›Reihengelehrte‹ nennen, wären damit
nicht auch andere, selbstverständlich unstatthafte Assoziationen
verbunden. Der Erfolg hat diese Verlage in das große Delta des
amerikanischen Marktes hinausgetrieben, in dem sie nach und nach
Richtung und Antrieb verloren. Seither ›covern‹ sie die gähnende
Langeweile ihrer europäischen
home markets mit Bestsellern aus
den Schreibstuben elitärer Wissensfabriken, in denen vor allem eines
herrscht: Hochdruck – eine ausgefallene ›Bedingung‹ für das, was
idealiter alle Zeit der Welt bräuchte, um zu werden. Doch man täuscht
sich leicht. Europa ist anders. Nicht viel, aber... anders. Zwar übt es
sich in den Verrenkungen des Juniorpartners, zur Belustigung seiner
asiatischen Partner und unter dem lässigen Hochmutsblick der
amerikanischen Freunde, die der übrigen Welt so weit enteilt sind, aber
allen ist klar, dass dabei nur die Einfältigen und die Schlaumeier auf
ihre Kosten kommen. Eine Lage, in der die Intelligenz eines Landes oder
eines Kontinents in Fragen des Denkens und Wissens nicht mehr zum Zuge
kommt, ist noch gar nicht analysiert worden. Es gibt nur eine Vokabel
dafür und die ist historisch besetzt: Zivilisationsbruch. Fragt sich,
wer eine solche Untersuchung beginnen könnte – die Gelangweilten? Die
Frustrierten? Die um die Mitte des Lebens herum Abgewrackten? Die
panischen Selbstretter mit dem sardonischen Lächeln und dem Willen zur
absoluten Lüge? Die absolute Lüge... nun, das wäre etwas. Darauf ließe
sich vielleicht bauen. Ein Schiff, eine Arche... ein Ararat-Modell für
den heillosen Verstand, dem es an nichts fehlt außer an Stoff. Der
Stoff, das sind die anderen.
DEMOKRATIEBEWEGUNG
Auch Demokratie muss sich bewegen, sonst schläft ihr der Arm ein oder ein wichtigeres Organ. Also bewegt sie sich mit trägem Wellenschlag über die Ozeane. Das stört die Statthalter des Bösen, sie halten ihren Untertanen Augen und Ohren zu und versuchen mit allen Mitteln zu verhindern, dass es schöne Bilder gibt. Die schönen Bilder umkreisen den Erdball und werfen begehrliche Blicke auf die schlimmen Orte. Dort wollen sie landen und sich vermehren.
DENKEN

Das Denken erreicht sein Extrem dort, wo es das Denken des Denkens
denkt oder zu denken vorgibt, denn der Schwindel, der es an dieser
Stelle erfasst, ist nicht hintergehbar. Dabei wäre das Denken des
Denkens leicht aufs Notwendige zu beschränken, hielte man sich nur
an einige Grundregeln, ohne die auch hier nichts geht. Gerade das
scheint unmöglich. »Es gibt keinen Grund«, sagen die Philosophen,
»Sie müssen schon ins Freie herauskommen, wenn wir es Ihnen sagen.«
Darin liegt eine ziemlich unfeine Anspielung auf Platons
Höhlengleichnis, uns stört ebenso sehr das Müssen daran wie das
Herauskommen, es ist schon mancher erschossen worden, der einer
solchen Aufforderung Folge leistete – in Folge, wenn man so will
und den Kalauer nicht fürchtet. Wer will schon in Folge erschossen
werden? Das Denken des Denkens erfordert, für sich genommen,
bereits den ganzen Menschen. Nicht wahr? Wahrlich, ich sage euch:
den Menschen darüber hinaus, der das Denken des Denkens denkt,
haben Dilettanten erfunden, um unseren Geist zu beschäftigen, der
sonst frei hätte. Komm heraus ins Freie, ruft er, seit es so warm
geworden ist, dass im Frühjahr die Birken blühen. Er ist ein
Spötter. Wäre es denkbar, im Schatten des Gedachten zu ruhen wie
Ionas unter dem Blatt? Undenkbar, wo geriete man hin! Der
geschäftige Geist setzt seine Klammer um alles, es ist seine Art,
sich herauszuziehen. Da sitzt er nun, gleichsam mit dem
Klammerbeutel gepudert, und schert sich um nichts. Es sei denn, man
sähe darin ein Zeichen und die letzte gedachte Klammer wäre die
wirkliche.
DENKFABRIK
Der Goldmacher will wissen, wie die anderen zu ihren Reichtümern kommen, da ihnen doch das Geheimnis des Goldmachens fehlt. Er weiß zwar, wie man Gold macht, aber in Wirklichkeit weiß er nichts. So jedenfalls könnte er denken, und um dem abzuhelfen beschließen,
immer daran zu denken, wie es die anderen machen, und sich auf diese Weise ihre Reichtümer nach und nach anzueignen.
Lasset uns eine Denkfabrik gründen, lasset uns die anderen einladen, in ihr zu arbeiten, auf dass wir sehen und lernen, was sie denken und wie sie arbeiten. Dann wird es uns an nichts fehlen. So denkt er und sein Gedanke ist die Tat. Das Ende vom Lied? Nun, er erfährt, wie die anderen denken und arbeiten, und darf sich glücklich schätzen, wenn er, außer Landes gejagt und mit Hohn und Schande bedeckt, sein Süppchen im Angesicht eines reizenden Abendhimmels genießt.
DENKKRAFT
Wer einmal von der stillen Flut der Gedanken
fortgezogen wurde, der weiß, wie wenig Besitzansprüche hier gelten:
das Sich-Lösen und das Sich-Verbinden geschieht fast von allein, und
was man Konzentration nennt, ähnelt mehr dem Gehorsam gegenüber dem
Aufpasser als dem Denken selbst. Dennoch gibt es das konzentrierte
Denken, es kommt als ›Verfassung‹ und hinterlässt Spuren (manche
sagen: Kerben) im Gemüt, die sich lange erhalten, bis unbemerkt die
leere Erinnerung an sie an ihre Stelle tritt und plötzliche Abstürze
produziert – gerade dann, wenn man sich ganz ganz sicher ist… Das
konzentrierte Denken beruht auf verschärfter Auslese, der
Konzentrierte verwirft in Windeseile, was nicht ›zur Sache‹
gehört, und folgt damit irgendeiner Konvention oder einem vorgefassten
›Konzept‹, das er ebenso blitzschnell verwerfen kann, wenn es
sich als irreführend erweist. Er kann aber auch in die Irre gehen,
ja sicher, die Wahrscheinlichkeit sich zu irren ist der Konzentration
inhärent.
Wer sich fragt, was wohl das Denken so anschärfen mag,
gerät rasch an das Gefühl der Bedrohung. Wie physisches Bedrohtsein
die Sinne spannt, so spannt das soziale Bedrohtsein den Intellekt.
›Du bist in eine Falle geraten, denk nach, wie Du Dich befreist!‹
– darin besteht das Grundmuster allen konzentrierten Denkens. Die
klassischen Lagen, in denen konzentriert gedacht wird, lassen keinen
anderen Ausweg zu als den einen: die Wortmeldung, hinter die es kein
Zurück gibt, die Schreibtischsituation, in der es gilt, heute ›ein paar Seiten‹
zustande zu bringen (»Heute
habe ich nichts zustande gebracht«), nicht zu
vergessen die Examensklausur, die so viele Menschen blind für den
naheliegendsten Gedanken werden lässt, während andere zu ungeahnter
Hochform auflaufen.
Jeder weiß, dass all diese Situationen auch eine
gewisse Blindheit produzieren – die Blindheit dessen, dem die Zeit
knapp wird und der da jetzt durch muss. Es kommt also darauf an, wie
einer sie beherrscht. Scharf denken heißt blind denken.
Professionalisierung hilft, sie löst die Binde, um sie am nächsten
Pfahl zu befestigen, dem der Professionalität: Kein Schritt über
das abgezäunte Gelände der Profession hinaus! Dort draußen lauert
der Absturz, der soziale Tod. Die Professionellen sind Löwen in
ihrem Beruf und Schafe, sobald sie an eine eingeschriebene Grenze
kommen und die Furcht sie regiert, sie unwillentlich zu
überschreiten. Auch dieser Unwille lässt sich nach außen kehren:
gegen mutigere Kollegen, die ›unkonventionell‹ zu denken wagen
oder einfach in einer anderen Gedankenspur laufen. Vielen bedeutet
die einmal übernommene Rolle Entlastung und schon ist es um ihre
Denkkraft geschehen.
DENKSCHULDEN

Stellt man die Leistungen der Nachkriegsdeutschen ›auf
intellektuellem Gebiet‹ in einen weiteren Rahmen, so ergibt sich
ein erstaunliches Potpourri aus Einseitigkeiten, leicht
durchschaubaren Übertreibungen, fleißigen Adaptionen und einem
gewissen Rezeptionsmarathon, das ebenso sehr von schlechtem
Gewissen wie von der Angst herrühren dürfte, den Anschluss zu
verlieren. Man hat wenig zu sagen außer dem gebetsmühlenhaft
wiederholten Anderen zu einem unsäglichen Erbe. Darin steckt der
kaum bemerkte, aber merkliche Verzicht auf primäre Weltsicht.
Dieses zwanghafte Nach-Denken treibt langsam seinem biologischen
Abgang entgegen und man weiß nicht, was an seine Stelle treten
wird. Vorerst nichts, könnte man meinen, aber das scheint nur so.
Immer bereitet sich etwas vor, wenn eine Disposition im Schwinden
begriffen ist. Von Tüchtigkeit ist hier nicht die Rede. Tüchtig ist
auch der Faule. Ohne ein gewisses Maß an Denkfaulheit ist
Tüchtigkeit nur schwer zu erreichen. Tüchtigkeit türmt Schulden,
könnte man mit einem Blick auf die gegenwärtigen fiskalischen
Verhältnisse sagen. Denkschulden sind giftiger als Staats- oder
Unternehmensschulden. Das muss so sein, da allen Unternehmungen
Denkmuster vorausliegen. In diesen Regionen darf einer großzügig
sein. Was dem einen Denken heißt, heißt dem anderen Strampeln. Zu
bedeuten hat beides nichts. Wer glaubte, man könne die Sache mit
Auftragsarbeit für Vordenker abdecken, stünde rasch im Freien.
DEUTSCHER
Hier ist Deutschland, ich bin ein Deutscher. Wer hat mir das
beigebracht? Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht daran erinnern.
Es geschah in jener Tiefe der Zeiten, in der, wie in einem
Abklingbecken, sich alle wesentlichen Ursprünge der Person auffinden
lassen – Vorsicht! Es ist Teil dessen, was mich gemacht hat, ohne
dass jemand Bekenntnisse oder Entschlüsse von mir erwartet hätte.
Was meinen Sie? Ich bin hier geboren, ich bin nicht eingewandert. Ich
kann keinem Vater, keiner Mutter, keinem Onkel oder sonstigen
Verwandten die Verantwortung dafür aufbürden, dass es so gekommen
ist. Nie habe ich mich entschlossen, Deutscher zu sein. Ich habe es
nur irgendwann
begriffen. Niemals habe ich die
Staatsbürgerschaft dieses Landes beantragt, sie wurde mir ohne mein
Zutun ›verliehen‹. Und wäre es anders, es liefe doch auf dasselbe hinaus: Dies ist mein
Land. Ein anderes habe ich nicht, jedenfalls nicht in dem Sinn, dass
ich ›mein‹ sagen könnte, selbst wenn ich Grundstücke rund um den Globus
aufkaufte. Keine Sorge: ich nehme nicht an, dass es mir gehört. Wie ich gelegentlich vernehme, gehört es anderen, die sich darüber auffällig ausschweigen. Nicht mir ist es eigen, dies Land, es ist eigen. Wahrscheinlich bin ich ihm eigen, sicher bin ich
ihm eigen, auch wenn die Zeiten vorbei sind, in denen die Einberufung
zum Wehrdienst als realistische Option gelten musste. Sein Staat –
mein Staat – hat in der Vergangenheit Menschenopfer verlangt und erhalten, von denen einem
die Sinne schwinden. Zu mir war er freundlich, solange ich lebte und
mich erinnern kann. Ich meine das nicht persönlich. Bin ich ihm
etwas schuldig? Die Phrase klingt nach Schuld und da wird der Mensch
hellhörig. Muss das sein? Spricht da ein sterblicher Gott, in dessen
Schuld ›wir alle‹ stehen? Man hat mich nicht dazu abgerichtet,
Fremdheitsempfindungen zu hegen, aber an dieser Stelle bin ich
befremdet. Doch es bleibt wahr: dieses Land hat mich gemacht. Ich
habe seine Schulen besucht, seine Landschaften bewohnt, seine
Bewohner studiert, tagaus tagein, selbst im Traum verwende ich seine
Sprache, ich wüsste nicht, was ich ohne sie dächte. Ich habe in ihm
gearbeitet, geliebt, gelitten, all den Kleinkram praktiziert, den man
Leben nennt. In ihm kenne ich mich aus. Doch, ich würde es
verteidigen. Natürlich verteidige ich nicht alles, was in ihm
geschieht, das wäre paranoid oder senil. Nein, ich kämpfe nicht für
ein anderes Deutschland. Ich muss schlucken, wenn ich daran denke,
dass dies in zehn, zwanzig, dreißig Jahren ein anderes Land sein
wird. Ein anderes Land? Was ist das, ein anderes Land?
Ich
werde in einem anderen Land aufgewachsen sein und gelebt haben. Ich
werde Geschichte, ich werde niemand sein. Ich? Mein Land? Die Leute
werden sich wundern, wenn sie die alten Fotos sehen: keine Klauen?
Keine Hörner? Kein bisschen Walhall? Keine Todeslager, kein
Stalingrad? ›Wir‹ hatten Todesstreifen, vergessen? Stalinisten
und kalte Krieger en gros, alte und neue. Wer wird meine Sprache
sprechen, wer wird sie verstehen? Gestern, im Museum, las ich
leichte
Sprache. Ein Franzose fragte mich, was das sei. Da liegt der Kern
meiner Unruhe offen: Wer wird mich hören? Hört mich noch einer?
Will mich noch einer hören?
DEUTUNGEN
Deutungen sind die Substanz der
Freiheit, besonders wenn es um
Wahrheiten geht. Neben der Brücke der Lüge – das Wort enthält auch
Spuren wie Liebe –, die vor dem Weltmeer der Unwissenheit ihre
abgebrochenen Bögen schwingt, schwirren Millionen deutende
Zeigefinger als Vögel verkleidet zur Insel Utopia.
Als
Grabbeau, er
nannte sich damals noch Philip und trug sein rötliches Haar
versteckt unter einem Dreispitz, an einem Frühlingstage von der
Place de la Concorde aus eine Anzahl solcher befiederten
Zeigefinger nach Süden fliegen sah, wusste er, was die Stunde
geschlagen hatte. Wir wissen es leider nicht.
Deutungen könnten Lücken wie diese, die in der Geistesgeschichte
des Alphabets nur von minderer Bedeutung sind, leichtfertig zur
Ehre der Altäre erheben, auf dass gefällige Brüder sie anbeten
mögen. Auch hier sieht man Anfänge jener Religion der
aufgebrochenen Sprache, die Grabbeau vorsorglich für bessere Zeiten
in Museumsbehältern gefangen hält. - PM
DEUTUNGSHUNGER
Wer, in aller Freiheit, anfängt die Freiheit zu verteidigen, dem sollte man nicht misstrauen?
DIAGNOSE
Wir sind doch keine Ärzte, die täglich dem Patienten,
Gesellschaft genannt, die Diagnose stellen müssen.
Erwachsen, wie er ist, kommt er ganz gut selber zurecht und misst
auch brav seine Werte. Den Rest kann er nachschlagen, damit ist er
beschäftigt. In dieser Hinsicht also wären wir frei. Was hindert
einen, der frei ist, sich das Gesicht zu bemalen, die Finger zu
spreizen und Faxen zu machen? Wenig, vielleicht Reste eines
verborgenen Schamgefühls, man sollte ihn lassen. Nicht die
Diagnose, sondern das Durcheinanderreden, dem immer neue
Hiobsbotschaften einen Anflug von Irrsinn verleihen, lässt dich
zusammenzucken. Die Diagnose zieht sich zurück, sie ist der
stecknadelkopfgroße Punkt am Horizont, der nicht weggeht, aber auch
nicht näherkommt. Alles was recht ist! Eine rechte Warnung ist ihr
Geld wert oder man schlägt sie in den Wind. Alles, was näherkommt,
trägt diesen Zug von Schlaumeierei im Gesicht, den du nur zu gut
kennst. – »Du! Was weißt denn du? Selbstüberhebung, was?« – Eine
Diagnose, aber presto.
DIALEKTIK
Nicht wenige arbeiten still daran, die Dialektik von dem schlechten
Ruf zu befreien, in den sie durch Gedankenlosigkeit und staatlich
sanktionierten Missbrauch geraten ist. Ob man eines Tages Erfolg
haben wird, hängt nicht zuletzt daran, ob es gelingt, sie vom
Gestrüpp sogenannter Klassikertexte zu befreien. Ob man aus ihr
nicht mehr über den Witz, seine Funktionsweise und seine
Verbindungen zum wirklichen Denken erfährt als aus den trüben
Spiegeln des Freudianismus, das ist die Frage, offen wie eh und je,
doch im Prinzip nicht offener als die andere, ob nicht der
dialektische Materialismus am Ende nur ein Witz war, ein blutiger,
zugegeben, nichtsdestoweniger einer, der es in sich hat; ein Stück
Menschheitsentwicklung als Parabel über die Menschheitsentwicklung
zu entwerfen und
durchzuführen, das wirkt im Nachhinein
nicht viel anders, als gehe jemand hin und gestalte die Straße nach
Maßgabe der Kehrbesen, die auf ihr Samba tanzen. Die Dialektik ist
als der
grosso modo
vergebliche Versuch zu betrachten, den menschlichen Witz, der aus
Laune entspringt und der Bereitschaft, sich nicht blindlings zu
unterwerfen, das Meiste verdankt,
arbeiten zu lassen – für die
Geschichte, ihre vermeintlichen Lenker und wirklichen Henker.
DIENST NACH VORSCHRIFT
Jeder weiß, dass Dekonstruktion nur ein Taschenspielertrick ist. Er
weiß es als denkendes Wesen oder er ahnt es zumindest in
Zonen, zu denen die halbgare Verwirrung nur schwer Zutritt findet,
er weiß auch, was dieser Trick bezweckt: den Sturz alter und die
Vorbereitung auf neue Götter. Woher also der seltsame, nicht enden
wollende Eifer von Hermeneuten, die darin eine Methode, zumindest
ein probates Verfahren der Zurichtung der von ihnen verwalteten
Texte gefunden haben wollen? Etwas kommt ihnen entgegen, man muss
es nur sehen. Sie glauben, etwas Festes auf Zeit zu finden, etwas,
das dem Beziehungsleben gleicht, dem sie den größten Teil ihres
Lebens opfern. Ein kommodes Opfer – das wird es sein. Der Dienst am
Text im Modus des ungläubigen Taktierens ist alles andere als
geruhsam, aber er bleibt lebbar.
DIETZSCH, STEFFEN
Wir möchten einen Preis für den Philosophen vorschlagen, dem es gelungen ist, die lebhafte Reisetätigkeit des ehemaligen Ostblockbewohners in eine genuin philosophische Lebensform zu verwandeln und diese zu leben. Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, wem er gebührt, möchten wir auch gleich mitteilen, an welchen Kandidaten wir dabei denken. Dietzsch, ein Apologet des Lachens,
das keiner Gründe bedarf, weil es sie jederzeit mitzubringen sich anheischig machen würde, käme es einmal auf eine solche Befragung an, wurde zum Nietzscheaner, weil er
Nietzsche, vermutlich irrtümlich, für den Prototyp des
europäischen Intellektuellen hält – Feind jeder Gemeinschaft, die ihre Rituale und Kollektivmorde lebt, weil es draußen kalt und der Feind nah ist.
Jeder, wie er sagt, doch er weiß schon, welcher er entrann, und er registriert die ideologischen Reparaturtrupps, die schon einmal üben, wie es sein wird, beim großen Aufbau, wenn sich alle die Hände reichen, um abzuliefern, was sie sich in der Zwischenzeit widerrechtlich angeeignet haben, z.B. Gedanken, aber es gibt auch anderes.
DISTANZ
Was als ›Kultur‹ in die Distanz verlegt wird, rächt sich im
Nahverhältnis als Repression. So oder so ähnlich lautet
das Konzept der
Kulturfalle, in die, wie es
heißt, vor allem Menschen geraten, die an einem Übermaß an
Verständnis leiden, an Verständnisbereitschaft, leicht abrufbar und
nach Belieben zu applizieren. Das muss nicht sein, aber es
passiert, es passiert sogar in der Regel angesichts der einschlägig
bekannten Arbeitsteilung zwischen Normverstehern und
Normdurchsetzern. Das eintönige Pingpong zwischen Kulturbewahrern
und Kulturverächtern, das notorische ›Ich meine nicht, dass...‹
wird angeregt durch diese fundamentale Fernstellung, die
Horizontalisierung des Denkens, mit der die philosophische
Hermeneutik zu ihrer Zeit hausieren ging und die heute das
paarweise Zusammenrücken angeblicher Kontrahenten gewissermaßen
flächendeckend ermöglicht. Wenn alles in der Kultur liegt, dann ist
sie selbstverständlich beides, Zwangsjacke und Ermöglichungsgrund,
beides in einem (und in einem fort), und jeder, der sich angeblich
nach draußen begibt, sieht sich auf der Stelle von neuen Horizonten
umzingelt und steht in einfachem Gegensatz zu dem, was neben ihm
dazusein gleiches Recht beansprucht. Dieser geteilte Blick, der
zwischen innen und außen irrt und hier wie dort ›Kultur‹ zu sehen
glaubt, ist die hauptsächliche Ursache des Kulturschwindels, der
mit gleichem Ernst ›Gänseleberpastete‹ und ›Kopftuch‹ zu sagen
ermöglicht, weil es der Kopfschmerz ist, der den Ernst zeitigt. Die
Distanz denken – das ist nicht so einfach, das überfordert den
gesellschaftlichen Disput bei weitem. Das öffentliche
Kopfzerbrechen, das die ›Kultur‹ bereitet, hält die sogenannten
Kulturwissenschaften bei Kasse und bringt sie davon ab, ihren Job
zu tun: wer nicht
Ping sagt, wird von jedem
Pong überrascht und muss nachsitzen,
bis er seine Lektion gelernt hat.
Sprichst du in Rätseln, so sprichst ach! du
von Rätseln nicht mehr.
DISZIPLIN

Wer den Menschen keine Disziplin anbieten kann, der unterhält sie
vielleicht eine Weile, aber er imponiert ihnen nicht, er bleibt ein
Pausenclown. Es ist müßig, geistige Disziplin nur im
Gotteskriegertum und in sexueller Verneinung zu finden. Das Gewebe
aus schlauen Andeutungen, gezielten Indiskretionen und
Pseudoindiskretionen erledigt sich früher oder später von selbst
wie jede Wichtigtuerei. Disziplin ist immer geistig. Auch die rüde
körperliche Variante besitzt etwas, das man Geist nennen könnte.
Wieviel G-Stoff darf es wohl sein? Darüber rätseln die
nachdenklichen Geister und schielen nach den halbvollen Flaschen in
ihren Regalen. Was davon ließe sich noch verwenden, um jenes Nichts
an Lebensspannung zu erzeugen, unter dem einer mit der Unbill des
Existierens zurechtkommen könnte? Während sie brüten, hilft der
Geist der Fitness-Studios und Yogakurse mit physisch induziertem
Wohlgefühl über die Runden. Über welche Runden? Welche Kampfart ist
hier gefragt? Der auftrainierte menschliche Terrier, ein abrufbares
Stück Erde, auch er ein Betrogener, wie man weiß, fällt irgendwann
die Umgebung an. Seine Rache durchsetzt die abgedunkelte Kultur der
Alten, die keiner Werbeetats bedarf, um Nachwuchs zu binden. Die
fleißigen Amokläufe beginnen jenseits des fünfundvierzigsten
Lebensjahres, bei abflauender Bereitschaft mitzutun.
DODERER
oder das schöpferisch Schöpferische. In der unscheinbaren Doppelung
lauert der Nachkrieg, das Sich-Entziehen, nachdem man genug belangt
worden ist und ein paar Jahre zur freien Gestaltung wünscht. Diese
Freiheit kann nur in der Freiheit zur Obsession bestehen, zum
Besetzt-Sein, gleichgültig, wer noch klingelt. Alles, was ab jetzt
Forderungen erhebt, tendiert zum Pseudos, es ist ein Pseudos,
verdrehte Welt, verdrehter Geist, verdrehte Menschheit.
Sieh dich nicht um! Das
sitzt und ist als Parole unnütz, weil es die Bewegung nach
rückwärts bereits ausführt, aber es reduziert die Nötigung,
vorwärts zu gehen und erlaubt den geschärften Blick auf die
sinistren Mittel, die eingesetzt werden, um sich im Dasein zu
halten. Die Poesie des Sich, des Sich-Erhaltens, Entfaltens, des
Sich Aus- und Einrollens, scheinbar fast nach Belieben, doch in
Wahrheit nach Druck, einer angedeuteten Äquilibristik gemäß, die
sich zeigt und im Sichzeigen verbirgt, eine solche Poesie findet
ihren Weg wie Wasser durchs Geröll – zäh, zuckelnd, allerwege auf
Vertiefung hoffend, also auf den Effekt von Jahrhunderten. Doch,
leider, soviel Zeit bekommt niemand.
DÖRFER
Wer von der
Kunst redet,
muss über die Dörfer gehen. Das sagt sich leicht, aber in den
Dörfern ist keine Rede davon. Künstler lieben das Dorf, es kommt
ihrer Neigung entgegen, im Beisichsein aufzugehen, beinahe wie ein
Teig, der woanders bereitet wurde und nun, bei mäßiger Hitze, im
Besinnlichen wächst. Das größte Dorf dieser Art ist Manhattan –
hier sitzt der Gickelhahn neben jedem Bett und schreit jeden Morgen
und Abend Verrat. Ein schöner Ort, das Künstlervolk liebt ihn und
schwört Stein und Bein, ihn nie zu verlassen. Ist das fair? Nicht
dass die Dörfer da draußen ein Recht darauf hätten, die Kunst zu
besitzen, kein Dorf besitzt so ein Recht, die Kunst kommt und geht
und nimmt sich der Armen an, wie sie mag. Aber so ganz von allen
guten Geistern verlassen sollte das Land nicht sein, das
schließlich alle trägt. So kommt es, dass in den Dörfern das Licht
nicht ausgeht, dass in ihnen allabendlich die große Parade der
Erwartung stattfindet, zu der sich kein Großfürst des Gewerbes
blicken lässt. Nur kleinere Geister tummeln sich auffällig, sie
schäkern mit den Töchtern der Dorfoberen und zeigen dem Gärtchen
hinter dem Haus, das sie sich hier leisten können, was eine Harke
ist. Dafür überlässt man ihnen dann die örtliche Druckerei, in der
die kleineren Wahlplakate hergestellt werden, die einzufliegen sich
aus ökologischen Gründen verbietet. Manchmal allerdings kommt ein
großer, den keiner kennt, man merkt es gleich, denn er weiß nicht,
was eine Harke ist, jedenfalls zeigt er es keinem. Man braucht eine
Weile, um mit ihm warm zu werden, aber dann ist es gut. Was er hier
zu finden gedenkt, will man von ihm wissen. »Nichts«, sagt er und
lacht, »es ist doch alles da.« Er meint es nicht ernst, der Schalk
blitzt ihm aus den Augen, aber die Antwort freut alle. Daheim
spuckt er in die Suppe und schlägt das dreifache Kreuz derer, die
vom Unglück gut bedacht wurden.
DONNERBALKEN

Die Sprache der Not – wie auch der Notdurft – verfügt über einen gewissen Witz und eine bescheidene Anmut. Woran das liegt? Vermutlich daran, dass die Parameter der gesellschaftlichen Überblendung auf Null gestellt sind und der gesellige Charakter des Sprechens, leichter als jedes Element der öffentlichen Moral, mehr oder weniger ungehindert an die Oberfläche steigt. Ein Wort genügt, um sich zu verständigen, sobald die Geltungssprache stockt. Dieses Wort aus der Tiefe reißt Partikel der verschiedenen Sprachschichten mit sich, die es passiert – kein Wunder also, dass es glitzert, als sei es direkt der Phantasie entsprungen, die es bewegt. Die Surrealisten haben es deswegen für poetisch gehalten und, weil ihnen das nicht genügte, in ihm die ursprüngliche Dimension der Poesie zu erkennen vermeint. Irrtum! Das kräftige Wort bezeugt keinen kräftigen Geist, es verrät keine Geheimnisse aus dem psychischen Untergrund, es beweist nicht einmal Phantasie. Was es verrät, ist die Not selbst und die Filterfunktion der Sprache; sie begütigt auch dort, wo sie die Norm wegfegt, die selbst nicht mehr ist als: Sprache.
DONNERWOHNUNGEN
Die Großen wohnen in Donnerwohnungen, die Kleinen in Wisperkammern.
Beide Stätten zusammengelegt ergeben den Ort der Demokratie. Nicht
dass die Großen mehr Platz besäßen, um rascher Drachengespanne der
Wortwahl auffahren zu lassen, sondern sie gleichen staubigen
Photographien auf bürgerlichen Dachböden und haben insofern keinen
anderen Vorteil als den, in trockenen Höhlen bei schlechtem Wetter
seufzen und klagen zu dürfen, denn niemand lässt Regen in Dachböden
dringen.
So ging es bereits den Steinzeitmenschen, die nackt hinter
Dornengestrüppen den Säbelzahntigern heulend vor
Angst die Milchzähnchen zeigten. Der Großvater aber,
kaum 30 Jahre alt, malte sie beide, die Großen wie Kleinen, mit
Rötel und Hasenfett. Wie köstlich ward da noch die Furcht gebannt,
der Schrecken gelähmt. Kein Mensch wagt heute, die
Kunst im Arm, auf Brautschau nach
solchen Motiven zu gehen. - PM
DRACHENSTURM
Ein paar Hexen, mit
Unguentum
somniferum beträufelt, halten den Bann aufrecht, der auf
diesem Bilde liegt wie am ersten Tag. Sein Jahrhundertschlaf unter
bröckelndem Putz hinter verschmutzten, halbblind dem angebrochenen
Tag wehrenden Scheiben darf nicht unterbrochen werden, denn das
gestreifte Einhorn, das ein Auge zuviel hat vielleicht, ist nicht
zu halten, es hält sich, so wie es steht, kaum selbst. Die Uhr mit
Libellenflügeln weist dem »Gib acht« den Trompetenton und den
Ohrenbläsern des Unheils fliegt das Liktorenbündel voran: Aus dem
Weg! Den fahlen Rappen, auf dessen letztes verbliebenes Auge der
Dolch des Einhorns zielt, kennen wir gut. Er ist die Stelle im
Bild, die nicht weggeht, das Auge der Welt, das nicht sieht,
sondern glotzt, weil es weiß und nicht weiß, es ist alles eins.
Statt des Tamburins kreist ein Patronengurt, das versteht sich von
selbst und bedarf keiner näheren Weise. Der Friede von Münster
gebar dieses Bild und bewahrte es auf, manchmal kommt jemand
herein, der es wissen will, und der Sturm klagt im Gebälk.
DRACHENZAUBER

Es gibt keine Zufälle, es gibt nur Zusammenhänge. In Folge dieser
Erkenntnis ist die Verfolgung in Linien bis ins Zentrum eines neuen
Zeichens denkbar, und gäbe es dann auch nur für einen
Augenblick die Erleuchtung. Alles andere wird
ohnehin zur Arbeit der Philosophie. Sind erst die in den Alpen
getanzten Nester schwungvoll genug gebildet, verfängt sich alsdann
auch der Stoff der Gedanken und der Meister hebt beide Hände, um
das Papier und den Tisch für die kurze Zeit des Empfangs von allen
Mächten materieller Vernunft zu erlösen. Nur so kann der
wartende
Geist dem
kommenden Geist geöffnet entgegentreten, damit die eingefangenen
Zeichen, wie Tiefseefische im Netz, herbeigeschleppt und offenbart
werden können. Dann senkt der empfangende Philosoph die Hände und
der Drachenzauber beginnt.
Etwas Feuer der Sprache, dem oberen Bogen des Mundes in Höhe der
vierzehnten Linie bergaufwärts entnommen, wird rasch aufs Papier
gemalt (man vergesse die
Malbutter nicht), sodann eine Spur
des alten und steif gewordenen Wassers hinzugefügt – dieses Wasser
ist fast getrocknet und Teil der unendlichen Dunkelheit –, und
schließlich folgt jenes Magnesium oder
Manna philosophorum (gewöhnliches
Brausepulver der Kinder), um damit das knisternde, niemals kochende
Wassser in weitem Bogen zu öffnen und dann mit einem Ruck förmlich
aufzureißen.
Nun erscheinen die Eltern des Drachen, manierlich gekleidet nach
den Moden getaufter Sünder des Jahres Tausend nach Christi. Sie
führen den aufgerufenen Drachen als Knäblein bis an den Tisch. Sie
bitten um Hilfe und Lehre. Das Drachenkind soll Schüler, Magister
und endlich ein Drachenprofessor werden. Der Philosoph, der den
Ritus beherrscht, lehnt anfänglich einige Male höflich ab, um
schließlich durch mehrmaliges Öffnen und Schließen der Augen,
gleichsam in Nähe des Schlafs, zuzustimmen. So entgeht er der Sünde
wider sein Amt. Der junge Drache wird jetzt zusehends größer,
fordert Becher und Schwamm, Malbutter und Zuber, um die
Verkündigung zu vollziehen. Unverzüglich, auf herbeischwebenden
Luftkissen, beginnt er die Zeichen der Zauberei zu entwerfen.
Feierlich tunkt er die eine Pfoten in die Malbutter, entnimmt mit
der anderen bunte Teilen seines gepanzerten Leibes, um
entsprechende Farben zu finden, und so entstehen der Reihe nach
luftgeschwängerte Teppiche von unendlicher Größe. Sie legen sich,
kaum gemalt, über Häuser und Landschaften oder neu entstehende
Orte, in denen künftig große Meister der Zauberei und der hohen
Künste zur Welt kommen werden. Ein solches Prophetentum ist wahrer
als alle Vernunft, getreuer als jeder Wachhund und vor allen Dingen
so beständig wie jene Alpen, unter denen zuvor getanzt worden ist.
Daher tragen sie oft deren Namen, wie
Kaiser-Glücklich-Wand-Prophetie, Poltergauklamm-Gesänge, hohes
Gesyndel-Wort und Spitzkofler-Unheil. Die Professur ist dem
Knäblein jetzt sicher. Die glücklichen Eltern entschwinden, und das
gute Kind, das inzwischen kaum noch in ein gewöhnliches
Arbeitszimmer passt und dessen Flügel mit Gletscherspuren und
Bergkristallen die Dünste der einsamen Höhenluft in akademische
Räume tragen, legt befriedigt die ersten frischen Orakelblätter als
Tafeln aus Gummigutti, aus Gneis und Glimmer wie Spielkarten auf
den Tisch und ist zunächst noch, unter der Hand, Drachenprofessor
geworden. Er hütet für die Dauer schwarzer Semester die Liste aller
künftigen großen Persönlichkeiten, ob dämonengeschlechtlicher
Abkunft, ob als Saatgut von Weiber- und Männerkernen oder als freie
Gestalten des schwer überprüfbaren Poetenstandes. Er wählt sie
geruhsam aus, um ihre Seelen zur Vorbereitung in die einsamen
Hochschulen der großen Verwirrung zu senden, in denen die Zukunft
ebenso wütet und mordet, wie sie auch Kunstwerke entstehen lässt. -
PM
DRAHTVERHAU
Die große Psychologin, die sich in das Denken des Gegenübers
einfühlt, als vertrete das Fühlen dem Denken gegenüber ein unnachahmliches Plus, investiert sie mehr in Empathie oder mehr in Interessen oder doch in Abwehr? Gefühlt, möchte man sagen, mehr in letztere, es beleidigt sie, womöglich persönlich, dass Menschen anders denken als die Mehrheit oder die Clique, der sie sich zugehörig weiß (eine besondere Form des Wissens, die alle anderen aussticht) – es beleidigt sie und sie kann es nicht einfach hinnehmen, also fühlt sie sich ein, um die Motive des anderen, nein, nicht zu ergründen, denn das hieße sich ja in Gedanken mit ihnen zu beschäftigen, die nicht die eigenen wären, nein, um sie zu blockieren: ihr dem des anderen unendlich überlegenes Gefühl strahlt die wahren, die emotionalen, also doch wohl verständlichen Motive so rein, so absolut verständnisoffen und gleichzeitig unrettbar verschroben zurück, dass der andere sich nur verlegen an der Mütze zu schaffen machen kann, will er nicht als Hinterwäldler oder – wie hieß noch einmal das männliche Rüpelwort, das der großen Psychologin niemals entschlüpfen würde? – ... Schlimmeres in die Maschen des Drahtverhaus beißen, der die Kreise sondert. Fühlen, dass der andere eine andere Position vertritt, und es beim Fühlen belassen: ein Verständnisblockierer ersten Grades, dem weitere, derbere auf dem Fuß zu folgen pflegen, aber bereits unendlich wirkungsvoll – ausgeübt von Privilegierten im Namen von Privilegierten zum Zweck der Erhaltung von Deutungsprivilegien, die unter redlichen Argumentierern rascher in Bedrängnis kommen könnten, als es ihren Inhabern lieb sein dürfte. So funktioniert Gesellschaft, so funktioniert Politik, andernfalls wäre es – vermutlich – keine.
DRAHTZIEHER
Kein Umsturz ohne Drahtzieher. Was bedeutet das? Sind die Handelnden Marionetten? Mitnichten, man muss sie nur in Bewegung setzen. Man muss ihre Bewegungen kontrollieren, man muss dafür sorgen, dass sie nicht ausbrechen oder einknicken, man darf sie mit ihrem Anliegen nicht allein lassen, man muss dafür sorgen, dass der Geldfluss nicht zum Erliegen kommt, der ihnen wundersame Kräfte leiht, man muss ihnen Unterstützer zuführen, also für sie lügen und heucheln, aber so, dass sie nicht beschädigt werden. Kurz, man muss dafür sorgen, dass sie so glaubwürdig auftreten können, wie die Natur sie geschaffen hat. Drahtzieher, heißt das, sind Helfer in der Not, vierzehn an der Zahl, man findet sie an Brücken und reißenden Übergängen, die Welt wäre um eine Hoffnung ärmer, gäbe es sie nicht. Gibt es sie denn? Die Natur hat dafür gesorgt, dass man sie nicht sieht, nur im Davongehen blitzt etwas von ihnen auf. Die Welt ist gütig.
DRECKSACK
Die späte Rache an dem
Drecksack, der mein Leben ruinierte, erregt immer Aufmerksamkeit, umso mehr, je neiderfüllter die Blicke der anderen auf das fragliche Leben ausfallen. Eine Hollywood-Schauspielerin, in die Jahre gekommen, erinnert sich der zahllosen Berührungen genau, die ihr Körper erdulden musste, um das zu werden, was er dann auch wurde: Projektionsfläche für die Wünsche von Millionen, die geduldig an den Kassen Schlange stehen, wenn sie nicht die häuslichen Wonnen von
Netflix et al. vorziehen. Und das sind ja, egal, was man davon hält, keineswegs ausschließlich Männer. Man muss hier sehr vorsichtig formulieren, sonst landen, flupp, die ältesten Vorurteile auf dem Tisch und das wäre schade, weil wir noch von ihm essen wollten. Hollywood lebt von der Sottise, die besser im Mund stecken bleibt, denn sonst wird es brandgefährlich. Andererseits will und muss sie heraus. Voltaire, der das große Frauenbeben voraussah, soll gesagt haben:
Zwei Nutten genügen, um jeden Mann zu stürzen. Zwei Männer genügen, um einer Frau den Triumph zu verschaffen, ihr Geschlecht gerächt zu haben. Wieso zwei? Damit einer übrigbleibt, den sie verachten kann. Seit es aus der Mode gekommen ist, Leute zu verachten, die auf der sozialen Leiter eine oder mehrere Sprossen tiefer stehen, hat sich das Bedürfnis nach Verachtung zwischen den Geschlechtern spürbar verschärft. Ein schöner Beleg für den Satz: Die Gesellschaft verliert nichts.
DRECKSKULTUR
Wenn einer seiner ideologischen Lieblinge rhetorisch über die Stränge schlägt, bedient sich der Deutsche, um die Wogen zu glätten, gern des Ausdrucks ›Satire‹ –
Satire darf alles, nach dem Gemeinspruch Tucholskys, der sich, bei aller Versiertheit, nicht vorstellen konnte, was alles dieses ›alles‹ noch decken würde. Darf Satire alles? Nein, natürlich nicht, heißt die Antwort, zwar nicht aus dem Mund eines Juristen, der hier zu Unrecht gefragt ist, aber aus berufenem Munde: Dürfte Satire alles, wäre sie nicht länger Satire, vielmehr alles, was Satire sein könnte und alles dazu, was nie und nimmer Satire sein kann, weil der übertreibende Witz und die witzlose Übertreibung nicht zusammen in diesen Kahn passen. Wo kein Geist, da kein Witz, wo kein Witz, da keine Satire, so etwa verliefe die Linie, kämen jetzt nicht die Wächter der Meinungsfreiheit verschärft auf den zu, der so zu trennen versucht: ›Geist‹ ist keine juristische Vokabel und Witz daher nicht einforderbar, also auch nicht zu erwarten – ein klassischer Fehlschluss, der aber zu gute Dienste leistet, um abgelehnt oder auch nur bemerkt zu werden. Wer meint, er schreibe Satire, der möge gern bei seiner Meinung bleiben, wer zu meinen meint, er lese Satire, während er doch nur die bedruckte Klorolle abspult, möge weiterhin meinen, denn … es tut sich ja sonst nichts. Was haben Meinung und Satire miteinander zu schaffen? Nichts! Wer zwingt sie zusammen? Die Geistlosigkeit, die Talentlosigkeit, die Heuchelei, die sich hinter Begriffen verkriecht, die sie nicht versteht, weil sie nicht zu ihren Äußerungen zu stehen wagt, die
taz und einige andere Medien, die aus Besorgnis, auf dem Schlammfuß erwischt zu werden, ihren Lesern Kröten zu schlucken geben, die sie selbst noch lange werden verdauen müssen – der Markt ist groß, die Welt ist klein, man trifft sich zweimal. »Dreckskultur«? »Schafft euch endlich ab!«? Aber bitte. Wer keift, gehört in die Realsatire, aber nicht federführend, da sind andere schneller und weiter.
DREHBUCH

Das drehbare Buch, kaum erfunden, ein Welterfolg, sage ich Ihnen!
Ein Einfall, im Grunde ein einfacher Einfall, sagen wir ruhig,
schlicht, jawohl, schlicht das Ganze, aber: genial. Sie drücken auf
einen Knopf und die Sache rollt ab. Linksherum, rechtsherum, je
nach Bedarf oder Laune, das hält einer sowieso kaum auseinander.
Technik eben, für alle Seiten nützlich. Auch Missbrauch, sicher,
kommt vor, kommt vor. Wir können das nicht verhindern, wie sollen
wir. Ja, wir legen Kundenkarteien an, das müssen wir, obwohl es...
ja ja, verboten, ganz recht, auch das ist verboten, insofern...
vergessen Sie’s! Vergessen Sie’s einfach! Ein wenig
Technikbegeisterung, wenn ich bitten darf, sonst kommen wir nicht
weiter. Und sagen Sie nicht, die alte Leier. Hier leiert nichts,
wir garantieren... Keine Garantie? Sie wollen keine Garantie? Lesen
ohne Garantie? Und was kommt dabei...? Bitte, hier ist der Ausgang,
ich sag’s Ihnen. Eana. So ein Stoffel. Wer mir heute ein Drehbuch
zeigt, ist für mich gestorben. Abgang, aus, durch die Küche. Diese
Laffen meinen, sie haben den Erfolg gepachtet. Welchen Erfolg?
DREIECK
Nein, meine Liebe, dieses Spiel ist nicht vorbei, es hat gerade
erst begonnen, und es ist kein Witz. (Ein Witz, der eine Beziehung
eingeht, ist keiner.) Jedes Dreieck, das in Betracht kommt, verfügt
über einen stumpfen Winkel, eine Asymmetrie, die das Spiel in Gang
bringt und verwirrt. An diesem Ort der größeren Spreizung entstehen
die Spannungen, er nimmt den Bogen auf und damit die Rundung des
Ganzen. Unter dreien schlägt einer den Bogen, nicht weil er Cäsar
wäre oder Titan oder ein großer Kommunikator, sondern weil er dem
Zentrum am nächsten steht. Wo alles nach außen drängt, bleibt ihm
keine Wahl, nur Zerrissensein und Zerrissenwerden. Der
Herausforderer hat es leicht, seine Kraft ist am stärksten, solange
er sie nur wenig einsetzt.
Mimetische Verähnlichung nennt die
Theorie das, was zwischen den Kontrahenten geschieht, sobald der
Kampf eingesetzt hat, ob es die Parteien schöner macht, bleibt
dabei ausgespart. Allgemein nimmt man an, dass der Kampf die Züge
verzerrt, manch einer gewinnt so erst welche, ein anderer verliert
seine Zug um Zug. Das Kenntlichwerden ist eine zu ernste Sache, um
sie Schiedsrichtern zu überlassen, die selbst nach dem Ort der
Begierde schielen, sei es, um ihn einzunehmen, sei es, um mit
dem Objekt davonzuziehen. Ein Dreieck ohne Zuschauer gilt nicht, er
bildet den vierten, gewöhnlich ungenannt bleibenden Winkel.
DRITTMITTEL

Von dritter, sprich: interessierter Seite gefördert zu werden – wer wünschte es nicht? Es ist der Traum all derjenigen, die nicht hoffen können, auf eigenen Füßen zu stehen. Sie gehen Verpflichtungen ein, über deren Art und Umfang sie sich nur ungern Rechenschaft ablegen. Selbst Täuschung, aktive und passive, gehört zum Spiel: wer sich gern täuschen lässt, täuscht sich selbst, er ahnt, wo es langgeht, aber er lehnt es ab, die Konsequenzen in Rechnung zu stellen. Alle ›Karriere‹ vollzieht sich nach diesem Muster, im Vertrauen darauf, nicht eines Tages vor Gericht zu landen, weil die Organisation es schon richten wird. Die Organisation rekrutiert ihre Leute – das setzt voraus, dass sie ihre Leute kennt, zumindest ihren Schatten, ihre Umriss, ihre Statur, sie weiß, wo sie die Daumenschrauben anlegen wird, um an die gewünschten Resultate zu kommen. Eine auf ›Drittmittel‹ gestellte Wissenschaft ist bereits keine Wissenschaft mehr, jedenfalls nicht in dem Sinn, der ihren heroischen Aufbruch begleitet hat, sie ist etwas für Leute, die herausbekommen sollen, was Dritten nützt. Ist Wissenschaft nicht nützlich? Wer diese Frage stellt, ist entweder naiv oder bereits auf Droge – er ist
drittmittelaffin.
DRUCKFEHLER
Man muss, darin sind sich die Klassiker einig, Druckfehler annehmen können. Diese in den Text eingefügten
Unbestimmtheitsmomente erinnern daran, dass das Geschriebene sich
an jeder Stelle einer Wahl verdankt, die auch anders hätte
ausfallen können. Wer das bestreitet, ist weniger Dogmatiker als
Vermittler. Erst in der Vermittlung wird das Aufzuschreibende
sakrosankt. Deshalb liegt es den Zeitgenossen, denen das große Glas
das Denken versiegelt, als Vermittler tätig zu sein: sie können den
Eifer produzieren, den die Konzentration auf die sich entziehende
Sache unmittelbar hervorbrächte und rechtfertigte, und sie können
ihn auf der Stelle nach außen wenden – als Gewusst-wie. Das große
Glas, die Scheibe, die das Denken vom Nach-Denken trennt, die
Unberührbaren von den Vertretern des Gewusst-wie, es ist eine
Einrichtung, die man bewundern und die man verachten, aber nicht
vernachlässigen darf.
Ich will
nicht verwechselt werden, hat Nietzsche einst bekundet,
darin liegt eine Verwechslung, da die Ideenklempner sich im Anderen
erkennen, in was denn sonst. Gerade ein solches Zitat gibt ihnen
ein gutes Gewissen, sie haben es am Schnürchen und wissen, dass sie
auf dem rechten Wege sind – in jedem Sinn. Dennoch muss vermutlich
so reden, wer eine Religion zu gründen gedenkt. Er kann gar nicht
anders, weil anders die Spiele des guten Gewissens nicht in Gang
kommen. Und Gewissheit, gute Gewissheit, die Gewissheit, auf gutem
Wege zu sein, die will man doch, wenn man sich aufs Abenteuer
einlässt, auch wenn es nur den Weg zum nächsten Symposium
einschließt. Abenteuerlich ist schließlich alles, was sich
behaupten lässt, ganz schön abenteuerlich, daran besteht nicht der
mindeste Zweifel.
DRÜCKEMEISTER

»Sie haben mein Vertrauen.« »Nein, hab ich nicht.« »Doch, doch, Sie haben es.» »Wie kommen Sie darauf?« »Geben Sie’s her.« »Ich denke nicht daran.« »Geben Sie’s sofort her!« »Hören Sie, ich kann die Polizei rufen, wenn Ihnen das lieber ist.« »Ich bestehe darauf, dass Sie mir mein Vertrauen zurückgeben. Ich habe kein zweites dabei und brauche es für die Busfahrt.« »Wieso das denn?« »Ich steige niemals ohne Vertrauen in einen Bus. Es behagt mir nicht, beim Schummeln erwischt zu werden.« »Und jetzt glauben Sie, Sie hätten mich erwischt? Im Vertrauen: Ein wenig plemplem ist das schon.« »Ich weiß, dass Sie es haben.« »Sie wissen es nicht.« »Ich weiß es schon lange.« »Das wird ja immer bunter: Wie lange wollen Sie das denn wissen?« »Das verrate ich Ihnen nicht. Holen Sie jetzt die Polizei?« »Ich, warum ich?« »Weil ich Sie verantwortlich mache.« »Ich dachte, ich hätte Ihr Vertrauen?« – Solche Dialoge hört man bereits vereinzelt, sie werden in Zukunft häufiger zu hören sein, denn sie drücken den herrschenden Geist aus, sie rollen ihn gleichsam vom hinteren Ende her auf, damit vorn alles herauskommt, was man sich von ihm erhofft. Kenner der Materie wissen, es gibt stets eine Rest-Strecke, auf der noch etwas nachkommt; niemand hat es erwartet, man dachte schon, es sei nichts mehr drin und hätte das Drücken fast aufgegeben, gerade dann erfährt man das Beste.
DRYADENSIEDLUNG

Die Ansammlung glatter Baumstämme neben den raueren Eichen bezeugt
die nahe Verwandtschaft aufgerichteter Schlangenleiber vor dem
Hintergrund eines chaotischen Meeres aus Blättern unterschiedlicher
Farben. Dem Waldrand gegenüber bildet das ockerfarbene Sonnenmeer
eines abgeernteten Feldes die Leere der klugen Natur, die seheinbar
immer das Gleiche bietet, obwohl in unendlicher Feinheit ihr
Anblick von unbekannten, stets wechselnden Geistern durchzogen ist,
deren Anblick schwermütig macht. Vor dieser Weite liegt kaum zwei
Schritte vom Weg der viel kleinere Ort eines unsichtbaren
Geheimnisses in einem Waldrand ohne zeitgenössische Weitläufigkeit.
Andere, heitere Waldregionen umgeben in immerwährender Feme aber
auch dieses kleine bedenklich erscheinende Feld. An jenen glatten
Bäumen, die einen verwachsen aufgerichteten, vielfach geschwungenen
Zirkel aus Stämmen bilden, wandert das sehende Auge eines fast
schlafend vorbeiziehenden Spaziergängers, gehüllt in seinen hier
ganz befremdlichen Anzug, in weißer Hose und schwarzem Hemd. Der
Ort scheint dagegen nichts einzuwenden, denn seine Zeichen
entfernen sich nicht. Man darf des uralt anmutenden Dunstkreises
dieser hier so besonderen Luft nicht vergessen, sie gebietet
Aufmerksamkeit, die, von Anspielungen durchsetzt, auf die
Anwesenheit des Übernatürlichen hinweisen. Indem die Natur hier so
vieles offen lässt, ist sie dem frommen Misstrauen der Poesie
verwandt, das ja so oft der hohen Sonnenmitte zur weiteren Welt hin
schwankend Einhalt geboten hat, und wäre es nur für wenige
Augenblicke. So entsteht diese kleine zusammengefasste Einsamkeit
aus leeren Andeutungen, die fähig sind, Gewissheit zu überwinden
und Ahnungen zu erfrischen. Es bleibt der geheime Kreis dieser
Stämme dem übrigen Waldrand nur scheinbar verwandt, denn sie sind
nur in höfischer Weise unschuldig grün belaubt, aber meilenweit von
ihresgleichen entfernt. Das poetisch eingeschlafene Auge wandelt im
Kreis dieser Gruppe der wenigen Auserwählten, die zweifellos eine
hohe Familie bilden, immer tiefer hinaus in das Geheimnis einer
Dryadensiedlung. Alle Stämme sind glatt und grau, rötliche Streifen
fahren von den Kronen herab in spärliches Gras, das der Schwäche
des Waldbodens, schwach durch Geister, schütter entsprießt. Vieles
gäbe es noch von der frühen Verwandtschaft der zierlichen Frauen
mit den älteren Schlangen und Drachen zu sagen, die der Sommertag
hier für Sekunden umschlossen hält, aber das schlafende Auge
erkennt, daß sich hier nichts Menschliches offenbart, sondern
unvorstellbar das Ahnungsvolle sein Netzwerk stiftet. Eben eine
Dryadensiedlung. - PM
DUCKMÄUSER

Was ist ein Duckmäuser? Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben …
nein, das ist kein guter Gedanke. Am Ende sind Sie selbst einer und
wie stünde ich dann da? Am besten wäre es, ich ginge gleich davon
aus, dass Sie einer sind, und wir verständigten uns gemeinsam auf
die wesentlichen Merkmale. D’accord? Packen wir’s an. Ich
assistiere Ihnen und Sie geben mir grünes Licht. Nun, als erstes
wäre dem Duckmäuser nichts wesentlich außer dem Duckmäusertum,
d.i. der Tatsache, dass es im Leben wie im Sterben bloß nötig sei,
sich zu ducken. Ein aufrechter Duckmäuser wäre so viel wie der
schiefe Turm zu Pisa, nur in der Horizontalen gedacht. Wenn Sie sich
unter diese Erkenntnis ducken, sind wir gleich weiter. Spüren Sie
den Blitz, der durch Sie hindurchgeht? Funkt es in Ihrem Gehirn?
Nein? Nehmen Sie ergeben auf, was ich hier zusammenschmiere? Nun,
dann verstehen wir uns. Wer glaubt schon an die unbefleckte
Empfängnis? Die unbefleckte Empfängnis ist etwas für Kirchgänger
und Sie gehen aus Prinzip leer aus. Leerausgänger haben eine
natürliche Neigung zum Duckmäusertum. Ihnen muss ich das nicht
sagen, Sie wissen Bescheid, aber wissen es auch die Vielen? Die
meisten Menschen glauben ja, sie glaubten an etwas, während sie sich
doch nur ducken, aber darüber sprechen wir ein anderes Mal. Wir
glauben ja auch nicht an die Grammatik, wir fügen uns nur. Wer hat
Recht? Wir oder die Grammatik? Ist das existenziell
oder kann das
weg, wie der Bauer die Bäuerin fragt? Vielleicht sind Sie ein
weiblicher Duckmäuser und monieren das Maskulinum, das sich bei
diesem Wort einschleicht. ›Duckmäuserin?‹ Nie gehört. Sehen
Sie? So versteht man sich wie geschmiert. Das Wort allein wäre ein
Anschlag auf das weibliche Geschlecht, so etwas denkt ein Duckmäuser
nicht. Der Duckmäuser ist männlich von Haus aus, vielmehr, er kommt
gar nicht aus dem Haus heraus, unter dessen Dachbalken er sich duckt.
Dort trifft er sich mit Freunden und wird gesehen. Bei einer solchen
Gelegenheit entstand das Wort ›Augenhöhe‹. Das ist
Politikersprache und bedeutet:
Deine Schuhspitzen und meine
Hühneraugen – welch ein Paar!
DÜMPELSPRACHE
In aller Welt lesen Philosophen Literaten, um von ihnen zu lernen oder, wenn schon nicht zu lernen, sich wenigstens das eine oder andere Motiv abzuschauen oder abzuschreiben. Was wenig verwundert, da die Literaten die Felder des Sagbaren weit und breit abgrasen, so dass kaum jemand sich eine Formulierung ausdenken kann, die nicht irgendwann durch den Magen der Literatur gewandert ist. Eine Ausnahme bilden die ›deutschsprachigen‹ Philosophen, deren angestammtes Metier die Philologie ist – Altphilologie, viel deutscher Idealismus und noch mehr Nietzsche, dazu seit Jahrzehnten anschwellend dieses Stocher-Englisch, mit dem der
linguistic approach anfangs seine Herkunft aus dem Wiener Jargon bemäntelte. In dieser kuriosen Philosophen-Philologie kommen literarische Texte nicht vor, sie bleiben, da unerheblich, ›ausgeblendet‹. So denken die Philosophen, aber sie täuschen sich. Ihre Texte wimmeln von literarischen Topoi, darunter solchen der übelsten Sorte, sie halten sie nur für Philosophie, weil sie sich das Lesen verboten haben und lieber abends auf Talkshow schalten.
DÜRRENMATT
Als ich den Kafka las / war ich ein alter Has. / Noch Fragen hinten im Raum? / Man glaubt es kaum.
DUE SAVINII, PER FAVORE
Als die Kunstkritik der Einsamkeit des großen
Chirico überdrüssig ward, erfand sie ihm einen
Bruder: Alberto Savinio. Sie machte ihn, wie es sich gehört, drei
Jahre jünger und verlieh ihm, da es sinnlos ist, eine Gabe in
schlichteren Dimensionen zu wiederholen, ein Multitalent, so dass
Chirico eines Tages den Satz schreiben konnte:
Mein Bruder war ein großer Schriftsteller und
Komponist. Er hätte auch schreiben können: Mein Bruder war
ein großer Hallodri, aber das hätte den Tatsachen noch weniger
entsprochen und wäre als Beleidigung auf die Nachwelt gekommen.
Die
Dioskuren
verdankt die Nachwelt dem Brauch, bis zwei zu zählen und dann ins
Grübeln zu geraten: Was kommt danach? Vielmehr: Was wird schon
kommen! – Der Bruder also? Der Bruder existiert eigentlich nicht.
Er ist eine große, eine maßlose Hypothese. Durch einen Irrtum im
Begrifflichen wie im Ausdruck, dessen Ursprung sich in der Nacht
der gesprochenen Sprache verliert, wird der Bruder verwechselt mit
dem brüderlichen Freund, dem Weggefährten, der interpretiert und
erklärt – in Worten und Werken –, was der andere macht. Der es so
erklärt, wie es sich selbst erklärte, könnte es sich erklären. Der
es überdies nach- und vormacht – in einem anderen Medium, versteht
sich –, so dass es weiter keine Umstände bereitet, auf dem einmal
eingeschlagenen Kurs fortzufahren. Was wäre ein Leuchtturm, der
nicht anderen den Weg wiese? Was wäre der Zeiger, der zitternd
diesen Dienst leistet, anderes als der Bruder im
Geiste? Und was wäre schließlich der
letztere, wenn nicht der erste noch einmal? Aber weit gefehlt,
dieser Zeiger zeigt nur, insofern er sich zeigt:
Due Savinii, per favore.
DUMM GELAUFEN
Die Dummen sind auf eine selbstlose Weise besorgt, sie könnten am Ende die Dummen sein. Selbstsucht müsste ihnen den Gedanken eingeben, sie seien es längst.
DUMPFBACKE

Nehmen Sie ein bisschen von diesem Verbrechen, nehmen Sie ein
bisschen von jenem, verrühren Sie das Ganze – Rührung tut gut – und
reichern Sie es mit Stundensex an, wo immer sich Ihnen ein
Sendeplatz bietet: bleiben Sie am Ball, allabendlich, Jahr um Jahr,
Jahrzehnt um Jahrzehnt, erzeugen Sie das größte kriminalistische
Durcheinander des Jahrhunderts in den Köpfen von Kindern, alten
Leuten, Schwachsinnigen, Perversen, Kassenpatienten, Eltern,
Nichteltern, Durchblickern, Bescheidwissern und Abstaubern, und Sie
werden sehen, es wirkt. Sie können jedes Thema lancieren, jeden
Verdacht unter die Leute bringen, jedes Misstrauen gegen ganze
Bevölkerungsgruppen schüren und Heilige en gros fabrizieren. Es
kostet Sie nur ein bisschen Geduld und braucht eine Maschinerie,
die läuft und läuft... kurz, ein Medium. Aber was heißt schon, es
kostet? Sie lassen diejenigen bezahlen, denen Sie das alles
zwischen zwei Freifahrten antun, auch wenn sie nichts mit Ihnen zu
tun haben wollen, und es läuft rund.
DUNKELFLAUTE

Die Alten kennen sie noch aus Omas Erzählungen: »Warte nur, wenn
die Dunkelflaute kommt und dich holt!« Da hüpft das Kind und tut,
wie ihm befohlen (oder angeraten, denn eine kluge Oma befiehlt nicht,
sondern gibt Ratschläge fürs Leben). Entgegen verbreiteter Ansicht
ist die Dunkelflaute kein Nachtgetier. Wenn sie kommt, dann bei Tag
wie bei Nacht, sie achtet den Unterschied gering. Bei Dunkelflaute
stehen die Windräder still und den Stromsammlern geht das
Sonnenlicht aus, so dass ihre Sammlungstätigkeit zum Erliegen kommt.
»Warum zum Erliegen?« fragt das Kind. »Können sie dann nicht mehr
stehen?« »Sei ruhig, mein Kind«, flüstert hastig die Märchenoma,
»dass dich nur niemand hört. Wer lehrt dich solche Sachen?« »Ich
mich selbst«, strahlt das Kind, es hat einen Lebkuchen zum
Geburtstag bekommen und kennt sich aus. Es kennt schon alle Fälle,
nur den Fall der Fälle, die Dunkelflaute, kennt es noch nicht. »Und
was passiert dann?« »Dann schließen sich die Tore der Welt und
Recht kennt kein Geschlecht.« »Wie geht das?« erkundigt sich das
Kind, dabei will es die Antwort nicht wissen und sinnt auf Anderes.
Sein Geschlecht ist sächlich, aber es hält nichts davon. »Das
behalte ich mir noch vor!« zwitschert es mit freudiger Stimme. »Das wird
eine Überraschung!« Doch in diesem Punkt ist Oma echt
stressig. »Wenn die Dunkelflaute kommt, ist es wichtig zu wissen,
wer man ist.« »Wer ist man denn?« »Das ist ein Geheimnis, das
jeder für sich hüten muss.« »Aber wenn ich es nicht weiß?«
»Du weißt es, mein Kind, du wirst es wissen. Wenn die Zeit gekommen
ist, wissen es alle.« Da lacht das Kind. Anschließend wird es ganz
ernsthaft. »Weißt du, Oma«, träumt es und zupft sie am Kleide, »ich habe gelesen, wir dürfen der Dunkelflaute keine Macht über uns geben, dann kommt sie auch nicht.« »Das hast du gelesen?« fragt Oma verwirrt und gibt ihr einen Klaps. »Ich werde dich daran erinnern, wenn es soweit ist.« »Wirst du nicht.« »Und warum nicht?« »Ach Oma, du bist kleinmütig und kleinmütig sind nur die Schlimmen. Ich gehe jetzt hinaus in die Welt und werde berühmt. Dann vertreibe ich die bösen Geister und deine Dunkelflaute kann bleiben, wo der Pfeffer wächst.« »Ach Kind, wenn nichts mehr geht, dann nützt es auch nichts, bei Rot über die Straße zu gehen.«
»Das darf man nicht.« »In der Not ist alles erlaubt.« »Auch
schlimme Dinge?« »Das hängt von der Not ab. Aber das darfst du
nicht wissen.« »Ich darf alles wissen. Das hat meine Kitatante
gesagt und die ist ziemlich hell im Kopf. Naja, wenn die Dunkelflaute doch kommt… Aber dann bin ich längst in der Schule und habe Mathe. Und
was passiert dann?«
DURABILE
Es war ein kräftiges Stück Arbeit, das Schaf zu melken, ordentlich
mitgenommen sehen die Hände danach aus. Mitgenommen wohin? Ein
Bauer, der nicht mit seiner Ansicht sparte, und aus diesem bekommt
ihr nichts heraus. Sich inwendig ausgeben hat Vorteile, die dem
Herzinfarkt ähneln, der sich – vielleicht – auf diesem Wege Bahn
bricht.
Poco poco, lente
lente, man kann seine Einbrüche schließlich nicht stapeln.
Das Schaf steht nebenbei, es hat sein Bestes gegeben, vielleicht
das Zweitbeste, das wird sich weisen. An einem Baum schaukelt der
böse Rest, der nie in Betracht kommt oder erst spät, es reicht,
wenn er einen überkommt, dem muss man nicht vorgreifen. »Durabile«,
sagen die Landwirte des Südens, sie klopfen das lederne Gemüt in
der Hoffnung, einmal etwas anderes herausfallen zu sehen als die
Erwartung. Aber Leder bleibt Leder, man trägt es außen, freiwillig beißt kein Mensch hinein.
DURCHBRUCH
Unterkomplex denken, unterkomplex handeln, das war von jeher die
bevorzugte Methode, sich beliebt zu machen bei Menschen und
Göttern. Wer eine Kleinigkeit vergaß, dem gelingt der Durchbruch
spontan. ›Verzeihung, ich vergaß‹: das könnte über dem Leben so
manchen Hoffnungsträgers stehen, am besten vor seinem Abgang, oder,
noch besser, vor seinem Auftritt. Es sind nicht die
terribles simplificateurs, die das
Leben würzen, sondern all diejenigen, die ihre Hausaufgaben gemacht
haben, aber im Modus der Ungeduld, denn sie wollen vorankommen. Nun
preschen sie dahin, auf ebener Strecke, wo doch jeder, der Augen im
Kopf hat, den Hügel sieht, in den sie sich bohren werden.
Vielleicht wollen sie tiefer hinein als andere, das wäre denkbar
und nicht einmal unplausibel. Ob es auch gut ist?
DURCHEINANDERWERFER
Alle bedeutenden Durcheinanderwerfer sind auch Zurechtrücker, im Gegensatz zu den unbedeutenden, die für das geordnete Durcheinander verantwortlich zeichnen. Daher der Choral derer, aus denen noch etwas werden soll:
Seien wir ein bisschen durcheinander / Leben wir ein bisschen auf dem Mond..! Dieses ›bisschen‹, man beachte, wird nur von der Grammatik künstlich klein gehalten, in Wirklichkeit ist es riesengroß und regelt die Welt oder was sich dafür hält.
DURSTLÖSCHER

»Das Schicksal der westlichen Gesellschaft entscheidet sich an...« Wieso Schicksal? Wenn Gesellschaft ein Konzept ist, wieso dann Schicksal? Allen Konzepten steht das Schicksal bevor, entsorgt zu werden oder in andere, bessere, modernere, effizientere überführt zu werden. Das sind keine wirklichen Schicksale, sondern Maximierungsgeschichten. Kann Gesellschaft maximiert werden? In welchem Maximum jenseits ihrer selbst fänden sich ihre Spuren wieder? Kann es Gesellschaft jenseits von Gesellschaft geben? Mag sein. Gesellschaft ist eine Maximierungsvokabel: das jeweils Neue, Aktuelle, Unübersteigbare im Zusammenleben der Menschen scheint gerade das zu sein, was sich in ihr ›abzeichnet‹. Sagt man etwa, Frauen seien die besseren Gesellschaftswesen, so sagt man etwas, das je nach Gesellschaft differiert. Sagt man etwas Genaues damit? Will man überhaupt etwas Bestimmtes zum Ausdruck bringen? Oder will man bloß bestimmen? Ein Wechsel der Intonation ruft sehr unterschiedliche Vorstellungsreihen auf – man meint, je nachdem, ein Talent, eine Vorzugsstellung, einen Mangel, womöglich einen Makel oder, nicht zu vergessen, eine Aufgabe, vielleicht eine praktische, historische, vielleicht sogar eine immerwährende, einen Durst der Menschen nach mehr Gesellschaft, der sich schwer oder gar nicht stillen lässt. Mehr Gesellschaft, wer kann so etwas wollen? Wie lange kann einer durchhalten, das zu wollen?