Es fällt auf, dass unter den Autoren des 20. Jahrhunderts, bei denen man mit einem ausgeprägten, vielleicht sollte man sagen: besonders hochgezüchteten Ich-Faktor rechnen muss, die Rede von der ›Pluralität‹ des Ich grassiert, von den vielen kleinen Ich-Maschinchen, die das eine Ich zum Kollektivsingular degradieren oder erhöhen oder allenfalls als Theatermaske bestehen lassen. Sicher, so kann man reden, auch wenn die Maschinen-Rede immer ein großes Fragezeichen verdient. Doch berührt das gar nicht die Frage der Bestimmbarkeit jenes seltsamen Ich, das aus allen Maschinen-Zuschreibungen gewissermaßen unberührt hervorgeht. Der Ich-Kern inmitten der Bestimmungen, in denen wir uns wiederfinden, bleibt plastisch, bildbar, Quellpunkt aller Bildungen; er geht in sie ein, ohne mit ihnen zu verschmelzen. Daraus folgt jedoch, dass jede Bestimmung, unter der ›wir‹ uns wiederfinden, dem Ich äußerlich bleibt – unter der Voraussetzung, dass diese Äußerlichkeit nicht-kontrastiv gedacht wird, dass sie dem Ich-Sagen nicht im Wege steht und extra durch Negation beiseite gebracht werden muss. Wer ›Ich‹ sagt, muss weit ausholen, zumindest dann, wenn er es reflexiv meint und sich nicht einfach seinen Weg durchs Leben bahnt. All jene Ich-Ecken und -Kanten, die meist geltend gemacht werden, um das Ich-Sprechen gegenüber der ›objektiven‹ Sicht der Dinge zu unterfüttern, erinnern ein wenig an die Nischengesellschaft der DDR, in der die Staatsmacht angeblich so weit weg und doch wiederum so erstaunlich nahe war, dass die vielen kleinen Nischen einander wie ein Ei dem anderen gleichen konnten. Wohl deshalb auch lässt sich dieses Ich so gut aus dem Katalog der Sehnsüchte (und der Warenhäuser) möblieren.
Das Ichsagen ist keine Passion, sondern ein Vorstoß. Ob er gelingt,
hängt von Faktoren ab, die sich nicht durchgängig kontrollieren
lassen. Einmal ist es die Stärke des Widerstandes, ein anderes Mal
die Widerstandslosigkeit, das Bodenlose, das ihn scheitern lässt.
Immer aber bleibt das begleitende Bewusstsein, sich auf einem
Gelände zu bewegen, das von geheimen Drohungen der Gegenseite
durchzogen ist. Man kann die Stadien der Moderne als Schübe
betrachten, in denen die Scheu vor dem Ichsagen mit immer neuen
Mitteln und unter jeweils anderen Vorwänden überwunden werden
sollte. Das kleine Ich großsagen, das ist eine Frechheit, auf
die keine Strafe folgen darf, wenn Moderne sein soll. Descartes’
›Ich denke‹ ist eine Weise, es großzusagen, das transzendentale
Subjekt Kants und das Ich Freuds wurden erfunden, um es gegen die
Unbill eines raffinierteren Denkens und die Anschläge seiner Feinde
abzusichern, was insofern misslang, als beide alsbald auf den
Altären der Wissenschaftslehre und der Gesellschaftstheorie
geopfert wurden. Am Ende überwiegt das Gefühl des Ungehörigen und
kassiert die Vorstöße, um die Erinnerung an sie zu bewahren, so wie
der Mythos die Schicksale der Iason und Niobe aufbewahrt.
Die Ideen sind krank, wer möchte sie beschützen? Die Frage erhebt sich am Rande eines schwarzen Lochs in einem mittleren Universum, das seine Erfolge einem ausgeklügelten Bildungssystem zuschreibt, denn es weiß sich arm an Rohstoffen. »Wir müssen unser Universum als Schicksalsgemeinschaft begreifen, bevor es zu spät ist.« So steht es in dem Papier, das die Teilnehmer der Konferenz am letzten Tag zu unterschreiben gedenken, denn sie wollen nach Hause und das Loch zu ihrer Rechten erweckt Unbehagen. Zu Recht! Die Ideendrift, die vor niemandem Halt macht, ist in vollem Gang und ihre Wirkungen müssten jeden aufmerksamen Beobachter auf der Stelle entgeistern. »Unscharf denken!« fordern Plakate, an denen vorbei die Delegierten ihre Plätze einnehmen, »nur so können wir dem Schicksal entrinnen.« Einige Delegierte, vom schiefen Adel gezeichnet, den die Geburt in einem begünstigten Sonnensystem verleiht, ahnen, dass es kein Zurück mehr geben wird, sie sehnen sich nach dem Dampfschiff und da ist nur der wolkenlose Azur.
Wettlauf der
Konstrukteure. - Konstruierst du mich, so konstruiere ich
dich – so läuft das Spiel. Keiner konstruiert seine ›persönliche
Identität‹, das Ich bleibt immer zurück oder außen vor. Es
separiert sich, es ›bedeutet‹ nichts, es lebt verschattet, es lebt
von Bedeutungen. Warum das wichtig ist? Weil es zertreten werden
kann und Theorie noch immer der Erste Zertreter ist.
Zum Teufel mit der Identität – irgendeine wird sich schon finden. Identität hat eine Geschichte und speist sich aus vielerlei Quellen. Das ist insofern bemerkenswert, als viele sagen: Identität ist Identität, als wollten sie sagen: ich bin ich. Sie wollen damit ja nicht ihr besonderes Ich zum Ausdruck bringen, die Kindheit, die es geformt hat, die zehn stärksten Erfahrungen auf den üblichen Feldern, von denen es zehrt, eher wenden sie sich gegen den Prägehammer, mit einer leicht bittenden, leicht trotzigen Gebärde. »Bitte präge mich nicht«, heißt diese Gebärde, »präge mich nicht immerfort weiter, ich bitte darum. Eigentlich möchte ich so, gerade so, wie ich jetzt bin, nur ein bisschen dahinleben, ein bisschen länger, wenns geht, als andere Leute, ein bisschen kürzer als jene, die schon zu lang leben, jedenfalls sagt mir das ihr Blick, auch wenn sie anschließend anders reden.« Es ist eine Frage der Berufung. Man wird berufen und abberufen, man versucht einem Ruf Folge zu leisten, einem Lockruf zum Beispiel oder einem Wink des Schicksals, dem man besser nicht nachgehen sollte, Schicksal hat etwas Gefährliches.
Aber man kann sich nicht immer fernhalten. Man will es auch nicht. Manche Winke stammen direkt aus den Ursprüngen der Identität. Es kommt nicht darauf an, wie man ist, sondern aufs Durchkommen. ›Durchwursteln‹ zum Beispiel ist so ein Wort: wo die Passage eng wird, formt sich der Mensch zur Wurst, er würde auch jede andere Form annehmen, je nach Durchlass. Dieses Wursthafte lässt sich gut an Menschen studieren, von denen die Mitwelt sagt, sie seien erfolgreich, das geht oft bis ins Detail der äußerlichen Erscheinung. Aber man täuscht sich schnell. Die geschmeidigsten Würstchen wirken alert und proper und die Menschen lieben sie. Das ist leicht zu erklären: wer täglich zu Brei verarbeitet wird, der wünscht sich nichts sehnlicher als eine Haut, in der viele Menschen gern stecken würden. Eine Haut, die jede Füllung lächelnd wegsteckt – den Schmutz der Seele, die Trostlosigkeit der Gedanken, die Gnadenlosigkeit der Organe und vor allem die nächste Verwurstung. Rette deine Haut: aber wie? Aber wann? Aber wo? Und ist sie die deine? Bist das, was dich zusammenhält, du? Wer bist denn du? Dich wollen wir haben, denkst du, während wir dich vergessen. Zustimmung ist ein Ausdruck des Vergessens, wusstest du das nicht? Du bist gut, geh deiner Wege. Wir beneiden dich, also geh. Und wenn du schon gehen musst, zieh bitte den Karren ein bisschen weiter. Wir leben hier im Schlamassel, davon verstehst du nichts, dreh deine Pirouetten, aber sei kein Klugscheißer.
›Idiotes‹ (ἰδιώτης) hieß in der Antike derjenige, der sich gegen die Gesellschaft abschließt und sein eigenes Maß lebt. Das hat sich umgekehrt. I. heißt die Insel, auf der die Gesellschaft Urlaub macht – Kultur inklusive. Wer sie googelt, dem fallen die Augen aus dem Kopf. Ab unter den Teppich! Das nennt man: betretene Blicke.
Die These ist vielleicht nicht zu gewagt: Mit der westlichen Idolisierung der
Frau ist es für die nächsten Jahrhunderte vorbei. Noch
schlagen die Wellen der Propaganda gleichmäßig an den Strand, doch
da sitzen keine notorischen Bräuner mehr, Bulldozer ziehen ihre
Spur durch den Sand und türmen Hügel auf, die ahnen lassen, dass im
nächsten Frühjahr andere Formen des Auslaufs zu gewärtigen sind.
Die Heiligsprechung des ›anderen‹ Geschlechts im Namen einer
antizipatorischen Ideologie war, wie die vorangegangener
historischer Fackelträger, ein Flop: soviel versteckte, soviel
›durchaus‹ aktiv betriebene allseitige Aushebelung von...
Gerechtigkeit hätte niemand erwartet. Niemand? Als ob hier nicht
alle Karten gezinkt wären – wo alle erwarten, sind automatisch alle
Erwartungen im Spiel und die lautlosen wollen den Vorteil pur. Der
Gedanke, dass jedes System seine Gewinner und seine Verlierer
besitzt, liegt nahe und wird deshalb von vielen ergriffen, weil sie
ihn für eine Waffe halten, mit der sich aufkommende Unruhe bändigen
lässt, aber eine Woge lässt sich so nicht aufhalten, sie geht über
die Köpfe hinweg, vor allem, wenn sie sich rechtzeitig ducken. Das
System... jedes System verfügt über seine geheimen Hebelchen, von
denen sich das approbierte Denken nicht träumen lässt, weil es die
Beobachtungsfähigkeit der Menschen aus systemischen Gründen
unterschätzt. Es gibt eine subkutane Wirksamkeit der passiven
Existenz, die sich nicht erst auf lange Sicht, sondern als Wand in
allen Verhältnissen bemerkbar macht: als Wand der abgeschnittenen
Möglichkeiten, der sich willkürlich begrenzenden Phantasie, der mit
Vorsatz missbrauchten Sprache und einer schweigend sich erhaltenden
und fortpflanzenden Alterität des Wollens und Wünschens. Diese
Wand, in Bewegung gedacht, ist die Woge, die durch alles
hindurchgeht. Man sieht sie nicht, man spürt sie nicht, aber man
nimmt sie wahr.
Die Old Europeans finden die New Europeans nicht sehr prinzipienfest, jedenfalls in Sachen politischer Kultur. Kaum mit den Institutionen der Freiheit gesegnet, suchen sie ihr Heil in der Freiheit von den Institutionen – des Brüsseler Molochs natürlich, soweit das finanzielle Füllhorn darunter nicht leidet. Die New Europeans sind eine Erfindung der neuen Welt, in Westeuropa nennt man sie etwas pauschalisierend Osteuropäer, während sie selbst Europas Mitte für sich beanspruchen. Recht haben sie, geographisch gesehen, ganz recht, aber viel nützt es ihnen nicht – West bleibt West und Ost bleibt Ost. Europa, das heißt der Teil Europas, der sich Europa nennt, ist das alte nicht mehr, es hat aber kein anderes und seine Bauchredner finden, die alten Zeiten würden überbewertet. Und die neuen? Im neuen Europa halten die alten Europäer verbissen Ausschau nach den neuen Europäern, die ihnen schmackhaft gemacht wurden, aber vorderhand nirgends in Sicht sind. In der Zwischenzeit strömt viel Volk zu, das nur Europas Bestes will, Geld, Arbeit, Konsum, die einen Geld, die anderen Arbeit, wieder andere den Konsum: eine erhabene Bürokratie nennt diese Menschen, Strandgut der Globalisierung, um die Verwirrung zu komplettieren: Neueuropäer. Alteuropäer kommen, zumindest in Europa, nur spärlich vor, die letzten hauchten, schenkt man den Schülern Kosellecks Glauben, im Gefolge der Französischen Revolution ihr kostbares Leben aus, das war 1789, also schon ein hübsches Weilchen her. Eine radikale Minderheit unter den Gemeineuropäern stellen die guten Europäer – sie sind die Vorhut Europas, wie es noch keines gab. Man könnte sie ruhig unbedeutend nennen, hielten sie nicht praktisch alle Posten besetzt, die der alte Kontinent, soweit gehegt, seinen Hütern zu bieten hat. Alle anderen sind so ungefähr, was sie schon immer waren – Franzosen, Belgier, Ungarn, Polen, Luxemburger, Vatikanstatisten, It-…, It-… – und wollen es, wie es scheint, durchaus bleiben, solange die Neueuropäer noch nicht die Regie übernommen haben. Vor letzteren haben alle ein wenig Bammel. Nicht wenige verstehen sich, zum Erschrecken derer, die, auch im Kopf, schon länger hier leben, so ganz und gar … anders, dass manche Gerichte lieber das Wort verbieten, als den Tatsachen Rechnung zu tragen. Zum Glück verstehen die meisten Menschen sich selber nicht, das hilft, sich mit dem Nachbarn zu verstehen, sogar in der Fremde. Denn mit dem Verbot eines Wortes ist es selten getan. Ein Wort gibt das andere und alle wollen verboten sein. Langsam gehen Europa die Worte aus, die alten aus Unkenntnis, die neuen aus dem berechtigten Bedenken, es könne an ihnen etwas dransein – igitt. »Igitt«, krächzte Rabe – es war nicht Odins Rabe, aber vom Alter her kam es aufs gleiche heraus –, er krächzte noch lange, während der Stumpf, auf dem er saß, langsam wegfaulte. Er war nicht blind, er war nicht einäugig, er konnte nur nicht nach unten schauen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, deshalb blickte er starr geradeaus und versuchte sich vorzustellen, er fliege.
Ildefondo war ein großer Held. Er betrieb eine Hundezucht für den
Hades und ließ sich zur Erprobung ihrer Wut an allen beseelten
Stellen seines Körpers beißen. Um den grässlichen Schmerzen
standzuhalten, pries er heulend die lange vergessenen Götter der
Unterwelt und lobte ihr Wissen um Schuld und Sühne. Dabei glichen
die hellen Töne der Transparenz eines Schmelzofens im Bereich der
Titanen, wenn das flüssige Gold sich rötet, in ihren Tiefen aber
den Feuersbrünsten in Akkon, als die christliche Ritterschaft,
neuen Gestirnen opfernd, den Tempel des Hephaistos-Stupidides in
Brand steckte. Ildefondo starb, von Wunden bedeckt, unter dem
Sternbild der Krone im Kynokephalus. - PM
Nichts verzeiht die Luhmann-Gesellschaft schwerer als unverstellte Äußerungen persönlicher Ruhmsucht: das trifft die Poeten unter den Schriftstellern, die nicht billig genug sind, das Geldverdienen als Quelle ihres Selbstwertbewusstseins gelten zu lassen, ins Mark. Ein wenig Menschheitssauce muss dabei sein, die Kämpfer-Attitüde sagt zunächst und vor allem, ich bin nicht allein, ich bin einer von euch, falls ihr die richtigen seid, was ich zu euren Gunsten einmal annehmen will. ›Nehmt mich, ich komme nicht weiter in Betracht, es ist ganz belanglos, was ich da schreibe, es sei denn, in euch wird es zur Waffe. Reden wir nicht von mir. Ich hatte eine schwere Kindheit, aber gegen eure gehalten ging es mir gut. Wenn ich von mir rede, dann nur euretwegen, in Wahrheit rede ich von euch, immer von euch.‹ Nein, es schickt sich nicht, das Selbstbewusstsein eines Aretino zur Schau zu stellen. Es wird hart geahndet, werʼs versucht, wandelt als Toter unter den Lebenden, schlimmer, als einer, der nie gelebt hat. Es nimmt daher nicht wunder, wenn einer, der es nicht lassen kann, zu der Überzeugung gelangt, er wandle Wasser zu Wein, während es sich doch gerade umgekehrt verhält und aller Wein, den er ausgeben könnte, als Wasser den Hügel herunterläuft. Die schärfste Waffe der Gesellschaft gegen ihre Ausreißer ist das Befremden – das willkürliche Schwernehmen dessen, was leicht gesagt ist, knochenharte Ironiefestigkeit und jenes fatale ›Was soll denn das?‹, an dem alle ungleiche Ambition zerschellt. Wer die Selbsterhöhung im Wissen um die Wirksamkeit dieser Mechanismen betreibt und geduldig zusieht, wie sein Leben verrinnt, muss ein Blinder sein oder ein Großer. Zumindest darf er sich selbst das alle Tage sagen, weniger deutlich allerdings mit dem Zusatz, dass die Frage, die daraus entsteht, unentscheidbar ist, jedenfalls für ihn selbst. Es bleibt ihm daher nichts anderes übrig, als sich als Medium entwerfen, den Blick auf eine kommende Menschheit gerichtet, deren Urteil freier, genauer und wissender sein wird als das der gegenwärtigen – also auf den Weltgeist, falls er zufällig Hegelianer ist oder eine alte Liebe zu diesen Formeln bewahrt hat. Aber nicht die Welt wird der Rufer in der Wüste für sein Dilemma verantwortlich machen, sondern das Kollektiv, um dessen Anerkennung er buhlt, also die Nation. Wäre die Nation frei, sie würde ihm freudig zustimmen. Da sie mit Blindheit geschlagen scheint, scheint es vernünftiger, sie in Ketten zu denken: versklavt, verdummt, kopf- und ideenlos, ihrer historischen Sendung ledig. Platons Höhlengleichnis spukt in diesem Modell, es zuckt hier und dort und reißt an den verhandelten Gegenständen, so dass sie einen Zug ins Skurrile bekommen, obwohl sie doch menschlich sind und sein sollen. Die Höhle lebt, weh dem, der Höhlen birgt, könnte man über diese Texte schreiben, doch der Autor kommt einem mit dem unvermeidlichen »Die ihr hier eintretet, lasset alle Hoffnung...« zuvor und ist schon fertig.
Kein Wort ist so in Verruf geraten wie dieses. Erstaunlich, denn
gebraucht wird es nach wie vor. Welchen Sinn machte sonst das
Außen? – Es hat es aber auch zu bunt getrieben, dafür wird es hart
hergenommen. Im Innern
vergraben – das ist so eine Phrase, vor der sich die Leute
fürchten, als müssten sie dort ihr eigenes Grab schaufeln und es
mangelte ihnen an allem, vor allem an Zustimmung zu einem solchen
Unterfangen. Auch wüssten sie nicht, wo beginnen. Wo soll es sein,
dieses Innen? Und wenn man es fände, läge man dann schon drinnen?
Der Satz, Hölderlin sei nun genügend interpretiert, interpretiert
sich selbst, aber auf überraschende Weise. Hölderlin, befragt,
wüsste dazu nichts zu sagen. Das Genug! des Interpreten gilt ja nicht
einem Autor, es gilt dem eigenen Wahn, der nun durch Augen und Mund
nach außen tritt, nachdem er lange den Weg durch die Poren nehmen
musste. Nie wieder schwitzen um eines Gehaltes willen, von dem die
Interpretierten, armseliges Gewürm, nur hätten träumen können. Als
Rentner des Geistes kann so einer den Stoff entbehren, den er lange
kneten musste; im Alter beginnt er, sich die Hände zu säubern.
Mani puliti! Nicht, dass
er sich jemals durch Auslegung hervorgetan hätte, das haben andere,
die sein Scheelblick verfolgte, nein, dass er die Gedanken der
anderen als die eigenen ausgeben musste, ganz Stand der Forschung,
das macht ihn jetzt, da er mit allem durch ist, zu einer Instanz.
Er hat erfahren, wie wenig an alledem dran ist, wie wenig es das
Gehirn zu Gedanken zu bewegen vermag und wie wenig den Menschen zu
Taten – er hat das Drama der Vermittlung durchlebt und hält es für
das Drama des Geistes. Alles sinnlos! Das Alter träumt von
Arbeitslagern für Wissensvermittler, vom harten Weltstoff, der die
Regale füllt, auf denen eben noch das Gewebe der Verse ein
schalkhaftes Eigenleben führte, es wüsste, wo es die Schlüssel in
dem großen, kühlen Büro verwahrte, ließe man es noch hinein, aber
es hat Vertrauen in die Nachwelt und hält sich durch Reisen
schadlos. Die gereinigten Hände... in Unschuld... sie beenden die
christliche Epoche, die in jenen anderen begann, zupfend:
vorsichtig, beim leichtesten Widerstand stockend, ausweichend,
weitergleitend. Gedankenverloren, das ist so ein Wort, ein
seltsames Wort, ein Wort für Seltsamkeiten, die sich wegheben. Der
anämische Versuch, die Bücher über einer Faszination zu schließen,
die realer ist als man selbst, gemahnt an die Idee, den
homo novus als
Tischvorlage ›durch‹ zu bekommen. Hauptsache durch!
Genrebild aus den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts: Die
Intellektuellen und die Gesellschaft, aufgeteilt auf verschiedene
Räume, zwischen beiden eine verspiegelte Scheibe, die den Durchblick
nur in eine Richtung gestattet, den Einwegblick; man sieht, seitens der
Gesellschaft, die Intellektuellen rauchend auf hohen Stühlen, Tafeln
schwenkend, die sie zuweilen mit gesetzgeberischer Miene gegen die
unsichtbare Gesellschaft emporrecken. Niemand kann diese Tafeln auf der
anderen Seite entziffern, wo man sich wie vor einem Schaufenster
drängelt, im lauten Buchstabieren übt und gegenseitig Brocken von
Gelesenem und Erratenem zuwirft, von Erratenem oder Geargwöhntem, um
genau zu sein. Manchmal brechen Rufe aus der Menge hervor – Hoch- oder
Drohrufe, das ist schwer zu entscheiden –, während die Intellektuellen,
sich offenbar gegenseitig mit Schmähungen tiefreichender Art
bedenkend, in immer rascherem Tempo die Zeichen auf den verschiedenen
Tafeln löschen und gegen andere auswechseln. Ein Vorgang, der sie
gleich Puppen mit mechanisch wirbelnden Gliedmaßen in eine Bewegtheit
versetzt, die den Bereich zweckhafter Abläufe weit hinter sich lässt,
so dass die Menge, deren Faszination zunächst zu wachsen scheint, sich
allmählich, zunächst unwillig, dann mehr und mehr gleichgültig, erst
grüppchenweise abwendet und schließlich ganz zerstreut. Nur ein paar
Kinder bleiben und drücken sich an den freigewordenen Fensterflächen
herum, sie haben einwärts gekehrte Blicke und bohren sich in den Nasen.
Der Intellektuelle ist der Mensch, der durchblickt – woraus bereits erhellt, dass es sich um eine ausgestorbene Spezies handelt. Der einzige mit Durchblick unter den Heutigen ist der Börsenjongleur, und der kann gewaltig danebenliegen. Alle anderen sind Narrativwütige, Narrativgläubige, Narrativgeschädigte – in dieser Reihenfolge, es geht aber auch andersherum. Der Abgang der Intellektuellen von der weltpolitischen Bühne vollzog sich mit einem Knall, gefolgt von einem Seufzer. Ein paar von ihnen wurden nach dem Ende des sogenannten Sowjetreichs mit Tschingderassa und edlen Worten außer Dienst gestellt, ein paar gemeuchelt, der Rest verp… sich, als habe es ihn nie gegeben. Was aus ihnen geworden ist? Gute Frage. Wir wissen nur, wer ihr Erbe antrat: die Journalisten. Im Rausch ihrer neuen Würde begingen sie nacheinander alle Fehler im Schnelldurchgang, denen die Intellektuellen im Lauf der Jahrhunderte erlegen waren – mit dem Ergebnis, dass die Stelle des Intellektuellen gegenwärtig wieder vakant ist. Bewerbungen gibt es genug, aber sie werden nicht angenommen. Warum? Also noch einmal von vorn. Was dem Intellektuellen den Durchblick verschaffte, war seine Abneigung gegen die hergebrachte Religion und der kühne Entwurf einer neuen, auf reiner Skepsis gegründeten: dieses Programm hat sich, soweit die Spuren des Christentums reichen, fürs erste erledigt. Die neuen Religionen leiden, wie bekannt, unter einem Verpuffungseffekt. Das war und ist, auf Dauer gesehen, schlecht für jeden, der sich in diesem Geschäft tummelt. Man könnte auch sagen: Wer sich allen Ernstes auf den Posten bewirbt, besitzt ein Intelligenzproblem. Und das ist ganz ganz schlecht – für ihn und für jeden, der seiner Rede einen Rest von Glauben schenken möchte. Was also tun? Der neue Intellektuelle, so es ihn geben könnte, müsste schweigen können. Er müsste so beredt schweigen können, dass sein Schweigen als Mitteilung alle anderen aufwöge, so dass man unwillkürlich auf ihn hört. In einer Welt, in der alle von etwas anderem reden, erscheint das schwer, aber nicht unmöglich. Sagen wir so: Wer immer gelernt hat, mit Worten zu schweigen, dem sollte das Schweigegitter, das über der Welt hängt, nicht ganz unvertraut sein.
»Man hält gewöhnlich für Intelligenz, was in Wirklichkeit nur
fruchtbare und brillante Dummheit ist.« Das schreibt der deutsche
Verlag auf den Schutzumschlag eines der Bücher
Alberto Savinios, des Bruders von
Giorgio de Chirico. Man kann
auf andere Weise mitteilen, was man von seinem Autor hält, aber so
geht es auch.
Die Nachwelt schuldet den Millionen ermordeter Kulaken eine
Interpretatio rustica der
Geschichte. Das ist nicht leichthin gesagt und es erschöpft sich
nicht im obligaten Aufarbeiten dessen, was einmal gewesen ist. Kein
Bauer hat je öffentlich die Schlüsse gezogen, die nötig gewesen
wären, um den bäuerlichen Verlauf der Geschichte zu skizzieren und
gegen die hochfahrenden Pläne der Mächtigen oder zur Macht
Gezogenen aufzurechnen, und sollte es einen gegeben haben, so gab
es selten jemanden, der ihm zugehört hätte. Dennoch klingt die
bäuerliche Stimme klar und vernehmbar durch die Schiffbrüche dessen
herüber, was man einst Weltgeschichte nannte und heute am besten
sprachlich verhüllt. Die Leute bekunden schnell Sympathie mit
entfernten Bauernaufständen. Dabei tritt ihnen ein Lächeln ins
Gesicht, das man aus der Kindererziehung kennt. Auch sah ich es
einst zu Heidelberg, wenn der Neckar über die Ufer trat und die
feinen Karossen den Schnupfen bekamen. Aus Kindern werden Leute,
aus Bauern Agrararbeiter und schließlich Landwirte, das ist der
Lauf der Welt. Dennoch tragen wir diesen Bauern, den es nicht mehr
gibt, in uns, und manch einer trägt ihn sogar in seinem Namen. Gibt
es ihn also oder gibt es ihn nicht? Das ist eine Frage der
Anerkennung, wer darauf pfeift, verliert leicht seinen Einsatz.
Im Geschlechterkrieg befinden sich alle Kriegsparteien auf ein und derselben Seite: nicht allein in puncto Ideologie (hier vielleicht am wenigsten), auch in der Lebensführung bis hinunter zum täglichen Kampf ums Überleben. Ob diese Besonderheit zum Alleinstellungsmerkmal taugt, mögen Kriegstheoretiker entscheiden, aber sie reicht für eine Reihe von Beobachtungen, die dem einfachen Beobachter erlauben, sich selbst als Partei zu etablieren – als Partei der ›Vernunft‹, des Helfersyndroms, des Zynismus, der Häme, der koketten Identifikation mit dem Opfer, der bigotten Entrüstung, der Verachtung der Zeitgenossen und so weiter. Diese sekundären, teilweise tertiären Parteien umlagern die ursprünglichen, sie schließen den Ring um sie, nicht etwa, um den Kampf anzuheizen oder sich an ihm zu ergötzen, sondern um durch ihn hindurch ihren eigenen Krieg zu führen, angefüllt mit Vergeltungsdrang und beseelt von dem Wunsch, keinen Frieden zu geben, koste es, was es wolle, und dauere es, bis die Medien sich eines fernen Tages eines anderen besinnen sollten. Woher die Erbitterung? Warum der Aufwand? Nichts liegt näher als die Vermutung, dass hier InvalidInnen des Geschlechterkriegs aufeinander einprügeln, solange noch ein Funken Vitalität aus ihnen schlägt. Der Geschlechterkrieg, so ließe sich folgern, zählt zu den extremen Kriegsformen, bei denen allein das Schlachtfeld eine gewisse Aussicht auf gelegentliche Entspannung bietet, während das zivile Hinterland unerbittlich in Brand und Aufruhr versinkt. – Und auf welche Seite schlagen sich die primären Gegner? – Das entscheidet sich an der vertrauten Frage: »Gehen wir heute zu dir oder zu mir?«
Solange wir den Druck nicht verstanden haben, unter dem Iokaste
sich entleibt, solange bleibt dieses Stück unvollständig – ein
Scherben, an dem man sich ritzt, während man das eine oder andere
zu sehen glaubt, aber die Sonneneinstrahlung ist zu stark und das
Aufblitzen der Ränder entschärft den Blick. Vielleicht ist diese
Figur zu stark für das, was wir zu sagen wünschen und redend
vertagen. Vielleicht sollten wir von anderem reden und uns ihr
hinterrücks nähern. Vielleicht sollten wir einfach anders zu reden
beginnen – wie Leute, die mit einer Sache durch sind und nicht mehr
viel Federlesens zu machen bereit sind. Soll sie doch vor die Hunde
gehen. Wer ist überhaupt diese Iokaste? Menschen, die nicht
aufhören können, gibt es zuhauf. Besitzen sie erst die Mittel,
ihrer Schwäche nachzugehen, bis ans Ende und darüber hinaus, dann
werden sie, ganz richtig, zur Pest. Höre Ödipus, wie sonst nur
Gläubige hörten: du hast die Pest im Haus, du hast sie am Leib, du
hast sie überall, aber du bist sie nicht und du bist nicht ihr
Erzeuger. Ausgelöst hast du sie und ein Hauch davon schlägt dir ins
Gesicht. – Er ist taub, der Gute: ein Tauber. Sich am Haar der
Iokaste schneiden, das ist, das ist ... kein Verhängnis, eher eine
Dummheit.
Der kleine Prophet ist ein Prophet wider Willen. Darin liegt seine
Größe. Es schmeckt ihm nicht, wie da einer über sein Leben verfügt,
aber die Hauptsache ist etwas anderes. Er selbst ist ja dieser
andere, der kommt und geht, während er zu bleiben verspricht,
unablässig, als ginge es um nichts anderes. Das Herausreißen liegt
ihm, es liegt in ihm, in diesem unzugänglichen Selbst, dem kein Ich
nachkommt, einer fremden Macht, sehr anonym, sehr beherrschend,
sehr unstet und sehr drängend. Die Truhe, das Haus, das Kind:
lauter Interpretationen, die zugleich Beruhigungen sind,
aufgebrochen, eingeäschert, gemordet oder entführt, das Los
gezinkt, bleibt der Wal. Wer den Wal begreift, begreift auch die
Empörung des Propheten darüber, dass der in ihm angefachte Zorn
sich in den Straßen der großen Stadt Ninive verläuft – spurlos,
sozusagen, auf wechselnden Sohlen. Leider ist dieses Begreifen
nicht zu haben, unter Ausgespieenen versteht es sich von selbst und
die Münder schweigen. Andererseits reden sie ununterbrochen davon,
jedenfalls bleibt es ihrer Rede beigemischt oder unterlegt wie ein
Malgrund, ein Homomaris-Weiß, ein Wasweißich, so
könnte man es zur Not nennen. Den Tod gewinnen scheint ein
seltsames Los. Auch ist es kein Gewinn, sondern ein Verlust. Darin
liegt der leise Tadel des Blätterfalls. Das letzte Blatt fällt auf
den, der den Schatten liebt. Es könnte ihn bequem erschlagen, aber
so geht es auch.
Die Ironie – gestern zu Gast, heute wieder unterwegs wie eh
und je: was will ich mehr? Ich freue mich, wenn sie kommt, ich
spüre dieses leise Bedauern, wenn sie scheidet, aber ich weiß, dass
ich sie nie ganz vermisse: da liegt sie zwischen zwei Buchdeckeln,
leicht aufzuschlagen, ein Vergnügen, das ich mir gönne, sobald ich
mich seiner erinnere. Erinnere ich mich? Werde ich nicht erinnert?
Aber wovon denn? Da huscht es hin, es ist nicht zu fassen. Das
nicht zu Fassende selbst, welch hoher Besuch. Ironie hingegen
ist fassbar, das Inbild dessen, was nicht zu fassen ist, die
Hostie, der sich alle Häupter entgegen neigen. Alle? Ach Gott...
Beim großen Ironiefest gehen immer einige Gäste mit durch, denen
man ansieht, dass sie sich den Eintritt durch eine schicke
Maskerade erschwindelt haben. Nirgends sind sie so willkommen wie
hier, man erblickt sie auf dem Höhepunkt des Festes zur Rechten des
Gastgebers, er küsst ihnen reihum das Händchen und präsentiert sie
der Menge. Das Wort ›Beifall‹ erinnert an dieses Zeremoniell, die
Anfälligen wissen, worum es geht.
Zu den Klängen des Liedes »Gehab dich wohl, du Volk der Irren« verabschiedet sich der scheidende Präsident von seinem Volk, das ihn voll Bierseligkeit umarmt und an seine breite Brust drückt. Stark! Der Präsident, verhakt in die Klunkern, die das Volk anlegt, wenn es sich an der bleichen Herbstsonne wärmt, rühmt die herzzerreißende Szene und winkt seinen bodygards, sie mögen ihn aus der misslichen Lage befreien. Schon sind sie Gefangene des Systems. Die vergessene Fontäne beschließt, das Ihrige beizusteuern und lässt es regnen über Gerechte und Ungerechte. Es sind die Gerechten, die sich beschweren, während die Ungerechten die Schuhe ausziehen und nackten Fußes ein Referendum herbeifordern. Zu welchem Zweck? Fällt der Abschied so schwer? Warum herbei? Warum nicht heraus? Der Präsident, noch im Amt, schwankt, doch der Abschied, einmal vollzogen, biegt seine Nerven nach rechts und links, aufrichtig ist nur der Wunsch zu entkommen. Das Referendum erscheint, wirft Sprengkörper in die Menge und erklimmt die Stufen der Akademie. Was will es dort? Die Menge jauchzt und bewaffnet sich. Ein paar Ausländer werden johlend erkannt und außer Landes gejagt. Erkenne, was vorgeht! Erkenne dich selbst! Genug ist nicht genug. Warum sagt einem das keiner? Was stehen die da herum? Sind sie schwer von Begriff? Was geht es die an, wenn das Volk den Ernst der Lage begreift? Der Präsident, der nichts begreift, wandelt sinnenden Hauptes hin und her, auf und ab. Er erwägt das Exil. Im Exil soll es warm sein. Ein warmer Regen. Ist das ein Witz oder Irrwitz? Die Minister, sieht er, sind schon gegangen. Jetzt geht das diplomatische Korps. Mit wem soll er fernerhin sprechen? Soviel versteht er: Das Land ist in keiner guten Verfassung. Den Leuten fehlt es am Glauben, dem Glauben fehlen die Leute. Er fehlt ihnen, sie hätten ihn gern zurück. Ganz ehrlich. Nur der Glaube verweigert sich. Einmal zerronnen, immer entzweit. So sieht es aus. Er wollte sie glauben machen – verschwendete Zeit! Und jetzt? Ein Liebesdienst für die Seele! Ein Glas Wasser für den Leib! Ein Schluck Whisky für den Glauben! Ein Abendmahl für den Verstand! Eine Initiative für alle, die reinen … wie hieß das gleich? Ein Anruf für den Präsidenten – da rauscht er hin.
Der militante Islam hat erreicht, wovon Sekten ansonsten nur träumen: das perfekte Freund-Feind-Verhältnis zur umgebenden Welt, in dem die vermittelnde Rede erstirbt, weil es nichts zu vermitteln gibt. Aber wer hat erreicht, dass es soweit kommen konnte? Der militante Islam muss mächtige Förderer haben – und keineswegs nur unter Muslimen. Recht besehen, ist sein erster Feind der nicht-militante, also der zivile Islam, der sich, um nicht ins Visier der Mörder zu geraten, ängstlich an seine Seite stellt, aber dabei um nichts in der Welt ertappt werden möchte. – Wer so redet, gerät leicht in den Verdacht der Islamophobie, einer Angst, die so furchtbar zu sein scheint, dass alle sich vor der Ansteckung fürchten. Kann man sich vor einer Angst fürchten? Welche Furcht drängt sich da zwischen mich und die Angst, die so groß ist, dass ihre schiere Größe mir Angst einjagt? Anders gesagt: Wieviel Angst muss einer schon haben, um sich so zu fürchten? Zuviel jedenfalls, viel zuviel. Merke: Wer dem anderen seine Angst zum Vorwurf macht, hätte gern keine. Aber es bleibt ihm verwehrt.
Im Hochland der Träume reitet, schläft,
darbt man auf eigene Kosten. Das alles darf, wer will, niemanden
kümmert’s, und neuerdings darf, wer darauf aus ist, auch töten. Das sind
nicht die Freifeuerzonen vergangener Zeiten, in denen die Freiheit
des Feuerns der Erledigung eingebildeter Gegner diente, sobald ein
Sergeant Lunte gerochen hatte. Inzwischen feuern die Kräfte wieder
gezielt, nach langer Pirsch, damit es sich lohnt. Auf die Pirsch
kommt es an. Man hat sich mit ihren Elementen beschäftigt
und sie ist nicht mehr dieselbe. Fast könnte jemand meinen, sie habe
das Geschlecht gewechselt – welches auch immer. Sie hat den fatalen
Ruch des Anschleichens völlig verloren, sie ist sozusagen klinisch
geworden und vollzieht sich am Bildschirm. Der Rest
wird erledigt, sobald man ohnehin in der Gegend zu tun hat. Ein Maschinchen
schwebt ein, vorbei, alles ist, wie es sein
muss, kaum ein Beteiligter riskiert einen Blick übers Ziel hinaus.
Blattschuss. So verlieren die langen Wege sich im Dunkel einer
Vergangenheit, wo einer am Gegner klebte, fast eins mit ihm wurde,
seine Lebensgewohnheiten in sich einfließen ließ wie einen zähen,
bitteren Saft, seine Schuhe anzog, wenn sie der andere in
grenzenloser Nachlässigkeit hinter sich warf, in erbitterten Fällen
seine Lebensgefährtin umwarb, was sie einem nicht selten durchgehen
ließ, schließlich, nach jahrelangem Bemühen, sorgsam die
unauffälligste Mordart wählte, so dass es heißen konnte, der andere
sei, wenn schon nicht eines natürlichen, so doch eines selbst
gewählten Todes gestorben. Heute nimmt man das Wort ›Sterben‹ kaum
mehr in den Mund, denn es lohnt nicht. Es gibt keinen Übergang. Mit
dem Übergang verschwand auch die Hoffnung, nicht aufs Überleben,
sondern aufs Jenseits. Auszulöschende hoffen nicht. Eher diffundieren
sie, ohne zu wissen, dass sie gejagt wurden, selbst diesen Triumph
hat man ihnen genommen. Wer heute, wo auch immer, gen Himmel starrend die Fäuste ballt und murmelt: »Ihr werdet mich nicht kriegen!«, ist
ein Fall für das Irrenhaus. Versuchen Sie’s.
Der eine Teil der Literatur besteht aus Andeutungen, der andere aus Dementis. Keine Aussage ist so unsinnig, dass sie nicht dementiert werden könnte. Der Unsinn der Literatur, er kann, er soll, er darf dementiert werden. ›Darf dementiert werden‹ – das klingt wie ein Aktenvermerk, nur die Akte wurde verlegt. Da passt es gut, dass die Literatur, richtig betrieben, nichts zu tun hat. So verfügt sie über alle Zeit der Welt, um – was? Um zu dementieren. Mit der Zahl der Dementis steigt ihre Bedeutung in geometrischer Progression. Wer viel verneint, ist der nicht ein großer Verneiner? Wer alles verneint – unertappt, hintereinander, in immer neuen Anläufen –, wäre der nicht der Größte? Ganz sicher. An derlei Größen herrscht kein Mangel, an ihnen arbeitet sich ab, wer noch mit dem Glauben ringt. Eine trächtige Klientel! Daher wächst das Verneinte mit – und an – seinen Verneinern. Jede neue Verneinung der Literatur fügt ihr, einmal mehr, alles hinzu, was sie jemals behauptete, und sie bleibt so richtig wie falsch wie ehedem. – Und dennoch und dennoch – es muss geklagt werden! – nimmt ihre Bedeutung ab. Wie kann das sein? Nun, die Erklärung ist einfach, fast zu einfach für einen, der im Bilde ist, vermutlich, weil er einst aufbrach, um Bildung zu erwerben: wo alles gesagt ist, fließt der Redestrom aufwärts, den Quellen zu. Keine entgegenkommende Welle kann ihn dauerhaft zur Umkehr bewegen, unbeirrt hält er Kurs auf das erste gekritzelte Zeichen, das große DA.
Es gibt den Jakob und es gibt den billigen Jakob. Das ist bekannt, jeder weiß es, dennoch haben wir Veranlassung, ein wenig dabei zu verweilen. ›Es gibt‹ – was zum Teufel heißt das? Oder, um den Teufel aus dem Spiel zu lassen, wo kommt das her? Wir meinen, das Gegebene braucht das Gebende, sonst wäre es nicht, was zu sein es behauptet. Behauptet es denn dergleichen? Was behauptet das Gegebene? Seinen Platz, ganz recht. Das Gegebene behauptet seinen Platz, sonst wäre es nicht das Gegebene. Es geht nicht weg, soll das heißen, nur weil jemand kommt und ruft: Platz da! Nein, da ist kein Platz, kein freier jedenfalls, denn da sitzt das Gegebene. Das Gebende wird sich etwas dabei gedacht haben, keine Gabe ohne Hintergedanken, das gilt vor allem in diesem Fall, in dem das Gebende im Hintergrund bleibt. Die Suche nach dem Gebenden scheitert am Gegebenen, es vertritt das Gebende, es ist, als sei dieses selbst anwesend, aber es ist nur das Gegebene. Ist es ein Stellvertreter? Das hieße allerdings, dass die Stelle, die es einnimmt, in Wahrheit dem Gebenden gebührte. Warum tritt es nicht hervor, um sie einzunehmen? Hindert es etwas daran? Gibt es ein Hindernis auf seinem Weg in die Wahrheit? Was wäre, gesetzt, es gäbe so etwas, in diesem Falle das Gebende? Das sind schwierige Fragen. Sie zu erörtern bedarf es der Luft und der Wärme, wie nur die Bewegung sie gibt, die langsame, zockelnde, hügelauf, hügelab sich entfaltende – ja, sie schlägt Falten, die Bewegung, solange sie sich nicht dem großen Ziel unterordnet, in dem das Geheimnis nistet, um zu erbrüten, was jeder Gedanke, gedacht oder ungedacht, umschließt wie die Faust die Ampulle.
Jedes Frühjahr werden die Bewohner der tiefergelegten Regionen der
Gesellschaft vom Jammer überrollt, das ist ganz natürlich, man
könnte es den ehernen Gang der Dinge nennen, aber man macht sich
schon ohnehin lächerlich. Was Linguisten dabei beschäftigt, ist der
Gedanke, dass ›überrollt‹ und ›unterspült‹ in diesem Fall ein und
dieselbe Bewegung meinen, gleichsam die Backen einer Zange, die so,
wie sie konstruiert ist, gar nicht anders kann. Für die Bewohner
ist das nicht unproblematisch. Während sie sich vor den
umherfliegenden Dachziegeln in Schutz zu bringen versuchen, sich
kaum mehr erinnernd, dass es die eigenen sind, drückt die
eigentliche Gefahr von unten gegen die Keller, die noch von der
letztjährigen Flut feucht sind, aber doch gerade in den letzten
Wochen hoffnungspendende trockene Flecken aufzuweisen begannen.
Hier zeigt sich, wie wenig hilfreich die Bauvorschriften in
Wahrheit sind, wie sehr sie, korrekt gehandhabt, die Flut in ihrem
Vorhaben unterstützen, der eine menschliche Absicht zu unterstellen
niemand wagt – das hieße ja die Sterne anbellen wie ein Hund, wo
käme man da hin. Und dennoch wurden die Vorschriften gegen die Flut
erlassen. Sie können nur nicht so schnell geändert werden, wie die
Flut ihr Aussehen wechselt. Jede Anpassung bekämpft die Schäden vom
Vorjahr und steigert die Tücken der diesjährigen. So speziell
fallen sie aus, dass bereits eine geringe Änderung der Stoßrichtung
genügt, um den nächsten Ansturm als eine Woge der Hoffnung
erscheinen zu lassen, die die Bewohner trägt und ihnen, schaukelnd
zwischen den Wipfeln der Parks, die für ihre Gemüter und ihre
Gesundheit angelegt wurden, die Illusion des aufrechten Ganges
beschert. Dafür nehmen sie vieles in Kauf. Vor allem missfallen
ihnen die Warner: unken, so meinen sie, können sie selbst. Die Unke
freut’s; sie hat frei und stirbt kummerlos in den Sielen.
Auch im Kicher-Universum der Bachtin-Jünger hält das Echte und
Wahre Abstand vom falschen Tand. Und wie so oft beeilt man sich,
das Echte außer Landes, bestenfalls in der Provinz anzusiedeln,
dort, wo man als Tourist das Gefühl hat, bereits fremdes Terrain zu
betreten. Der rheinische Karneval ist Kommerz, die allemannische
Fasnacht ist die aus der Zeitentiefe kommende Emanation des
Volkssinns, ein wahres Volksbegehren, aber man soll sich nicht
lustig machen. Die einfache Überlegung, dass das Saufen einerseits
eine lange Tradition besitzt, andererseits völlig traditionslos dem
Heute entspringt, genügt nicht, um die Ehrfurcht vor dem Herkommen
zu mindern. Wer die Maske herausholt, soll unter einem tieferen
Bann stehen: dem Bann einer ursprünglichen Freiheit, die mit der
Freiheit oder dem Zwang, sich zu amüsieren, zwar in einem losen
Zusammenhang steht, aber erst unter dem Zugriff der Interpreten und
der diese interpretierenden Tourismusführer in ihrer wahren
Dimension aufscheint. Dieses Aufscheinen hat mich oft beschäftigt,
es hat etwas zu tun mit der Murmel in der Hosentasche des
Banknachbarn in der frühen Schulzeit, die kostbarer war als die der
anderen und deshalb nie wirklich herausgeholt, sondern gleichsam
nur an die Oberkante der Hosentasche gehoben wurde, wo einige
wenige Erwählte sie kurz bewundern durften. Auch sie
sahen wenig und hätten sie gern in aller Ausführlichkeit
besichtigt, aber das wäre der Erwählung zuwidergelaufen und deshalb
begnügten sie sich damit, den Ruhm der Kugel und ihres Besitzers
weiter zu tragen.
Das konkrete Jenseits ist der praktisch unbegrenzte Kredit. Wer ihn genießt, ist vielleicht kein einzelner Mensch, aber etwas Menschliches: einer jener System-Anker, deren Funktion darin besteht, die Funktionalität des Systems zu garantieren. Diffundiert die Funktion, so diffundiert auch die Instanz, das heißt, das Kapital, jedenfalls auf lange Sicht. Kurz- und mittelfristig liegen die Dinge anders. Auch das Dysfunktionale nimmt Aufgaben wahr und kann dauern. Es kann sogar wachsen, jedenfalls für eine gewisse Zeit, so wie die Macht der Könige noch wuchs, als es objektiv mit ihnen bereits vorbei war. In jeder Macht, die sich überlebt hat, liegt etwas Seelenloses, das die Menschen mehr empört als der Missbrauch selbst: abhängig zu sein, wo kein Glaube mehr existiert, ist Pein. Besser, man hält sich seinen Glauben wie einen Hund – glauben zu glauben und glauben machen, Männchen machen und Pfötchen geben, stets die Leine in Griffweite, das hilft in die Ferne, aber den Nächsten verstimmt’s.
Das Jenseits, nicht der Jenseitsglaube, ist das Kernstück der Religion. Wie kann man an etwas glauben, das so bedrängt? Das Jenseits enthält keine Frage, es verträgt keine Frage, so wie es keine Antworten gibt. Ein Wort, ein Ant-Wort, ein Entleerer, weit radikaler als jedes Nichts, weil es auch die Negation verweigert, in der das Negierte durchscheint. Ja, es gibt Nichtse, und nicht zu knapp, die von einer Seite aus betrachtet einander gleichen wie eine Eidechse der anderen, von der anderen aus jedoch das ganze Spektrum der Kulturen aufreißen, deren sich die Menschheit als fähig erweist. Das Jenseits jedoch, in seiner schwebenden Unerreichbarkeit, streift spielend alle Modi der Entrückung ab, in denen die Menschen ihm zu begegnen wünschen (und zeitweise wirklich zu begegnen glauben), es bleibt jenseits – widerstandslos, wie seine Verlagerungen in die Zukunft zeigen: es steht bevor. Wer darin ein Zeitzeichen sieht, dem stehen große Zeiten bevor, er verfügt über die Lizenz, seine Mitmenschen über Gebühr zu quälen oder zu belästigen und nichts und niemand weist ihn zurück.
Ja, es gibt ein Jenseits nach dem Jenseits, so wie es eins davor gibt. Und natürlich gibt es nichts dergleichen. Wer aus dem Koma zurückkehrt und verkündet, er sei im Jenseits gewesen, dem hört man höflich zu – hört sich an, was er zu sagen hat, und geht seiner Wege. Es schickt sich nicht, einem sein Jenseits streitig zu machen. Das Jenseits ist jederzeit jedermanns Jenseits. Darum fällt es so leicht, sich darüber lustig zu machen. Ein so leichter Besitz zählt nicht... jedenfalls nicht dort, wo Besitztümer gezählt, gewogen, ausgeteilt oder einkassiert werden, gleichgültig, ob in Gedanken, in Worten oder in Taten. Das eigene Jenseits, nun, das ist eine andere Sache, darüber reden wir ein anderes Mal.
Als Säule des Spießertums erwies sich bei allem
Onkel Johannes, der bei uns blieb alle Tage, manche sagen: seit
Christi Geburt. »Jo, Hannes!«, sagen die Kölner, sie meinen ›Ja,
Hannes‹, aber eigentlich meinen sie, er solle endlich die Klappe
halten, damit nicht alle im Raum einen Schnupfen bekommen. Hannes
hält nichts davon, er schwadroniert, was das Zeug hält, und lässt
sich nicht von seinen Überzeugungen abbringen. Johannes steht nun
einmal für Überzeugungen, das ist sein Markenzeichen, dafür ist er
berühmt. Er hat die Apokalypse entdeckt, ganz allein, und packt
alles in sie hinein. Die Apokalypse ist ein tiefer Brunnen, auf
dessen Grund man es glucksen hört. Mehr weiß man nicht und mehr zu
wissen schickt sich auch nicht. Der Rest ist ein riesiges Maul, es
schiebt und mahlt, während es doch immer gleich offen für alles
bleibt, was fliegen will. Manche behaupten, die Apokalypse wurde
erfunden, um zu vernichten, was fliegen will. Doch Vernichten ist ein
großes Wort und nicht alles, was fliegen will, kann es auch. Manches
wandert ganz allein in Richtung Apokalypse. Vor allem aber ist sie
keine Erfindung, egal, was ihre Gegner behaupten. Sie wurde entdeckt
und da ist sie. Sie war schon immer da, vermutlich wurde sie viele
Male entdeckt, es bereitet ihr Freude, entdeckt zu werden, vermutlich
die einzige, sie sie kennt. Apokalypse ist freudlos. Das sah Papa
Freud genauso, was er als Todestrieb ansah, war nichts weiter als die
Anwesenheit der guten alten Apokalypse, die sich dagegen wehrte, im
Pandämonium der Lüste zu verschwinden. Als die natürlichen Feinde
der Apokalypse haben jene altertümlichen Frauen zu gelten, die
wollen, dass ihre Männer nach Hause kommen und sich um Kinder und
Abwasch kümmern: »Johannes!« Die Apokalypse erledigt alles in
einem Abwasch, aber es braucht seine Zeit. Erst wenn jene
altertümlichen Frauen von der Erde getilgt sind, ist sie da.
Als die Nicht-’68er unter den Post-’68ern, also diejenigen, die der Zeitgeist zwar berührt, aber nicht überzeugt hatte, nach dem Zusammenbruch des östlichen Systems die sogenannten Nischen besichtigen durften, in denen sich das dortige geistige Leben der Legende nach gegen die herrschende Zumutung zu behaupten gewusst hatte, fiel ihnen auf, dass die Schubladen leer waren und sie fühlten sich sicher und warm angesichts der langen Listen ihrer eigenen Publikationen. Heute, da der Beruf sie entlässt, stellen sie fest, dass just diese ihnen zum Ärgernis wurden, dass auch die eigenen Kammern leer sind, dass auch sie ihrer Zumutung erlegen waren, dass sie neu anfangen müssten, wollten sie wenigstens den Impuls ihrer Anfänge retten – warum? Weil sie den Einspruch, mit dem sie antraten, zugleich formuliert und nicht formuliert hatten, so dass er unsichtbar bleiben und von den herrschenden ›Lernprozessen‹ spielend aufgesogen werden konnte. Warum? Weil sie leben wollten, weil sie den Eintrittspreis entrichteten, weil nur wenige von ihnen in die Arena gelassen wurden, weil sie Vereinzelte waren, ohne Verbindung untereinander, aber unter ständiger Aufsicht seitens derjenigen, die da so gelassen-stolz vor ihnen her marschierten und die Richtung angaben, weil … weil … sie nicht durchfallen wollten. Nun sehen sie, dass sie Durchgefallene sind, denen niemand helfen kann und niemand helfen will, weil die Welt sich weitergedreht hat, sie glauben und hoffen noch, dass ihre Welt kommt, und müssen – bitterste Lektion – einsehen, dass ihre ›politischen‹ Altersgenossen, die weder Vorbehalte noch Skrupel kannten, dafür aber das Zeug zum Vollstrecker besaßen, im Recht waren – es war ihre Zeit, sie haben sie genützt und nehmen ihre ›Beziehungen‹ mit in den ›Unruhestand‹, als könne und dürfe niemals enden, wofür sie standen. Wofür sie standen? Für alles, was heute den Juckreiz der Welt erzeugt – sie will sich davon losreißen und reißt, wo sie beginnt, sich selbst die Haut ab. Ob es der Beginn einer Häutung ist oder einer langen Krankengeschichte, wer kann das wissen? Wer will das wissen?
Es ist glaubhaft, nichtsdestoweniger unwahr, daß sie es aus
Gerechtigkeitssinn getan hat. Auch war sie vorher keineswegs durch
übermäßigen Patriotismus aufgefallen. Allerdings verkehrte sie in
einschlägigen Kreisen, das sollte bedacht werden. Die Gründe, es zu
tun, lagen damals wohl auch auf der Hand. Beeindruckt war sie,
ehrlich gesagt, von ihnen nicht. Sie hatte keine, wenn Sie
verstehen. Sie war einfach zur Stelle, als es sich ergab. Sie ist
der Typ Mörder, dem man das Messer aus der Hand nehmen muss wie
einem Kind, damit es sich nicht schneidet. Wenn alle dann um sie
stehen und sie langsam aus dem verkrusteten Tuch das begehrte
Objekt des Hasses hervorzieht, sprachlos, versteht sich, wirkt sie
wie – nun, wie in Bronze gearbeitet, etwa. Nichts zu berichten, zu
rechtfertigen, zu bejubeln. Aber dieser Kopfschmerz lässt nach.
Mit dem Alter immer jünger werden: herbes Los für jemanden, der
stets jünger erscheinen wollte, als es ihm zukam, weil das
Herzstück der Empfindung, die Empfindungslosigkeit, ihn früh aus
der Zeit katapultierte. Es ist ja nicht so, dass so einer nichts
empfände. Im Gegenteil, sein Empfinden, der eigenen Schmalheit
bewusst, schafft sich Gefälle und Springbrunnen, in denen es
steigt, wenn ringsum die Horizontale herrscht. Das gelingt auf dem
Schlachtfeld wie in der Etappe. Den längsten Teil eines solchen
Lebens herrscht Nachkrieg: das Rekapitulieren der alten Schlachten,
die Nähe zu den Befehlshabern, die Regeln der Sub- und
Insubordination, fein gegeneinander aufgefahren, die bösen Träume
und die Glücksgefühle im Unglück, all das ist bedeutsam und muss
käfergleich untersucht und abgelegt werden, so dass zur
Empfindungslosigkeit die Verlangsamung tritt wie der Traum an die
Seite des Schlafes und der Schlaf neben den Tod, der das Leben
begleitet und abgrenzt, und wie der Tod neben das Summen des
Geistes, der in Schichten denkt. Warum das? Weil das unablässige
Einsinken der Gegenwart nichts anderes zu denken erlaubt. Wie tief
sind wir bereits gesunken? Wie viele Stockwerke türmen sich bereits
über uns? Und doch sind wir alle noch immer vorhanden und bewegen
uns umeinander herum, ausgenommen die Toten, die immer anwesend
sind und keiner weiteren Bewegung bedürftig. Die Entdeckung der
Zeitmauer kommt da gerade recht; sie erlaubt es, die Zeit der
Zerstreuung zu nützen. Im Wissen darum, nicht weiter gekommen zu
sein als bis hierher und darum alles Recht zu haben, hier zu sein
bis in alle Ewigkeit, verschmelzen die Generationen und Horizonte,
auch das Vergangene wird greifbarer denn je und das Wort
›Archäologie‹ mutiert zum Spaten in der Hand des Schreibers, den
jeder Federkiel freut. Jünger sein, jünger werden: wer es mag, dem
bekommt, was er bekommt, noch hinein ins Unbekömmliche.
Brav sind sie, brav, die Künstler. Des Rad des Ixion steht still,
es dreht sich nichts. Was sich gedreht hat, sind Publikumshass und
-gunst: Wer Kunst macht,
produziert für ein Achselzucken. Das ist viel wert, vergleicht man
es mit der lästigen Angewohnheit früherer Epochen, angesichts fader
Genüsse und alberner Großmannssucht in Gelächter auszubrechen oder
Verbalinjurien zu streuen. Andererseits sind beide Seiten gereift:
wenn irgendwo ein Scheckbuch gezückt wird, wissen sie, es hat
geklappt, und warten weiter. Die Erwartung hält stramm, sie hält
auch straff – wer wollte denn alt aussehen, wenn er endlich unter
dem Füllhorn steht? So bleibt die Kunst, was sie immer auch war:
ein Jungbrunnen für Leute, die keine Angst davor haben, hereinzufallen und um
eine Erfahrung ärmer wieder herauszuspazieren.
Wie sieht eigentlich die Welt aus, in der sich junge Frauen bewegen, deren Auftreten hundert sichtbare und unsichtbare Hebel in Bewegung setzt, um jedes Hindernis für ihr Weiterkommen aus dem Weg zu räumen, um die herum der geballte Einsatz von Studien, Berechnungen, Statistiken, Planungskommissionen und Fördereinrichtungen dem einen Zweck dient, Raum zu schaffen, Räume zu schaffen, in denen sie sich entfalten können, dürfen, sollen, müssen, unbedingt müssen, auf dass der Idee der Gerechtigkeit Genüge geschehe, die darin besteht, dass sie besser sind und Besseres verdient haben – z. B. als ihre Mütter, die auch schon Besseres verdient hatten als ihre Mütter, die wahrlich Besseres verdient gehabt hätten... hätten, wenn ihre Verstrickung in heillose Frauenbilder ihnen die Chance gelassen hätte, anders zu werden, als sie, Diktatur, Krieg, Wiederaufbau beiseite gesetzt, nun einmal wurden... Wie sieht sie wirklich aus, diese Welt, in der das Einfachste kompliziert, weil fast unmöglich geworden ist, in der das Sich-Gehenlassen, wie es nun einmal im Leben geht, als Unbotmäßigkeit bestraft wird und Gedanken an asoziales Verhalten weckt, in der im Leichten das Leichteste schwer wird, in der von der Mutter oder Großmutter nur die Tücke überleben darf, das untrügliche Zeichen einer großen Überforderung, die durch kleine Rachen und Winkelzüge lebbar gemacht wurde? Wie sieht diese Welt aus reinem Anspruch, Migräne, Leben pur und routiniertem Absturz in Zustände aus, zu denen nur Therapeuten halbwegs gesicherten Zugang erhalten? Seltsam muss sie aussehen, ohne Frage, gepflastert mit Sprüchen, deren grenzenlose Fadheit nicht weniger verpflichtet als irgendein heiliger Glaube, von dunklen Gesetzmäßigkeiten wie Drahtseilen durchzogen, an denen die Leichen künftiger Leben baumeln, die nicht gelebt werden dürfen, weil das zu einfach wäre, dem Dauer-Anspruch eines Dauer-Ich dienstbar, das sich an seinen Baustellen selten blicken lässt, es sei denn, es steht unter Strom und will irgendwie mehr, eine Akteurs-Welt aus lauter Beweisen, die niemandem imponieren außer jungen Männern, die bereits überzeugt sind und geduldig und unsicher das Feld zu überblicken versuchen, bevor sie aufgeben, was sie doch nicht halten könnten. Manche findet den kleinen Ausgang im Hintergrund links, den sie nicht verrät, höchstens in Andeutungen, die verräterisch sein dürfen, ohne dass sie mit gesellschaftlichem Liebesentzug bestraft würde. Bleibt, wie immer, der Konsum, dem ohnehin alles dient.
Die Politik des neuen Jahrtausends steht im Zeichen der Jungfrau: jenes strahlenden Wesens mit prächtiger Mähne, das endlich einmal auf allen Kanälen sagen darf, wie es sich seine Welt vorstellen könnte, so dass die alten Hengste gerührt zur Seite blicken und sich insgeheim fragen, ob darin wohl noch ein Plätzchen für ihresgleichen zu finden wäre. Sie sind bereit, etwas springen zu lassen, diese Vision wäre nach ihrem Herzen. Leider ist Anmut, auch unter Jungfrauen, ein rares Gut, und was die Visionen angeht, so überfällt selbst ein reines Herz gelegentlich der Verdacht, es könne missbraucht werden, wenn es sich nicht hütet. Doch auch die Hengste zeigen sich seltsam blockiert, sobald es an die Umsetzung ihrer lieblichen Eindrücke geht. Draußen herrscht ›Mutti‹, das Realitätsprinzip ohne Profil. Und nicht nur draußen. Sicher, man ist bewegt und will etwas bewegen. Recht betrachtet, bewegt sich schon viel und man selbst kämpft an der vordersten Front. Ein Schritt zuviel und man fiele. Wenn alle mitzögen, könnte man mehr tun, viel mehr, aber daran ist, nach Lage der Dinge, nicht zu denken. Junge Frau, Sie zeigen mir Ihre Welt und ich zeige Ihnen meine – abgemacht?
Angeblich eine im
Traum des Apelles erwähnte
Farbe von rötlichem Blau zum Schaden entehrter Künstler. Die Farbe
soll wohl im attischem Dialekt, etwa wie ›Lokopaitomon‹, ›Getränk
der Blinden‹ bedeuten und zur feierlichen Vergiftung geblendeter
Maler bestimmt gewesen sein, denen das Geld für eine Vergoldung
ihrer Maltafeln fehlte, was im alten Athen einer bösen Vorbedeutung
für den Auftraggeber gleichkam. Ebenso zögerte man zu den Zeiten
der schlimmen Tyrannen keinen Augenblick, einen Maler zu töten, zu
blenden oder zu verbannen, wenn er das hohe Versprechen, das Wort
›Römer‹ niemals – selbst nicht wegen der kostbaren
Roma-Büttenpapiere – in den Mund zu nehmen, brach. Nur den Ort
Fabriano erlaubte man gnädigst. Hinzu kommt, dass der Maler in
Zeiten hoher Tabus jedem Auftraggeber versprechen musste, im Namen
einer neuen Venus animalis
Purpur und derbes Gold aufzulegen. Wenn ihm dies aber durch
Genialität und Anspruch, gelegentlich wohl auch aus Not, nicht
möglich war, verstieß ihn der Zeitgeist und man zog aus der Reihe
gierig wartender Dilettanten einen genügend maskierten Lumpen zur
weiteren Übernahme des Werkes ans Licht. Dies gehört, im Gegensatz
zur falsch verdächtigten Knabenliebe, zum wahren Untergang
Griechenlands. Erst die Kultur, dann das Land. Es gab zuviel Mist.
Man merke sich das.
Aber es gibt auch eine andere Version der Bedeutung dieser
geheimnisvollen Farbe. Der im Traum sprechende Daimon wiederholte
mehrfach das Wort ›Thanatos‹ und warf verfaulte Strohhalme in ein
bläuliches Feuer. Dabei steht fest, dass kein irdisches Wesen Stroh
zu Gold spinnen kann und auch in Athen die Maler nur irdische Wesen
waren, wenngleich »von erhabenen Bärten und Locken köstlich
umwallt«. So entstand aus Frechheit der Dilettanten bereits zu
dieser Zeit ein Regietheater auf allen Ebenen der Kunst. Hätte es eine malbare
Gegenmacht mit brauchbaren Farben gegeben, so würden sich die
Künstler wohl schon damals zur Wehr gesetzt haben. Aber die
Sykophanten waren in der Überzahl und eine echte Farbe des
magischen Kampfes ließ sich heimlich weder auf der Agora noch
jenseits davon anreiben, geschweige denn mischen und öffentlich
vermalen. Die Spitzel lauerten überall. Erst heute, im
Schattenreich des Intrumentariums der Netzstricker, entsteht zum
Schutz der wenigen vergoldungsunfähig gebliebenen Künstler, im
Zeitstrom des Alphazet, ein
neuer Stiftungsaltar aus flimmernden Worten. Auf ihm wird die von
aller Bosheit gegen die wahren Künstler geläuterte Farbe
Kaioptaitomon als Gegenmittel zum Dilettantismus angerieben und
wortwörtlich unter die Speisen der Sprache gemischt. Auf der
Gebrauchsanweisung zur Nutzung des Stiftungsaltars heißt es: »Das
neue, das wahre Kaioptaitomon entsteht im Zeitstrom des Alphazet
unter dem Druck gesetzlich beförderter Barbarei, der man die Worte
erneuern und färben muss.« - PM
›Kakokratie‹ – wörtlich – mit ›Herrschaft der Schlechten‹ wiederzugeben, trägt einen Makel. Ähnlich verwandten Ausdrücken wie ›Herrschaft der Dummen‹ etc., nimmt es gerade diejenigen in Haftung, die, wie in Gesellschaft üblich, nichts dafür können, sei es, weil sie unfähig zu begreifen, sei es, weil sie unfähig sind, anders zu handeln. Abgesehen davon werden solche Zuschreibungen praktisch nur polemisch getätigt und reduzieren die Komplexität der Verhältnisse auf eine unangenehm berührende Weise. Besser wäre die Übersetzung ›Missherrschaft‹ in Analogie zum ›Misstönen‹ und zum ›Misserfolg‹, der zwar auch eine Art von Erfolg darstellt, aber gewiss nicht den, den man sich erwartete – stattdessen eine Art Durcheinander, in dem das Erhoffte, das Befürchtete und das Unerwartete gemeinsam einen Strudel bilden, aus dem sich nicht so leicht ausbrechen lässt. Aus diesem Grund glauben so viele Zeitgenossen bis kurz vor dem Schluss, sie seien Zeugen erfolgreichen Regierungshandelns, während sie doch nur das übliche Durcheinander erleben, in dem sich ein langer Abgang vollzieht.
So wird ja bekanntlich der leider nicht oft genug erleuchtete Kopf
im Volksmund, nicht ohne Bezug zu Elektrizität und Inspiration, am
Ende des neunzehnten Jahrhunderts abfällig als Birne bezeichnet. Er
ist eines besonderen, fast zärtlichen Schutzes bedürftig und gerade
der Name des Filzes, seit der Zeit des Herzogs Montefeltro von
Urbino, der, seinem Namen entsprechend, bedeutende Filzmühlen
gestiftet hat, wurde durch diesen bedeutenden Adelsnamen enorm
gesteigert. Er gilt bis heute als milder, weicher und
wetterbeständiger Stoff für alle Arten von ›Hauben des Hauptes‹.
Nur die Hutränder wechseln im Spiel der Kulturen, aber keineswegs
bloß auf Grund oberflächlicher Moden.
In früher Zeit waren die Hauben oft eng. Mitellae nannte man sie in Rom. Es
waren haubenförmige Kopfbinden mit Backenklappen, die unter dem
Kinn mit dem stringentis
zusammengebunden wurden. Man findet sie noch bei Dante als
carum caput, als ›theures
Haupt‹, den Kopf als Schatulle umspannend.
Dass die viel zeitlosere goldene Aura keinen äußeren Schutz bot,
liegt auf der Hand, sie ist aber auch aus Prunksucht niemals
allgemein tragbar gewesen, weil sie als christliches Original wohl
immer nur spirituell erkennbar zu bleiben hatte. Wobei man von dem
gescheiterten Unterfangen französischer Surrealisten absehen muss,
die sie als vergoldete, tafelförmige Kopfbedeckung in Paris unter
Künstlern einführen wollten. Chadron de Mitré, ein Freund Bretons,
trug sie nur in öffentlichen Badeanstalten für Männer, allerdings
noch zur Zeit der deutschen Besatzung, wie Villipere Placaton dem
nachmaligen Antiquitätenhändler Max Valentiner versichert
hat.
Übrigens sind ja auch schon die Kronen, als flache Auren tief in
die Stirne gedrückt, nach 1789 nur selten zur Mode geworden und vom
Kopfputz des Satanismus muss man nicht reden, da er bis heute
grundsätzlich nur den Haaren gegolten hat. Rote, zuckerverklebte
Stacheln, grasgüne Wellen, hochstehende Bündel sind keine Hüte,
sondern Kopien höllischer Überlieferung.
Ganz anders der Kalabreser, ihm war es gelungen, zur breitrandigen
Kopfbedeckung der Künster des neunzehnten Jahrhunderts zu werden.
Bei Toulouse-Lautrec, über dem Radmantel getragen, vervollständigt
er die Rückenansicht eines fliehenden Künstlers, vielleicht aus
einem Bordell, in dem ihm das Unheil kulturfreier Zeiten begegnet
sein mag. Bis heute ist dieser Gedanke insofern prophetisch, als
der inzwischen eng verschnittene Hut, mit knappem Rand, der
Beschränkung von Köpfen entspricht, die ihn bei jedem Auftritt in
der Öffentlichkeit als Requisit ihrers Angriffs auf offene Türen
benutzen. Entsprechend solchen Umständen wurde, nun umgekehrt, der
Kalabreser zum Bühnenschlapphut erniedrigt, der, wie die
Sonnenbrille auf deutschen Bühnen, zur Halbuniform einer in
verwilderten Irrenanstalten wütenden Geheimpolizei gehört.
Allein dem Kalabreser kann nachgesagt werden, er sei schon viel
früher zum letzten Schattenbegleiter der Künstler geworden. Auf
Amphoren gehört er den trauernden Schatten der Unterwelt an, die
auf Felsen hockend den Charonsnachen erwarten, nicht viel anders
als die französischen Damen die Barke, die sie zur Fahrt nach der
Insel Cythere bringen soll. Auch sie haben uns in kunstvoll
gerafften Roben, nicht grundlos, fast alle den Rücken zugekehrt. -
PM
Man darf den Kalauer nicht fürchten, er ist ein treuer Freund und fast immer zur Hand, wenn man ihn braucht. Leute, die keine Kalauer mögen, mögen auch anderes nicht, z.B. Erbsen, es bringt sie um den Verstand, wenn sie daran denken, wie viele Menschen täglich mit Erbsen traktiert werden; sie persönlich bevorzugen Blutwurst. Sind Kalauer billig? Wie kann einer das wissen, der keine Ahnung davon besitzt, dass es auch hier Börsen gibt, mit unterschiedlichen Notierungen, mit dem üblichen Auf und Ab, mit Überraschungscoups und Börsengängen, die von allen gefeiert werden, die sich hier ihre Heiterkeit verdienen. Nur eins mögen Kalauer nicht: die ordnende Hand.
Man muss gegen das Lächerliche den Kampf aufnehmen, auch wenn es
allmächtig erscheint und das Unterfangen in jeder Hinsicht
aussichtslos wirkt. Aus dem Lächerlichen entsteht das Ärgerliche,
aus dem Ärgerlichen das Furchtbare – früher oder später, durch
plötzliche Zufälle vermittelt oder durch den langsamen,
schleichenden Gang der Dinge. Komischerweise – es ist nicht die
einzige Komik dabei, aber vielleicht die seltsamste –
komischerweise erweckt das Lächerliche den Eindruck, die Zukunft
für sich zu haben. Ihm eignet dieser unwiderstehlichen Zug,
gestützt auf lauter Notwendigkeiten. Dabei scheint es bequem
fortzublasen: es liegt so leicht auf und die Menschen lachen, wenn
man darauf zeigt.
Die ersten Gestörten kommen, wenn die letzten gegangen sind. Eine klinische Aussage ist das nicht. Alles kommt, wie es kommen muss: schubweise. Darin liegt ja die Störung. Fiele sie aus, so wäre auf nichts mehr Verlass. Drum störe, wer den Beruf dazu fühlt, beizeiten. Es könnte leicht sein, er fühlte sich sonst: gestört. Nichts erheitert mehr als die Asynchronie der Störer. Der lange Darm der Gesellschaft verdaut sie so, wie er alles verdaut. Sind sie erst ausgeschieden, sind sie’s zufrieden und geben – nein, nicht Ruhe: sich zum Besten.
Das bewegliche Kapital entsteht an der Grenze zwischen zwei Religionen, genauer, zwei Auffassungen von Religion: dem Glauben als Kredit und dem Glauben ans gerechte Jenseits, in dem alle Schulden eingefordert werden. Dennoch wäre an dieser Grenze, so wie es lange Zeit auch der Fall war, nichts passiert, wäre nicht als drittes, treibendes Element irgendwann der Unglaube einer Herrschaftsschicht und ihr fester Wille dazwischengetreten, die entstandene Konstellation praktisch zu plündern. Ein polizeilich verordnetes Jenseits ist etwas völlig anderes als ein erträumtes oder ertrotztes. Verordnet aber musste es werden, nachdem der ökonomische Prozess einmal in Gang gekommen war: das und nichts anderes schuf aus dem Christentum die moderne Religion par excellence. Wer den Kredit braucht, um zu existieren, fürchtet nichts mehr als den Tag, an dem alle Rechnungen fällig werden. Also muss man ihn glauben machen, dass dieser Tag kommt, aber mit der ausbalancierten Mischung aus Verzweiflung und Hoffnung, die erst der Webersche Protestantismus ins Lot gebracht hat. Der Tag des Gerichts, Doomsday, The Day After: kein Tag wie dieser, doch jede Nacht ein Vor-Schein, eine Schein-Festung, deren Existenz dem Tages-Regime seine Festigkeit verleiht.
Hinter jeder Meinung steckt ein verkappter Führungsanspruch. In der Regel fragt einer nach der Meinung des anderen erst dann, wenn er nicht mehr weiter weiß. Solange er zu wissen glaubt, wie es weitergeht, darf der andere seine Meinung für sich behalten, er darf nicht nur, er soll tunlichst schweigen, denn seine Meinung stört, insofern sie abweicht, und belästigt, insofern sie in nichts weiter besteht als in Zustimmung. Nach diesem Modell soll stets eine Meinung herrschen, alles andere ergäbe Streit und Unfrieden, so etwas braucht keine Gemeinschaft, es ist ihr unbekömmlich. Einmütig sein, einmütig handeln: das ist ein hohes Gut und Mut und Meinung verschmelzen den meisten Menschen zu einer Einheit. Deshalb gibt der Klügere nach und verbirgt seine Meinung, bis sich die erwartete Ratlosigkeit einstellt. Selbst dann weiß er um die mit dem Hervortreten verbundene Gefahr: am giftigsten wirkt Einmütigkeit dort, wo sie nur noch als Illusion existiert oder als blanke Lüge. Überall findet man solche Gemeinschaften, sie sind zahllos wie der Sand am Meer und entstehen ohne weiteres Zutun, als träten sie aus der menschlichen Psyche selbst hinaus ins feindliche Leben. Wer sie ausrotten wollte, auf dass nur Gesellschaft sei, die freie Assoziation freier Meinungsträger, wäre ein wirklicher Feind der Menschheit. Ist der Liberalismus ein Feind der Menschheit? Keineswegs. Ein klug getakteter Liberalismus vertraut dem Gedanken, dass es Gemeinschaften nur im Plural gibt und das etablierte Recht eines jeden, aus ihnen auszutreten und sich anderen anzuschließen, ihnen bereits das gröbste Gift entzieht. Deshalb ist die Kardinalfrage an jede Gemeinschaft: Wie haltet ihr es mit den Abtrünnigen? Denn Abtrünnigkeit ist das geheime Grauen jeder Gemeinschaft, da in ihr jener freie Wille aufblitzt, den zu bändigen sie angetreten ist, und damit die Möglichkeit des Zerfalls. In der modernen Arbeitswelt geht, wer geht, weil er sich einen Vorteil verspricht oder weil er gehen muss – das ist gerechtfertigt und bedarf bloß einer angemessenen Rahmung, um akzeptiert zu werden. Die ›Gemeinschaft am Arbeitsplatz‹ ist per se Gemeinschaft auf Zeit, das strahlt auf andere Gemeinschaften aus und lässt sie, sofern sie nicht Bandencharakter annehmen, auf mittlere Sicht handlich erscheinen. Auf mittlere Sicht, aber auch auf längere? Das bleibt ungewiss. Eine Gemeinschaft von Abtrünnigen – so ließe sich der verschworene Kern der Liberalen bezeichnen, der in Gesellschaft darüber wacht, dass die Tendenz zur Vergemeinschaftung nicht überhand nimmt. Und damit beginnt das Reich der Paradoxien.
Das ist die übernatürliche Erbfolge von Glück und Unheil im Seelenzustand bis
über den Tod hinaus. Ihre furchtbare Gerechtigkeit zertrümmert
sowohl die hochfahrenden Pläne der Gerechten wie den Glauben
hoffnungsvoller Tyrannen in neuerer Zeit. Ja, selbst die Schicksale
einfacher Gegenstände wie Hämmer und Zangen, Sägen, selbst die
giftigen Speisen, die einst auf andere gute Speisen verderblich
gewirkt haben, unterliegen diesem Gesetz. Denn ohne Zweifel gibt es
auch die hilfreichen Zangen, die hilfreichen Nägel, die guten
Speisen, die einst voller Mitleid den schlechten Speisen geholfen
haben. Man denke an die Leinwandnägel der Bilder Poussins, an
Rembrandts Gemälde und Tizians Keilrahmen. Und sollte man hier
nicht glauben, sie stünden in einem unendlichen Gegensatz zu denen
am Kreuze Christi?
Denn die Wirkweise Karmas ist übermächtig und kennt keine Grenzen,
weder vor den Werken der Kunst noch der großen Natur. Auch
Meere, Wälder und Flüsse unterliegen der Erbfolge dieser Allmacht.
»Denn alles hat seine Freiwilligkeit« sagt Homomaris der Deuter, »und ist
somit den Folgen unterworfen.«
Szenen auf Bildern, die gehobene Faust des Kain, der Versuch eines
Dolchstoßes auf Tizians Tarquinius und Lucretia, alles hat
nicht nur über die Netzhaut jedes Betrachters, sondern im Bilde
selbst seine Folgen. Je sensibler der Restaurator, um so genauer
kennt er die Ursachen des Zerfalls eines Bildes. Rudolph II.
hinterließ durch Kuhlgräbers Notizen über zweihundertfünfzig innere
Ursachen des Zerfalls der Bilder »durch sich selbst«. Warum wohl
sonst sterben Wälder und trocknen die Meere aus? So Ochsen wie
Himmelskörper sind diesem Gesetz unterworfen. Aber gewaltiger noch:
der Himmel und seine Götter bewegen dieses Gesetz, stoßen es an,
sind ihm unterworfen. Der Tod Gottes ist das furchtbarste
Beispiel.
Die wenigen Folgenforscher wie Max von Englschall, Brotgerber oder
der große Engermann haben zumeist vergeblich die Ketten solcher
allmächtigen Anstöße zu deuten versucht. Brotgerber, der Gottes
Untergang an die Genesis-Homomaris zu binden sucht, weil allein
deren Beschreibung weder ein Vorwärts noch ein Rückwärts kennt,
scheitert bereits ein halbes Jahr später an den Erbsensuppen des
deutschen Miltärs contra russischen Kaviar, völlig hilflos und fast
verzweifelt. - PM
Man hört sie wohl, die gerupften Gänse des Kapitols, doch da
niemand sie sieht, ahnt man die üble Vorbedeutung, ohne sie zu
erkennen. Seit die Europäer sich das lose Maul per ›Karriere‹
verbieten, ist ihr Gedankenreichtum auf ein überschaubares Maß
zurückgegangen. Was auffällt, ist die Masse an Einfällen, die sich
von selbst erledigen, sobald jemand sich um sie kümmert, was nur
selten geschieht. Da gehen die jungen Menschen hin – die alten, das
beiseite, desgleichen – und haben es eilig, sie haben es so
ungeheuer eilig, dass es sie bei keiner Sache hält, denn sie wollen
durch sein, wenn es sie trifft, und treffen muss es sie: Erwählung
ist keine kleine Sache in einer Welt, in der die Erwählten sich
gegenseitig auf die Hacken treten und einander den Ton abdrehen, um
nicht die Gurgel suchen zu müssen. ›Zu den Sachen‹ – das klingt,
das riecht nach Entfremdung, wenn man ›Menschen mag‹, wenn man
Botschafter werden möchte und schon einstweilen den Sekt kalt
stellt. Diese groteske Botschaft des irgendwie grotesken, irgendwie
befreiten, irgendwie leeren und irgendwie illusionären Kraft-Ich,
das nichts weiter als Seife und Duschstrahl braucht, um seinen
täglichen Schweiß abzunehmen, eingewickelt in ein Kack-Wort aus
einer Kack-Welt ... wir wollen nicht fragen, ob sie die richtige
sei, denn das kann nicht sein, das darf nicht sein, das müssten wir
wissen ... wissen? ›Durch die Hecken‹, da geht es doppelt so gut. Gut
zu wissen, dass nichts dazu kommt, außer, einer trägt auf, da muss
man die Aufträge annehmen, wie sie hereinkommen. Fette
Auftragsbücher, daran erstickt keiner, daran kann man sich
abarbeiten, lebenslänglich und darüber hinaus. Gutes Wissen für gutes Geld: das muss
irgendein Pakt sein, den die erwachsene Gesellschaft ihren Gliedern
anträgt. Aber wer nur Gutes weiß, was weiß der schon? Nichts
Besonderes, könnte man meinen, falls Meinen hier in Betracht käme.
Man erforscht die Produktion von Wissen, wie man die Produktion von
Gülle erforscht – mit zugehaltenen Nasen und einer durch Ekel
gesteigerten Lust an dem, was da auf einen zukommt.
Diese sorgfältig konstruierten Fälle, diese akribischen Tüfteleien,
das Auf-Messers-Schneide-Wägen, das Um-die-Entscheidungen-Wissen,
diese jahrtausendlange Arbeit der Moralisten, das
Auf-den-Stand-Bringen eines Gesprächs, das ohne Anfang scheint und
unaufhörlich die Gemüter fortreißt, Illustriertengeschichten und
Bettlektüren – währenddessen gehen die Metzeleien ihren Gang,
entzücken imperiale Gebärden die verschwiegenen Herzen der
Friedfertigen, gehört Genozid zur Statistik. Realität und Moral
spielen, wie allgemein bekannt, in verschiedenen Räumen.
Schuldphantasien, das Sich-Hineinträumen in die großen
Entscheidungen der Vergangenheit, das imaginäre Soll und Haben der
Menschheit berührt Moralisten weit stärker als die
Zwangsläufigkeiten ihres unausweichlichen Tuns. Leicht, nahezu ohne
Bodenhaftung, erfechten sie ihre Siege, verzeichnen sie ihre
Niederlagen. In welcher Handlung geht ihre Gleichung auf? Gibt es
Anhaltspunkte, um sich zu orientieren? Der Zyniker nebenan weiß es
besser, kann es aber nicht äußern. Und das ist auch nicht schlecht.
Nach einem soliden Saufabend in der Provinz lässt sich beobachten,
was jeder weiß: auch Kategorien unterliegen der Artenwahl. Manche
setzen sich durch und dominieren den Sex, währenddessen andere ab- und
ausfallen und verheerende Rätselschneisen in die Wahrnehmung
fräsen. Zu den notorischen Säufern zählt auch die Öffentlichkeit,
der heute diese, morgen jene Kategorie abhanden kommt, ohne dass
sie sich das anders erklären könnte als durch einen Lernprozess.
Dinge, die gestern noch mit Leichtigkeit zu verstehen waren, liegen
ihr heute schwer im Magen und erfordern diätetische Maßnahmen, vor
denen einem im Privatleben graust, aber sie geht darüber mit
Leichtigkeit weg und erklärt sie für ›unverzichtbar‹. Das Wort
lässt sich bequem als Anzeige eines eingetretenen
Kategorienschwunds lesen. Wann immer etwas unversehens als
unverzichtbar gilt, kann man fast sicher sein, es handelt sich um eine
Zumutung für den Verstand. Er soll beschäftigt werden,
damit er den Verlust an Mitteln nicht bemerkt oder wenigstens nicht
dazu kommt, sich zu beklagen. Ach was, stolz soll er sein auf die
kolossalen Aufgaben, die seiner warten, und Stein und Bein
schwören, dass er endlich ›an den richtigen Fragen‹ arbeitet,
während ihm die Zauberfee sanft über den Scheitel fährt und ihn
unbemerkt an den Busen drückt, dass ihm Hören und Sehen vergeht. So
sah man einst biedere Literaturwissenschaftler in die black box des
öffentlichen Bewusstseins hineinwandeln und grimmige
Universalgrammatiker wieder herauskommen. Seit die Genforschung
boomt, gehen viele gern über Leichen und behaupten, es sei die
Evolution, die sie zu solchem Tun animiert. Warum nicht?
Das Frausein zum Beispiel will mittels einfacher
Versuchsanordnungen gelernt sein, während es sich im Privatleben
ungerührt fortschreibt, so dünkt sich jeder der öffentlichen Rede
überlegen und lernt, sie durch zweckmäßige Anwendung auszubeuten,
nach einem Motto, das man einst im Badischen auf einer
Elternversammlung vernahm: »Gelle, des kenne mer aa!« Sie können es,
sie können es.
Weissagung aus Spiegelbildern, eine in unseren Breiten seit dem
Ende des letzten Krieges mit ungeheurer Leidenschaft Woche für
Woche ausgeübte Form der weißen Magie, die zum Teil recht paradoxe
Ergebnisse zeitigt – nicht immer zum Wohle ihrer Betreiber. Für
Gesprächsstoff ist in jedem Falle gesorgt. In heißen Zeiten
erzeugte diese Form der Weltverspiegelung bereits Klimawandel, die
es in sich hatten und dem von 2007 in nichts nachstanden.
War der Spiegel schon immer ein Gerät mit reflektierender
Oberfläche, das der Selbstschau diente, so gilt die ruhige
Wasseroberfläche als ältester Spiegel. Ein erster Fall von
Katoptromantie findet sich in der griechischen Sage. Narziss
erblickt sich selbst in einer Quelle, verliebt sich in sein
Spiegelbild und wird darüber in die nach ihm benannte Blume
verwandelt.
Spiegel sollen – wie andere eng mit ihm verbundene Gegenstände –
Charaktereigenschaften ihres Besitzers aufnehmen und sie bei
Wechsel des Besitzers auf den Nachfolger übertragen. Agrippa von
Nettesheim schrieb dazu: »Man sagt, dass Personen, welche das Kleid
oder Hemd einer Hure anziehen oder den Spiegel, in dem sie sich
täglich beschaute, bei sich tragen, frech, furchtlos, unverschämt
und unzüchtig werden.« Demgegenüber ist anzunehmen, dass es sich
bei der Form der Katoptromantie, die heutzutage praktiziert wird,
eher um eine Art frei flottierender, zu Zwecken der
Volksaufklärung magisch verbrämter Nabelschau handelt.
Alle Versuche der Obrigkeit, sich des Phänomens zu entledigen,
sind kläglich gescheitert. So hat die Regierung der
Volksrepublik Greisenau auf ihrer vorerst letzten gemeinsamen
Sitzung endgültig beschlossen, die Katoptromantie für ihre Zwecke
zu nutzen. Ähnliche Versuche kennt die Forschung bisher nur von der
altrömischen Augurenschau. Von daher ist man gespannt auf die
Ergebnisse einer Feldstudie über die gesellschaftlichen
Auswirkungen dieser Entscheidung, die 2011 zum Abschluss kommen
soll, zumal in den letzten Jahren im öffentlich-rechtlichen Bereich
eine Reihe von Änderungen und Entscheidungen zu verzeichnen waren,
die im Ganzen eher als Rückkehr zu Adam und Eva zu bewerten
sind. – Frage eines bayerischen Abgeordneten: »Habt’s ös jetzt a
aan Spiegel?« - AC
Wem, bitte, genügt schon, was er hier sieht? Nicht jedem, das kann
gar nicht anders sein. Die Katze hingegen, dem Allerheiligsten
gegenüber, kennt keine Scheu und sie scheut kein Genügen. Sie
sieht, was sie sieht, und es genügt ihr. Daher lässt ihr Anblick
die Tränen im Entstehen trocknen, die er hervorruft. »Wie süß«,
rufen Menschen aus, denen es graut. Das süße Grauen stolziert über
Tisch und Bänke oder zwischen ihnen hindurch, als kenne es den
Unterschied, sei aber nicht gewillt, ihn zu respektieren. ›Für ein
Linsengericht‹, könnte es den Menschen, den Denker von Lichtel
zitierend, zurufen, ›für ein Linsengericht habt ihr dieses Vorrecht
aufgegeben. Nun seht, wie ihr zurechtkommt.‹ Das erklärt manches,
darunter den Aberglauben, Katzen seien stolz. Nichts liegt ihnen
ferner. Wer das Stolzieren beherrscht, lässt sich von keinem Stolz
beherrschen. Der Stolz liegt den Menschen schwer auf, so dass viele
versuchen, unter ihm durchzuschlüpfen – ein vergebliches
Unterfangen, wie jeder weiß. Die Katze hingegen, im Entweichen
geübt, scheint immer gerade dem Tabernakel zu entsteigen, das
hinter ihr zuklappt wie ein ausgelesenes Buch. Da steht sie, ein
Bewusstseinstier, man könnte ihr Hörner andichten und sie, die
ernste, würde sie fortlächeln durch Gegenwart. ›DB‹ lauten ihre
Initialen – DU BIST.
Ich habe mein Wort gesagt und erinnerungslos gehe ich darüber weg.
Heißt das: immer wieder leben? Oder: den Tod versäumt haben? Oder:
einer Täuschung erlegen sein? Oder: noch nicht durch sein? Vor welchen Instanzen?
Kann es hier Instanzen geben? Sprechen sie von jenseits des Stroms
oder sind sie ein Echo des Geräusches, das ich bin, ohne es zu
bemerken? Das Totengericht inmitten von Zimmerpflanzen, bei
laufendem Geschirrspüler wirkt fremdartig, unwirklich, komisch. Es
erscheint den Leuten ›kafkaesk‹. Das Kafkaeske ist der
Kehrichtbesen der Munteren, er putzt jede ernsthafte Erwägung weg.
In den Kernbereichen der Gesellschaft werkeln Menschen mit einem ernsthaften Mangel an Phantasie: verlässliche Leute, denen es nichts ausmacht, Jahr um Jahr die gleichen Handgriffe und Redensarten zu wiederholen und dabei, wie sie sagen oder zu sagen behaupten, ununterbrochen zu lernen: sie sind die Vor-Macher und Vor-Lerner der anderen und dürfen sich keine unvermuteten oder unvorbereiteten Schritte erlauben – zum Beispiel aus Ungeduld oder weil eine Laune sie anwandelt oder, auch das wäre immerhin denkbar, weil sie einem Gedanken nachgehen wollen, der unvermittelt in ihnen aufleuchtet. Spitzenwissenschaftler, Spitzenpolitiker, Spitzenpolitiker, sie sind alle vom gleichen Schlag. Jeder von ihnen ist ›gut in‹: eine frühe Eingebung brachte sie auf den Weg und ihn laufen sie sich abspulend, weg. Der weggelaufene Weg oder der vergebene Fortschritt: mittlerweile läuft ihre Zeit ab. »Das haben wir gemacht«, bekunden diese Handlanger des Wirklichen, »dazu stehen wir!« Sie sagen es, wie sie es meinen. Am Ende stehen sie als Götzen einer untergegangenen Zeit in der Landschaft, mit einem heimlichen Gruseln bedacht, denn jeder sieht doch: sie meinten es gut. – »Das hat schon was gebracht, damals, das waren andere Zeiten.« So lautet die freundliche Variante, die feindselige klingt anders, aber die lassen wir weg. Verlässlichkeit ist die Tugend der kleinen und großen Leute. Sie ist die Eigenschaft, die sie verbindet und zusammenhält. Schritt halten ist das Geheimnis aller sozialen Erfolge. Es gibt andere, aber die überlässt man gern Menschen, denen Misserfolg nichts ausmacht, weil sie ihn kaum bemerken, und wenn doch, mit einem Lächeln quittieren, da ihnen der Unterschied zu gering vorkommt, um davon Aufhebens zu machen.
Niemanden in Europa schreckt die jahrhundertelange fromme
Überformung des antiken Weltwissens, niemanden dessen Verwandlung
in etwas anderes nach seiner triumphalen Wiedereinführung,
niemanden das Versinken des ›christlichen Weltbildes‹ in den
Strudeln einer Begrifflichkeit, die, zwischen ein paar stabile
Henkel gefasst, eine Dauer genießt, die konstant gegen Null
tendiert, aber durch die Trägheit der gesellschaftlichen Akteure
eine Art Nachleben zu Lebzeiten führt: Hülsen nachgeschleifter
Ideen, die im voraus jedem halbwegs aktuellen Gedanken ein feuchtes
Grab im gutmütigen oder beißenden Spott der Nachgeborenen
versprechen. Niemanden schreckt dergleichen, weil die Alternative
dazu nicht sichtbar ist. Nicht wenige wären über Nacht bereit, sie
zu ergreifen, aber der Griff ginge ins Leere. Stattdessen wissen
wir notorisch Bescheid, wissen, was wir ›vom Menschen‹ zu halten
haben (nichts), von der Gesellschaft (alles), vom Körper (das
meiste). Wenn wir zum Therapeuten gehen, dann weiß auch er
Bescheid. Er hat seine Theorien gelernt und benützt ihre Begriffe,
wobei er durch die Finger sieht oder blinzelt: erst das Blinzeln
erlaubt ihm den Abgleich. Er ist stolz darauf und nennt es
Erfahrung oder Intuition, aber es ist nichts weiter als
Gutmütigkeit: gutmütig lässt er die Begriffe gelten und den
Patienten, nebeneinander, durcheinander, außer einander und
miteinander. Nicht anders der Student, der dem Professor die Wörter
vom Mund abliest und bereits andere formt, den Widerspruch formt,
bevor ein einziger Grund sichtbar geworden wäre, der es ihm in der
Sache geböte. Geht doch –
das gilt, weil es gilt, weil die Geltung nicht an der Richtigkeit
einer Sache hängt, sondern an der Art von Beharrungsvermögen, die
unter Menschen Erfolg genannt wird. Der Aufforderung ›Mach dich
nicht lächerlich‹ ist die Lächerlichkeit eingebrannt, sie enthält
den Wunsch, der andere möge das Lächerliche aus sich heraussetzen,
aber nicht jetzt, nicht hier, nicht unter uns. »Warte, bis ich die
Tür hinter mir geschlossen habe, dann hast du frei, dann darfst du
tun, was du nicht lassen kannst.« Unverständlich werden Theorien,
sobald der Erfolg sie verlassen hat, sobald ihre Leichen den
Hermeneuten anheimfallen, welche die Frage, warum just diese hier
oder jene dort so lange geglaubt wurden, niemals schlüssig
beantworten können, weil sie schon zu ihrem Kern nicht mehr
vorstoßen können. Jeder gesichtete Kern ist ein anderer, das
verbindet ihn mit dem Ich der Verbrecher und der Poeten. Seine
traurigen Tänze vor versammelter Kennerschaft erinnern entfernt an
– ja was? Kerndiener, seid wachsam, ihr werdet gebraucht! Es macht
nichts, wenn euch die Systemdiener gegenwärtig den Rang ablaufen,
ihr kommt wieder, daran besteht kein ernsthafter Zweifel.
Die Kernschmelze beginnt in den Gehirnen und breitet sich von dort fächerförmig aus. Fragt man die Leute: »Wollt ihr den totalen GAU?«, dann zeigen sie sich interessiert, schließlich wäre es einmal etwas Neues und so schlimm wird es schon nicht kommen. Sie reagieren also, wie Menschen so reagieren, teils-teils, das Restrisiko kennen sie und die Mehrzahl nimmt es billigend in Kauf, weil sie weiß, dass es im Ernstfall den anderen trifft, man selbst wird es schon zu vermeiden wissen. Das Leben ist risikobehaftet und wenn man dem Risiko eine angenehme Seite abgewinnen kann, dann hat man ihm ein Schnippchen geschlagen. Das ist nichts Geringes, verglichen mit den endlosen Möglichkeiten des Darbens und Frierens, des Abgehängt- und Verlorenseins. Der Mensch braucht eine Perspektive und die treibt ihn an die Spitze des Zuges. Wenn endlich die Bilder vom Unglück der anderen eintreffen, dann reagieren die Gehirne menschlich, das heißt, sie wollen nicht, dass sie selbst so etwas trifft, sie wollen es um keinen Preis. Diese Phrase hat etwas, das selbst in der Katastrophe erheitert, weil es besagt, dass sie, schreckverloren, wie sie nun einmal sind, gar keinen Preis zu zahlen bereit sind, weder diesen noch jenen, geschweige denn alle beide. Führer aus der Not, Anführer der Verwirrten oder Filou der Stunde ist gerade der, der ihnen versichert, dass das Abschalten folgenlos bleibt. Aber das wäre ja... Wer zum Teufel hat uns da hineingeritten, wenn ein Fingerschnipsen genügt und der Spuk ist vorbei? Warum schnipst denn keiner? Warum versteinern ringsum die Gesichter, wenn die Hand zum Ausschalter tastet? Warum trägt das Eigeninteresse so unbeeindruckte Züge, wenn es in Gestalt des Anderen entgegentritt? Ein Glück, dass es wenigstens in den Medien wütet und stürmt.
»Kinder, schämt ihr euch nicht?« Nein, sie schämen sich nicht, die lieben Kleinen, und sollten sie wider Erwarten sich einmal schämen, dann kichern sie dazu töricht und finden sich Spitze. Wider Erwarten? So sollte das Wort nichts gelten? Das Wort, auf das alles ankommt? Wer besitzt so wenig Schamgefühl, mit Wörtern zu spielen, die doch das Wichtigste ausdrücken sollen? Wer tunkt sie in den Putzeimer, in dem diese schmutzige Brühe steht?
Die Männer sind gut beraten, sich ihrer Kinder ein für alle Mal zu
entschlagen, sobald die Mütter illoyal werden. Das sind die neuen
Gegebenheiten, die so neu nicht sind, aber von denen, die sie
zuerst betrafen, systematisch verschwiegen wurden – Stoff für
Therapeuten und Richter, die die Misere seit langem kennen und als
individuelles Elend verwalten. Nichts daran ist individuell als die
Umstände; alles andere ist dem Krieg gegen die Väter geschuldet,
der vor vierzig Jahren entfesselt wurde und in den Kindern noch
längst nicht zu Ende gegangen ist. Es wird immer nachgelegt.
Wortführer nennen es Zukunftsfähigkeit und das blanke Gegenteil
wächst heran: eine neue Generation ›Geschädigter‹, die ihre
Obsessionen weiter tragen wird. – Was sind das für Menschen, die
ungerührt das Elend der anderen verdoppeln? Öffentliche Heuchler,
ideologische Hochstapler und Klinkenputzer vergangener Schrecken,
die glauben, privat davonzukommen. Ein Irrglauben, so recht
geschaffen für die Kirche der Hartköpfigen und Hartherzigen, deren
Gehirn nicht mehr als einen Gedanken zu fassen vermag. Dieser,
durch einen historischen Zufall in sie hineingeraten, hat
Prägestempel aus ihnen gemacht: ungestalt selbst, ungenießbar für
die Erfahrung, die sich früh abwandte.
gewöhnlich um die Lebensmitte herum einsetzend, galoppierende
Spätfolge eines betont asymmetrischen Kindschaftsverhältnisses
(unglaublich, dieses Wort), in dem die Mutter alles, der Vater
nichts oder weniger als nichts ist, das Negativ, die Folie, vor der
alles ins Positive geredet und gewendet wird, was so geht oder gar
nicht geht oder längst daneben gegangen ist. Übrigens nicht auf
Väter und ihren irren Spät-Stolz auf die Töchter beschränkt.
Weniger bemerkt, aber nicht weniger aufschlussreich die Neigung von
Frauen, sich ein zweites Mal an ihre Kinder zu verlieren, die
erwachsenen Kinder erneut auszutragen. Dazu gehört nicht besonders
viel, es reicht doch, die Welt erneut in eine Innenwelt zu
verwandeln, sich als schützenden Mantel zwischen die jungen oder
nicht mehr jungen Leute und das zu stellen, was andere Generationen
›existentielle Erfahrungen‹ nannten. Schwer zu entscheiden, wer da
wem etwas antut und wo die Entgleisung beginnt, schließlich weiß
niemand, wohin die Reise geht. Ein inverser Generationenkonflikt
tut sich hier auf; die ältere Generation kämpft ihn mit sich selbst
aus, bis zur bitteren Neige, und bittet die Kinder inständig, sich
da herauszuhalten, die Opferrolle nicht aufzugeben, in der man sie
nun einmal sieht und behalten möchte – um jeden Preis, auf
absehbare Zeit oder Unzeit.
Ich habe ein Kind, verstehen Sie, ich habe ein Kind, das klingt ziemlich
possessiv, ganz schlecht, besser hätte ich für ein Bankkonto sorgen
müssen, für unzweifelhaften Besitz. Aber das ist nicht richtig,
denn ich habe zwei Beine, zweifellos auch ein Possessivverhältnis,
doch auch eine – Leibeigenschaft, wäre das Wort genehm? Also eine
Leibeigenschaft. Ganz so weit möchte ich doch nicht gehen, sobald
es sich um eine Grippe oder den Grauen Star handelt, das wäre auch
ein Possessivverhältnis, aber ein abstoßendes, jedenfalls wäre ich
die beiden gern los, was nicht so einfach ist, sie benehmen sich
wie eine Verwandtschaft, die nicht weiß, wann es Zeit ist zu gehen
etc. Nun, ich habe ein Kind, das nicht weiß... aber was? Man hat es
mir abspenstig gemacht, so heißt das, man hat es, in täglicher
zäher Kleinarbeit, darauf dressiert, keinen Vater zu haben, was ist
daran merkwürdig? Aber ja, ich kann es Ihnen sagen: Vordergründig
arbeitet da diese Person, zu der ich einmal eine Beziehung hatte,
vordergründig arbeitet da immer eine Person, es gibt viele solcher
Personen, zu viele, denn hinter ihnen steht etwas, das Druck macht,
etwas, das manche Leute Gesellschaft nennen, die Gesellschaft, so wie man sagt:
der Oberförster, und alles
ist geklärt. Die Gesellschaft also stünde hinter jener
Entfremdungsarbeit, dieser Entfernungsarbeit, da ist etwas dran,
sie redet leise, sie redet laut, sie redet in eine Richtung, das
ist es: Sie redet durcheinander, aber in eine Richtung. Mag sein,
ich täusche mich und das alles ist längst vergangen. Manchmal höre
ich die Stimme meines Kindes, aber wie aus weiter Ferne, dann
steckt es sich wieder, denn es ist fast schon erwachsen, den Knebel
in den Mund und die gewohnte Sprachlosigkeit beherrscht das Feld.
Beherrscht das Feld. Manche sprechen da von Therapie. Aber wie
therapieren, wenn es um Übergriffe geht, um wirkliche, nicht
endende Übergriffe? Wenn sie doch aufhörte, diese Gesellschaft.
Vielleicht ist sie ja längst nach Hause gegangen, vielleicht sitzt
in dieser Maschine, die auf unseren Feldern fortrattert, einem
Traktor nicht unähnlich, nur noch ein Automat, programmiert von
Leuten, die ruhig im Altenheim sitzen und Gott Alzheimer eine Socke
weihen.
Gehen Sie, nein, gehen Sie nicht, wer weiß, wo Sie in diesem
Zustand sonst ankommen, ungestraft tut das keiner, wenigstens auf
längere Zeit. Also hören Sie, ich bin Ihr Beichtvater, ich könnte
Ihnen Ihre Sünden erlassen, sie bräuchten sie mir nicht einmal
anvertrauen, ich bin über Sie im Bilde. Woher ich das weiß? Fragen
Sie mich lieber, warum ich mit Ihnen rede. Gehen Sie, auch diese
Frage sei Ihnen erlassen, ich erkläre es Ihnen später. Wir beide,
Sie und ich, sind aus demselben Stoff, ja? Wir beide also... Ich
möchte Ihnen eine Geschichte erzählen, obwohl... Ich fürchte... Was
fürchten Sie denn? Nur heraus mit der Sprache. Doch nicht etwa...?
Genau das? Sehen Sie, ich bin nicht gekommen, um Ihre Befürchtungen
zu zerstreuen, das gerade nicht, und wie es sich nun anhört,
scheinen Sie ja... Habe ich Sie falsch verstanden? Habe ich Sie
falsch verstanden? Nun, ab jetzt sollten wir uns richtig verstehen,
bevor ich Sie wieder hinausschicke, denn verstehen Sie, die
Situation kann nicht ewig so weiter gehen, sie muss doch einmal zu
einem Ende kommen. Alles hat einmal ein Ende, sagen Sie? Das ist
einer von diesen Sprüchen, die mich ärgern, soweit ich zurückdenken
kann. Wenn ich so etwas sage, geht das in Ordnung, es gehört zu
meinen Berufspflichten. Bei Ihnen ist es eine überschießende
Bemerkung, die Sie disqualifiziert. Merken Sie nicht, dass Sie sich
disqualifizieren? Nein? Sie merken nichts? Auch gut, das trage ich
mir ein. Dafür benutze ich eine Kladde. Was mir das einträgt? Was
mir das einträgt? Das fragen Sie? Gut, fragen Sie. Sie haben ein
Recht, also fragen Sie. Aber lassen Sie sich nicht zuviel Zeit, es
könnte sein, dass wir in den Regen kommen. Wie ich das wieder
meine? Ganz einfach. Vergessen Sie also den Regen, es wird Ihnen
ohnehin nichts nützen, ich sehe erst jetzt, dass Sie völlig
durchnässt sind. Wie konnte das geschehen? Völlig durchnässt! An
einem solchen Tag. Sind Sie eigentlich bei Trost? Nein? Deshalb...
der Aufwand hier? Den hätten Sie sich schenken können, ich warne
meine Klientel immer, bei mir gibt es nichts zu holen, Sie müssen
schon alles mitbringen. Habe ich etwa einen Bauchladen? Eigentlich
müssen Sie mehr mitbringen, das ist ein Geheimnis, das ich für
gewöhnlich aufhebe. Da, ich schenke es Ihnen.
»Ein Kirchentag«, erklärt Adler, »ist die Nacht, in der alle Katzen grau sind, noch einmal, aber bei hellem Tage.« »Wie kann das sein?« erkundigt sich Eule, sichtlich bewegt von dem Gedanken, verstanden zu haben und doch nichts zu verstehen. – »Es kann sein«, erklärt Adler etwas gestelzt, denn er setzt sich ungern Fragen aus, deren Sinn er nur schwer ausloten kann. »Wäre es anders, so gäbe es keine Kirchentage, sondern nur Kirchennächte. Das wäre zwar kein Verlust, aber wer weiß, welche Konflikte solch ein Wort, dem in Wirklichkeit nichts entspricht, am Ende auslösen könnte.« »Am Ende«, zischt Eule, »an welchem Ende?« – nicht wissend, dass Adler mit seinem Kirchenlatein am Ende ist und sich gern zurückziehen würde. Nun fühlt er sich gestört und hackt nach den Kleinen.
»An welchem Ende? Wer das wüsste… Am Ende der Schlange, an diesem wie an irgendeinem anderen, stehen aufgereiht die stolzen alten Wörter, die einen gedrückt, die anderen gebeugt, die dritten genötigt, hinfällig alle, und kein A im U kann ihnen helfen.«
»O«, zirbelt E, »das versteht sich dann aber von selbst.«
Der einzige Zustand, in welchem sich göttliche Wesen anrufbar und
in der Süße beschaulicher Zuckerwolken erhalten haben, ist der
Kitsch. Besonders die Geduld der Venus in Mode und Parfümerie, aber
auch die Milde der anderen Götter, erlaubt diesen letzten und
echten Ausdruck der Religiosität, seit sich die Kunst, in Unterwerfung unter die große
Vernunft, zur reinen Wahrheit der Photographie entschlossen hat.
Dieser üble Zustand vertritt die Härte der gnadenlosen
Selbstbespiegelung, die zunächst den Teufel als unbekanntes Wesen
zum Teufel gejagt hat, um dann ahnungslos zum schlechteren Teufel
zu werden.
Es darf in diesem Zusammenhang gesagt werden, daß die Pietà Michelangelos, angesichts der
zahllosen Unfälle der Menschheit, niemals auch nur eine einzige
Träne vergossen hat, und selbst wenn es geschehen wäre, hätte es
niemand geglaubt. Nur süßlich bemalter Kitsch hat je um die
Menschen geweint.
Da aber jeder nachdenkliche Kunstfreund die Wirkungen der Dämonen,
ihre Anwesenheit im kleinsten Gegenstand unter dem Tisch und im
Zimmer bemerken kann, vorausgesetzt, dass er noch nicht prophetisch
erblindet ist, bleibt die Sichtbarkeit ihres geheimnisvollen Wesen
dem frommen Kitsch und den Obskuranten überlassen.
Der Surrealismus, dessen Instinkte dies immer bewahrt haben, trägt
deshalb offen oder heimlich das Brandzeichen seiner aufgeklärten
Verächter, wie es das unaussprechbar gewordene Spätwerk Chiricos
beweist. Um aber alle die zahllosen geheimnisvollen Träger des
Lebens, die sich unablässig im Unbekannten verwandeln, nicht zum
Schaden der Spekulationskraft des menschlichen Geistes zu
vergessen, stiftet die Gnade der fernen Mächte, nicht allein nur
für arme Leute, wie die petit
raison so gerne behauptet, den frommen Kitsch. Er befördert
jede phantastische Lüge, den ornamentalen Schmuck jedes schönen
Gedankens, und sogar den berühmten ›immerwährenden Genuß der
Erdbeeren‹ als kaiserlich gesegnete Süßspeisen des Gemütes, ohne
Bedrängung durch Fakten, nach Bosch. Und schließlich, da der
Sauberkeit und Ordnung durch ungeschickt geschwungene Putzlappen
nicht nur Hekatomben köstlicher Porzellane und alter Gläser zum
Opfer gefallen sind, duldet der Surrealismus des Kitsches sogar den
Staub und das Spinngewebe, die selbstverständlich zur überladenen
Kirche des Kitsches gehören. Homomaris behauptet, die
Wartezimmer der Ärzte beschädigten die Phantasie eines Menschen für
sieben bis vierundzwanzig Stunden. - PM
Es zerrt an den Nerven, zu sehen, wie sich die Kleinen bekriegen,
während die Großen, verzaubert durch ein Kalkül, das jeder kennt,
fest an der Kette liegen. Sie müssen fest sein, die Großen, eine
Mischung aus Sphinx und Gipfel. Es genügt, dass einer von ihnen ein
wenig Geröll ablässt, um ganze Landschaften zu verheeren – äußere
wie innere, daran kommt keiner vorbei. Oder doch? Woher der Wunsch,
den Spalt aufzuspüren, der den Durchstieg ermöglicht? Sind die
unteren Gletscher nicht gefährlich genug? Woher diese Sportsucht
nach dem extremen Kitzel? So sollten die Beruhigten gerade nicht
fragen, solange sie wissen, was sie so grandios beruhigt hat. Es
ist ihr Spiel, das sie der Welt überließen, weil sie es mussten,
und das jetzt andere spielen. Nach der Geschichte ist vor der
Geschichte – das wäre eine alte Geschichte, oft erzählt und
nichts Besonderes insofern, als das Besondere daran nur die
Verteilung der Rollen betrifft. Auch da kann man sich täuschen. So
mancher spricht von ›kommenden Mächten‹ und unterdrückt das Jucken
in der Hand, das ihn peinigt. Geschichte ist offen. Fragt sich, für
was.
Im Yagir liest man die Klassiker nicht, man ist natürlich weiter als sie und blickt sinnend in die Ferne, wenn einer aus ihnen zitiert. Dennoch behält man sie bei, das Wort Klassiker kommt von Klasse und meint alles, was Schulklassen langweilt, so dass sie fürs Leben genug davon haben. Das ist ganz normal und wäre keinerlei Aufhebens wert, wenn nicht von Zeit zu Zeit etwas passierte, was die Leute klassisch nennen, weil es ihnen vorkommt, als hätten sie dergleichen schon öfter gesehen, ohne dass sie sich gleich daran erinnern können. Man müsste mehr alte Filme sehen, seufzen sie dann, denn sie kennen, wenn es hart auf hart kommt, nur Filmklassiker und auch da nur diejenigen, die auf die Leinwand kamen, solange sie jung waren. Überhaupt ist die Jugend ihr ewiger Klassiker, vermutlich, weil sie darin die Hauptrolle spielen. So muss es sein, so ist es überhaupt richtig und deshalb wirken all die Profis verschoben, die aus Gründen den Gelderwerbs den Jungen ihre künftigen Klassiker streitig machen, indem sie alles, was ihnen unterkommt, praktisch ohne Schamfrist klassisch nennen, nur weil sie später ohnehin tot sind und nichts mehr zu sagen haben. Klassisch ist das Versagen der Älteren angesichts der Aufgabe, die das ewige Jungsein ihnen stellt, ein Thema, immerhin, der ältesten Klassiker, die ihre Versager auch schon von innen kannten. Homer zum Beispiel – sehen Sie, ein Alters-Ausreißer, wenn Sie mehr davon wollen, lesen Sie das Feuilleton oder, besser, die Blogs der abgehalfterten Feuilletonisten. Schon grinsen sie, Homer Simpson im gefletschten Gebiss (eine schwachsinnige Maskerade, die für tausend andere steht), sie haben die Kurve gerade noch bekommen und schleudern in halsbrecherischer Manier auf die nächste zu. Sagen Sie nur ›Dioskuren‹ und ein paar erbleichen bereits, weil sie den Comic noch nicht kennen. Überhaupt kann man nicht alles kennen, das meiste lohnt den Aufwand nicht, ›klassisch‹ kommt von ›klasse‹ und klasse ist, was praktisch nicht vorkommt. Ein klassisches Argument, das leider den Sinn des Daseins verfehlt, der lautet: Sei klassisch! Lebe im Jetzt! In meiner Umgebung lasse ich nur Klassiker zu, sie sollen sich anstrengen, die Hunde, sonst sende ich sie in den Orkus. ›Ent-sende‹...?
Wir haben, liebe Kinder, die Sprache der Gesellschaft gelernt,
jetzt lernen wir die der Kultur. Schwer ist das nicht, es geht fast
von selbst. Gesellschaft, wann war das? Wir wollten etwas
erreichen, etwas durchsetzen, und nun ist es
durchgesetzt und durchsetzt von etwas, das nicht gemeint war und
nicht gemeint sein konnte, denn es ist irgendwie... gemein, man
könnte fast meinen, es sei die Gemeinheit selbst, die sich an die
Spitze des Zugs gesetzt, die sich durchgesetzt hat und nun, in die
anspruchsvollsten Gesinnungen gewandet, einherschreitet. Und hat
sie nicht recht? Man fertigt sie ab, mit höhnischen Worten, und
bedient sich ihrer, ohne mit der Wimper zu zucken, ohne viel
Federlesens, ohne ein Aufheben davon zu machen, da liegt vielleicht
der Fehler. Man hat vergessen, die Gemeinheit aufzuheben, per
Dekret, im Mondschein. Die Gemeinheit ist nicht so gemein, wie es
scheint, sie ist riesengroß und überaus differenziert, überdies
anhänglich, sie kommt überall mit hin. Das irritiert die
aufgeräumten Gemüter, sie halten sie für einen Fleck und wischen
sie weg, aber sie ist immer noch da. Zwischen Kultur und Gemeinheit
besteht ein reger Verkehr, sie tauschen sich aus – über die Köpfe
all derer hinweg, die wissen, wohin der Zug geht. Die Kultur ist
das Organon der Gemeinheit, wer sich weigert, sie zu buchstabieren,
findet leichter in den Klatsch als ans Ziel.
Beppo Kleiberlín, Grundstücksmakler aus Kleie, einst Sorgenkind seiner
Mutter, jetzt großer Maxe, steht vor dem Aus. Welchem Aus? Amtsgericht?
Sitte? Steuer? Häusliche Gewalt? Keine Spur. Er steht vor dem
Weltgericht. Wie kommt er denn dahin? Nichts leichter als das. Fragen
Sie Beppo! Nein, besser nicht. Beppo redet sowieso schon zuviel. Beppo
weiß alles besser. Hören Sie nicht auf ihn. Hören Sie auf das
Weltgericht. Es allein weiß, wie es soweit kam, und jeder begreift, was
es sagt. Scheiß auf Beppo! Beppo genießt seine Rolle, er füllt sie aus.
Welt-Bösewicht! Aus Kleie! Wie geil ist das denn? Ziemlich geil, wenn
Sie mich fragen. Warum fragen Sie dann…? Nein, ich ziehe die Frage
zurück. – Sie stehen ja mauloffen in der Landschaft. So kommen Sie dem
Phänomen nicht… Sie kommen von Beppo nicht los? Sie kleben fest?
Aber das will er doch. Den Rattenfänger aus Kleie, so nennen sie ihn
und: zu Recht! Alles zu Recht. Hat er denn keine Gegner? Was? Viel zu
viele? Er wächst an ihnen? Er steckt sie alle in den…? Sprechen Sie
Ihre Sätze zu Ende und kratzen Sie sich nicht so ordinär. Was weiß ein
Makler von der Welt? Was, sagen Sie, eine ganze Menge? Sind Sie von
Sinnen? So redet er, ganz recht. Müssen Sie ihm deswegen zuhören? Er
redet alles herbei. Merken Sie nichts? Andere reden weg, er redet
herbei. Great difference, folks. We need that. Warum
trommeln seine Leute so? Haben sie nichts zu tun? Nun gut, vielleicht
liegt es daran. Vielleicht liegt es daran. Der Mensch braucht Aufträge.
Geben Sie ihm einen Auftrag und Sie sind ihn los. Das kapiert selbst
Beppo. Gewiss hat er sonst nichts zu tun. Der Arme könnte sich
langweilen. Warum hilft ihm keiner? Aber nein, so laufen die Dinge
nicht. Beppo ist eine Marke für sich. Things went wrong. Da
liegt er: sein nächster Auftrag. Alles selbsterteilt. Ein Horror. A
new job. Such a great thing. It’s incredible, so incredible. Wo hat
er bloß dieses Kauderwelsch her? Von ganz oben? Von ganz unten? Wie
man’s nimmt? Aber so nehmen Sie doch… »Stoppt ihn jetzt, das
Weltgericht / Fragt euch nach den Gründen nicht.« So spricht sie,
Volkes Seele, mit ein bisschen Nachhilfe aus den Medien.
#BeppoRaus. Altes Volksgut, frisch wieder aufgelegt. Und wie es
stimmt. Das Weltgericht will keine Gründe wissen, über Gründe verfügt
es im Überfluss. Hier öffnet sich ein Abfluss und es schüttet hinein,
was es hat. Es will den Abgrund stopfen, der sich unter den Füßen
auftat. Wie darf ein solcher…? Wie kommt ein Kleiberlín dazu, Abgrund
spielen? Was hat ihn dazu befugt? Ist dieser Abgrund echt oder spielt
er ihn nur? Ist er echt, wie kommt Kleiberlín dazu ihn mimen? Ist er
nicht echt, was regt man sich auf? Ein Clown, eine Megafaust für den
Clown! Ist es das, was Angst macht? Warum wird plötzlich ein Clown so
reich? Eine Rotznase, ungeputzt. Wer hat den Clown so reich gemacht,
dass er, der Umwege müde, nur eines will: Unlimited power?
Warum? Ist er kein Einprozenter? Vielleicht ist
er nicht so reich, wie die Leute denken. Ist er ein
Einprozenter? Falls nicht, sieht es schlimm aus. Not qualified,
really not qualified.
Die Eigenschaften der Großen können nur große
Eigenschaften sein, z.B. Kleinlichkeit. Man könnte postulieren: ›Der
größte Mensch ist der kleinlichste‹, aber diese Aussage wäre
kleinlich und würde der Größe der Größe nicht gerecht. Großtun
mit Kleinigkeiten ist eine Politiker-Eigenschaft. Gewöhnliche Größe
lehnt dergleichen als lächerlich ab. Jawohl, sie ist lächerlich,
diese Eigenschaft, sie steht der Lächerlichkeit der Kleinen, die
gern groß wären, aber die Ausgaben scheuen, in nichts nach. Mein
Politiker zum Beispiel (jeder hat einen Politiker, zufällig habe ich
diesen) schlägt sein Twitter auf wie der Priester
sein Brevier, er greift in die Tasten und schon hat er sich blamiert.
Die Twitter-Öffentlichkeit verzeiht nichts, Vergebung wirkt nur im
Verborgenen. »Verzeihen Sie«, fragt da ein Unbedarfter, »habe
ich mich in der Adresse geirrt? Das glaube ich jetzt nicht. Nie und
nimmer sind Sie der große X. Warum nennen Sie sich so?« »Ich
bin’s«, twittert der große Mann zurück, »ich bin es wirklich!«
»Aber wer sind Sie?« »Sagen Sie’s mir, am besten gleich an der
Urne.« »Das werde ich mit Freuden tun, jetzt, da ich Sie kenne.
Schauen Sie, dass Sie weiterkommen. Aber ich sehe, auch dazu haben
Sie kein Talent. Sie haben ein Rad ab und merken es nicht einmal.«
Mein Politiker lässt keine Sitzung aus, solange es Twitter-Empfang
gibt. Danach steht er auf und vertritt seine Füße. Warum seine
Füße? Haben sie ihn gewählt? »Kleinerlei«, werde ich ihm eines
Tages sagen, »Sie sind ein Dummkopf. Während Sie auf Stimmenfang
gehen, wächst der Chor der Verstimmten. Hören Sie nichts? Sie
meinen, das wäre der Chor der Hasser? Eine Mistgabel ist keine
Stimmgabel. Merken Sie sich das. Sie kennen den Unterschied nicht? Ja
dann… lassen Sie mir keine Wahl.« Mein Politiker ist alles in
allem ein Mann von Welt. Er kennt seine Pappenheimer. Einmal
aufgestellt, kennt man ihn wie sie alle. Neuerdings schmückt er sich
mit allerlei Gender*Sternchen, als sei er der soundsovielte Staat der
USA. So erklärt sich der Satz: Das Parlament ist wieder
sternhagelvoll.
»Das Klima... Das intellektuelle Klima ... ist flau.« Aber sehen Sie denn nicht,
dass es keine Intellektuellen mehr gibt? In welcher Zeit leben Sie? Hat Ihnen das Fernsehen das Gehirn versehrt? Lesen Sie noch
immer die alten Kampfbroschüren und strahlen, wenn es so richtig zur Sache
geht? Sie Narr! Sie alter Narr! Sie haben es gut, Sie werden immer
ein Dach über dem Kopf finden, während andere unter der Traufe stehen und schlucken müssen.
Selbst schuld? Sage ich doch. Jeder ist seines Schwachsinns
Schmied. Ihrer ist endemisch, es braucht nicht mehr als eine
Einladung zur Entspannung, schon stellt er sich ein, ganz selbstverständlich. Aber vielleicht müssen Sie nicht entspannen, vielleicht
finden Sie das, was Sie da konsumieren, ›ganz schön anstrengend‹.
Das ist ein Affekt, dem Sie nachgeben sollten. Fahren Sie weg,
verreisen Sie! Es gibt soviel zu sehen. Was ist hier schon los? Sie
versäumen nichts, gar nichts, sage ich Ihnen. Ein Land ohne
Perspektive. Verreisen Sie! Es vermisst Sie auch niemand, warum
zögern Sie? Kurz treten? Finanzen? In welcher Welt leben Sie denn?
Alter? Gesundheit? Also sehen Sie: das Klima...
Wer hätte gedacht, dass das Rennen nach der ersten Weltkirche, die
diese Bezeichnung verdient, die Klimaforscher gewinnen würden? Dabei
war seit ihren frühen Vorläufern, die den Himmel nach Zeichen
absuchten, aus denen sich das von den Göttern Verhängte herauslesen
ließ, immer klar, dass sie unter den Favoriten einen Extraplatz
beanspruchen durften. Dieser Extraplatz hat sie lange gefesselt, er
hat verhindert, dass sie stracks an die Spitze gingen, weil ihre
Spiele zu durchsichtig schienen und das bisschen Donner und Vogelflug
den Ehrgeiz systematischer Theologen ebensowenig befriedigen konnte
wie die gedanklichen Bedürfnisse, die in der philosophischen
Spekulation ihren Auslauf fanden. Erst der Erfindung leistungsstarker
Computer und die Entwicklung von Programmen, deren hervorstechende
Eigenschaft darin besteht, für Laien vollkommen undurchsichtig zu
bleiben und jeden erbarmungslos zum Laien zu degradieren, der sich
ihnen nicht mit Haut und Haaren verschreibt, war es vergönnt, das
Blatt zu wenden. Seit die Scientific Community zum
Sterntaler-Märchen schrumpfte und verschrumpelte, wächst die Klimaforschung, sie
wächst unaufhörlich, sie hat den organischen Zusammenhang mit den
Disziplinen der Wissenschaft längst verlassen und wächst, dank
gesellschaftlicher Angst-Alimentierung, zum über die Maßen vitalen
Krebsgeschwür heran. Der Tag ist nahe, an dem man es, aus den
bekannten Gründen, wird entfernen müssen, doch es ist zweifelhaft,
ob sich passende Chirurgen für diese Aufgabe finden werden. Das
wäre ja, als sollten die helfenden Hände aus dem Tumor selbst
herauswachsen, um das Werk zu beginnen. Zwar wächst, nach Hölderlins
Wort, dort, wo Gefahr ist, das Rettende auch. Aber niemand weiß im
voraus zu bestimmen, ob es ein Wachstum gibt, das dem Wachstum selbst
Einhalt zu gebieten vermag – sogar die Frage, ob es dergleichen im
institutionellen Bereich überhaupt geben darf, muss offengehalten
werden, aus Gründen der allgemeinen Taxierbarkeit von Systemen und
überhaupt.
Nun also haben sich alle geeinigt: Unser Klima muss schöner werden.
Das klingt einleuchtend, nachdem die notwendigen Einkäufe getätigt
und die Börsen befriedigt sind. Ein schöner Schub wird das werden,
ein schöner Schub. Nur die Klimaforscher sind nicht zufrieden, sie
spüren, dass die Entwicklung sich gegen sie wendet, und wirklich
ist nicht ganz einzusehen, wozu sie noch forschen sollen, wo jetzt
doch alles so klar ist. Natürlich ist nicht alles klar und die
Arbeit wird ihnen so schnell nicht ausgehen, aber tief drinnen,
dort, wo die Forscherseele ihr warmes Plätzchen besitzt, fließen
plötzlich die Tränen: Was wäre, wenn...? Wenn alles ganz anders
wäre, gleichgültig darum, was alles kommen mag? Die Freiheit der
Datenmanipulation ist unendlich, doch nichts gegen die Freiheit,
alle Modelle umzuwerfen und völlig neu anzufangen, mit neuen
Prämissen und neuen Methoden. Und auch diese Freiheit bedeutet
wenig gegen die Freiheit des Findens, vor allem wenn es um neue
Gedanken geht, das ist wie neues Gebäck, aber größer, universeller.
Im Netz der Politik kommt man nicht heute mit neuen Gedanken, wenn
man morgen für die alten bezahlt wird. Aber wer spricht vom Geld.
Der Rechtsradikalismus ist die Kloake der Gesellschaft; jeder ist
aufgefordert, sich hier all dessen zu entledigen, wovon er nichts
wissen zu wollen behauptet – jedenfalls solange andere in
Sichtweite sind. Wer hineinfällt, stirbt den elendesten aller Tode.
Man sagt, es wimmle darin von gefährlichen Elementen. Man muss tief
blicken, um solche Einsichten zu gewinnen, man muss tief in sich
selbst hineingeblickt haben; Exorzisten wissen, wovon sie sprechen.
Aber im Ernst: dass Gesellschaft einen solchen Ort nötig hat, dass
sie ihn unterhält und stets aufs Neue bestückt, zeigt das
Gottähnliche, das ihr noch immer innewohnt – sie erweist sich am
Anderen ihrer selbst und muss es ›unter Kontrolle halten‹. Das
erinnert daran, dass sie auch die Familien kontrolliert, aus denen
sie sich erneuert und die sie nicht völlig unter Kontrolle bekommt.
Der Hinweis mag schräg klingen, aber welche Rede ist nicht
›schräg‹, welche ist nicht abschüssig, sobald man sich diesen
Dingen nähert? Die Familie, der Klan, sie müssen in die
Gesellschaft aufgelöst werden und leben nicht zur Gänze aufgelöst
in ihr fort. In der Gespenstergesellschaft wird jedes ›Vorkommnis‹
zum Menetekel: Man treibt miteinander Entsetzen, so wie man sein
Spiel mit einer Vergangenheit treibt, die keinem gehört.
Der Aufruhr hat eine seltsame Macht, sich selbst im Wege zu stehen. Das liegt größtenteils an dem Hochgefühl, das er in seinen Teilnehmern erzeugt. So ein Aufruhr, denken viele, auch in Ländern, in denen der Mehrheitswille das Sagen hat, ist schon etwas, er ist besser als nichts, denn er schafft Bewusstsein. Der Anfang einer Zufriedenheit ist schon gelegt, bevor es ›der Sache nach‹ Grund gibt, sich zufrieden zu geben, und das ›Bewusstsein‹, so wichtig es sein mag, ist stets gezinkt. Was sich zusammenrottet, muss irgendwann wieder auseinanderlaufen: diese Binsenweisheit verleiht allen Ordnungskräften der Welt ein natürliches Übergewicht, sie müssen nur klug eingesetzt werden und das Momentum nützen, sobald die Zentrifugalkräfte wachsen. »Und was hat’s gebracht?« fragen die Sympathisanten, die abseits blieben, sei es aus Ängstlichkeit, sei es aus Befremden, sei es aus Überzeugung, dass so nichts zu erreichen sei, sei es aus gut versteckter Komplizenschaft mit dem Bekämpften, weil man irgendein Geschäft am Laufen hat und den Gewinn noch einzustreichen gedenkt, bevor alles den Bach runtergeht. »Und was hat’s gebracht?« fragt die politische Konkurrenz, die anderen Handlungsmodellen den Vorzug gibt. Und »was hat’s gebracht?« fragen die Systemfreunde, erleichtert, dass alles so bleibt, wie es ist. »Wie lässt sich so etwas in Zukunft verhindern?« fragen die staatlichen Planer, und da liegt der Knackpunkt. Man muss die Maßnahmen wollen, die von der Staatsmacht ergriffen werden, um für die Zukunft die gleiche Art Aufruhr zu verhindern. Versteht man im voraus, welche das sein werden? Begreift man, was sie, aufs Ganze gesehen, bewirken werden? Will man die Wirkungen? Falls ja, war der Einsatz, er mag ausgehen, wie er will, ein Erfolg. Will man sie aber ›um keinen Preis‹, dann ist es bestenfalls dumm gelaufen, im schlimmsten Fall ein Desaster für alle – oder ein Vorteil für Kommende, je nachdem.
Knödelfabrikant ist, wer Knödel fabriziert. Das klingt einfach
und ist es wohl auch. Wissen Sie, was mich daran stört? Das ›wer‹.
Wer fabriziert schon Knödel? Ich kenne niemanden. Kennen Sie
jemanden? Sie meinen, ich solle im Telefonbuch nachsehen? Oder auf
den Packungen, aus denen die Hausfrau oder der Hausmann Knödel
bereitet? Sie verstehen mich nicht. Ich weiß, dass es dort
draußen Knödelfabrikanten gibt. Ich kenne nur keinen und würde
schwören, es geht Ihnen genauso. Kennen Sie einen? Nein? Davon ging
ich aus. Ich gehe in den Supermarkt und besorge mir eine Packung
Knödel. Nie und nimmer denke ich mir: Wer fabriziert diese Knödel
eigentlich? Wie sieht er aus, wie groß ist er, hat er einen an der
Waffel? Ich meine, wie verrückt muss einer sein, um Knödel zu
fabrizieren? Würden Sie so etwas tun? Sehen Sie, das meine ich. Es
liegt mir fern, einem Knödelfabrikanten zu nahe zu treten, ich kenne
nur keinen. Das mag an mir liegen, kann sein. Dort draußen müssen
sie existieren, denke ich mir, nicht einer, viele, eine ganze Rotte.
Treffen sie sich auf Kongressen? Was reden sie dort? Reden sie über
Knödel? Speisen sie Knödel? In welcher Sprache verständigen sie
sich? Mit wem gehen sie zu Bett? Das sind wichtige Fragen, jedenfalls
wenn ich mir vorstellen soll, wer … nun ja, wer Knödel produziert.
So lautete doch die Definition. Oder nicht? Sie haben sie nicht
vergessen? ›Knödelfabrikant ist…‹ Wissen Sie was? Wer Knödel
fabriziert, der fabriziert auch… Mir fällt im Augenblick nichts
Gescheites ein, aber ich werde darauf zurückkommen. Die
Fabrikanten haben die Knödel nur verschieden fabriziert, es kommt
aber darauf an, sie zu … essen? Sehen Sie, der erste, der das
zu sagen wagte, ist mein Mann. Was…? Eine Frau? Was Sie nicht
sagen. Die erste, die zu sagen wagte, ein Knödelfabrikant sei
nichts anderes als… Wissen Sie was? Die hätte ich kennenlernen
wollen. Sicher gibt es einen Film über sie. Knödelfabrikanten
fabrizieren Fabrikantenknödel, Fabrikantenknödel knödeln
Knödelfabrikanten, Fabri… Ich aber sage euch: Du sollst
nicht knödeln. Wo das steht? Ich hab’s fabriziert. Schimpfe
ich mich deshalb einen Knödelfabrikanten? Nicht, dass ich wüsste.
Was nichts zu sagen hat. Gern wüsste ich zum Beispiel, wer
Knödel fabriziert. Ich meine jetzt nicht dieses Definitions-Wer, das
mehr Fragen aufwirft, als ein Knödelfabrikant allein beantworten
kann, ich meine auch nicht meinen persönlichen Knödelfabrikanten um
die Ecke, dem ich praktisch täglich begegne, ich meine die ganz
besondere Einstellung zum Leben, die einer mitbringen muss, um Knödel … Sie
wissen schon. In dieser Frage stehen wir alle nackt da. Man kann auch
niemanden fragen, zumindest niemanden, der kompetent wäre. Die
kompetenten Leute halten sich alle bedeckt, wahrscheinlich, weil sie
sonst auch nackt dastünden, so wie sie und ich. Niemand weiß es und
ich weiß es auch. Sie blicken erstaunt hoch? Merken Sie etwas? Nein,
doch nicht? Sie merken nichts? Nicht den Knödel im Hals? Bricht
Ihnen nichts aus? Haben Sie nichts vergessen? Wann haben Sie das
letzte Mal Knödel gegessen? Sie wissen ja gar nicht, wie diese
Thematik mich anödet.
Die schärfsten Knüppelschwinger im Yagir sind gut gekleidet und kommen gerade vom Essen mit Freunden. Sie wollen zeigen, dass sie es draufhaben und zu Recht als Erwählte gelten. Woran alle Welt zweifelt, das nageln sie dem Nächstbesten an die Stirn und verkünden: So ergeht es jedem, der Zweifel sät. Zweifel sät man nicht, man verbeißt ihn. Mag sein, sie halten jeden, dessen Stirn bereits blutet, für einen blutigen Anfänger, den man einweisen sollte. Das Niederknüppeln überlassen sie ihren Lakaien, sie knüppeln auf. Ihre Vorliebe für den Nächstbesten wird durch keinen Hass übertroffen, sie regelt sich in Prozenten. Ein Prozent hier, ein Prozent da, so denken sie und der Knüppel saust. Ginge es ums Geld, man könnte sie verstehen, aber es geht um Prozente. Verstehe das, wer will! Im Prozent liegt Macht. Ein Prozent mehr oder weniger und die Macht sucht sich einen neuen Patron. Wer will das denn? Bereits der Gedanke an den Übergang ängstigt. Und dann: der Neue! So weiß man, was man hat. Wenn Macht versteinert, bekommt sie Löcher. Darin lässt sich hausen. Unter Niveau, aber: bequem.
Einer, der von sich sagt: »Ich säe aus!«, kann nicht erwarten, dass die Welt sich ihm beugt. Er muss warten, bis die Saat wächst, ein Landmann ohne Weg und Steg, ein Mensch der Fläche. Nein, kein Wegbereiter, auch wenn er sich manchmal so sieht. Eher lässt er Wege verschwinden: Wächst die Saat, so werden die vorhandenen unbetretbar. Wo er geht, soll sein Weizen blühen – wehe dem, der da hintritt! Doch er ist eitel. Sein größter Wunsch wäre, dass einer hinter ihm geht und seine Wege protokolliert, das Ohr so nah seiner Lippe, dass er, ohne sich umzuwenden, Erklärungen abgeben könnte. Wie die Dinge stehen, läuft er Gefahr, Erklärungen abzugeben, und keiner ist da, sie aufzunehmen, so dass er allmählich, ohne es recht zu bemerken, sie auszusäen beginnt und darüber das Saatgut vergisst. So kommt’s, dass es ihm leise aus der Tasche rieselt und seine Spur markiert: Hier ging einer, der hätte es gekonnt. Was hätte er gekonnt? Das Säen? Aber er hat es nicht gekonnt. Wie unsinnig ist das alles: der Anspruch, die Eitelkeit, ihn zu erfüllen, die Unfähigkeit, ihn zu erfüllen, die Unfähigkeit zu sehen, dass er nicht erfüllt wurde, und die Erfüllung. »Es erfüllt ihn mit Genugtuung«: so reden die Leute. Sie gönnen es ihm, jedenfalls in der Regel, aber es ist seine und nicht die ihre und im Grunde ist sie ihnen egal. Wo der eine wogende Felder sieht, sieht der andere einen Bauplatz. Da kann es leicht passieren, dass die Genugtuung wie eine Blase platzt und all das Gift ausschüttet, das auch in ihm steckte, und nun ist es heraus.
Der Körper geht immer dem Tod voraus, aber dieser schlichte
Gedanke, der auch umgekehrt leicht zu beweisen wäre, empfängt
gerade hierdurch die Weihen des Geistes. Denn wenn man sagen würde,
der Körper folge dem Tode nach, so würde sich an der Wirkung des
ersten Gedankens nicht das allergeringste ändern. Ob uns der Tod,
von welcher Seite auch immer, antritt, seine und des Körpers
Schicksale ändern sich hierdurch nicht im geringsten. Der Tod
bekommt den Körper, auf welche Weise auch immer, in seine
Gewalt.
Folgten wir etwa dem Tode nach, so brauchte er nur ein wenig
langsamer zu gehen, unmerklich vielleicht, was bestenfalls das
Alter des Körpers verlängern würde. Aber dennoch würde er in jedem
Fall das gleiche Gesetz seines dunklen Auftrags an ihm vollziehen.
Gelangte der alte ermüdete Leib endlich in seine Nähe, so drehte
der Tod sich mit einem Mal um und legte seine mächtige Hand endlich
doch auf das Herz des Verfolgers. Ascoli von Savona, der Tyrann der
Stadt, glaubte auf den Zinnen seiner Festung an der Spitze seiner
Soldaten durch eine Art Gleichschritt den Tod zu betrügen, er
stolperte nur ein einziges Mal und verlor den Zeittakt. Von
diesem Augenblick an war
der Abstand beschädigt, er konnte marschieren lassen, so langsam er
wollte, da war nichts mehr zu machen, er starb schneller, als er
langsam zu sein vermochte.
Der Philosoph und Kanoniker Marsilio Ficino hatte diese Berechnung
bereits fünfzig Jahre zuvor in seinem Traktat zur Platonischen
Philosophie aufgestellt: Bewegung
= Ziel = Ende. Ebenso später Wittgenstein: »Man stirbt immer
zu rasch oder zu langsam, dennoch ist Geschwindigkeit niemals ein
Mittel, den Tod zu überlisten.«
Eine andere, noch höhere Erkenntnis lehrt, dass Körper und Tod in
einander verliebt sind. Sie sind das einzige Liebespaar, das von
Anfang an zusammengehört, denn mehrfache Liebesverbindungen mit dem
Tode sind ausgeschlossen. Deshalb sind auch die Krankheiten,
nach Homomaris,
nichts anderes als Liebesabenteuer oder Seitensprünge innerhalb
einer unlösbaren Verbindung. Nur der Selbstmord steht in der Mitte.
Hier müsste die Mathematik, falls sie je einen geistigen Anspruch
besäße, der Metaphysik zur Hilfe kommen. Dass hier Brücken zu
schaffen sind, wird bei Dante und Manganelli hinreichend bewiesen.
Dante sucht am Ende des »Geometers Bogen«, Manganelli maschiert auf
der Straße der zehnten Legion, mit Augen an den Knöcheln, über sich
selbst hinweg. Was ja nichts anderes bedeuten kann, als dass er
noch im Inferno versucht hat, im Liegen den Tod zu unterwandern.
Homomaris lehrt die Anwesenheit des Todes in jeder Region, die der
menschlichen Seele zugänglich ist. - PM
Jede Generation lebt mit Geräten zusammen, die tief in die sogenannte Psyche hineinwirken und sie, wer weiß, erst ein Stück weit hervortreiben. So hat die Generation, auf die wir jetzt zurückblicken, sich dem Fernseher verbunden und wird zusammen mit ihm verdämmern. In gewisser Weise hat sie ihn sich erschaffen, auf alle Fälle haben ihre Bedürfnisse ihn erobert, sie lebt dieseits und jenseits der Mattscheibe und das Leben, durch das sie nicht mitten hindurchgeht, dünkt sie matt. So gibt es keine Anmut, keine Würde, keine Geltung und keinen Ruhm, es sei denn durch dieses Medium, wie es nicht ohne Witz genannt wird, weil es die Mitte markiert und, mehr als das, wirklich ausfüllt. Dabei ist es seit langem im Sinken. Nichts bringt es hervor, was nicht die Brandzeichen des Betrugs und der Dummheit trüge, und nichts kommt hinein, was nicht von Grund auf gleichgültig und lächerlich wäre. Es stimmt, man kann dort einen Teil der Leute besichtigen, die uns, auf die eine oder andere Weise, regieren, vielleicht auch nur herumscheuchen, was immer Aufschluss verspricht. Man kann, wenn man will, die meisten wollen gar nicht und schalten weiter. Nein, in Betracht kommt allein die Scheibe, die den einen Teil der Menschheit vom anderen trennt und mitten durch jedes einzelne Exemplar der Gattung hindurchgeht, sie ist sogar bedenkenswert und sollte verstanden werden. Nicht das Virtuelle der Bilder, damit kann man Leute ablenken, die sich um nichts den Kopf zerbrechen, Mystiker des Wortes und der Verstellung, sondern der absolute Schnitt zwischen zwei Wirklichkeiten, einer saugenden und einer sich rapide entleerenden: was die Leute Gesellschaft nennen, ist eine denkbare Interpretation dieser Anordnung unter vielen, vielleicht nicht die schlechteste. Man muss, will man Dinge bedeutend machen, ihnen eine Dimension entwenden, was unter Menschen nicht so leicht zu bewerkstelligen ist. Die Scheibe suggeriert einen Mangel, der in Wirklichkeit so nicht existiert, aber auf Ausgleich drängt. Wer immer davor sitzt, gibt von dem Seinigen hinzu, bis zur völligen Leere. Witz, Temperament, Verstand, Lebenszeit, Freiheit, sich zu gesellen, Durchsetzungskraft und natürliche Autorität, nichts davon behält diese träge graue Masse, die starrt und starrt, bevor der Schlaf sie überkommt und gnädig vom Rest-Ich erlöst, das mangels Substanz beim Träger verbleibt. Es gibt kein richtiges Leben im falschen, außer man sieht sich im Fernsehen – mit diesem Saisonschlager des alten Westens hob die Epoche an, sie könnte enden mit den bedeutenden Worten, dass, wo nichts ist, der Konsument das Recht verloren hat, sich bei lebendigem Leib zu verdrücken.
Einer Generation angehört zu haben, die eisern das Maul hielt, und das mitten in Freiheit und Prosperität, umrahmt von Leitbildern, die ebenso eisern das freie Wort bis in Zerstörung und Tod festzuhalten wussten und sich nicht darum drückten, ihm die Treue zu halten, weil sie verstanden, dass ohne es alles nichts ist – herbes Los. Dabei hat sie Bibliotheken zusammengeschrieben, wahrscheinlich mehr als jede andere vor ihr, sich im öffentlichen Redemarathon verausgabt, zu dem es vor ihr weder Technik noch Gelegenheit gab, vom Recht auf Hochmut Gebrauch gemacht, wann immer es ihr angebracht schien, – sie hat nichts ausgelassen und es ist alles nichts. Ihre Wegmarken haben andere gesetzt und sie ist diese Wege gegangen ohne auszubrechen, sie hat jeden Ausbruchsversuch Einzelner auf der Stelle geahndet – mit Aufmerksamkeits-, mit Laufbahn-, mit Ehrentzug, mit Reputationsverlust, mit Tabuisierung und Verhässlichung –, und es hat, wundersamerweise, geklappt. Jetzt marschiert sie im Entenmarsch in den Tod, den Arsch zusammengekniffen, bereit zu den schwierigsten Eingriffen, um noch ein paar Wochen oder Monate aus dem wohlpräparierten Körper herauszuschinden, mit denen sie nichts weiter anfangen wird als den nächsten Urlaub zu planen, den letzten vielleicht, das wird ein schönes Erlebnis werden und ihr mit schönen Erlebnissen überreich beglücktes Leben bereichern. Sie hat allen Grund, dankbar zu sein. Niemand hat Grund, ihr dankbar zu sein, da tut es gut, sich nicht auch selbst im Stich gelassen zu haben. Dabei lagen die Ansätze zu einer anderen Wahrnehmung der eigenen Rechte und Pflichten vor aller Augen. Wenn sie geht, wird sie das Land, vielleicht den Kontinent ruiniert haben – durch Unterwerfung, durch Unterlassung, durch Unterdrückung aller Gedanken, deren es bedurft hätte, um die eigene Realität zu begreifen und jene Steuerungskompetenz zu entfalten, von der sie unentwegt redet. Und ich werde mitten unter ihr sein, ich werde mit ihr gehen, im Kohortenschritt, wie denn sonst.
Eigentlich befinde ich mich in der komfortablen Lage eines
Selbstmörders, der weiß, dass alles, was seine Mitwelt zu seinen
Gunsten (und denen seines Weiterlebens) vorbringt, gezinkt ist:
Ausdruck des Bemühens, ihn im Leben zu halten, gleichgültig, mit
welchen Mittel. Er weiß, dass man ihn nicht für voll nimmt, während
man ganz und gar auf ihn eingeht, dass man seine Reden nach allem
Denkbaren absucht, nur nicht auf die Möglichkeit hin, ihm recht zu
geben, während man gerade das mit größter Bereitwilligkeit tut. Er
weiß also, dass er nicht viel zu sagen hat außer dem einen, auf das
sich seine Rede für die anderen ohnehin verkürzt. Was tut man in
einem solchen Fall? Was mache ich, wenn ich weiß, dass dieses
gespannte Lauschen Ausdruck eines Unwillens ist, der den Akt
verhindern will, der das zu Erlauschende in die Welt schleudert?
Denn es geht nicht um Meinungen, es geht nicht um Überzeugungen,
wer das glaubt, tappt so sehr im Dunkeln, dass er den Strick, den
er sich um den Hals legt, für eine Laterne hält, geradewegs auf die
Zukunft zu. Worum es geht? Wer das wüsste. Die Weigerung,
auszuführen, was andere erdacht haben, es in irgendeiner Weise
weiter zu tragen, als sei es das eigene, während das Selbst mit
allen Fasern dagegen rebelliert – das ist der Kern dieser
Angelegenheit, die erst ein Ende findet, wenn es mit mir zu Ende
geht. Bin ich deswegen ein Rebell? Aber die Rebellen sind doch die
anderen, sie sind stolz auf ein Rebellentum, von dem sie reden, als
reiche es in biblische Zeiten zurück, von denen sich die heutigen
in gerader Linie herschreiben. Ich habe sie doch gesehen, ich habe
den Riss wahrgenommen, der zwischen ihrer Selbstdeutung und dem
lag, was für sie die Verhältnisse waren – diesen Riss, der mit der
Zeit zu einer schwarzen Wand angewachsen ist, über die man nicht
reden darf, bei Strafe des wirksam verhängten Schweigens, während
das Reden munter weiter geht. Ich könnte mich unter die Dichter
mischen und Endzeitmonologe verfassen, aber ich will das nicht. Es
sind schlechte Dichter, es sind schlechte Texte, die einem da
zugemutet werden. Sie paktieren mit dem Schweigen und sie
vermehren, was keiner zu sehen vorgibt. Man nimmt sie nicht ernst,
man hängt den Verfassern Preise um und sie beklagen sich darüber.
Aber sie haben keinen Grund, sich zu beklagen, sie sind im Grunde
ganz zufrieden und nennen es Klagen auf hohem Niveau. Das Niveau
möchte man sehen, aber man sieht nur, dass sie gebettet sind. Soll
ich also gehen, ohne bezeugt zu haben, was ich sah? Wer will dieses
Zeugnis sehen? Wer will es wahrhaben? Wer will, dass es existiert?
Und wozu wäre es gut?
Im Komma erscheint die volle List des Schreibens noch einmal,
deshalb setzen es manche Leute erst später, gleichsam bei vollem
Blatt. Sie erspähen die leeren Stellen zwischen den Wörtern, die
verborgenen Orte, vorherbestimmt, das verschwiegene Zeichen in sich
aufzunehmen, das die anderen redend macht. Oder fast: denn reden
können sie schon, sie reden von sich ohne Unterlass, wären sie
nicht redend, dann schwiegen sie vielleicht und das Zeichen
verschwände. Es machte kehrt – auf dem Absatz, so könnte man sagen,
denn sprechend wird es von sich aus nur vor vollem Haus. So aber,
der Plappersucht der anderen gegenwärtig, lässt es sich geduldig
hin- und herschieben, bis die leichte Vertiefung gefunden ist, in
der es zur Ruhe kommt, weil sie ihm vorbestimmt ist. Das zu
ertasten kostet Geduld. Es gibt Sprachen, so sagt man, die keines
Kommas bedürfen. Das ist nicht wahr, oder nur beinahe, denn wer das
Komma kennt, erkennt es auch dort, wo es nicht gesetzt ist, sondern
nur gedacht oder auch nicht gedacht, vielleicht gefühlt oder, wer
weiß, gesehen. Ein solcher Gedanke erfreut das mit Widerhaken wie
mit Sternzeichen besetzte Gemüt und schafft einen Ausgleich für die
Unbill, die ihm täglich begegnet.
Der törichte Mensch zieht das Drama der Wiedergeburt in einen Akt
zusammen, der Weise zieht es auseinander und gibt sich
lebenslänglich. Na und? Wie einer sich gibt, so kommt er zur Welt.
Also gib dich, du Ochs. Ohne Schauspielerei ist in den Gefilden der
Seligen nichts auszurichten, sie sind scharf auf jeden neuen
Darsteller, der ihnen Gesellschaft leistet. Erwähltheit ist wie ein
Pulli, den einer überzieht: was nach innen wärmt, soll nach außen
Eindruck machen. Und das ist wenig gesagt. Wer mehr wissen will,
muss wissen, dass im Kino der Gefühle das Herauskommen jede andere
Bewegung schlägt. Komm ans
Licht! Der erste Leib darf den zweiten darstellen, der sich
nach dem perfekten ersten verzehrt. Die Erwählten spielen
Erwählung, sie spielen den Anderen vor, was im Leben der Meisten zu
viele Umstände machen würde. Erst so bleibt Erwählung Erwählung:
eine ernste und ganz schön schwierige Sache, die man denen
überlässt, die sich damit auskennen. Den Spezialisten des
Erwähltseins schlägt jede Stunde doppelt. So sehr sind sie sich
ihrer Bedeutung bewusst, dass sie sich von ihr bedienen lassen. Wer
so von Bedeutung strotzt, dass sie ihm den Kaffee und die
Morgenzeitung ans Bett bringt, der hat es geschafft. Das werte
Selbst hält die Klamotten und das listige Ich schlüpft hinein.
Demütig kann es sein, denn es weiß, was es am Anderen hat. Das
Selbst zum Arbeiten bringen: dieser innere Rassismus macht staunen.
In Wahrheit – ich stelle mir vor, wie die Ameisen an dieser Stelle
zu wimmeln beginnen –, in
Wahrheit ist doch nichts geklärt, was uns berechtigte, das
Bewusstsein als eine abzuleitende Größe zu handeln. Wer einen Draht
zerschneidet, unterbindet unter Umständen eine Botschaft – na und?
Hält man ihn deshalb für einen intimen Kenner der
Familienverhältnisse derer, die sich da untereinander verständigen?
Wer weiß, welche Stoffe und Bahnen beteiligt sind, wenn
Empfindungen entstehen und Worte sich formen, kennt der deshalb den
Sinn der Wörter oder den Grund, aus dem sie zum Einsatz kommen?
Natürlich kennt er ihn – weil er ihn kennt. Wäre es anders, so
bliebe ihm nicht nur der Sinn seines Forschens dunkel, sondern der
Forscherdrang selbst hätte sich erledigt. Er will also wissen, was
er schon weiß, methodisch kontrolliert, aber vor allem: in einem
anderen Stoff. Man könnte ihn wegen versuchten Kompetenzdiebstahls
vor Gericht zerren, aber das würde ihn keine Sekunde lang
anfechten. Auch dafür gibt es einen leicht erkennbaren Grund:
Prestige. Man las schon Narren, die das Bewusstsein zur subjektiven
Täuschung erklärten: Hut ab! Vielleicht auch mehr.
Wir wollen die Jahrtausende alte Tradition der Skepsis nicht durch Zweifel beschädigen, das wäre dumm. Alles bedenkend strebt der Mensch vorwärts, ein ergötzlicher Anblick. Das All zu bezweifeln ist schon eine persönliche Niederlage, an diesem Punkt wird es schwer. Der bezweifelte Kosmos ist eine Münze, die in den Rinnstein rollt, abrupt ihre Bahn verändert, sich kurz um die eigene Achse dreht und im Gully verschwindet. Im Gully? Ein schmutziges Wort, von dem die Partikel sich lösen, als bestünde es nur aus Staub. Durch und durch schmutzig, das wollten Sie sagen. Was wollte ich sagen? Ach ja, die Skepsis. Confiteor. Die Sprache gibt das ›Ich glaube‹, ich glaube, am ehesten könnte man es vielleicht der Kopula vergleichen, es bindet die Menschen zusammen wie Ruten, vermutlich, weil es so schlagend ist und so wenig Aufwand erfordert. ›Ich glaube, die Skepsis ist unser kostbarstes Teil, das es zu verteidigen gilt.‹ Wer Teil sagt, muss auch Ganzes sagen, und das Ganze ist immer das Unser. Ein Teil des Unser ist also die Skepsis, da hätten wir schon das notwendige Stück Gewissheit. Wo kommen wir damit hin? In die Menschlichkeit natürlich, du Hasenfuß. Damit hätten wir ihrer drei: die Menschlichkeit, die Natürlichkeit und die Hasenhaftigkeit. Denken Sie einmal darüber nach. Ich für mein (!) Teil dächte, Sie hätten fürs erste genug. Nein? Das bringt uns jetzt nicht weiter. Nichts ist bekanntlich gewisser als die Gewissheit über die Ungewissheit, sie überdauert im Ungewissen. Es ist ihr Elixier. Nicht darüber wollte ich reden. Reden wollte ich vielmehr... Lassen wir das. Behalten Sie ihren kühlen Kopf, den hitzigen lassen Sie wohlmeinend zu Hause. Überzeugungsarbeit ist hart. Diese Leute dort wollen wir haben, die setzen wir durch. Bei den Menschen ankommen, wenn Mars lockt, das ist das Wunder der Geschichte, vor dem die Sterne erblassen. Sterben Sie süß.
Am Ende ist aller Konstruktivismus unkonstruktiv: er trägt nichts bei, er vergrößert nur die Zahl der Gedanken- und Weltdinge sowie der Beschäftigungen.
Im Umkreis der Postmoderne zählt Kondylis’ Begriff der
›massendemokratischen Postmoderne‹ zu den prägnanteren Prägungen.
Der Ausdruck ›Postmoderne‹ wird allerdings überflüssig, hat man
erst einmal begriffen, dass es sich um eine Binnendifferenz handelt
und keineswegs um eine Massenflucht aus der Moderne. Reden wir also
von der massendemokratischen Konsummoderne. Sie ist ein Ergebnis
der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Weltwirtschaftsordnung
und verwandelt sich unter der Hand in etwas, für das die
Bezeichnung noch fehlt, weil das, was sich hier ankündigt, erst als
Schatten oder Schemen – nicht sichtbar, eher fühl- oder spürbar
wird. Die Massen herrschen und konsumieren, sie herrschen mittels
Konsum, kein Zweifel, auch lässt sich nicht sagen, sie verführen
darin mit nachlassender Energie. Allenfalls fehlt ihrer Herrschaft
der Geschmack, selbst der an guten Worten, man könnte meinen, sie
führen sich öfter über die Stirn, um die trüben Gedanken zu
vertreiben – ein langweiliger Zeitvertreib, weil es mit dem Denken
bei ihnen nie weit her war. Die trüben Gedanken sind einfach und
eigentlich nur ein einziger: die Widersacher sind unterwegs. Jeder
Weltzustand hat seine erbitterten Gegner, von denen ein Teil
öffentlich zu Feinden deklariert und bekämpft wird, während die
restlichen, aus welchen Gründen auch immer, einen diffusen Schutz
genießen – künftige Opfer vielleicht oder Garanten einer Zukunft,
in der die Verhältnisse sich wandeln und man sich dringend neu
arrangieren muss. Der Konsumzwang ist immer auf Verachtung
gestoßen, die Verwandlung der Ökobewegung in eine Geschäftsidee hat
andersartige, noch wenig erforschte Widerstandslinien in die
Gesellschaft eingezogen. Sie bringt Leuten das Sagen bei, die, so
oder so, den Obszönitäten des Geldes weitgehend gleichgültig
gegenüberstehen. Auch diese Leute hat es immer gegeben, ihre
Einstellungen sind nichts Neues, bemerkenswert ist allenfalls, dass
ihre Mitanwesenheit als latente Drohung verstanden wird, als
potentieller Unruhefaktor, sie könnten ja auf Gedanken kommen.
Welche das sein mögen? Die Journalisten stehen unter dem Druck der
Konstellation, sie recherchieren per Mausklick, sie klopfen an
Foren, ob nicht ein Einfall, ein winziger nur, herausfallen möge,
sie machen ein Gewese, sobald sie etwas an etwas erinnert, das sie
schon kennen. Ansonsten üben sie sich in Spott. Der Gedanke der
Machtlosigkeit hat in Ländern mit christlichem Herkommen eine große
Macht. Deshalb liebt man in ihnen auch das Gerede, man trägt es auf
Knien.
Was für den Kontext gilt, das gilt im Grunde für alle Redensarten: zuviel davon ist ungesund, es behindert die freie Bewegung und erschließt selten Neues. Deshalb sind gute Köpfe in der Regel Kontextverschmäher. Sie wissen schon und haben nur vergessen, den Hut zu ziehen. Man nennt das produktives Vergessen, eine Art Alzheimer in puncto gesellschaftlichen Pflichtbewusstseins. Denn letzteres, man mache sich da nichts vor, bedeutet wenig mehr als ein gemessenes oder hechelndes Ausschreiten der Kontexte. ›Produktiv‹ wird es erst genannt, sobald die Produktivität erlischt und etwas an ihre Stelle tritt, das, sofern es ›gut‹ ist, als Hyper-Aufmerksamkeit bezeichnet werden kann, als Hyper-hyper-Aufmerksamkeit, sofern es die normale Hyper-Aufmerksamkeit der berufsmäßig flinken Federn zu toppen versteht. Wo andere wahrnehmen, schreibe ich, wenn andere sich gerade einmal ein Urteil bilden, lasse ich drucken, wenn andere in die Tasten greifen, um ihr Urteil kundzutun, dürfen sie – mich rezensieren: das ist der Rhythmus des Hyper-hyper-Aufmerksamen, dem kein Kontext zuviel wird, solange er selbst dergleichen unermüdlich herbeischleift, an Nasen, Ohren, Hals und Arm –. Verrenkt und bittend stehen sie in der Landschaft, sie begehren keinen Einlass, weil sie schon wissen, dass nur die augenblickliche Verrenkung ein wenig Aufmerksamkeit auf sie lenkt. Der Herbeischaffer ist durchgebrettert, er ist nicht zu fassen, sie aber wissen auch: gnadenlos – wie? nein, nein, so war das nicht gemeint! – wird er auf sie zurückkommen, sobald Bedarf an neuen Posen aufkommt. Und das wird bald sein.
Auch der Gedanke der Kontextualisierung der Kritik verdient es,
kontextualisiert zu werden. Denn er ist vor allem Kritik: die
Kritik von Verhältnissen, insofern sie sind, soll nicht
statthaft sein. Erlaubt ist die Kritik von Verhältnissen,
wie sie sind. Das ist
viel, das ist – vielleicht – in praktischer Hinsicht genug. Aber es
lässt unerörtert und unreflektiert, was in aller Kritik
vorausgesetzt ist: die Existenz eines denkenden Wesens in einer
Welt, die seiner offenbar nicht bedarf, um in sich zu ruhen und zu
realisieren, was offenbar das Ziel aller immanenten Kritik ist:
Verhältnisse, in denen sich jede weitere Kritik erübrigt. Gegen
dieses Ziel wird heftig in ihrem Namen polemisiert, aber das gehört
zum Geschäft, weil man kein anderes Ziel benennen will. Wir
betreiben mit Löwenmut das Geschäft der Kühe; der Verstand in all
diesen Dingen ist klein. Die Konzentration auf das Denken selbst
dekontextualisiert die Kritik, macht sie zum Perpetuum mobile einer
Selbstverständigung, die nicht in den Verhältnissen aufgehen will,
die eher die Verhältnisse in sich aufgehen lassen möchte – ein
unmögliches Ziel, aber ein realistisches. Ein Verhältnis zu den
Verhältnissen haben und ein Verhältnis zu diesem Verhältnis, das
bringt auf keinen Beobachter- oder Beraterposten, sondern ins
Bodenlose. Das ist der Boden der Tatsachen.
Du hast dich mit jemandem vom anderen Geschlecht zusammengetan,
dieser andere hat, aus einer Laune oder einem tiefsitzenden
Bedürfnis heraus, dir die Loyalität aufgekündigt, und du hast ihn
verlassen. Du bist bereit zu glauben, diese Erfahrung habe dich
verändert, und es widerfährt dir ein weiteres Mal. Diese beiden,
Todfeinde selbst, verbinden sich, um dich zu töten. Sie töten dich
stückweise, Organ für Organ. Sie machen auch vor den Kindern nicht
Halt, sie benützen sie und zögern nicht, sie zu zerstören, wenn sie
dich damit treffen. Was ist das? Eine Reise um die Welt? Um den
›inneren Kontinent‹? Ein Stück Gesellschaft? Ein archaischer Ritus?
Nein, es ist etwas anderes, sagst du. Es liegt nicht innen, es
liegt nicht außen, und dazwischen gibt es nichts. Woran liegt es
also? Sie stoßen auf keine Grenze und also gehen sie weiter. Warum
stoßen sie auf keine Grenze? Das ist eine Frage, die du dir stellen
musst. Du kannst sie nicht beantworten, denn die Antwort ist
aufgeschoben. Du selbst hast sie aufgeschoben, weil du mit ihr
allein stündest. Du willst aber nicht allein stehen, nicht in einer
Frage, in der die andere Seite niemals allein steht. Ihre Macht,
nach Belieben Verbündete zu gewinnen, schreckt dich. Sie schreckt
dich als Problem. Du wärst bereit, jede Herausforderung anzunehmen,
aber gegen das da kommst du nicht an. Es ist zu dumm. Wie stündest
du da, wenn du deinem Zorn folgtest? Und wohin kämst du da? Nicht
sehr weit vermutlich, selbst dein Zorn leidet an dieser Lähmung.
Vielleicht ist es ein Problem deiner Gruppe, Jahrgang, Bildung
etc., aber sicher weißt du das nicht. Vielleicht wirst du es nie
erfahren. Sicher weißt du nur eins: wohin auch immer du es
verschiebst, es bringt keine Entlastung. Wolltest du das? Wolltest
du Entlastung? Aber wovon? Entlastung wovon? Wie, bitte, willst du
dich von einem Druck entlasten, in dem du auf der anderen Seite
stehst? Im Lager deiner Feinde, bereit, dich anzugreifen, wann
immer sich eine Gelegenheit bietet, blickst du auf dich wie auf
einen Fremden. Dieser Fremde, findest du, ist hässlich. Er ist dir
fremd, fremd und vertraut, vertraut wie eine Sache, die man nicht
mehr anrühren möchte. Du möchtest dich nicht mehr anrühren, du
findest, es lohnt den Einsatz nicht, denn die Sache ist, wie sie
steht, verloren. Es ist aber keine Sache, das ist der Punkt. Du
kannst nicht abwehren und du kannst nicht annehmen, was da
geschieht. Vielleicht überlebst du noch eine Weile oder nicht.
Vielleicht behandeln sie dich wie einen Toten, das wäre immerhin
ein Glück unter vielen.
Alltagswörter, die durch ein einziges Ereignis aufgeladen werden, um auf
immerdar, zumindest für lange Zeit, von diesem Ereignis Kunde zu geben, sind
selten, aber gar so selten auch wieder nicht, denn hin und wieder ereignet sich
etwas, worüber das Reden nicht verstummen will – es will nicht, da mögen die
Herrschenden wollen, was sie wollen, sie können es auch versuchen, aber
vollenden können sie’s nicht. Macht ein Wort, z.B. ›Kontrollverlust‹, erst die
Runde, dann kommt die Kontrolle, obgleich auch sie kein Ende kennt, leicht ins
Trudeln. Das eben heißt unter Fliegern Kontrollverlust: Einer will steuern und
steuert ja auch, er steuert gegen das Übel an, dass es eine Lust wäre, ihm dabei
zuzusehen, aber in solchen Momenten schlägt die Einsamkeit über ihm zusammen und
alles andere folgt der Parole: Rette sich wer kann! Wer kann sich noch
retten, sobald die Maschine erst ins Trudeln geraten ist? Darüber streiten sich
viele, die Ratschläge übertrumpfen einander, die meisten überschlagen das Ende
und sprechen vom Neuanfang. Nichts beschäftigt die Leute im Kontrollverlust mehr
als der Neuanfang: Sie stellen ihn sich paradiesisch vor, mit Meeresrauschen im
Hintergrund, kristallklar strömen die Bäche ins Tal, umrahmt von lieblichem
Mischwald, in dem Fuchs und Hase, Schaf und Springbock einträchtig neben Wolf
und Wölfin die vegane Großmutter fressen. Wogegen man immer tritt: kerngesund!
Selbst das Klima erliegt dem Zauber und zeigt sich von seiner besten Seite:
wohltemperiert, nicht hier, nicht dort, sondern global und umfassend, ein
Sommermärchen vom Feinsten. Wo sonst bekommt man solche Gedanken, wenn nicht im
Trudeln? Auch die menschlichen Verhältnisse mögen da nicht zurückstecken und
erfreuen sich, am besten in staatlicher Hand, der allerbesten Gesundheit.
Gerechtigkeit! Nach ihr dürstet, wer gelernt hat, dass seinem Kontostand nicht
zu trauen ist, zum Beispiel auf Grund unkontrollierbarer Schmelzprozesse oder
anderer Absturzindikatoren. »Das ist nicht gerecht«, murmelt so einer und
schließt sich einer verbalen Scharfschützenbande an, die Löcher in die Hülle des
Fliegers schießt, des allgemeinen Druckabfalls wegen und damit alles schneller
geht. Die Gerechtigkeit ist ein scharfer Hund, sie hält sich im Hintergrund,
solange Ruhe an Bord herrscht, und spielt am Drücker, wenn alles drunter und
drüber geht. Am Ende rächt sich alles auf Erden, selbst die Gerechtigkeit, denn
Gerächtsein ist alles, man weiß nur nicht, wer wen.
Niemand verdreht den Kopf ohne Not. Also muss man die Not erkennen, die hinter der Kopfverdrehung steckt, will man verstehen, was vorgeht. Eine junge Frau geht vorbei und alle Köpfe drehen sich mit: Der Grund ist klar, er liegt offen zutage, das muss man nicht analysieren. Was dann? Es gibt linksdrehende Gesellschaften, so wie es rechtsdrehende gibt. Wer das analysieren will, begibt sich auf vermintes Gelände, denn er erklärt, qua Tun, die Kopfverdrehung für unnütz, ja schädlich oder lächerlich, da sie zwar Gegenstand der Analyse, nicht aber ihre Methode sein kann. Alle Verdrehten hassen die Analyse oder halten sie für die Applikation eines Schemas: »Liefere mir die Analyse und ich liefere dir den Kopf dazu.« Das Kopflieferantentum gehört zur Kopfverdrehung wie die Bücherverbrennung zu Verehrung des Buchs und das Autodafé zum feurigen Schulterschluss. Köpfe lassen sich leicht auf Kommando verdrehen, wen kümmert’s, ob das leise Knirschen, das die Reihen durchläuft, von Nackenwirbeln oder von den Zähnen der Ausgerichteten herrührt? Niemanden. Man nehme die Verpflichtung zum Wehrdienst aus einer Gesellschaft heraus und augenblicklich gebärdet sich jedermann wehrhaft: aus Kraftmeierei, aus Impotenz, aus dem beschämenden Gefühl heraus, ausgeliefert zu sein, sobald das Fernsehen ihm den Anblick von Kämpfern liefert. – Zahnlose Angstbeißer: so darf man Öffentlichkeitsarbeiter nennen, die notorisch Einsätze in fernen Krisengebieten fordern. Denn was ist die Krise? Ein Anlass zur Kopfverdrehung. Etwas läuft schief und alle sehen hin. Ein Schwindelgefühl, dem vielleicht ein wirklicher Schwindel zugrunde liegt: das reicht, als Not, für ein Dutzend falscher Entschlüsse.
Was ästhetisch weniger anspruchsvolle Zeitgenossen als ›Stuhlgang‹ bezeichnen würden, das beäugt der Korinthenkacker mit wacher Erwartung. Entfernt den Auguren des alten Rom verwandt, liest er anderer Leute Zukunft aus seinen Eingeweiden. Doch was heißt schon ›entfernt‹? Genau besehen trägt er seine K… den anderen nach und behauptet, es sei die ihre, sie mögen es abstreiten, wie sie wollen. Da er auf Streitsuche ist, freut er sich darüber, wenn andere ihn … finden. Unter Abstreitern ist er in seinem Element – »Doch, doch, das hast du behauptet, gerade eben, ich hab’s gehört« – und bewegt sich darin mit der Gelassenheit eines… Keine Tiervergleiche! Tiervergleiche lehnt er als unerhört ab. Erhörung dem Erhörten! Der Korinthenkacker verteidigt die Unschuld der Tiere – notfalls mit blanker Faust –, und lässt keine Gelegenheit aus, ihren minderen rechtlichen Status zu beklagen, als handle es sich um den eigenen. Passend dazu sucht er sein Recht stets bei anderen, einzig allein zu dem Zweck, es ihnen, sagen wir, abspenstig zu machen, denn in Wahrheit ist es das seine, nur unter falscher Flagge. Über diesem Unrecht wird er zum Freibeuter. Sage ihm keiner, er sei rechthaberisch! Das Gegenteil ist der Fall. Nirgends weiß er sich im Besitz des Rechts, das ihm zusteht. »Da, mein Recht!« zischt er zwischen geschlossenen Lippen und fällt den Rechthaber an, der nicht weiß, wie ihm geschieht. Wer hat Recht? Und wenn, welches? Nie fiele dem Korinthenkacker ein, sich sein Recht vor Gericht zu erstreiten. Warum? Weil er überzeugt davon wäre, dass es dort nicht anliegt. Ein Gericht, das ihm sein Recht zuspräche, hätte ja recht. Das darf nicht sein, denn, klein oder groß geschrieben, es ist das seine. Das Gericht ist der größte Rechthaber und damit sein größter Feind. Rechthaber und Korinthenkacker, man sieht sie gelegentlich gemeinsam vor den Pforten des Paradieses, man hält, was sie gegeneinander treibt, für eine letzte Umarmung, denn nur getrennt fänden sie Einlass, doch die Trennung will nicht gelingen. Gut so! Was wäre die Welt ohne dieses Paar? A safer place? Fragt sich, für wen.
Weniger in der Größe einer städtischen Schüssel, vielmehr als
Inhalt eines großen bäuerlichen Napfes fand die Obstküche des
unermesslichen Himmels ihr Symbol im Kompott. Er hat die
chinesische Landkultur mit dem Himmel vereint und so zur Vollendung
gebracht. Das zur Herbstzeit in Kreidekreisen gesammelte Fallobst
ist die Grundsubstanz der kosmischen Berechnung der Felder. Die
bäuerliche Zweiteilung der Ernte von Fallobst und Baumobst, das von
den Alten vom Boden oder von jungen Mädchen von den Zweigen
gepflückt werden muss, entspricht insofern den beiden Symbolen Yin
und Yang, als das gefallene Obst den Greisen und das gewachsene
Obst am Zweig zur Reife der Jugendblüte gehört. Jeder Zweig mit
hängenden Früchten gleicht demnach dem spendenden Arm der Jugend,
davon vielleicht Hölderlin in einem seiner letzten Gedichten
gesprochen haben mag, wenn es dort heißt: »Die Früchte aber sind
sehr schön gedrängt«.
Ob also oben am Baum, unten im Gras oder später im bäuerlichen Napf
die Früchte gedrängt erscheinen mögen, unterliegt allein dem
Prinzip der Gestaltung, die nach unten zur Erde oder nach oben zum
Kosmos ausgerichtet ist. Verspeist wird der Kosmos-Kompott von
Bauern und Priestern gemeinsam im Herbst, unter dem Kreis der
Gestirne. So werden alle erhoben und die Landwirtschaft blüht. -
PM
Dass einem alles, wovon man kostet, in Rechnung gestellt wird, ist
ein bekannter Mechanismus. So kostet ein gewisser Kardinal öffentlich vom Begriff der
Entartung, als handle es sich um eine besonders süße Frucht am
Baum der Erkenntnis, in der Hoffnung, die prompt servierte Rechnung
vom Tisch peitschen zu können. Etwas, nun ja, in der Art las man schon früher: eine
Erkenntnis, die in der Art bliebe, eine artige Erkenntnis wäre es wohl, das Prinzip
der Freiheit zu verraten und im Lippenbekenntnis, das nichts
kostet, einen artigen Biologismus zu fordern, in dem der Apfel erst
gar nicht vom Stamm fällt, sondern an Ort und Stelle verfault. – Man
könnte das degenerierende Denken gleich Denken nennen und es dann
lassen, man kann es auch gleich lassen, um artig zu degenieren. Es
liefe beides auf dasselbe hinaus. Der klerikale Biologismus hält
die Unzucht, in der er sich auskennt, huld- und zuchtvoll in den
eigenen Reihen. Umso komischer wirkt es, wenn an dieser Stelle die
Politik sich eindrängt, um daran zu erinnern, dass sie in ihren
schwärzesten Stunden sich ebenfalls in dieser Sparte versuchte. Die
laikalen Dilettanten können nicht begreifen, dass das, was sie sich
eingedenk des Entsetzlichen nicht herauszunehmen wagen, von einer
halbwegs denkenden Instanz aus dem Spiel genommen werden muss, soll
sich kein Spieler daran vergreifen. Dass Politik sich nicht
herausnehmen darf, was sich Kirchen herausnehmen, hat gute Gründe,
einsehbar unter dem Stichwort ›Fundamentalismus‹, leicht abzurufen
für jedermann. Provinzielle Politik macht daraus ein verbales Tabu,
Wegweiser des Unheils. Das heißt man wohl: mit dem Latein durch
sein.
In Krafträumen sammelt die Menschheit Kraft, das weiß doch jeder. Wie sie das macht? Durch sinnlose Tätigkeit, von manchen ›sinnfrei‹ genannt, weil sich das besser anhört und eine höhere Sinnausbeute verspricht. Sinnlose Tätigkeit gilt als Sinnspender, weil sie den Körper kräftigt, was immer sinnvoll ist, denn ein starker Körper kann sich wehren, gegen seinesgleichen, in den gleichen Räumen erstarkt, aber auch gegen anderes, zum Beispiel Schwermut, wie sie vorzugsweise in schwachen Organismen ruht und davon träumt, sie zu verlassen. Ein starker Körper will nicht verlassen werden. Er hält die Psyche fest und sie ihn, es besteht ein erotisches Band zwischen ihnen, stark und elastisch. Das interessiert die Frauen, die aus den Schönheitsräumen strömen, in denen sie vergleichbar, wenngleich mit anderen Mitteln und anderen Ergebnissen, behandelt wurden. Auch sie haben Sinn getankt, sie kommen bis obenhin abgefüllt mit diesem Stoff auf die Straße und wundern sich, dass die Leute nicht Schlange stehen, um ihnen eine Pappbecher-Füllung abzukaufen. Gern wären sie Sinnverkäuferinnen, stattdessen füllen sie die Regale im Supermarkt auf und vergnügen sich an der Kasse, wo ihr Augenaufschlag gefragt ist, vor allem bei den Absolventen der Kraftmaschinen und ihren schwächlichen Cousins, die sich nicht trauen. Der Sinn sitzt in der Psyche, das denken alle, die Psyche sitzt im Körper, ein bisschen wackelig, aber im allgemeinen verlässlich. Wer sich mit dem eigenen Körper beschäftigt, der betätigt einen Duschhebel und irgendwo regnet es Sinn. Der Philosoph macht daraus die Gleichung: Sinn ist Kraft. Das hört der Schwächling und denkt, dass die größten Dummheiten die größte Masse erreichen, also denkt er sich dumm, das heißt, er beginnt zu trainieren. Die gefährlichsten Kraftmaschinen sind dort aufgestellt, wo für die Masse gedacht wird, also wirklich. Die Kraft, die aus ihnen quillt, flutet die Räume, in denen der Mensch sich verausgabt, sie zieht ihnen Kraftlinien ein, an denen die Leute sich orientieren. Sie haben etwas läuten hören und sind verständigt. Dieses Verständigtsein … ist der Kraftsinn, an sein Ende verfolgt, dorthin, wo er kenntlich wird. »Hau drauf«, sagt dieser Sinn, »hau drauf, wann immer du nicht verstehst, wovon doch die Rede ist.« Dieses ›doch‹ ist wichtig, es lehrt die Furchtlosen das Fürchten und brennt den Verständigten ein Loch in die Hose, dort, wo ihr Blick nicht hinreicht.
Einem, der unter Kraftverdacht steht, winken herrliche Zeiten. »O
welche Kraft«, zirpt die Banane, »was mag daraus entstehen?« Sie
zirpt, als Banane, nicht wirklich, eher mental. Seit den letzten
großen Willensbekundungen des Volkes und dem darauf erfolgten Umbau
der Gesellschaft gilt sie als Persönlichkeit, nun, vielleicht mehr
als Personality, da eine
Persönlichkeit eher konservativen Personen attestiert wird und man
sie für historisch anrüchig hält. Eine Personality hingegen,
das kann ein Auto sein oder eine Marke, im Grunde alles, was steht
und rennt und geht – ob über den Ladentisch oder davor, spielt da
keine Rolle. Seit die Banane als Personality durchgeht und die
Werbeflächen füllt, wenn es nichts zu werben gibt, ist sie eine
gesellschaftliche Instanz und steht für Kraftverdacht. Sie darf ihn
äußern, wann immer und wo sie will. Dem oder der Kräftigen – oder
als kräftig Verdächtigten – öffnet es alle Verschläge und Nischen
der Gesellschaft. Zum Dank trägt er oder sie eine Banane am Revers
oder an vergleichbar zugänglichen Stellen. Zugänglich sein – dies
ist die hauptsächliche Aufgabe aller, die unter Kraftverdacht
stehen, und sie kommen ihr in umfassender Weise nach.
Dafür dürfen sie sich ein wenig bereichern.
Wer den Ausdruck schon kennt, bekommt 12 Cent auf die Hand, der Rest folgt später. Im Vertrauen auf seine Blutwerte verfolgt der Nasenbluter die Apfelweisheit, bis sie sich dankbar entfernt. Wohin? Ins Gebiss, auf gewundenen Pfaden, die locker versprechen, was sie nicht halten, und Unterstrom binden. Versuche zu folgen! Dies eine Mal noch – bis zum Sturz ins Gelächter. Ab mit Gewinn! Träume sind Niespulver, herausgestäubt auf dem letzten Parameter, der Weistümer kotzt. »Welche mehr?« frage ich. Dabei geht der Herd vor die Hunde, die winselnd ins Gras beißen, frisch von der Leber und pudelwohlauf. Zinnoberburg, breitwangig: ein Koloss im Verborgenen, der sich da auftut. Lass laufen, was tut’s. Wer läuft, läuft Gefahr, das gilt selbst für Nasen. Denk an den Stüber, den Schnepfenfreund, der nichts für sich abbeißt und überall nachwächst. Ein Herzensstüber, ein Schnepfenkröpfer, ein Plattmaul vom Lande, ein Dreifachbesaiteter ganz ohne Furunkel (den spart er aus). Aus-, nicht ansparen heißt die Devise, ein Wortlaut nimmt’s wörtlich und setzt sich in Front. Krakeele, wer will, an heißen Tagen gibt’s einen Abzug. Verstanden? Wohl kaum.
»Auf Krawall gebürstet« – wer das nicht versteht, dem nützt keine Spitzhacke für den gefrorenen See in seinem Inneren, der benötigt schweres Bohrgerät, um in dieser Hinsicht voranzukommen: »Wo kommen wir denn da hin?« Ja wohin denn? Das Unkontrollierbare kontrollieren, diese famose soziale Fertigkeit, die nirgends gelehrt wird und ihre unsichtbaren Meister besitzt wie irgendein östlicher Kampfsport, charakterisiert den öffentlichen Menschen, bei dem die Substanz hinter der Maske verschwindet, sofern ... sie überhaupt existiert. Dem Krawalleristen dient die Maske als Boot, mit dem er die Zubringer des oberen Orinoco befährt – soll heißen, er trägt sie ganzjährig (nicht auf dem Gesicht, sondern unterm Arsch, dort, wo es wehtut, wenn die Fahrt unruhig wird und entsprechend Kleinholz anfällt). Für ihn, wie für manchen anderen, ist die Welt Bühne, auf die er sich Zutritt verschafft, wann immer es ihm passt und den Schauspielern nicht. Die Regie, die alles überblickende, lässt ihn gewähren, denn sie weiß, er dirigiert die drei misslichen M hinter jeder Aufführung – Misstrauen, Missvergnügen, Mordgeschrei –, schleift sie, wenn’s sein muss, an den Haaren herbei, so dass es aussieht, als gehörten sie zum Stück, das gerade gegeben wird. Ein grober Irrtum des Publikums, aber ein beliebter. Nicht das Stück juckt, sondern die pompöse Rolle des Störers, die in jedes noch so kleine Geschehen hineinpasst, auf dass es ein bisschen größer dastehe. Dabei hält er große Stücke auf sich und lässt sie fallen, teils, weil die Kräfte nicht reichen, teils, weil er nichts versteht und herausfinden will, was dahinter steckt. Jedenfalls behauptet er das, willens, keine Ruhe zu geben, bis auch dem Dümmsten klar wird: dahinter steckt er. Er und kein anderer. Soviel Gestörtheit muss sein.
Apropos: solche Leute kann man mieten.
Während man jedes Stäubchen Macht einer Zweifelsbetrachtung unterzieht, wird jedes Stück Glauben für bare Münze genommen. Was fehlt, ist eine Kritik des Glaubens, der Glaubensbereitschaft ohne System und ohne Punkt und Komma, der alltäglichen informellen Gläubigkeit, ohne die der Mensch nicht auskommt und die den hartnäckigsten Leugner im Handumdrehen überrollt. Man hat geglaubt, den Glauben zu kritisieren, indem man die religiösen Glaubenssysteme kritisierte. Ein großer Irrtum und ein verheerender dazu. Man hat eine Hülle gesprengt und den Stoff in alle Winde zerstreut. Man hat sich für den Glauben das Glauben eingehandelt und alle sind jetzt believers. Jedes Wissen ist heute ein ›geglaubtes‹. Wer etwas anderes sagt, lügt oder glaubt, er sage die Wahrheit, was in der Sache auf dasselbe hinausläuft. Die Wahrheit muss geglaubt werden, sie ist das, was man ›zu wissen glaubt‹, das allein macht sie kenntlich, und woran man nicht glaubt, daran muss man augenscheinlich auch nicht... glauben, was sonst? Es gibt keine Wahrheit, sagt der herrschende Glaube, der alleinseligmachende, der alles weiß. Nein, es gibt keine Wahrheit, das liegt am Es und seiner mangelnden Bereitschaft zu geben. Und selbst wenn es gäbe, glaubten wir ihm kein Wort. Nur der Unglaube ist schöner als alles Glauben, er ist hartnäckiger, zäher und frisst jeden Glaubensartikel auf, während er die allgegenwärtige, allbereite Glaubensbereitschaft anheizt. Der Unglaube ist der Treibsatz hinter dem Glauben, sein Panier. ›Ich glaube nicht‹ – so beginnen viele Sätze, vielleicht, wenn man in sie hineinhört, die meisten. ›Ich glaube ja eher...‹ Etwas anderes zu glauben wäre entschieden naiv, das lehnt jeder ab, der zu glauben gelernt hat. Was hat er da gelernt? Vielleicht das: Kredit zu geben. Ist es das? Kredit? Kann ich mir das leisten? Kann ich mir gerade das leisten? Nein, ich kann es nicht. Und selbst wenn ich es könnte, warum sollte ich? Sprechen wir es aus: leistete ich es mir, so würde es über mich verfügen, vielleicht nur über ein kleines Stück von mir, aber dieser Gedanke wäre mir unerträglich, er ist es jetzt schon, und fort ist der Kredit. Nein, kein Kredit. Stehe ich denn fest? Worauf? Nein, es ist die Planke, nach der ich mich strecke, sie schwimmt soeben vorbei und könnte mich forttragen, ein Stück weit, nicht sehr viel, denn die See ist mit Planken übersät und ich habe, wohin ich greife, die Wahl. Das Wirkliche will ergriffen werden, nur so wird es wirklich. Wirklich glauben also, darauf läuft es hinaus. Ein unwirklicher Glaube trägt, aber nicht wirklich. Was ich wirklich glaube, das entscheide ich, wenn es soweit ist. Das heißt, ich entscheide es nicht, sondern ich glaube einfach, was mir sinnvoll erscheint, zu seiner Zeit, zu keiner anderen. Sinnvoll also muss etwas erscheinen, damit ich mich dafür entscheide: es scheint und ich glaube. Ohne den Schein des Sinns geht nichts. Aber was ist der Schein des Sinns? Das Aufscheinen des Glaubens? Sinn und Glauben gehen zusammen, sie gehen durch jeden Spalt. Diesen Unsinn sollte ich glauben? Das gerade bleibt ausgeschlossen. Wenn sich der Sinn verwirrt, geht der Glaube baden. Worin er badet? Das weiß doch jeder. Der Unglaube ist der Jungbrunnen des Glaubens. Hier sammelt er seine Kräfte, von hier kehrt er erfrischt in die Arena zurück.
Der europäische Adel besaß so lange unbegrenzten Kredit, bis man ihn aufzuhängen begann, das heißt, bis die Gesellschaft im Ganzen begriffen hatte, was Kredit bedeutet und wie sich’s von ihm lebt. Nicht der Adel benötigte lange Zeit den Kredit (oder doch erst in zweiter Linie, nachdem Gewaltbereitschaft nicht mehr unter allen Umständen der Mode entsprach), der Kredit benötigte den Adel als konditionierende Instanz, die bereit war, für Überzeugungen ins Feuer zu gehen, ohne die zwar Reichtum möglich, aber Armut garantiert war: als unaufhebbarer Mangel an Mitteln. Der auf Pump lebende Adel repräsentiert das funktionalisierte Jenseits, in dem es jedem gut geht, sofern er nur unbegrenzten Kredit genießt. Ein Erkenntnisgewinn, was denn sonst. Dorthin also geht die Reise, wir werden in Palästen wohnen und Heerscharen von Engeln werden uns aufwarten. Zahlen wir fürs erste, was immer wir schulden, ohne zu murren. Diese da haben Kredit, sie sind im Besitz des Zieles. Das Ziel ist der Gral oder das Tischleindeckdich. Erlösung dem Erlöser – was soll das heißen, wenn nicht: Wer gibt, dem wird gegeben? Vielleicht noch eins. Wer sich abspeisen lässt, trägt Schuld. Wer seine Schulden pünktlich bezahlt, gilt als Hoffnungsträger, allerdings ist die Zukunft weit. Dafür pilgert jeder gern nach Bayreuth.
Die wirkliche Ausgelassenheit des Künstlers gründet im Ausgelassensein, im Ausgelassen-werden, in seiner sozialen Nichtexistenz, die sich als dauerhaft sich erneuernder Ausschluss erweist. Nein, er ist es nicht – selbst dann nicht, wenn alle Waffen der Kritik auf ihn deuten: gerade dann nicht, gerade dann murmelt es in ihm und er will es nicht sein, er fühlt, er passt nicht hinein ins Gehäuse, in den warmen Aufenthalt, den man ihm bereitet. Wie im Leben, so in der Kunst: die Klassiker brauchen den Neuling nicht, sie schauen ihn nicht einmal an, selbst wenn er ihnen zu nahe tritt, sie schließen den Ring und schließen ihn aus. Die Turnmeister glänzen in der Manege, er blickt in die Gesichter der Menge, er findet Bekannte darunter, selbst Freunde; gerade sie, gerade die engsten Freunde findet er hier, er findet sie über die Maßen einverstanden mit dem, was geboten wird, sie zücken den Applaus wie eine Börse, ja, sie sind bereit zu bezahlen, so nimmt es sie mit, sie zahlen fürs Taxi, obwohl sie es nicht bestellt haben, sie wollen nicht wissen, wo es sie absetzt, sie fühlen sich überaus vornehm kutschiert und dafür bezahlen sie. Das kränkt den Künstler, es kränkt ihn über Gebühr, er fühlt sich erzürnt und möchte ihnen die Freundschaft kündigen, alle Freundschaft der Welt, denn alle Freundschaft, das weiß er jetzt, bleibt im Grunde schal. Was hilft die Freundschaft, scheint er zu denken, wenn sie nicht hilft? Nein, sie hilft nicht wirklich, sie hilft nur durchs Leben und das Leben ist schal. Das Leben ist die Kunst und das Leben neben der Kunst ist schal. Wie kann ich, scheint er zu denken, neben der Kunst leben? Wie können sie neben meiner Kunst leben? Sie können es, sie leben gut neben meiner Kunst, legt man sie ihnen in den Weg, so laufen sie so bequem darüber weg, als handelte es sich um einen Zebrastreifen, den eine fürsorgliche Verwaltung auf den Asphalt malen ließ, damit einer halbwegs unangefochten über die Straße kommt. Unangefochten, das möchten sie sein und, o Wunder, sie schaffen es. Ja, sie schaffen es, in diesem Leben und in einem anderen. Nein, alle Freundschaft ist Täuschung, jedenfalls in Künstlerkreisen, man täuscht sich über die Gleichgültigkeit des anderen, indem man mit ihm ins Kino geht oder in einen Vortrag. Wenn nichts anliegt, gut, dann pflegt man halt das Gespräch. Man pflegt ja auch seinen Hund.
Dies sind die Wege der Kür und wir sind sie nicht gegangen, teils,
weil die Pflicht uns rief, teils, weil wir anders unterwegs waren.
Ein Fehler? Das wollen wir nicht hoffen, das wäre ja, als müsse man
sich vergiften, bevor man sich in den Brunnen stürzt, um ernst
genommen zu werden. Andererseits – was wäre daran schon Besonderes?
Das Besondere an der Kür liegt, das wissen alle, die schon immer
dabei waren, im Moment der Wahl. Der, auf den sie fällt, darf sich
verbeugen, das lastet ihn aus und erfüllt ihn womit? Ein Segen,
dass er es nicht weiß, denn das Hochgefühl, das er empfindet, ist
vor allem eins: ein geschickter Stellvertreter. Sein Körper hat ihn
hastig gezimmert, ein paar Bretter und Nägel, alles was recht war
im Augenblick der Not, so
umsichtig reagieren Körper, wenn sie gefragt werden. Sie werden es
eher selten, dafür trainieren sie viel vor blinden Spiegeln. Am
Ende gelingt ihnen ein Gefühl und ihr Auftritt ist eine Wucht.
Hinter dem Hochgefühl, an seiner Rückseite, wo die Spanndrähte
laufen, nagen die Zweifel, die unbedacht blieben. Sie sind nicht
gefragt, sie gehören nicht zur Erfüllung. Die Erfüllung selbst
bleibt leer, eine Breitseite, wie man unter angeheuerten Landratten
sagt, aus der nichts folgt. Das ist auch, alles in allem, besser
so. Wie selbstlos muss einer sein, um mit bloßem Finger den
Nachteil herauszufischen, der im Vortreten liegt. Ein Stiefel,
wer’s kann.
Mit schönen Menschen in den Ring steigen ist ein Privileg der
Dummheit.
Der Kulturbereich ist die Bereicherungszone der Kultur. Da als Kultur alles bezeichnet wird, was in die Hose gehen kann, wurde er eingerichtet, damit Menschen sich kulturell bereichert fühlen. Damit Menschen sich bereichert fühlen, muss es Gewinner geben: Menschen, die davon leben – und nicht zu knapp –, dass andere sich bereichert fühlen. Nun sind die Kulturetats riesig, doch die Erlöse knapp, woraus folgt, dass nur wenige durch Kultur erlöst werden können. Das wäre schade, ginge es im Bereich der Kultur um Erlösung – Gott sei Dank ist das nicht der Fall. Doch gibt es einen schmalen Bereich, in dem sich das Wunder ereignet: die Saison. Da sie immer neu zu sein pflegt, verspricht sie Erlösung von dem, was uns alle in der letzten bereicherte. Getrübt wird das Vergnügen durch Wiedergänger. Man kennt sie schon, man hatte sie schon, und pünktlich springen sie aus der Kulisse: Sie sind wieder da. Aber, wie gesagt, Kultur dient nicht der Erlösung, man könnte behaupten, sie diene den Wiedergängern, die damit ihren Lebensunterhalt bestreiten. Doch das wäre ein Zynismus, gerichtet gegen die Bestreiter unter ihnen, die alles bestreiten, selbst ihren Lebensunterhalt. Das Leben braucht, neben dem Wechsel, seine Konstanten. So betrachtet, ist Kultur auch nur Leben. Es lässt sich ausrechnen, wie viele Wiedergänger eine Kultur verträgt. Sie stirbt, sobald es ihrer zu viele werden, sie mästet sich an ihren Todesfällen, sie gleicht einem immer währenden Autodafé, das von Voyeuren entfacht, von Selbstverzehrern gesäumt, mit Leistungsfreudigen bestückt und von Ausgabeunwilligen eingehegt wird. Nur die Sammler ziehen davon, ihnen reicht das Objekt und sie erhalten dafür einen Wisch, auf dem steht: wertvoll.
Als die Kunde, es gebe ein kulturelles Gedächtnis, sich wie ein Lauffeuer in alle Himmelsrichtungen ausbreitete, standen in einiger Entfernung die Löschkommandos, bereit einzugreifen, aber der Einsatzbefehl blieb aus. Warum? Die Zeit, in der ein Einzelner ein Gedächtnis hatte, mit Macken und Lücken, neigte sich dem Ende zu, mit dem Einzelnen erstarb auch sein Gedächtnis und die bunten Bilder, die man ab jetzt im Kopf trug, ließen sich jederzeit nachregulieren. Sie waren also genauer, überdies zahlreicher als alles, was dem Einzelnen in seiner Epoche zur Verfügung gestanden hatte, und sie deckten den unebenen Boden der Zeit vollständig ab – man kann auch sagen, sie pflasterten jeden Schritt, der ab jetzt noch zu gehen war. Und sie vermochten mehr, je nach Bedarf z.B. erglühten sie hier oder dort, mit dem Erfolg, dass sich die Schritte der Leute unwillkürlich an den entstehenden Wärmelinien ausrichteten: kalt: schlecht; warm: gut; heiß: Vorsicht! Das ließ die gute alte Repression schwach aussehen und sie verabschiedete sich hastig mit einem schlecht artikulierten »Wir sehen uns wieder!« in die Randzonen des allgemein verbindlichen Gedächtnisraumes, dorthin, wo der Krieg der Gedächtnismaschinen dem Bildverbot täglich neue Renegaten zuführt. Das alles ist lange her, ein Märchen, von dem nur die Aufteilung der Menschheitsgeschichte in eine schwarzweiße und eine farbige Epoche übrigblieb. In letzterer leben wir, den Kabelgöttern sei Dank, noch immer.
Hier entsteht ein Werk, beinahe selbsttätig, es erblüht
gedankenreich unter den Händen, den emsig über die Tasten
gleitenden Fingern, und draußen steht einer und sagt »hoho« und
»nana« und »soso« und spricht vom trügerischen Werkbegriff und vom
nichtexistenten Autor, mit einer Stimme, nur leise und seltsam
undeutlich im Rattern und Summen der Druckmaschinen vernehmbar, die
seine Gedanken unters Gelehrtenvolk bringen. »Da bin ich wohl in
die Kulturfalle geraten«, denkt der, dem das gerade passiert, »aber
warum? Sollte es nicht so sein, dass dieser da und ich Verbündete
sind? Aber in welchem Fall? Und in welcher Sache? Es gibt wenig
Gemeinsamkeit in der Welt, das ist wahr. Auch die Gedanken müssen
sich auseinanderlegen, um da zu sein, am besten so weit, dass sie
links und rechts herunterfallen und aufgehoben werden müssen, denn
das Aufgehobensein ist ihre Weise zu überleben. Aber der da, was
denkt so einer überhaupt? Denkt er überhaupt? Er zieht andere bei
den Ohren, während er sich am Ohrläppchen zupft, das macht Eindruck
auf alle Ohrläppchen, so möchten sie auch verwöhnt werden.« Wer so
denkt, wird es schwer haben, sich durchzusetzen, denn er wird nicht
einsehen, dass er dem da zu Willen sein muss und wenn schon nicht
ihm, dann all denen, die nicht aufhören können, die Sprüche dessen
da nachzubeten, besser gesagt, herunterzuleiern, als stünde der
Jüngste Tag dicht bevor und als gelte es, bis dahin unbedingt
durchzuhalten. Der da, ein Standbild seiner selbst, steht bereits
entrückt, ein paar Wolken sind um ihn aufgezogen, bald wird er
Blitze schleudern, so ehern steht’s um sein Kinn.
Eines Tages aber, der Gefoppte ward alt und weise inzwischen, ist
die Luft rein und der da fort. Was ist geschehen? Ist das Papier
ausgegangen? Hat sich der Äther empört? Wurde das Erz eingezogen?
Nichts dergleichen, natürlich. Nichts ist geschehen. Dass nichts
geschieht, dass es immer wieder geschieht und alles, was nicht
geschieht, mit allem, was geschehen ist und geschehen hätte können,
zusammen entsorgt, das ist, gelinde gesagt, der Skandal der Kultur,
aller Kultur, ihr inhärentes Maß.
Dass Kultur gut sei, ist eine Behauptung wie all jene, die sie für sämtliche Übel des Erdballs verantwortlich machen, angeblich, weil sie die Menschen gegeneinander in Stellung bringt. Kultur ist Aufwand und aller Aufwand schafft Unterschiede zwischen den Menschen – sowohl vertikal als auch horizontal. Der Gedanke, ein Aufwand, weltweit getrieben, sei imstande, die Unterschiede zum Verschwinden zu bringen, ist weniger utopisch als illusorisch, da er die Widerstände falsch taxiert, die sich diesem wie jedem Unternehmen in den Weg stellen. So wenig wie sich Partikularität aus der Vernunft herausrechnen lässt, so wenig lassen sich Widerstände zum Verschwinden bringen, die zum Grundcharakter des Wirklichen zählen. Man kann die Wirklichkeit nicht vor den Karren eines Projekts spannen und möge es noch so verlockend klingen – daran scheitert die Weltgesellschaft, die doch, projektbereinigt, bereits existiert und täglich ein wenig anders. Wer sonst könnte das Projekt, stünde es anders darum, bewirtschaften? Europa, das seit Jahrtausenden existiert, will Europa werden. Gut, aber was besagt das? Wer sich auf die Suche nach Europa begibt, wird in jedem Jahrhundert anders fündig, manchmal in jedem Jahrzehnt – was ist weniger Europa, was mehr? Gibt es hier ein Mehr oder Weniger? »Wir schaffen Europa« – so ein Politiker-Humbug hetzt Leute gegeneinander, die sonst ohne Probleme ihr Bier miteinander trinken würden. Jetzt sind sie ›Europäer‹ und ›Nationalisten‹. Genau besehen sind sie weder das eine noch das andere. Die ›Europäer‹ verstehen nichts von Europa und die ›Nationalisten‹, falls das Etikett stimmt, nichts von der Nation. Sie wollen Europa schaffen und schaffen ›Kulturgüter‹: eine Fahne hier, ein Parlamentsgebäude da, ein Archiv, eine Sammlung von Verträgen, Verordnungen und Absichtserklärungen, von flammenden Reden und nüchternen Einreden, manch einer rechnet den Eurostecker ebenso dazu wie die berühmte Kurvenberechnung der europäischen Standardgurke. All diese Güter stehen neben, nicht über dem, was Europa auch ist, für Liebhaber des alten Europa oder der europäischen Provinz weit unter ihm, das mag manchen gleichgültig lassen, aber ohne sie ist Europa nichts. Wer die Welt unter Kulturgesichtspunkten bereist, der genießt die Unterschiede, gelegentlich bis zum Erbrechen, weil der Mensch nur begrenzt Unterschiede erträgt. Wer sich einigelt in seiner ›Kultur‹, hat den Gedanken der Kultur nicht verstanden, er hat auch seine Kultur nicht verstanden. Kultur ist Neugier, gepaart mit Benehmen, sie ist das Neue im Alten und das Alte im Neuen. Planbar ist sie nicht und schon gar nicht erzwingbar: wer eine Kultur ordert, um eine Ordnung zu erzwingen, wer die Bulldozer ruft, um sie beiseitezuschieben, weil er meint, er brauche den Bauplatz für eine Plattensiedlung oder ein Weltheim, der ruft Kräfte auf den Plan, die geeignet sind, jeden zunichte zu machen. Am Ende wird jede Kultur furchtbar.
Die notleidendste aller Marken ist die Kulturmarke. Oft genug steht sie im Gelände wie ein gerupfter Hase – und das ist gütig gesagt. Das Wort ›Vogelscheuche‹ geistert im Raum, seit es Kulturmarken gibt, vor allem im ländlichen. Dabei hat man sie hier bitter nötig. Sie unterbrechen die Monotonie der Landschaft, in der wachsen darf, was zur Ernte drängt. Das Gespräch der Agrikultur mit der Landschaft scheint ewig und wirkt daher endlos, dabei ist es, wie Fachleute wissen, fragil und flüchtig. Die Kulturmarke fliegt vorbei, der Tourist muss ein Auge drauf haben, damit er sie nicht übersieht. Deshalb genießt sie den Vorteil des köstlichen Moments, der Unterbrechung um der Unterbrechung willen, die dem rhythmischen Bedürfnis des Menschen entgegenkommt, er könnte auch austreten, aber so geht es auch. Ein Netz von Kulturmarken, sorgsam geknüpft, überzieht das Land, in dem der Weizen blüht und Kartoffeln geerntet werden. An ihnen hangelt sich weiter, wer ausflog, um es kennen und lieben zu lernen. »1723« murmelt der Ausflügler und tritt zurück, die Stirn von der Anstrengung des Ablesens gezeichnet. Kicherte jetzt eine Stimme: »Damals waren wir jung«, er stöbe in alle Richtungen auseinander und sammelte sich nur mühselig wieder ein. Daher geschieht es selten oder nie, die Geister der Vergangenheit wissen, was sie der Gemeinde schulden, und schweigen hartnäckig dem, der sie bemüht.
In Deutschland erwürgt man die Literatur in den Windeln, indem man
von ihr Taten verlangt, statt ihr zuzuhören. Das erging der
Romantik nicht anders als dem lebensphilosophisch motivierten
Aufbruch vor dem Ersten Weltkrieg. Die Weimarer Literaten waren
bereits verständigt und ›ethisch‹ motiviert bis in die
Staatszerstörung hinein. Lauter abgebrochene, autoritativ
ruhiggestellte, im schlimmeren Fall als Kanonenfutter verheizte
oder von Mordbuben gehetzte Bewegungen, unter denen der Romantik
die zweifelhafte Ehre widerfuhr, als dauerhafter ›Ausdruck‹ der
deutschen Seele in Spiritus gestellt und gelegentlich zu
Demonstrationszwecken aus dem Regal geholt zu werden – auch und
gerade von Leuten, denen bei ihrem Anblick das Messer im Sack
aufzugehen pflegt. Mit dem Ausdrücken ist das so eine Sache, es
beginnt bei den Jugendpickeln und endet bei den mechanischen
Kopierern, die selten imstande sind, mehr als ein vergröbertes
Abbild zu liefern, angesichts dessen man erst eine Weile überlegen
muss, wo oben und unten ist und wie die Seiten zusammengehören.
Diese schlechten Kopien bilden zusammen das, was eine
Mehrheitsüberzeugung von Leuten, die weiß Gott anderes zu tun
haben, Kultur nennt, am besten lebendige. ›Unsere reiche Kultur‹
kann es sich leisten, den armen Schluckern vom Überfluss abzugeben.
Man sitzt am Tisch der Kultur, als handle es sich darum zu prassen.
Währenddessen studiert man die Unterlagen, Dossiers, die dies und
jenes Interessante verzeichnen, Schlafgewohnheiten, sexuelle
Neigungen, verdächtige Äußerungen von Leuten, die lange tot sind
und von anderen Leuten geplagt wurden, die schon genauso verfuhren.
Man nennt es ›aufmerksam sein‹.
Wie jeder Anschluss hat auch dieser binnen kurzem Wüste erzeugt. Nichts gegen die Wüste, doch diese hier hätte vermieden werden können, sie musste nicht sein, oder doch? Wer verfügt Wüsten aus blühenden Landschaften, so dass man nicht unterscheiden kann, wo das eine aufhört und das andere anfängt? Oder sind beide eins? Im Yagir herrscht die Auffassung, dass durch die Wüste hindurch muss, wer das Gelobte Land erreichen will. Sie nennen das, nicht ohne Hohn in der Stimme, ›unsere kulturelle Option‹. Manchmal liest man die Buchstabenfolge UKO an einer Fabrikwand, da und dort findet sie sich auch an Wohnhäusern, häufig mit einem Punkt im O, der wie ein Abschluss wirkt. Wenn man ihn genauer betrachtet, dann sieht er aus, als habe sich der Schreiber durch ihn hindurch aus dem Bild entfernt. Wohin? Durch die Wand? Durch die Wand zu wollen gilt im Yagir als kulturelle Option, vor allem, wenn es mit dem Kopf geschieht, doch sind noch mehr Organe im Einsatz. Dieser Fall hingegen liegt anders. Wer mit dem Kopf durch die Wand will, wünscht sich nicht zu entfernen, er will die volle Gegenwart, das kann bitter werden. Im Grunde seines Herzens liebt er die Bitterkeit und macht ihr ein Angebot. Dieser hier hat, wie es scheint, nichts mit ihr zu schaffen. Schon der Schwung seines U ist bewundernswert und stößt an die Wolken. Aber göttlich ist das zum Trichter ausgebildete O, das Organ des Verschwindens, es saugt den Schreibenden ein und stößt ihn vorwärts, während er vorstößt oder vielmehr die Bewegung des Schreibens, in die er hineingeriet wie in einen Orkan, ihn hinreißt und versiegelt in einem. Versiegelt, ja, so sollte man die Stelle nennen, die ihn auf irgendeine Weise noch immer enthält, wenngleich nur von ferne. Bleibt das K zu erläutern, das die Schreibbewegung durchläuft, durchlaufen muss, möchte man sagen, das notwendige Mittelstück aller Bewegung, ihr Ausweis, ohne den sie nicht existierte. Ein K kommt selten allein, es sind ihrer viele, wie schon das Wort Kakophonie bezeugt, eines der Hauptwörter der Bewegung. »K« sagt der Yagirit und seine Stimme bebt von Bedeutung, er erscheint innerlich bewegt und muss sich stützen. Rasch ist ein K herbeigeschafft, es besitzt die Form einer Krücke. Dieses Wort ist verpönt, es ist außer Dienst gestellt wie viele Personen im Yagir, die weiter arbeiten, als sei nichts geschehen. Man bezahlt sie trotzdem und alle sind zufrieden. Nur das Krisen-K tanzt aus der Reihe und verlangt Aufmerksamkeit, ein seltenes Gut, das vielleicht keines ist, sondern ein Aussatz. Raumgreifend nennt man eine Bewegung, die Aufmerksamkeit erheischt, doch da liegt vielleicht das Missverständnis.
Kultur gehört zu den knappen Gütern. Deshalb ist es in
Spannungszeiten erlaubt, sie zu rationieren und von Amts wegen
zuzuteilen, damit keiner zu kurz kommt. Die schwere und
verantwortungsvolle Aufgabe des Austeilens fällt an die Literaten,
die sich ihrer häufig mit großer Bravour entledigen. Das stellt ein
umso größeres Verdienst dar, als sie dafür Sorge zu tragen haben,
dass der überwiegende Teil bei ihnen verbleibt. Je größer das
Virtuosentum, desto leichter gelingt die Aufgabe der wunderbaren
Kulturvermehrung hüben und drüben, so dass an ihnen das Wort
zuschanden wird: Geben ist
seliger denn Nehmen. Autoren wie Rudolf Borchardt in
Deutschland oder Alberto Savinio
in Italien haben es in dieser Klasse zur Meisterschaft gebracht.
Auf ihre Prosa trifft vielleicht das Wort zu, das von Brecht auf
eine ganz andere Handschrift gemünzt wurde: Der preußische Adler / Den Kleinen hackt er /
Das Futter ins Mäulchen. Wobei Savinio zugute gehalten
werden muss, dass er für seine Nation immer eine Extraration unter
dem Ladentisch bereithält. Als überzeugter Internationalist muss er
dagegen streng sein. Ihre Hoheit, die mediterrane Kultur, gibt
sich nicht aus, sie teilt nur aus, und wehe denen, die diese edle
Form der Zuwendung nicht zu schätzen wissen. Der Ahnherr aller
Kulturzuteiler hingegen stammt aus Sachsen: ein Adler zwar, aber
ein ängstlicher, wie sein mutiger Biograph zu Recht vermutete.
Diese angeborene Lehrer-Ängstlichkeit verpasste dem tradierten
Europa einen Großteil seiner Noten – ein überwältigender Erfolg, allein
wenn man bedenkt, wie schamlos das Bewertungsschema von
aller Welt übernommen und nach Bedarf modifiziert wurde. Ein
schöner Nebenzug verdient ebenfalls bemerkt zu werden: Was
immer Nietzsche über
andere schrieb, es wurde irgendwann auch über ihn geschrieben. So
ist die Bildung zwar der Spiegel der Gebildeten, aber sie gibt
eilig zurück, was sie empfängt. Warum nur?
Man hat den Aristokratismus aus der Kunst hinausgeworfen; man
wird ihn wieder in sie einführen müssen. Man hat mit Rorty und
anderen geglaubt, man müsse oder könne die Kunst demokratisieren,
aber man hat sich nur den Hochmut von Leuten eingefangen, von denen
nichts erwartet werden darf als die soziale Tugend des Drückens,
und die selbst nichts von ihr erwarten als Karrieren. Man hat die
Kunst sinnloserweise an das soziale Spiel ausgeliefert, ohne ein
paar Mindestanforderungen zu formulieren. Man hat sie einem
Menschentypus ausgeliefert, der mit ein paar Handgriffen dafür
sorgt, dass diejenigen, denen es um die Kunst zu tun ist und die
man traditionell Künstler nennt, in ihr nichts zu suchen haben und
nichts an ihr finden können. Die Kunst ist das erste
hochdifferenzierte Teilsystem der Kultur, das in ein Medium bloßer
Kommunikation verwandelt wurde. Wer das Gewäsch leid ist, muss ihre
Gesellschaft meiden. Als hätten sie einen Ausgleich zu schaffen,
sind die Techniken heutiger Reproduktion denen der Vergangenheit so
unendlich überlegen, dass die Museumsbestände mühelos die Grenzen
von Raum und Zeit überwinden. An den Ausstellungskatalogen werden
die Originale zuschanden. Sie fügen sich einer neuen Gegenwart ein,
einer Hyper-Gegenwart, in der die Größen des Betriebs zu Randfiguren
schrumpfen, die niemanden ernstlich kümmern. Das, nicht die
angebliche Gewöhnung an die erregende und erregte Kunstsprache der
Moderne, hat dazu geführt, dass die Gesellschaft ihre Künstler für
friedliche Gartenzwerge hält, an deren Tun und Lassen kein Mensch
Anstoß nimmt, der seine fünf Sinne beisammen hat. Emphase für die
Kunst ist heute Ausdruck von Schwachsinn. Die Sirenen schweigen:
alle Macht der Künste ist darin versammelt.
»Das ›Nationale‹ ist eine ›Frage‹, die heute entweder unterschätzt
oder bloß vom äußeren und oberflächlich-wirtschaftlichen
Standpunkte behandelt wird, weshalb seine negativen Seiten stark in
den Vordergrund treten und das Anderseitige spurlos verdecken. Und
gerade dieses Anderseitige, d.h. das Innere, ist das Wesentliche.
Von diesem letzteren Standpunkte aus würde die Summe der Nationen
nicht eine Dissonanz, sondern eine Konsonanz bilden. Wahrscheinlich
wird auch in diesem scheinbar hoffnungslosen Falle die Kunst –
dieses Mal auf wissenschaftlichem Wege – unbewusst oder
unwillkürlich harmonisierend eingreifen. Die Verwirklichung der
Idee der zu organisierenden internationalen Kunstinstitute kann
eine Einleitung dazu werden.« So Kandinsky 1926. – Ergänzend ließe
sich feststellen, dass die Organisation der Kunstideen auf der
Grundlage breitester Zustimmung auf genau zweierlei Weise zu
verwirklichen ist: durch den Verzicht auf Ideen oder durch Moden
als Meta-Instanzen, die an die Stelle des ›wissenschaftlichen
Weges‹ treten, wenn sie nicht einfach auf diesem Wege Verbreitung
finden.
Zur Übergabe unerträglicher Zustände der Kunst, an Richter in unbekannten
Zuständen des Bewusstseins und der ästhetischen Erkenntnis, bedient
sich in neuerer Zeit ein offenbar unerklärliches Machtfeld
gereizter Geister der Hilfe unbekannter Fahndungsorgane. Es
geschieht, dass sich die Verhaftung und Überführung der Dummheit in
Bündeln oder personifizierbaren Sprüchen immer öfter ereignet.
(Bisher konnten dazu nur im Alphazet Andeutungen gefunden
werden.)
Zerstörungsprozesse des Mal
governo sowie die banalen Dogmen einer frech
besitzergreifenden Oberwelt, die immer mehr der einstigen Unterwelt
gleicht, werden plötzlich mitsamt ihren Vertretern erfasst und
abgeführt, und zwar von einer unsichtbar agierenden,
metaphysisch-dämonischen Kunstpolizey. Diesen völlig neuartigen
Zugriff auf die Phrasen vorsetzlicher oder unschuldiger Verblödung,
durch welche die wahren Künste verdrängt worden sind, bekommt man
jetzt in Träumen von seltsamer Süße zu sehen. Man sieht in ihnen,
wie die alten geschichts-moralischen Dogmen samt den üblen Kadavern
ständiger Kopien ihrer selbst ganz plötzlich, gleichsam intuitiv,
nach rätselhaften Urteilen der erwähnten Gerichtsbarkeit, in sich
zusammenstürzen und in tote Gebiete abgeführt werden. Das sind von
Geräuschen durchzogene Einöden ohne Landschaft, von keinem Himmel
bedeckt noch von Horizonten umgrenzt.
Die besondere Form des neuen Infernos besteht in einem
entsetzlichen Wissen, das den verurteilten Antikünstlern
eingepflanzt wird, wodurch sie den Folgen ihrer ehemaligen
Verwüstungen ebenso schutzlos ausgesetzt werden wie einst die von
ihrem Treiben erbarmungslos ausgerotteten Menschen des guten
Geschmacks und der feineren Nerven. Die Geister dieses Ortes sind
abseitige Philosophen, die mit hohen und schweren Denkaufgaben, die
sie pausenlos offenbaren, die verurteilten Schwachköpfe aufs
Tödlichste langweilen, indessen zugleich eine völlig selbständig
gewordene Kunst, die sie einst gehasst und beiseite geschafft
haben, aufs Schlimmste über sie kommt und sie peinigt. Die
plötzliche Begegnung mit ihrer eigenen, stark verkürzten
Intelligenz und den Geistern des Platzes wird auch deswegen zur
äußersten Qual, weil der Unterricht zwar empfunden, aber niemals
begriffen wird.
Bilder von neuer und großer Schönheit, begleitet von einer Musik
der Gedanken, die sie nicht verstehen, treibt ihre aufs höchste
gereizten Gehirne in gespaltene Zustände aus Scham und Verwirrung.
Einer Sonderform ihrer kritischen Dummheit, einer erkennenden
Gefühlskraft, sind sie hoffnungslos ausgeliefert und sie versetzt
sie in rasende Wut. Überhaupt ist diese Abteilung der Hölle völlig
neu und quält die Kulturverderber durch wirkliche Kunst, die sie
sinnlos verfluchen. Man sollte auch wissen, daß seit der Aufklärung
der Stil der Hölle gewechselt hat. Im großen und ganzen ist sie
heute ein aus Banalitäten zusammengesetztes Regietheater
kollektiver Satanie. Eine Massenveranstaltung folgt der
anderen.
Das ganze Gebiet, das einstmals in all seiner Dunkelheit durchaus
noch das glanzvolle Gepränge des Herrn dieser Welt zu bieten hatte,
ist den Antikünstlern durch eine wissende Unbildung gänzlich
entzogen. Sie leben in in einer Art qualvoll erkennender Barbarei,
ohne den Ausgleich eines dunklen Genusses dämonischer Schönheit.
Töpfe mit Kunstschlamm aus tierischem Eiweiß, gleich dem Schleim
der von ihnen verbreiteten Abkunft der Menschen, die nie eine Seele
besaßen, gehören zu ihren Speisen. Das furchtbare Wort an den
Säulen der anatomischen Finsternis: ›Die Toten lehren die
Lebenden‹, wird hier mit Zirkeln und Mikroskopen
scheinwissenschaftlich gekocht und tierisch verschlungen. -
PM
Die moderne Kunst ist in Paris aufgegangen und man merkt es ihr an.
Was danach kam, ging nicht mehr auf, sondern strahlte verlegen.
Auch daran hat sich das Publikum gewöhnt, das seine eigene
Verlegenheit ablegte, sobald es lernte, dass es durchaus gemeint
war. Das Publikum strahlt zurück, es ist mehr ein Glimmen in den
Augen, aber es reicht, das Feuer der Kunst zu steigern. Ein
Aufenthalt in den gehobenen Kunstbezirken ist wenig mehr als ein
Autodafé, bei dem keine Menschen verbrannt werden, sondern Scheine.
Das alte Scheinen der Kunst ist zurückgekehrt, aber im Plural. Das
Scheineverbrennen bestimmt die Verweildauer vor dem Gebilde, der
Arbeit, dem Arrangement –
meist geht es schnell, im Vorübergehen, manchmal kommt ein schwer
brennbares Stück unter, da steigt die Neugier, wie es sich macht.
»Weitergehen, nicht stehenbleiben« steht in Scheintinte über den
Anstalten, die sich mit teuren Anschaffungen in die
Aufmerksamkeitszone beamen, aber das wissen die Leute selbst. Die
Kunstsonne spendet das Licht, für das Inventar und die Wände sind
die Menschen verantwortlich. So steht hinter jedem Schein eine
Wand, die hält, bis sie abgerissen und durch eine andere ersetzt
wird. Das kann dauern, aber alles in allem bleibt die Sache
überschaubar. »Macht keine Witze« steht über dem guten Stück,
jedenfalls kann man es auf den Gesichtern lesen, die darauf
starren. Nein, sie machen keine Witze, die Guten – weder die einen
noch die anderen. Es fällt ihnen wenig ein.
Die Zeitlosigkeit der Kunstwerke ist keine Gunst, die ihnen die Kunstwelt erweist, sondern eine Tatsache, in deren Glanz sie erstrahlen. Sie haben alle Zeit der Welt in sich versammelt und teilen sie großmütig an ihre Umgebung aus. Die Umgebung hat keine Zeit. Der Besucher treibt vorbei, er verschwindet im nächsten Café, um seine Beute als Biskuit einzutunken und feucht zu verzehren. Kaum ist ihm bewusst, dass Zeit, so behandelt, unbekömmlich wird. Die Zeit der Kunstwerke will genossen werden, aber sie verweigert sich dem Genuss. Wer von ihr gestreift wurde, will wiederkehren, er weiß, er bekommt nie genug, oder er weiß es nicht und verzehrt sich in blinder Begehrlichkeit. Wer als Besuch kam, geht als Sucher, er will den Augenblick der Sammlung wiederfinden, aber das gelingt selten. Eigentlich gelingt es nie, der Wunsch wiederzufinden geht in die Irre. Vermutlich ist das sogar seine Aufgabe: da Irren menschlich ist, muss es wohl auch ein menschliches Irren geben. Das meiste Irren ist unmenschlich, ein brutales Herumtappen auf falschen Wegen, bis einer im Graben liegt und das Geräusch der Fahrzeuge ihn begräbt. Würde es ihn nur zudecken! Aber es lässt ihn unbedeckt, eine offene Wunde, die zum Himmel stinkt.
›Emanzen‹ nannte man Frauen, die einen bestimmten Lebensstil
pflegten und damit kenntlich wurden – gefürchtet, verehrt,
belächelt, verhöhnt, aber selten mit Gleichgültigkeit bedacht. Seit
der Staat die Emanzipation in seine administrativen Hände genommen
hat, ist eine Emanzipierte eine, die ihre Pflicht gegen das gemeine
Wesen dadurch erfüllt, dass sie Berufe ›erobert‹ – wogegen prima
vista nichts spricht, auch nicht seconda vista, außer vielleicht, hier
und da, die Methode. Aber der Staat der Dienstleister lässt sich
diese Dienstleistung, für die er ›kämpft‹ und die er am Ende
verlangt, mit einem Konformismus des ›Perfektseins‹ bezahlen, der
an die alte Tugend des Gehorsams erinnert und bis in die letzten
geformten Sätze, in die Blicke und Nagelrundungen hinein bekundet,
wem er gehört. Frauen haben in leidvollen Jahren gelernt, mit
diesem unerwarteten Phänomen umzugehen; inzwischen wissen die
meisten halbwegs, wie man sich seiner an den Grenzen zum
Privatleben entledigt. Das macht das alte Emanzenblatt zu einer
wirklichen Kuriosität. Die jungen Frauen sehen hinein wie in einen
Koffer voll Wäsche, den ihre Mütter einst packten, um zu ›gehen‹,
und den sie jetzt auf dem Dachboden finden. Vater war schneller.
Kurs halten, sagen die Schlaumeier, die See ist glatt und das Ziel
hinter dem Horizont, jedenfalls versinkt es dort gerade, wir werden
es nicht mehr schaffen. Na und? Der Bogen ist gespannt, der Pfeil
flirrt, er steht in der Luft. Der Rest ergibt sich von selbst oder
wie von selbst, den Unterschied wollen wir kappen. Wir haben die
Pest an Bord, eine schöne Leiche geben wir, aus lebhaftem
Personal, das sieht berückend aus und wer weiß? Organisation ist
alles. Diese latente Neigung zur Gewalt macht uns zu schaffen, aber
es gibt Ventile. Was wäre denn gewonnen, wenn wir an Land gingen?
Kursbücher wird man lesen, solange die Reiselust unter den Menschen
anhält. »Wann fährt der Zug?« ist eine ebenso naheliegende Frage
wie die nach dem nächsten Hafen. Der Aufbruch enthält den Bruch wie
die Sirene den Marterpfahl des Odysseus. Man bricht ein, wenn man
aufbricht, aber man überdeckt es durch Hochgefühl.
Es soll Leute gegeben haben, die vor Langeweile gestorben sind,
selbst zu Zeiten, zu denen so etwas gang und gäbe war, jedenfalls
von heute aus betrachtet, was bereits einem Standpunkt gleichkommt.
Das muss sich geändert haben, jedenfalls stirbt einer heute eher an
Kurz- als an Langeweile. Die kurze Verweildauer wird zum Problem
bei Patienten, die sich zum Sterben Zeit nehmen. Ihren letzten
Kampf fechten sie, wissentlich oder nicht, mit ungeduldigen
Klinikverwaltungen aus, die ihre Betten bereits verplant
haben. Steh auf und
wandle: eine ganz normale Aufforderung an jemanden, der
seiner Gliedmaßen und vielleicht seiner Sinne nicht mehr ganz
mächtig ist. Nimmt ihn eine barmherzige Seele mit, verbucht man’s
als Heilungserfolg. Gestorben wird dann halt anderswo. Und es ist
was dran. Nur was? Die kurze Weile ist ein Symbol für
das Leben, das nirgends zureicht. Da
freut sich einer mit seinen Lesern aufs Alter, weil ihm die
Gehirnforschung sagt, dass man gegen Demenz etwas tun kann –
endlich etwas tun, nach so vielen Jahren des Nichtstuns, der
Kurzatmigkeit, ein Aufatmen geht durch den Mann, er ist ganz aus
dem Häuschen. Eine Demenz ist auch schon gebucht, sie freut sich
aufs Treffen.
Das Lachen ist eine Weltmacht, die ihre eigenen, teils absurden Kriege führt, ohne sich vor die Tür zu begeben. Man kann auch sagen, sie bevorzugt die geschlossenen Räume – was so nicht stimmt. Aber wenn man die symbolischen und gesellschaftlichen Räume hinzunimmt, bekommt man eine Ahnung, was damit gemeint sein könnte. Dass das Lachen in der Philosophie soviel gilt, hat gewiss auch damit zu tun, dass sie ein ähnliches Ambiente für ihre eigenen Zaubereien bevorzugt. Eine niedrige Decke erzeugt Riesen, ein enges Gehege Ausreißer. Pädagogen fürchten das Lachen so sehr, dass sie es lieber für erzieherisch wertvoll erklären, als dass sie ihre Furcht einzugestehen wagten. Was Politiker von der Sache halten, erkennt man am besten im Karneval, der ein Gegenregiment sein soll und im Hinterzimmer mit der Macht paktiert, damit alles in gesitteten Bahnen verläuft. Wer das Gelächter kontrolliert, kontrolliert die Massen. Wer vom Gelächter kontrolliert wird wie z.B. Prominenz, die sich ins Kabarett verläuft, bevorzugt das mechanische Lächeln, falls er nicht, wie Sokrates, den Zuschauerraum zur Bühne umfunktioniert: Seht, hier bin ich, ein Wesen aus Fleisch und Blut, im Ernst unter euch weilend, während ihr euren Spaß an mir habt. Das kann, wie im Fall des athenischen Philosophen, schlecht ausgehen, selbst wenn es sich gut anlässt, so wie Weinen, Heulen und Zähneknirschen und -klappern, Lächeln und Juchzen generell in die gleiche Klasse von Ereignissen fallen, in denen eine psychische Irritation vom Körper interpretiert und abgefangen wird: da geht sie hin, in Ketten, aber glücklich, dem Aufruhr entronnen zu sein, den sie angezettelt hat und der sie ist. Am Lächeln will man diesen Vorgang am wenigsten einsehen, weil es am kontrolliertesten erscheint und ohne große Mühen mechanisch erzeugt werden kann. Ein mechanisches Lächeln ist ein Lächeln oder ein Ärgernis. Der stimulierte Körper forscht gleichsam nach dem Unruhepotenzial in seinem Inneren und lässt es, falls keine entgegengesetzte Order es untersagt, heraus. Entsprechend sucht ein mechanisches Gelächter sich seine Opfer; seine Bewegung geht nicht nach innen, sondern in die Umgebung, die sich unvermittelt einer Aggression ausgesetzt sieht, deren Ursachen sie nicht versteht und die ihr gleichgültig sind. Dass Gelächter auch ansteckend wirkt, ist keine besonders gute Botschaft; Aggressionsgemeinschaften pflegen sich immer und überall zu bilden, wo der Aggression nicht sofort entschieden entgegengetreten wird. Manchem, der in sich hineinlacht, schallt es heraus: Du bist ein elender Schauspieler. Mancher, der das Lachen als Therapeutikum empfiehlt, bevorzugt das zerstreute Lachen, um sich nicht lächerlich zu machen: damit gelingt es ihm. Das existenzielle Gelächter, das Lachen angesichts des lebhaft empfundenen Nichts bildet eine Klasse für sich: entweder es vollzieht sich lautlos, als Geist, oder es kollert und jedermann wartet auf den Aufschlag.
Landschaftsheizer sind rar. Selten bekommt man einen und keinesfalls an einem der Tage, für die man ihn bestellt hat. Das macht aber nichts, denn: niemand – niemand! – bestellt einen Landschaftsheizer. Wozu auch? Landschaftsheizer ist kein Beruf, es ist eine Auszeichnung. Sie wird selten verliehen und ehrt den Auszeichner. Der Ausgezeichnete hat nichts davon, er wäre vermutlich befremdet, wüsste er, wie man über ihn denkt. Aber auch das weiß so genau keiner. Es gilt der Grundsatz der Kontingenz: der Ausgezeichnete hat mit der Auszeichnung nichts zu schaffen. Allenfalls fürchtet er sie. Apropos: ein Landschaftsheizer kommt selten allein. Aber er bleibt es. Landschaftsheizen ist eine Passion, die ihresgleichen nicht kennt. Wärmt sie denn? Wärmt sie die Welt oder was? Wenigstens ihren bewohnbaren Teil? Das ist schwer zu sagen. Es fehlen die Messinstrumente und niemand kennt die Kapazitäten. Keiner weiß, wie viele Landschaftsheizer es gibt, wo sie wohnen, wie sie sich in der Landschaft verteilen – die Verteilung, ja, ein weites Feld. Sagen wir, wie es ist: Es fehlt das Interesse. Gern wäre ich Landschaftsheizer geworden. Doch, wie gesagt, man wird keiner, weil man es will.
Man kann die Angst der Menschen schüren und ihre Schläfrigkeit. Wie das? Nun, bisweilen (und gar nicht so selten) geht das eine aus dem anderen hervor, z.B. wenn die Menschen vor lauter Weghören die einfachsten Signale nicht mehr hören wollen und anfangen, ihnen willkürlich einen anderen Sinn zu unterlegen. Dieser Sinn, der keiner ist, eigentlich ein Unsinn, macht sich breit, er überwuchert nicht nur die Signale, sondern auch den Raum dazwischen, er lässt Unterschiede verschwinden, auf denen die Wachheit des Geistes gründet, die ja nicht einfach ein physiologischer Zustand ist, sondern ein erworbener, ein Selbsterwerbungsverhältnis des wachen Menschen, wenn man so will, jedenfalls nichts, das man durch Schlafen erwirbt, so gut es der Seele auch tut. Man sagt, Menschen, die so agieren, gehen Konflikten aus dem Weg. Der Gedanke ist sicher nicht falsch, aber vielleicht seitenverkehrt. Manche Konflikte gehen um den Menschen herum, nicht, um ihn hinterrücks desto sicherer zu packen, sondern um ihn langfristig einzuwickeln, da sie selbst noch nicht die gehörige Form und Reife erreicht haben. Ein tödlicher Konflikt braucht viel Zeit, um zu werden, in dieser Zeit fürchtet er nichts mehr als aufzufallen, er versteckt sich, er macht sich klein, er will niedlich erscheinen, putzig sogar, er spielt damit, dass sich Kassandren zur Unzeit lächerlich machen, er lässt den Umgarnten seine Geschäfte besorgen: so wächst er heran.
Klassiker entstehen eher aus Langeweile denn aus Langmut. Eine solide Langeweile lässt sich weder dämpfen noch, Lieblingsphrase aller Sortierten, ›effektiv‹ bekämpfen. Sie kann nur, an ihre Grenze geführt, umschlagen – in etwas Wildes, etwas Großes, etwas Beherrschendes. Die Aussage, ein Mensch werde von der Langeweile beherrscht, kommt so nahe an die Wahrheit heran wie irgendeine Lüge. Sie muss nur von der Unwahrheit befreit werden, die in ihr steckt wie die Obsession in der Langeweile. Wogegen Langmut, die immer zusieht, bis es zu spät ist oder die Verhältnisse reif werden, unter bestimmten Umständen sich ins schlichte, trockene, nichtige Gegenteil, also in Unbeherrschtheit verkehrt. – Die Empfindung, in der Provinz zu leben, weitab von den saugenden Zentren, befördert die Langeweile aus einem Grund, der auf der Hand liegt: sie ist ein Entleerer. In solcher Leere lässt sich gut leben. Damit die Langeweile, ein rasch geweckter Null-Affekt, zu beherrschender Größe heranwächst, muss vieles und immer anderes geschehen. Dieses andere ergibt schließlich die Füllung, die den Klassiker macht. Daher die Langeweile, mit der Außengesteuerte, die stets nur das eine im Auge haben, auf ihn reagieren. Gibt sich der Klassiker Füllung? Oder lässt ihn Ergebung die Beherrschung verlieren, auf dass er, aus wessen Hand auch immer, zu empfangen bereit ist? Klassiker sind langmütig mit ihrem Talent, sie glauben, es stehe ihnen zu, aber das flüstert nur der Kitzel des einmal erfolgten Umschlags. Sie sind Meister der Langeweile, solange sie wissen oder zu wissen glauben: Das ist der Weg. Stirbt die Provinz, stirbt die Kunst. Stirbt die Kunst, stirbt der Mensch. Stirbt der Mensch, sind alle Planetarier.
»Die Sorgen und Ängste der Menschen zum Ausdruck bringen« – ist es das? Ist es besser, sie einzulullen: »Mach dir keine Sorgen, du lebst nur heute«? Dabei liegt gerade da der Hase im Pfeffer. Wer nur heute lebte, der wäre fein heraus. Und doch würde er sich Sorgen machen: Was geschieht morgen? Was passiert, wenn ich nicht dabei bin? Kann das gut sein? Und wie ist das, nicht mehr zu sein? Ist es so wie nicht sein? Wie war ich überhaupt, als ich noch nicht war? War ich gut? Sicher war ich gut, damals, bevor alles schief lief. Gern wäre ich wieder so gut wie damals, vor meiner Zeit, also zu meiner Zeit, als sie noch keine war. Eine Zeit, die keine ist? Also kein Morgen? Also kein: Ich werde nicht mehr sein? Das ›nicht mehr‹ gilt nur für die anderen? Es geht mich nichts an? Wieso lebe ich dann nur heute? Lebe ich überhaupt? Bin ich nicht tot? Bin ich nicht begraben unter lauter Kram, der mich nichts angeht? Müsste ich nicht aufstehen und hinausgehen, um nachzusehen, wie es aussieht, dort draußen? Aber nein, ich bin doch kein Schlächter, ich kann diesen Organismus, der Ich sagt, kaut, verdaut und all diese Dinge bewerkstelligt, von denen man sagt, sie seien das Leben oder sich machten es aus oder es bestünde daraus oder so sei das eben oder daran ließe sich nun mal nichts ändern, ich kann ihn nicht zerstören. Er zerstört sich ja selbst und ich sehe dabei zu. Mache ich mir deswegen Sorgen? Eine gewisse Ängstlichkeit scheint aus diesem Ich nicht wegzudenken. Darum also muss ich mir keine Sorgen machen. Ich lebe im Heute und das ist nur ungenau gesagt, denn ich erinnere mich nicht daran, wie heute begann und weiß nicht, wie es endet, auch wenn ich darüber gewisse Erwartungen hege. Erwartungen also, das Leben kommt aus dem Wartestand nicht heraus. Dennoch warte ich darauf, dass es mit dem Warten ein Ende nimmt, bevor das Ende eintritt. Tritt es denn ein? Begrüßt es einen mit Handschlag? Darf man es auf sich aufmerksam machen? Ihm vielleicht bedeuten, wie lange es auf sich hat warten lassen und dass es mir jetzt etwas bieten muss? Schließlich ist es mein Ende, es wird sich mit mir beschäftigen müssen. Wie lange? Bringt es Zeit mit? Viel Zeit? Quälend viel Zeit? Ausreichend Zeit? Oder geht alles auch diesmal huschhusch und wieder weiß keiner, wohin die Zeit gegangen ist? Die gute Zeit, die Zeit der Sorgen und Ängste: da geht sie hin und keiner kann sie aufhalten. Seltsamer noch, das alles spielt heute, jetzt, jetzt, jetzt, j... Diese Gedanken sind nicht aufzuhalten, nicht abzuwehren und unüberwindlich. Vielleicht überwinden sie sich selbst, schließlich sind es Gedanken und unterliegen den Gesetzmäßigkeiten des Denkens. Nur Gedanken können Gedanken überwinden und letzte Gedanken sind letztlich mit sich allein.
Man kann der ersten
Frau, die Deutschland regiert, keine mangelnde Tatkraft vorwerfen,
sie wird, wenn sie abtritt, das Land … nein, nicht bis zur
Kenntlichkeit, bis zur Unkenntlichkeit verändert haben, und
das alles, ohne selbst kenntlich geworden zu sein … und wodurch?
Durch Laufenlassen! Wer weiß, wie man die Verhältnisse laufen
lässt, für den laufen sie ganz von alleine. Das Laufenlassen ist
eine große Kunst, manche meinen sogar, eine hohe – aber hoch,
niedrig, was sind das für Begriffe, wo kommen sie her? Das wäre
nicht unser Land. Mehr unser Land wäre, wenn die Verhältnisse, erst
einmal im Laufen begriffen, gerade dort immer halten würden, wo die
Mehrheit sie haben will. Die Mehrheit will, das ist nichts ganz
Brandneues, geordnete
Verhältnisse, die kann sie haben, selbst auf die Gefahr hin, dass
man im Leben nicht immer alles bekommt, was man will – daher ist es
auch besser, das Meiste zu nehmen, wie es gerade kommt, und das Beste
daraus zu machen. Aus allem das Beste! Eine Katastrophe zum
Beispiel, ganz für sich als Gestaltungsaufgabe betrachtet, enthüllt
durchaus reizvolle Seiten, darauf allein kommt es an. Wo es nichts zu
gestalten gibt, da läuft das Laufenlassen zur Höchstform auf,
gesetzt, es darf, was es kann. Dafür zu sorgen fällt nicht immer
leicht, aber es gelingt, wenn die innere Spannkraft stimmt. Die
chinesische Kunst des Kampfes lehrt, die Kraft des Gegners gegen ihn
selbst zu lenken. Wer Politik als Fitness-Training betreibt, der
kommt diesem Ideal schon sehr nahe. Gegner ist
der-der-ins-Leere-läuft – eine Feststellung, die verblüfft, wenn
man bedenkt, dass der Hauptfeind eines jeden Politikers, der
wiedergewählt werden will, der Misserfolg ist. Ihn ins Leere laufen
zu lassen ähnelt der Quadratur des Kreises, sie kann nur gelingen,
wenn sich genügend Claqueure finden, die sich und aller Welt
versichern, Kreis und Quadrat seien im Grunde dasselbe. Im Grunde
dasselbe – mit dieser Formel lässt eine Republik sich in Grund
und Boden regieren, solange die Wirtschaft boomt, und es kommt ja
wirklich auf dasselbe heraus, was am Ende gewählt wird, solange die
Grundeinstellung des politischen Personals stimmt. Dafür lässt sich
sorgen.
Eigenartiger Ausdruck, der daran erinnert, dass die Lauten geschlagen werden, immer und immer wieder. Die Lauten wie die Leisen, sie müssen geschlagen werden, das ist der Gong der Welt. Die geläuterten Deutschen, die nicht sehen wollen, dass sie geschlagen, und noch viel weniger wissen, wie sie geschlagen wurden, wünschen sich weder laut noch leise getroffen, sie hassen den Aufschrei und lieben es, ihn zu unterdrücken. Am liebsten möchten sie gar nicht getroffen werden. Man trifft sie deshalb selten zu Hause an und nie, ohne dass sie schon ein wenig getrunken haben und ihre Offenheit damit relativieren. Nein, sie sind nicht offen, sie weichen auch selten aus. Sie sprechen deutlich, überdeutlich und damit beyond interpretation über alles Mögliche, worüber Klügere lieber schweigen. Andererseits schweigen sie gern, um Stimmen Raum zu geben, von denen sie sich Belehrung versprechen. Leider werden Völker selten belehrt, außer von Großsprechern und Windbeuteln. »Über alles, worüber sonst?« lautet das verborgene Motto und keiner weiß, wie es damit weitergeht. Ein belehrtes Volk, so würde man sie gerne nennen und findet, wohin man auch blickt, wenig Anlass – so vieles geschieht unbelehrt und unbelehrbar vor, unter und hinter den Belehrungen, dass, wer die Lauten schlägt, nur die Leisen findet, die Leisetreterischen und leise Treterischen, sprachvergessen und lärmversessen ohne Ende.
»Würdest du so leben wollen, wie die tot sind?« – Die immer
virulente Frage stellt sich nicht allein vor Gräbern, gleich
welcher Ausstattung, sie stellt sich ganz allgemein angesichts der
erdrückenden Übermacht des Vergangenen, die nicht anders, nur
gespenstischer anmutete, wöge die gegenwärtige Weltbevölkerung die
gesamte bisherige Menschheit zahlenmäßig auf. Die Übermacht der
Vergangenheit ist die Übermacht der Kausalität, des nexus rerum universalis, in den auch
die Wertungen hineingehören, denen die Lebenden unterliegen.
Erbarmenswert ist das Dasein derer, die unter dem Diktat der
Wertungen anderer dahinleben, ohne eigene dagegensetzen zu können
oder von ihnen getragen zu werden. Doch wird man hier unterscheiden
zwischen dem objektiven und dem subjektiven Fall. Denn auch was
eigene Wertungen sind, regelt sich im Verkehr der Menschen
untereinander und so fällt die ganze Entgegensetzung dahin. Am Ende
bleibt das Problem der Bettung zwischen Menschen, die einem näher
stehen als andere, einem aber im Ernstfall auch nicht helfen
können, weil sie sich selbst nicht zu helfen vermögen. Ein
sadistisches Ranking sorgt dafür, dass die Ränge immer gefüllt
sind. Was ein Mensch wert sei, entscheiden Ökonomen, ohne mit der
Wimper zu zucken, es ist aber vorab entschieden in der
Wertschätzung, welche die Ökonomie selbst genießt und in den
Interpretationen wuchert, die Ökonomen und Nichtökonomen ihr
angedeihen lassen. So gibt es eine der Ökonomie
vorgeschaltete Ökonomie, in der das Leben des Einzelnen nach
Weltregionen und Kollektivzugehörigkeiten bereits taxiert ist,
lange bevor er zu krähen beginnt. Man sieht es an den teuren Toten
der Naturkatastrophen und Kriege, die von den Medien zu
unterschiedlichen Preisen gehandelt werden. – »Aber das weiß doch
jeder!« Das ist es, gerade das. – Es gibt andere Fälle, z. B. die
Vorratshaltung an Guten und Bösen, an Schurken im Weltmaßstab, die dem
Betrachter atemberaubend erscheint und sich ungeniert beliebiger
Individuen bedient, die durch die Zufälle der Geburt in ihre Netze
geraten. Auch die Konstruktion der Vergangenheit schafft
ihre Ungeheuer:
Zwitterwesen, die weder ganz vergangen noch ganz gegenwärtig sind,
halb Mensch, halb Dämon, klauenbehaftet, beliebig zitierbar, bis
zur Unkenntlichkeit kenntlich.
Dass die durchschnittliche Lebenserwartung in der westlichen
Wohlstandszone seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs steigt und
steigt, wird gern durch die verbesserte medizinische Versorgung,
den technologischen Fortschritt, die besseren Nahrungsmittel, die
gesünderen Lebensumstände erklärt, lauter Faktoren, die sich leicht
objektivieren lassen und insofern ›stimmen‹, obwohl aus ihnen die
Wut nicht begreifbar wird, mit der sich ›die Gesellschaft‹ auf die
Herstellung all dieser Umstände geworfen hat, warum sie an dieser
Stelle so viele Umstände macht. Vielleicht deswegen, weil ihr das
Überleben um jeden Preis eingeprägt ist, weil es die Lektion ist,
die sie aufs Eindrücklichste gelernt hat. Dazu gehören auch andere
wie die, auf der richtigen Seite stehen zu müssen, koste es, was es
wolle, und die nötigen Maßnahmen zu ergreifen, auch wenn es
schmerzt. Die richtige Seite ist die, die sich durchsetzt – wie
wäre sie sonst die richtige? Was der Modephilosoph Agamben das Lagermodell nennt,
wäre die Fixierung aufs Überleben, eine Verengung der Erwartung,
ein dünner Erwartungsfaden, der alles, nur nicht abreißen darf:
mehr wird nicht erwartet. ›Weiter, weiter!‹ ist die Formel eines
Lebens in Erwartung von nichts Besonderem außer dem, dass es weiter
geht, jede Stunde, jede Minute ein Gewinn. Wer sich zum Sterben
niederlegen möchte, wer sterbensmüde ist und sich, vermöge einer letzten Rückwendung des Gedächtnisses, in
Granatenhagel und unter fallende Bomben zurückversetzt findet, der
fügt sich jeder Rehabilitationsmaßnahme, der will, was man von ihm
verlangt. Es wird auch wieder anders gestorben werden, das ist der
leicht zu ziehende Schluss, wenn die Beobachtung stimmt.
Wer einmal die Leichtigkeit der Bewegung gefunden hat, kehrt selten oder nie, eher nie als selten, zur schulmäßigen Bewegungsart zurück. Man muss also vermeiden, dass sich eine Art Selbstbewegung in den Köpfen herstellt. Zu den professionellen Weisen, sie zu unterdrücken, zählt die Praxis der permanenten Zurschaustellung: wer das Erreichte auf immer neuen Symposien, in immer neuen ›Kontexten‹, zwischen immer neuen Buchdeckeln, in immer neuen Worten – denn etwas anderes wäre Plagiat und Betrug am Kunden – darbieten muss, der muss auch immer wieder ins Geschirr der Ex- und Dispositionen zurück, der darf nicht, sondern muss wieder- und wiederholen, was ohne diese Anstrengung bereits halb und halb versackt wäre und neuen Aus- und Ansichten Platz gemacht hätte. Er muss kenntlich bleiben, verlässlich in seinen Themen und Überzeugungen und Forschungsergebnissen und Gefühlsszenarien, und überdies formal konsistent und vermittelbar, soll heißen, den gängigen Schematismen verbunden bis zum Abwinken. Abgewunken, das weiß die Kollegin, wird immer; dass jemand hinten im Bild schon die Fahne hebt, rührt ihr verborgenes Herz und lässt sie fürs nächste Symposium rüsten: Auf zum letzten Gefecht.
Die chinesischen Arztpuppen dienten keineswegs bloß der Diskretion,
wie man heute platterdings behauptet, sondern sie stellten einen
geheimnisvollen Abstand her, der zwischen Körper und Geist, oder
zwischen dem leiblichen Dasein und seinem Spiegelbild, einen
Fetisch als Übergang setzte. Diese Brücken zwischen dem Brennpunkt
des Leidens und einem als nebelhaft fern empfundenen Ich bildeten
jene Puppen aus Holz, Leder, Porzellan und Elfenbein – in
ländlichen Gegenden genügte oft Stroh –, die es dem Arzt erlaubten,
mit seinem Patienten das Leiden als ferne Macht ins Visier zu
nehmen. Allein die Entfernung war bereits hilfreich.
Im Kaiserhaus und an den Höfen der Fürsten gab es Meister der
Puppen, Fu-hsi genannt. Sie verfügten über medizinisch geübte
Bogenschützen, die unter Lautenmusik dem Leidenden die Stellen
seines Übels an lebensgroßen Figuren zu deuten wussten. Letztere
wurden, teilweise mit ornamentalen Organen oder magischen Malereien
verziert, in astrologisch berechneter Entfernung vom Lager des
Kranken aufgestellt. Heutzutage betrachtet man sie
irrtümlicherweise als von Pfeilschüssen beschädigte
Kunstgegenstände.
»Wer sein Leiden nicht von sich selber zu trennen weiß, ist in
schlechter Verfassung. Er gewinnt keinen Abstand und der Feind hält
die Festung seines Hauptes besetzt.« So schreibt ein chinesische
Arzt, von dem wir nur über die Jesuiten in Japan den lateinischen
Namen kennen. Segmund van den Dusend, ein Arzt des Ordens, nennt
ihn in seiner Schrift De
waterlosmakene kunst to de genezing schlicht oder auch
falsch: Cui bono
(möglicherweise Tibetisch ›Shik-bon‹).
Es heißt, C.G. Jung sei im Besitz dieser Schrift gewesen und habe
sie gerne unter Studenten und Freunden in holländischer Sprache,
nicht ohne alemannische Klangfarben, zitiert, indem er behauptet
habe, dies stifte bereits den genügenden Abstand zwischen Körper
und Krankheit.
Interessanterweise setzt heute eine aufgeklärte
Wirklichkeitstrennung ein, die den Verlust des magischen Feldes
zwischen dem leidenden Menschen und seinem geistigen Spiegelbild
nicht mehr erfassen kann. »Der allein stehende Mensch hat seinen
Hof verloren«, sagt Homomaris, der in seiner Schrift Gestaltgewinnung der Krankheiten durch die
plastische Kunst behauptet, die geglättete, organlose
Körperdarstellung des Menschen in der plastischen Kunst sei nichts
als eine geistlos-ästhetische Entwicklung der Arztpuppen. In
Sonderheit träfe dies auf die Darstellungen des heiligen Sebastian
zu, deren Pfeilschüsse Homomaris an einigen hundert Statuen,
zwischen Europa und Südamerika verglichen und untersucht haben
will.
Dass unter solchen Aspekten die katholische Kirche um
Neunzehnhundert eine Schrift über Nietzsches Leiden in lateinischer
Sprache herauszugeben gedachte, ist wenig bekannt. In ihr sollte
die Hauptursache seiner Erkrankung und der seines Vaters im
protestantischen Egozentrismus als der alleinigen Selbstexistenz
eines jeden Menschen vor Gott gesucht werden. Es heißt in dieser
Schrift, jeder Mensch besäße von seiner Geburt an eine leere
Persona oder Maske, besser
noch eine Seelenpuppe, die er im Laufe seines Lebens, das immer
auch Leiden bedeute, zu erlösen und zu besprechen habe. Der
Protestantismus habe allein an dieser Stelle der religiösen Medizin
so nachhaltig geschadet, dass in Europa und Amerika die
Geisteskrankheiten zu Volkskrankheiten geworden seien
(»democratissimus et morbus mentis«). Die Herausgabe der Schrift
schien aber um Neunzehnhundert bereits zu heikel, angeblich weil
sie dem Aberglauben in abgelegenen Gebieten der Kirche hätte
Nahrung geben können. In Wahrheit fürchtete man wohl den
massiven Widerspruch der längt irreal vagabundierenden
Vernunft.
Das unbewachte Leiden, abstandslos am Menschen haftend, ist darüber
zum modernen Problem geworden. Die Leiden werden in der uns fremd
gewordenen Natur gesucht und der leidende Mensch sozialisiert und
kollektiviert. - PM
Dass die leidenschaftliche Weltsicht Leiden schafft, liegt
einerseits in der Natur der Sache und geht andererseits weit über
sie hinaus. Wie alt muss einer werden, damit er beginnt, das Leiden
zu leiden? Am Leiden leiden viele, man nennt das Verdruss. Auch
hier gibt es Unterschiede, die selten auf den Tisch gebracht
werden, seit Einheitskost herrscht. Nehmen wir uns beim Wort und
werfen wir uns in die Stromschnellen des Verlangens. Das ist ein
Experiment, das keiner besonderen Mittel bedarf, eigentlich kein
Experiment, sondern eine Erscheinung. Und was passiert? Was soll
schon passieren, wenn ER
erscheint? Oder SIE? Oder
– horribile dictu! – ES?
Das erste, was stört, ist die Sprache selbst, die schon weiter ist
und die Erscheinungen kassiert, eine um die andere. Die Sprache
vermittelt die Leidenschaft weiter, das will sie ja, da liegt das
Enigma. Eine Leidenschaft, die sich nicht auszudrücken vermag, die
nicht zur Sprache kommt, mag bleiben, wo der Pfeffer wächst, sie
korrespondiert keiner Seel’. Aber wehe, sie kommt, treu wie ein
Hund, wedelnd, brav, den Knochen im Maul – Verdruss! Die
leidenschaftliche Weltsicht entspringt dem Verdruss wie der Wärter
der Anstalt: freiwillig, doch mit flackerndem Blick und dem
unfreien Wunsch, der wohltätig verhängten Ruhe ein für alle Mal zu
entkommen. Erlangen könnte so jemand vieles, im Verlangen verdreht
es sich und wird unerreichbar. Wer dagegen im Sturm navigiert, als
säße er auf dem Trockenen, kann sich einbilden, er sei bald am Ziel
seiner Wünsche. So einen nennen die Mitmenschen eingebildet. »Ein
Schnösel«, schimpfen sie, »woher nimmt er das?« Geschöpft, liebe
Mitbewohner, alles geschöpft. Das Leiden leiden, damit ist alles
gesagt.
Das ist der züngelnde, durch keinerlei Nebenabsichten zu zähmende
Schmerz, der sich kostbarer anfühlt als alle Tröstungen, den man
ihm anbietet und der sich vor ihnen versteckt, wenn sie gehäuft
auftreten oder das Feld zu behaupten versuchen, um hinter ihnen, in
einer einzigen Geste der linken Hand oder in einem stummen Moment
aufs Neue zu explodieren. Er nützt eine kleine beredsame Stelle im
Gehirn, die für ihn reserviert scheint, jedenfalls leer, bevor er
zu sprechen begann, und seine Sprache erstreckt sich über das Organ
des gewöhnlichen Reden hinaus bis auf die Zunge, die seinen
Geschmack aufnimmt und triefend wie ein Schwamm vor dem Absturz
bewahrt. Hüte deine Zunge! Das gilt niemals so wie in den Tagen des
Schmerzes, wenn sie durch die Reibung des sanften Gebrauchs
versucht, seiner Herr zu werden, und ihn doch nur verteilt: in
welche Richtung du ihn auch nötigst, er richtet sich in seiner
Folgsamkeit ein, die das Wort Trennung nicht kennt, und rollt sich,
blitzartig oder langsam, ein Reptil der Nötigung, rückwärts in
deine Substanzen zurück. Ein Lügner, der nicht mit dir leidet und
dich ruhig auf die Freiheit verweist, die dich wie ein Mantel
umfängt und die härteren Stöße des Schicksals abfedert. Ein Lügner
sagst du, einer von der Sorte, die sagen können, was sie
wollen; wenn er gerade in diesem Punkt die Wahrheit sagt, dann nur
deshalb, weil sie wie ein Scheinwerfer seine verquere Existenz
beleuchtet. Jedenfalls scheint es dir so. Nein, von dieser
Trennung gibt es kein Zurück, es gibt aber auch kein Vorwärts,
jedenfalls keins, das dich lockte. Die Lockung selbst hat ihre
Richtung geändert und ist retrospektiv geworden, eine Späherin in
Verhältnisse, die so niemals bestanden haben, Zukünfte von
Vergangenheiten, die nicht ausgeschöpft wurden, die Potential
hatten und es jetzt zeigen, eine Beinstellung hier, eine enthüllte
Rundung dort. Dieses obszöne Pack scheint zu wissen, was es will,
es scheint überhaupt nach Belieben zu wissen. Es hat sich in der
Kammer des Wissens verfangen und rast in ihr kreuz und quer, auf
und nieder wie ein Insekt, dessen letztes Stündlein geschlagen hat.
Etwas drückt an der Leistung und es sind keineswegs nur Linke, die
es bemerken. Es drückt gleichsam an der Wurzel und man bedarf
keines Spatens, um den Befund zu bestätigen oder zu erhärten. Im
Prinzip genügt ein klein wenig Lebenserfahrung, näherhin
der Umgang mit dem Unbedingten in seinen verschiedenen
Spielarten. Leistung ist unbedingt. Wer nicht aus sich
herauszuholen gewillt ist, was nie und nimmer in ihm gelegen ist,
der weiß nicht, wovon die Rede ist, für den ist Leistung allenfalls
eine statistische Größe. Und es ist wahr, dahin tendiert sie, alle
Fühler, alle Tentakel ihres vielgliedrigen, dabei überaus einfach
gestrickten Seins zieht es in diese Richtung. Sie will in die
Statistik eingehen, unbedingt, am liebsten natürlich in die der
Rekorde. Aber im Prinzip genügt ihr die Schwellung, das ist die
Stelle, an der die Werte ein wenig zugelegt haben. »Ein hoher
Wert«, sagt sie gern und sie meint nicht das Fieber, »ein hoher
Wert kommt nicht von allein, er muss gebracht werden.« Sie sagt
nicht ›erbracht‹, das Wort sagt ihr nichts, mit einem Achselzucken
geht sie darüber weg. Den klassischen Erbringer vergleicht man am
besten mit einem Bauern, der Frondienste leistet. Er weiß, dass man
sie ihm abzwackt und spürt die Minderung als Druck in allen
Gliedern. Bedrückend gleichbleibend, das heißt nennenswert, wird
Leistung erst dann, wenn der Kopf sie bringt: ein Bringer ersten
Grades, der jeden Zubringer hinter sich lässt, obwohl er ohne
dessen Zunft nichts wäre, wofür er manchmal dankt, aber beiher. Nur
die Leistung zählt. Sie zählt wirklich, alle anderen schaffen es
bloß bis drei. Was sie wohl zählen mag? Dumme Frage. Ein Schein
wäscht den anderen.
Eine Steigerung des Leistungsdrucks bietet der Erfolgszwang, mit
dessen Hilfe sich Calvins Erben auf Gotteskurs halten. Als
klassische Zuarbeiter schätzen sie das Aufarbeiten nur selten,
beherrschen es aber zur Not – da immer letztere es ist, die
gewendet sein will, gehört das Aufarbeiten zu den immerwährenden
Tätigkeiten der Wende. Nicht ein Leben, zwei sollten es schon sein,
wenn der Erfolg uns antritt: straff, schön, entspannt soll er uns
vorfinden, so wie wir einst antraten, als ein Tritt zu genügen
schien, um auf die andere Seite zu gelangen. Im Alter, da sind wir
jung. Die Märchen wissen darüber viel, sie schätzen die Leistung,
das Wort ›abschätzig‹ stammt aus diesem Milieu.
Was immer Physiker davon halten mögen, im Alltag ist dieses Wort
ein Signal und es bedeutet, jedenfalls in aufgezogenem Zustand: Hier
darf abgeschrieben werden. Eine Regel, einst für Journalisten
erdacht, gilt in einem Zeitalter, in dem jeder seine eigenen
Nachrichten verfertigt und um die Welt schickt, natürlich für
jedermann. Ein solches kollektives Abschreiben erzeugt quasi
naturgesetzlich den Unmut derer, die zu wissen meinen, dass bei der
Masse wenig Wahrheit ist und man sich besser absentiert. Schwieriger
wird es, sobald erst die Masse begriffen hat, dass bei den Leitmedien
im Grunde wenig zu holen ist. Warum das? Weil sie auch nicht
mehr wissen? Gut möglich. Möglich aber auch, dass sie ihr Wissen
aus lauter Angst vor den Wiederholungs-Tsunamis draußen im Weltmeer
der Information am liebsten vor sich selbst versteckt halten würden.
Halt! Keine Verschwörungstheorie! Aber diese Information kommt von
ihnen selbst: Keine Information in die falschen Hände! Am
Anfang aller Bewegungen, deren man so schlecht Herr wird, steht eine
Information, eine Information zuviel, wie viele meinen, am besten,
man hält alle zurück, dann sollte eigentlich nichts passieren.
Leider ist das nicht machbar, vor allem im medialen Bereich. Sich
selbst zu zensieren, ohne dass es auffällt, ist eine Kunst, die
nicht jeder beherrscht, dazu bedarf es der Meister. Doch wo zeigte
sich wahre Meisterschaft, wenn nicht dort, wo sie das Misstrauen
gegen sich selbst aufs Äußerste steigert? Ein Leitmedium ist daher
in aller Regel die Rinne, an der entlang aller Unmut und Geifer in
einer Gesellschaft entlangläuft, um in die bereitgestellten Tonnen
aus vorfabrizierter Gesinnung zu tropfen. Da in der physischen Welt –
wie in der geistigen, die hier aber außer Betracht bleibt – alles
mit allem reagiert, reagieren auch Leitmedien mit diesem steten Strom
der Gemeinheit, sei es, dass sie ihn zu steuern, sei es, dass sie ihn
ins eigene Repertoire zu übernehmen trachten, weil der Fluss
als Absatzgarant nie erliegen darf. Allerdings gilt in derselben
physischen Welt der Grundsatz, dass niemand Herr aller Reaktionen
sein kann, die er auslöst. Daher sind Leitmedien, die vorgeben,
Herren ihrer selbst zu sein und die Prozesse zu steuern, die sie
durch ihr kontinuierliches Erscheinen auslösen, in Wahrheit
Wahnbefangene mit einem Hang zum unbegründeten Großtun. Als solche
sind sie wahrheitsaffin, denn alles, was ›in Wahrheit‹ so oder so
ist, bedeutet etwas, man muss nur herausholen, was dahintersteckt.
Der Lesehirsch betritt den Garten der Lüste versonnen, mit einem
Buch in der Hand, er blickt kurz hoch, aber das zählt nicht
besonders in einem Raum, in dem es vor Spannungen knistert. Er hat
einen langen Aufstieg hinter sich und begehrt im Grunde nur eines:
den freien Ausblick. Der wäre ihm auch gewährt, hätten sich nicht
Lesende jeder erdenklichen Art zwischen ihn und sein Sils Maria
geschoben, darunter Leute, die das Buch so sehr erhoben haben, dass
sie es nur auf Gerüsten, ausgerüstet mit Ferngläsern, zu entziffern
imstande sind. Einige wenige haben sich ihr Buch erkoren und
blicken nicht links und nicht rechts, aber die meisten sind mehr
damit beschäftigt, auf den Gerüsten herumzuklettern oder beständig
zwischen ihnen zu wechseln, um nichts zu verpassen. Den Lesehirsch
ficht das nicht an, er ist mehr denn je bemüht, das Gewimmel zu
seinen Füßen nicht im Weiterlesen zu zertreten, weshalb er nur
langsam vorankommt und den Felsen, die sich jenseits der Bücherwand
türmen, ein gelassenes »Servus« entbietet. Homomaris, der Aufnahmen von ihm
verwahrt, glaubt nicht, dass es eines Tages zum Kontakt kommt.
»Nein«, sagt er, »das ist etwas für Tiere. Er wird eher in die
Ewigkeit eingehen als ins Gestein. Hoffen wir auf ein gescheites
Verschwinden.«
Nirgendwo tritt die Wolfsnatur des Menschen in annähernd gleicher Schärfe hervor wie bei Lesen. Der lesehungrige Mensch verschlingt alles, er kennt keine Grenzen, keine Bedenken, keine Tabus. Im Gegenteil: letztere ziehen ihn mächtig an. Deshalb hat der regierende Geist des Menschen vor den Hunger die Zensur gesetzt: Nur eine ordentliche Zensur bewahrt Anstand, Scham und Sitte vor den verderblichen Auswirkungen geistiger Neugier – von anderen Instanzen zu schweigen. Wo diese Zensur ansetzt – Apfel, Verlag, Bibliothek oder gleich beim Autor selbst – ist dagegen nachrangig, solange der Erziehungseffekt gewahrt bleibt: die Selbstzensur. Sie bietet zwar keinen verlässlichen Schutzwall gegen den Lesehunger, aber sie erleichtert den wirklichen Zensoren die Arbeit. Zum Glück gewährt auch die Literatur die beseligende Wirkung des Positiven: Heidi, Pippi Langstrumpf, Harry Potter werden immer leuchtende Fixsterne der Weltkultur sein und bleiben. Halt! Welcher negativistische Teufel hat mich da gerade geritten? Weiß ich denn nicht…? Bin ich meiner Feder so wenig sicher? Welcher Feder? Welches Geschwurbel tritt da aus mir aus? Lesefrüchte, von Grund auf faul: faul wie das Land, auf dessen Boden sie wuchern, faul wie die Bewohner des Landes, denen ihre Tüchtigkeit das Gehirn wegschmolz, faul wie ihre Medien, die faulsten von allen, faul wie eine Politik, die aus Unwissenheit Gold gewinnt, die letzte Deckung für ihre Ausgabenwut –… Wohin führt mich die blinde Erregung? In den Wahnsinn? In den Wahn, Sinn aus allen erdenklichen Töpfen zu saugen? Mehr Sinn? Noch mehr Sinn? Nein, das macht jetzt keinen Sinn. Es macht … überhaupt macht es … nichts. Wie wär’s mit einem Lesestopp? Jetzt? Kann man verhängen, in Blauweiß, wenn’s recht ist. Tässchen gefällig?
Wenn man erst den Lektüren der Menschen hinterherliest, dann fragt man sich, wie letztere durchs Leben gekommen sein mögen. Die Frage ist gut, aber die Lektüre erlaubt keine Antwort. Es wird wohl an der Harmlosigkeit der Lektüre gelegen haben, dass sie so halbwegs mit ihm zurechtkamen. Manche Lektüren erhalten sich, für die Nachwelt präpariert, in Kinder- und Kitschbibliotheken, mit einigen müssen künftige Schüler sich zu Abschreckungszwecken herumschlagen, das Gros verschwindet einfach, gleichgültig, welche Auflagenzahlen sie einst erreichten und welche Preise sie auf ihre Verzapfer herabregnen ließen. Aus und fort! Die Texte einer Epoche, die das Zeug dazu haben, ohne Kronzeugenregelung zu überdauern, sind ihr oft genug unbekannt oder gelten als abwegig, wenn nicht verwerflich. Diese Regel hält sich eisern, sie ist tief in der Wahrnehmungsstruktur von Gesellschaft verankert und wer sie herausreißen wollte, verhöbe sich leicht, ohne dass etwas sich änderte.
Die Aufgabe, die Leserschaft zu dezimieren, verschlingt ungeheure Kräfte. Zu groß die Lesewut der Leute, als dass es reichen würde, ihr mit den üblichen Tricks wie gehäuftem Fremdwortgebrauch, komplexer Syntax und schwierigen Gedankengängen beizukommen. Selbst Analphabetentum, das in diesen Breiten eher zu den selbstgewählten Handicaps zählt, kommt nicht in Betracht – nicht wirklich, denn wie viel auch gelesen wird, es geschieht ohne viel Federlesens, soll heißen, ohne die Mittlerfunktion des Verstandes in Anspruch zu nehmen. So, ohne den lästigen Gesellen zur Seite, liest es sich frei und gemein: jeder versteht, was der andere versteht und versteht er etwas anderes, so versteht er nicht, was der andere damit will. Ein wilder Unglaube an die Verständigkeit und ein verständigter Glaube an die freie Verstehbarkeit aller Zeichen zeichnet die Gezeichneten der Zeichenwelt aus. Auf ein Weltzeichen wartend – und gelegentlich drängend –, das ihnen den Weg nach außen weist, klammern sie sich an ihre Verstellungen und treten sie auf dem Pflaster ihrer Lektüren breit, die vielleicht keine Lektüren mehr sind, sondern eine in den Boden gerammte ältere Leserschaft, deren Kehrseite nun im Sonnenlicht glänzt, als warte sie auf den Marschtritt der wahren Analphabeten. Eine Sekte heute, doch welch reiches Gemeindeleben! Keine Zeichen! Nie wieder Zeichen! Atmet durch, Gezeichnete. Auch ihr werdet an der Zeit sein, so sie denn kommt.
Keine Kulturmacht liegt dem Menschen näher als das Vergessen ... so nahe, dass er sie bei seinen Berechnungen regelmäßig vergisst. So vertraut ist ihm die dauernde Bedrohung aus den Tiefen des eigenen Unvermögens, Eindrücke, Dinge, Assoziationen und Gedankenflüsse dauerhaft und verlässlich festzuhalten, dass er nicht anders zu denken vermag, als sei Kultur die unwandelbare Verfügung über alles, was je überliefert wurde. Im kulturellen Gedächtnis, so denkt er unwillkürlich, liegt alles bereit, was je überliefert wurde, sofern nicht gewaltsame Ereignisse die Überlieferungskette sprengten. Und selbst dann – selbst an solchen Stellen, angesichts rauchender oder erkalteter Trümmer-Enden, kann der nimmermüde Geist nicht anders, er muss so denken: Rekonstruktion ist möglich, sie muss möglich sein, sie ist schon im Gange, wenn das Bedauern begann. So sehr ist Denken Herstellung von Zusammenhängen, Sich-Bewegen in Zusammenhängen, dass Zusammenhanglosigkeit nur postuliert, nicht ›festgestellt‹ werden kann. Wo einer sie konstatiert, ist der Zusammenhang schon unterwegs. »Wir kennen die Zusammenhänge nicht« bedeutet: wir nicht, andere schon, wir können sie gegenwärtig nur nicht befragen. Was nicht so schlimm ist, denn wir können uns unseren Teil denken, wir haben ihn auch bereits gedacht und damit das Wesentliche vorweggenommen. Wen juckt das Vergangene außerhalb der allgegenwärtigen Diskurse? Die Frage beantwortet sich von selbst, sie ist längst beantwortet, bedenkt man, dass niemand sich die Mühe macht, sie zu stellen. Kulturwissenschaftler wissen (oder behaupten zu wissen), dass auch Kulturen vergessen, dass sie immerfort vergessen, mit einem Elan und mit einer Konsequenz, die ihre Art des Vergessens ›strategisch bedeutsam‹ erscheinen lässt. Doch diese allzu theoretische Einsicht ist bereits wieder vergessen, sobald sie sich an die Arbeit begeben und das Kulturwesen Mensch daran erinnern, was es einmal darstellte – just darin besteht schließlich der Sinn und die Arbeit aller Kultur. Wie wir wurden, was wir sind: das ist wichtig, das ist bewahrenswert, das muss memoriert werden. Ich armes Würstchen hingegen, das sich kaum von Tag zu Tag rettet, habe bereits wieder vergessen, was zu bewahren mir gestern dringlich erschien, ganz zu schweigen von dem Brief ans Finanzamt, der jetzt verspätet eintreffen wird, weil ich vergessen hatte, ihn rechtzeitig einzuwerfen. Das Finanzamt vergisst nichts, zum Glück, denn es ist Teil der Kultur. Ich hingegen bin kein Teil der Kultur. Seltsamerweise ist die Kultur ein Teil von mir, ich könnte sie komplett vergessen und würde nichts vermissen, ich hätte das Vergessen vergessen und fühlte mich frei in allem. Aber frei in allem sein: ist das nicht auch Kultur? Ist das nicht geradezu eine Definition von Kultur? So erneuert sich die Kultur in mir: durch Vergessen. Und, seltsam, seltsam – sie kann es. Die selbstvergessene Kultur: das muss wohl die meine sein. Lethe schreckt, aber nicht unbedingt.
Wir haben hier jede Menge Leugner, erläutert der Klinikdirektor, sie leugnen nicht, dass sie krank sind, aber sie leugnen, dass sie sich in guter Obhut befinden, sie verlangen nach richtigen Ärzten, nicht solchen Scharlatanen, wie meine Kollegen und ich es in ihren Augen sind. Was sollen wir machen? Sollen wir ihnen Nasen und Ohren abschneiden, damit sie ein Einsehen haben? Das ist nicht unser Beruf. Indirekt täten wir ihnen damit den Gefallen, auf den sie inbrünstig hoffen. Bandagiert, wie sie sind, würden sie uns aus ihren Betten entgegen krächzen: »Scharlatane! Seht ihr nicht, was uns fehlt?« Was sollen wir antworten? Dass wir Sehende sind, aber ohne Kraft, das Rechte zu tun? Wie können wir uns rechtfertigen? Wie stehen wir vor der kommenden Ärztewelt da? Aussätzige sind wir, fast ohne unser Zutun.
Keine Erfindung der Menschheit hat die Wahrnehmung der Vernunft so
verändert wie der Lichtschalter. Ja, man kann sagen, dass sie
seither erst wahrgenommen, dass sie für blanke Münze genommen wird:
Man kann sie handhaben. Wer den Schalter umlegt, sagt kein
Simsalabim oder Fiat Lux, er sagt
eigentlich gar nichts, aber er hegt eine starke Erwartung: falls
wider Erwarten das Licht nicht angeht, ist etwas kaputt und
muss ausgewechselt, notfalls repariert werden, sollte kein Ersatz
zur Hand sein. Doch schon die Herstellung der Birnen ist kein
einfacher Vorgang und der Defekt, der sie außer Funktion setzt,
steckt tief in ihnen drin. Man kann sie zerschlagen, ohne an ihn
heranzukommen, besser sollte man sie gleich in den Abfall stecken,
ohne sich erst die Finger blutig zu schneiden. Wenn einer die
Vernunft einschaltet und es bleibt dunkel, so weiß er immerhin, wie
sich dieser Zustand beheben lässt, er weiß es im Prinzip und alles
hängt davon ab, ob eine Ersatzbirne zur Hand ist, die mit der
richtigen Fassung, versteht sich, sonst hat alles keinen Sinn.
Derweil verrichtet der Lichtschalter, der von solchen Kautelen
nichts weiß, weiß und klinisch seinen Dienst. An ihm liegt es
nicht, wenn nichts geht, er ist nur der einfache Mittler zwischen
hell und dunkel, seine Konstruktion bewahrt den alten Gegensatz und
erlaubt es jederzeit, ohne Ansehen der Person, auf die richtige Seite zu wechseln, dorthin, wo alles deutlich wird und die Schatten
welken. Welke Schatten steht auf einem alten Buchumschlag, man könnte aufschlagen und
hätte gleich, wonach man suchte, Schatten hin, Schatten her. Jeder
trägt diesen kleinen Schalter in sich, er ist weiß und eigentlich
farblos, keiner sieht ihn, er will nur gedrückt werden, nur
gedrückt, nicht an die Brust, das wäre ein Irrtum, ein
welthistorisches Verhängnis, es wäre, als
schnitte einer die Menschheit entzwei und wollte den größeren Teil
des Kuchens für sich. Welch ein Irrtum. ›Nicht geschaltet, was?‹
Man kann drücken, ohne zu schalten, man kann schalten, ohne es zu
merken, man kann merken, ohne zu drücken. Letzteres, ein wahres
Epiphänomen, begleitet das Industriezeitalter des Intellekts, er
bemerkt es wohl, doch sobald er drückt, ist es verschwunden. Mein
Schalter und ich, wir gäben ein gutes Paar, aber man verweigert uns
die Papiere, wir sind zu stark miteinander verwachsen, um für zwei
durchzugehen. Um ehrlich zu sein, ich vermisse sie nicht zu sehr.
Hätten wir einen Vertrag, wo wollten wir ihn aufbewahren? Im
Hellen? Im Dunkeln? Sollte man ihn lesen, bevor... oder danach...
bevor... danach...? Und wer, bitteschön, sollte wann für wen
sorgen? An der Versorgungsfrage scheitert so manches Projekt,
deshalb – Hände weg.
Dass die Träume wie die Schrecken einer Generation in Jahren
wurzeln, die nicht die ihren sind, ist wohl
normal. Wirklichkeit stellt sich durch Wirksamkeit unter
Beweis, die Spur, die sie durch das Dasein des Einzelnen zieht. Wo
man selbst wirkt, zeigt sich die Welt offen, formbar, ein bisschen
desorganisiert, mit einer Tendenz zum Amorphen, die kaum verstehen
lässt, wie die harten, abgeschlossenen, dichten Gebilde, in denen
sich die Vergangenheit dem darstellt, der hinsieht, möglich sein
konnten. Das ist eine perspektivische Täuschung. Den Menschen
bleibt keine Zeit – niemals, an keiner Stelle. Die Aufforderung,
sich Zeit zu lassen, ist zweideutig, wenn nicht tückisch, sie
verrät, dass der, an den sie ergeht, den Anschluss verliert. Er
sollte sich sputen und kann es nicht. Wer sich Zeit lässt, gerät in
eine andere Welt, der man gern ›Eigensinn‹ attestiert, weil sich
sonst nichts mit ihr anfangen lässt. Ins Aufatmen hinein
explodieren die Sprengsätze. Die Menschen lieben ihre Auszeiten
nicht, sie nehmen sie mit einem leisem Widerwillen, sie halten sie
für Medizin und die Wirkung ist danach. Wer in die versprochene
andere Welt, die es ›in Wirklichkeit‹ gar nicht gibt, in die
Traumwelt der Familiendramen und Privatexpeditionen, des
Baumeln-Lassens und Stricke-Drehens hineingerät, der gerät in einen
Albtraum. Bekanntlich nimmt das normal belastbare Gemüt
industrielle Gestaltungsangebote, verkappte oder offene
Wiedereingliederungsprogramme, erleichtert, ja dankbar an. Mit
ihnen lässt sich leben, zumindest umgehen, was eine Form des
geminderten Lebens meint, in der man es sich und anderen recht
macht. So gehen die Kulturwissenschaften mit dem Faktum des
Geistes um, der jede Zeit der Welt bräuchte. Sie haben beschlossen,
ihn ›schwierig‹ zu finden. »Das ist nicht so einfach«, kann einer
hören, sobald er etwas begriffen hat – begriffen zu haben glaubt und damit
selbst ein Schwieriger geworden ist. Begreifen ist subjektiv – ein
seltsamer Satz, recht bedacht, unter Leuten, die mit dem
›Subjektdenken‹ in all seinen Formen ›durch‹ sind. Begreifen ist
ausgeschlossen, heißt das, und es richtet sich gleichmäßig gegen
alle Regungen des Begreifens, eine einzige ausgeschlossen: dass
diejenigen die Herren der Welt sind, die begriffen haben. Zu
wissen, wie es geht, ist ein hohes Gut, auch wenn es am Ende anders
geht. Es reißt die anderen mit, ein Stückweit, bis sie in wieder
anderer Leute Wirbel geraten und so fort. Aber die Schrecken... sie
bleiben ja, sie sind das Gängelband, das daran erinnert, dass wir
zu spät gekommen sind, zu spät aufgestanden, wie der korrekte
Ausdruck lautet, denn der aufrechte Gang, dieses Menschheitsthema,
spukt in all diesen Formen. Die Hallen der Wissenschaft vom
Menschen sind nicht dicht, es zieht in ihnen vom Lieferanteneingang
her, durch den nicht bloß der Stoff gekarrt wird, sondern die
Substanz – alles, was zählt. Sie lebt von dem, was sie sich
distanzierend vom Leib hält, und wenn sie es zu beobachten vorgibt,
so sagt sie die Unwahrheit wissentlich: sie beobachtet nicht, sie
liegt auf der Lauer.
Ideologisches Gekloppe plus Lesefutter für Voyeure: so funktioniert Literatur eine Zeitlang, sehr gut sogar, aber, wie gesagt, nur eine Zeitlang, genauer gesagt, solange es der Motivationslage der an diesem Spiel Beteiligten entspricht, die da lautet: die Idiosynkraten machen sich nützlich und die Nützlichen genießen die Idiosynkrasie, als sei es die eigene. Leider sind die Nützlichen nicht immer und überall nützlich, in den sozialen Medien besorgen sie es sich selbst und pfeifen auf jede Art von Literatur, bis auch diese pfeift – im Walde, aus dem letzten Loch, auf alle Art von Bedeutung, die eigene eingeschlossen. Ja die Bedeutung, sie schwindet. Sie ist schon dahin, auch wenn immer Betuliche nachkommen, denen sich noch ein Cent aus der Tasche ziehen lässt. Schriftsteller sind Kommentatoren von Haus aus, sie müssen ihren Senf dazugeben, so unnötig er auch sein mag. Und sie verlangen, dass er bezahlt wird. Warum? Das Publikum macht es umsonst und – es ist schneller. Das krasse Geschwätz, das einem entgegenschlägt, sobald unter den Schreib-Artikeln des täglichen Bedarfs die Rubrik ›Leserkommentare‹ aufgeht, lässt sich schwerlich überbieten. Allenfalls lässt es sich per Blütenlese verschlanken, mit ein wenig Lebensstoff anreichern und jenem Minimum an Rechtschreibung zuführen, das unter Sprachsensiblen als ›gebildet‹ gilt: Voilà, mein neues Buch ist fertig, ein Riesenschritt für die Menschheit, Leute kauft, denn ich bin ein armer Hund, der leben will – just live, wie es in der Sprache meines Bankinstituts heißt –, und ich gebe euch Stoff von eurem Stoff, was wollt ihr mehr? Das ist die Frage, einmal gestellt, mischt sie sich überall ein. Was wollt ihr mehr? Und wenn ›ihr‹ mehr nicht wolltet – die Sprache erlaubt es nicht, sie verschiebt den Akzent, ungewollt, unbemerkt, auf das ›nicht‹ und das ›wollt‹, das ›mehr‹ geht leer aus. Nie mehr, nie wieder, aus und vorbei: So sieht’s aus, so fühlt es sich an, wenn alte Rechte kassiert werden und die jungen Rechten zeigen, was sie auf dem Kasten haben.
Die Farbe der Sehermasken am Rande der deutschen Wälder. Nicht ihre
Helme sah Parzival damals leuchten, sondern die Masken jener drei
Ritter, die bereits an den Zeiten der Kühnheit zu zweifeln
begannen. Die herbei gerufenen Wolken zögerten nicht, das Maß zu
nennen. Sie gebaren in großer Höhe Grieseldis, die lilafarbene
Zweiflerin, die den Rehen die Hörner gab, denn zuvor waren es
Zweige aus Eichenlaub, die sie zum Lob ihrer Wälder trugen. Das
Zeichen dieser Wandlung gehörte von nun an zum hörnernen Zeitalter,
das dem feurigen folgte, nach welchem das steinerne und schließlich
das hölzerne aufkam. Alle Frauen wissen dies seit diesen Tagen. Das
hölzerne ist das unsrige und das weibliche. Ab jetzt ist die Seele
nach Hidaijoshi »eine Lampe aus Seidenpapier die dem Mondlicht
gleicht. Sie ist angefüllt mit kleinen gekochten Hirsekörnern die
feucht und durchsichtig sind.«
Immanente Antworten führen
von nun an, anders als je zuvor, jegliches Wissens bis an die
Gipfel der Verstandeskraft, nicht aber des Geistes. Unwissenheit bleibt verlassen
zurück in den Zonen herbstlicher Gärten des steinernen Zeitalters,
von älteren Zirkeln verrostet bepflanzt.
Jene Körner schießen zusammen oder entfernen sich, je nach den
Stimmungen der Augenblicke, durch welche die Zustände
menschlicher Empfindungen bewegt werden. Es heißt in früheren
Werken Grabbeaus, das
Geringe werde dunkler, das Erhabene lila. In neuerer Zeit
durchbricht diese Farbe in tiefer Trauer die Felswand über den
Augen, wenn die Seele weiblich herabsinkt. Das nennt sich die
hölzerne Offenbarung in vernagelten Sarkophagen (hierzu: s.e.&o
– salvo errore et
omissione).
Mag das Geräusch eines Luftzuges oder der hässliche Ton eines
Motorrades den inneren Wächter der Lampe bewegen, immer verfärbt
sich sogleich ein jegliches Hirsekorn und strebt einer neuen
Verbindung entgegen. So verfärbt sich die Seele und so kreisen die
Hirsekörner in innerer Erregung der Deutung durch Götter entgegen.
Zehntausend Mal am Tage prüfen auf solche Weise gewisse Mächte den
Menschen. ›Lampenkönige‹ nannte sie Homomaris, ohne genau zu wissen,
welchen Geistes sie sind. - PM
Die wahren Identitären sind die Linken, die von ihrem geheimnisvollen Linkssein nicht lassen können, ohne in rechtsobskurantische Abgründe zu stürzen, aus denen kein Rettungsteam sie jemals wieder herauszuholen vermag. Wer dieses Linkssein beschreiben wollte, geriete rasch in einen Albtraum aus Befindlichkeiten, die weniger von Überzeugungen gespeist werden als von Gelegenheiten, sie unter Beweis zu stellen: in diesem unter-Beweis-Stellen besteht gerade die verpflichtende Substanz dessen, was sonst als gemeinsamer ›Traum‹, als ›Projekt‹, gelegentlich als ›Utopie‹ an- und besprochen wird, wobei diese Wörter bloße Nostalgiemarken darstellen, ohne Bezug zur umgebenden Welt, überhaupt zu irgendeiner Welt, es sei denn, man ließe die Formel von meiner Welt, die ich mir nicht nehmen lasse, zum Nennwert durchgehen. Linkssein bedeutet, die Formbarkeit der Welt in Richtung auf eine generelle Machbarkeit zu übertreiben, an die Stelle der dialektischen Verflüssigung der Begriffe eine Verflüssigung der Realverhältnisse ins Auge zu fassen, für die immerfort die Voraussetzungen geschaffen werden müssen, ohne dass diese je einträten, es sei denn, man nimmt dafür gesellschaftliche Krisensituationen in Anspruch, die, wenn sie einmal entstehen, vorrangig nach gutem Management verlangen und, unter Bedingungen der gewollten Prosperität, wenig utopischen Spielraum bieten. Linkssein bedeutet daher in allen Lagen, ›gegen Rechts‹ zu sein, den Feind zu identifizieren, zu stellen und zu bekämpfen, um der eigenen Identität willen, aus Selbstbehauptung, um des Ideals einer Kommunität willen, die sich auf keinem anderen Wege herstellen lässt. Sich die Anliegen der Menschen zu eigen machen bedeutet auch: sie sich zu eigen zu machen, sich über sie kenntlich zu machen, gelegentlich auch: sich mit ihnen davonzumachen. Das Wort ›Anliegen‹ deutet es an: nicht jedes Bedürfnis der ›Massen‹ zählt, nur solche, die durch das eigene Verhältnis zum Volk geadelt werden, den Egalitarismus einer Elite, deren wichtigstes Bedürfnis darin besteht, das Sagen zu haben und unter allen Umständen zu behalten. Sprachregelungen und Parteibeschlüsse sind daher das eigentliche Elixier des linken Bewusstseins, sein Jungbrunnen, in dem sich bis in alle Ewigkeit planschen ließe, gäbe es nicht als letzten Realitätsanker das Volk – wer es in den Käfig der Bedeutungslosigkeit sperren wollte, bräuchte nichts anderes zu tun, als diesen Anker zu lichten. Kein Linkssein ohne Volk, kein Volk ohne Linke, kein grenzenloses Linkssein ohne zensiertes Volk, das Volk unter Verdacht, das durchgestrichene Volk als reaktionäre Restgröße. Dagegen gibt es keine originäre Rechte, alles Rechte ist reaktiv, es gibt keinen Schutzraum gegen Veränderung in der Vergangenheit, in der Gegenwart ohnedies nicht, die sogenannte revolutionäre Rechte verdankt sich stets einem linken Schisma, deshalb fällt der Wechsel von einem Pol zum anderen so leicht.
Wer glaubt, man könne die Lippen nicht spitzen, ohne zu pfeifen,
der täuscht sich nicht: ein winziger Pfeifton entweicht ihnen
immer. Es ist das Klägliche dieses Tons, das Aufmerksamkeit erregt.
Allerdings erkennen die wenigsten seine Herkunft. Er steht
sozusagen im Raum, einsam, isoliert, um Aufmerksamkeit bittend.
Aber wofür? – »Wofür?« fragt die versammelte Sippschaft vergebens
und wartet ein Weilchen, bevor sie auseinandergeht. Dies, dass sie
unfehlbar auseinandergeht, beweist, dass ihn alle gehört haben. Es
ist im Grunde wie mit den Hundepfeifen. Keiner hört sie, außer den
Hunden natürlich, aber die Wirkung ist unübersehbar und jeder weiß:
aha, Herrchen hat wieder gepfiffen!
Man weiß nicht genau, wann das Lippenspitzen in Gebrauch kam.
Solche Kulturtechniken sind uralt und ihre Anfänge entziehen sich
der direkten Beobachtung. Unter Julian Apostata sehen wir es in
voller Blüte. Aus jener Zeit sind uns einige kostbar gearbeitete
Lippenspitzer erhalten. Die Museen reißen sich um diese
Instrumente. Sie stehen deutlich höher im Kurs als eine Stradivari
oder eines dieser seltenen Alphadrome. Natürlich kommt es darauf
an, die Lippen zu spitzen, ohne sich zu schneiden. Das interessiert
die Leute. Sie rücken in hellen Scharen an und drücken sich die
Nasen an den Glaskästen platt. Wie immer verrät ihnen das, was sie
sehen, nichts von dem, was sie wissen wollen. Daher halten sie sich
an die Kunst: an das prachtvolle Aussehen, die fein ziselierte
Oberfläche, die ganze ›Arbeit‹, die der Handwerker in die Objekte
hineingesteckt hat und die ihn jetzt als Künstler dastehen lässt.
Das alles erregt die Aufmerksamkeit der Leute in hohem Grade, sie
opfern ihre Sonntagnachmittage dafür und fahren von weither vor,
damit sie es gesehen haben und darüber berichten können.
Hin und wieder schleicht einer aus der Zunft derer, die das hohe
Handwerk noch immer üben, an den Vitrinen vorbei. Der Blick, den er
auf das alte Exemplar darin wirft, ist kurz, er kennt jedes von
Grund auf und kann dem Anblick nicht widerstehen. Er verdient gut,
heißt es, aber die Diskretion erlaubt nicht, dass sein Name genannt
wird, vor allem nicht in einem Atemzug mit der Prominenz, für die
er Tag und Nacht arbeitet. Doch viele Leute, von denen es niemand
vermutet, besitzen ein feines Stück aus seiner Produktion und
Sammler gibt es in der Provinz, deren Kollektionen Erstaunen
hervorrufen würden, aber vor den Blicken der Neugierigen
abgeschirmt bleiben und vielleicht bleiben müssen, denn wenn auch
die Wirkungen in der Regel spürbar werden, so ruhen die Ursachen
gern warm im Verborgenen.
Eine auf Literaturähnlichkeit eingekochte Literatur, aus der alles entwichen ist, was den Grund des Schreibens ausmacht, außer dem Wunsch zu gefallen und sich zu verkaufen. Man könnte, was den Ausdruck angeht, in den Irrtum verfallen, es handle sich um eine Literatur zweiter Stufe, eine Literatur 2.0, um im Jargon zu bleiben, manche, die’s komplizierter mögen, werden dabei an Reflexion denken oder an jene berühmte Reflexion der Reflexion, mit der sich idealistische Philosophen, dem Hörensagen nach, noch immer die Zeit vertreiben. In der Tat, etwas Ephemeres liegt diesen Äußerungsformen des menschlichen Unvermögens zu Grunde, Bedeutendes auf die Reihe zu bringen. Das liegt sicherlich an der Reihe: ohne sie ist alles nichts und in ihr auch. Banale Posen etc. beherrschen das Feld des Bedeutenden, als seien sie dort bereits zur Schule gegangen. Was auch stimmt, gewisse Traditionsfäden werden auf der Penne vermittelt oder gar nicht. So gilt pünktlich, gleichsam aufs Läuten, das Lesen endlich wieder als Wert, nachdem die zu vermittelnden Werte sich verbraucht haben, und damit es auch den Klassenletzten erreicht, delegiert man es an gemietete Vorsprecher, vor allem solche, die bei jedem Satz zu sagen scheinen: »Das ist alles von mir. Hätten Sie’s gedacht?« Bewahre! Wer denkt solche ausgekochten Bosheiten? Der Kampf gegen das Analphabetentum ist verloren, sobald er beginnt.
Living Under
the Empire, erzählt G. mit diesem Luccheser
Charme, dem auch Jahrzehnte des Exils nichts anhaben können, hieß
eine Platte, die mein Sohn irgendwann nach Hause brachte, es hätte
auch Under Destruction
oder Under Deconstruction heißen
können oder etwas in der Art. Der Unterschied wäre marginal gewesen,
aber irgendetwas ließ daran aufhorchen.
›Living‹ ist eine Vokabel, die viele Unbedarfte mit dem bekannten
englischen Wort für ›leben‹, ›lebend‹ o. dgl. verwechseln. Eigentlich
sollte dem allein die Aussprache vorbeugen. Diese hier beginnt mit einem
kräftigen deutschen ›L‹ wie ›Lümmel‹ und assoniert dann kräftig mit dem
›Struwwelpeter‹, zu dem das Wort auch sonst verwandtschaftliche Beziehungen
unterhält. Es hat Eingang in allerlei dümmliche Song- und Werbetexte gefunden,
in denen sich meine Landsleute bevorzugt wiedererkennen, und ich habe mich oft
gefragt, wer dieser Living wohl sein mag.
Durch meine Vorstellung geistert er als eine Art
entsteinter Livingstone, ein wenig unstet und aufbrausend, weil es ihm an der
rechten Beschwerung fehlt, dabei durchaus imperial
eingestellt, dem Entdecker und Eroberer aus dem vorletzten Jahrhundert
auch in dieser Hinsicht ebenbürtig – ein Bewusstseinshai, der mit anderer Leute
Leben herumspielt wie der sprichwörtliche Finanzhai mit ihren Finanzen und
ihrer Gesundheit.
Während ich das hinschreibe, bemerke ich natürlich die Differenz und bin
geneigt, die Äußerung als unpassend zurückzuziehen. Auf solche Reste
kapitalistischen Schamgefühls scheint Living zu bauen. Offenbar nicht schlecht:
ganze Scheinarchitekturen entstehen auf diese Weise, die in schwindelnde Höhen
ragen und von Springbrunnen umkränzt sind, aus denen immer einige Vögel Lust
trinken, von denen bereits wieder manche das Fliegen verlernt zu haben scheinen,
während andere die tollsten Manöver vollführen. ›Living & Co‹ begegnete
ich in einer einfachen Seitenstraße, es war nur ein harmloses Schild, das nicht
preisgab, welches Business hier zugrunde lag. Ich wollte es auch nicht wissen,
aber ich fühlte die Verwandtschaft. Einmal fand ich an einer Mauer die
Sprühschrift: Living ist Jeder. Das kam
mir übertrieben vor und ich schloss es für meine Person aus. Aber wenn ich heute
darüber nachdenke, so kann es gut sein, dass ich den Vorgang geträumt habe und
die Schrift aus mir selbst stammte. Am Selbstausschluss gehen viele zugrunde,
andere profitieren davon und machen sich einen schönen Lenz. Gern wäre ich
Living in all den Jahren begegnet, einmal nur, in einer Schummerkneipe am
Tresen, vollkommen absichtslos und unverhofft – es hat nicht sollen sein. Aber
wer weiß, was nicht ist, kann vielleicht noch werden und unverhofft kommt oft.
Nein, aufhalten will ich ihn nicht.
P.S.: Wie ich lese, hat Living neuerdings eine Impfagentur eröffnet und geschworen, die Menschheit, koste es, was es wolle, jährlich mehrfach durchzuimpfen, um sie fit zu machen für die Gefahren des, nun ja, Lebens, das er mehr und mehr als seinen Antipoden betrachtet. Krankheiten, annonciert er, gibt es wie Sand am Meer, es kommt aber darauf an, sie in Gold zu verwandeln. ›Gold‹ ist so eine typische Living-Vokabel, sie glänzt und lässt glänzen, was doch, näher betrachtet, nur Abzocke ist.
Locken wir sie aufs Feld der Begriffe, wo die alten Hasen den Klee
mit ihren Angstknuddeln
düngen, und zeigen wir ihnen, was sie nicht sehen wollen, obwohl
sie schon wollten, wenn sie dürften, was ihnen keiner verbietet
außer dem unbestimmten Gefühl, dabei über Ränder zu treten.
Bravsein mit Wörtern –
eine Art Unzucht, der sich gern hingibt, wer nichts zu bestellen
hat. So bestellt er wenigstens ab, was ihn ungefragt heimsucht. Nur
Begriffe in ihrer knarzigen Bewegtheit können da helfen,
vorausgesetzt, es sind auch die richtigen. Wir wollen nicht nur
genießen und ›Spaß haben‹, wir wollen auch klug sein und die Ohren
spitzen, wir wollen auch die Lippen spitzen und sogar pfeifen,
unbedingt pfeifen, wenn uns danach ist, nicht nur die
›Verhältnisse‹ studieren, die so spannend nicht sind, dass man sie
sich Tag für Tag mit gleicher Intensität zu Gemüte führen müsste.
Ein dünnes Gemüt wäre das, wenn es damit auskäme. Was also tun?
Eine Lockung, die ratlos lässt – ist das erlaubt? Aber liegt darin
nicht das Wesen aller Lockung, sofern man ihr ein Wesen konzedieren
möchte, das heißt etwas im Grunde Unerlaubtes? Das ist ein
seltsamer Grund, der sich im Negieren fordert. Ein Verbot diesseits
aller Verbote, Vorbote eines Unglücks, das sich als Glück verkauft
– an den Nächstbietenden, der etwas Festes um jeden Preis vorzieht
und sich im Grunde wundert, wie billig man sich hier eindeckt. Wer
die Lockung zulässt, erliegt ihr zuletzt. Wer aber keinen Grund
scheut, dem laufen irgendwann die Gründe davon.
Das lose Maul hält die Untaten anderer auf Vorrat und schleudert sie in den Raum, sobald ein Bedarf sich meldet. Ein abgehalfteter Nachrichtensprecher ist kein Held, eher ein Herr mit Kleiderbügelphantasie, der in der Wäsche anderer Leute besser zu Hause scheint als im eigenen Gehirn. Dergleichen heißt man einen Zeitkritiker, manche begnügen sich auch mit dem Epitheton ›nachdenklich‹, wogegen wir nachdrücklich protestieren: dieser hier denkt weder nach noch vor, er tickt überhaupt nicht richtig, sondern verdient es, auseinander genommen und auf Spuren intrinsischer Gewalt untersucht zu werden. Wir unterstreichen: er verdient es, er kann sich eine solche Operation ohne weiteres leisten, ohne dass die Kasse ihren Teil daran übernimmt. Überhaupt haben diejenigen, die sich die dreistesten Tiraden leisten, die Tendenz, es sich leisten zu können, vermutlich deshalb, weil das Über-den-Leisten-Schlagen ihr Metier ist und sie sonst nichts beherrschen außer der öffentlichen Meinung, die solchen Herrschern mit einem leisen Lächeln begegnet. Man kann bei ihm nicht unterscheiden, ob es sich dem Spott oder der Ehrerbietung oder der Ratlosigkeit verdankt. »Ist das wichtig?« fragt die Sirene, sie kann Ratlosigkeit nicht leiden und tut ihr Bestes, um sie in Fassungslosigkeit zu verwandeln wie andere Wasser in Wein. Ja, es ist wichtig, das beweist der Fall, um den wir uns gerade bemühen, als sei er ein Neugeborenes, obwohl, jedenfalls nach biblischem Maßstab, es sich um den ältesten aller Fälle handelt. Nach biblischem Maßstab geschieht viel, auch in nach-nachbiblischer Zeit, so wie das Christentum erst unter seinen Verächtern explodiert ist: alles Gezeichnete vor oder nach dem Herrn, der noch aussteht. Unausstehlich das Wüten der Herren gegen das eigene Geschlecht im Namen eines still verdrückten Genießertums, das großkotzig einmal aus Katakomben die Welt erneuern wollte und heute in ihren Kloaken seine Spaziergänge unternimmt. Aus der heroischen Phase haben sie nichts gerettet außer dem ehernen Vorurteil, die anderen tickten wie sie und lebten es noch immer insgeheim aus. Greise bezichtigen Greise unerhörter Ausschweifungen, die sie sich mühelos, aber unter Bedauern verkneifen – so könnte man ihre Lieblingstätigkeit nennen und wäre damit bei den Alten.
Was dem Lot recht ist, kann der Waage billig sein. Das Lotrecht ist alt, älter als das Faustrecht, was etwas heißen möchte unter den Spitzbrüdern, die sich beider bedienen. Und mit Erfolg, wie die Geschichte beweist. Was beweist sie nicht alles, die Gute. Nein, sie ist nicht gut, nur die Gute, die den Dreck wegmacht. Wer die Geschichte liebt, braucht sich um Lot nicht zu kümmern. Eher um Lots Weib, diese natürliche Erstarrung, aus der immer etwas Lebendiges hervorgeht, etwas, das sich sehen lassen kann. Also doch: Waage. Wäge deine Schritte! Vor allem: Wäge deine Wagnisse. Erwäge sie gut, denn einmal gewagt, fallen sie unter das Lotrecht und wupp! sind sie verschwunden. Dieses ›wupp!‹ hat schon viele beschäftigt, die freiwillig oder nicht über die Wupper gingen, bevor das Abendrot dem Land die passende Färbung gab. Warum wägen, was doch gewagt sein will? Warum in Gedanken verdoppeln, was bloß in Gedanken zur Hand ist? Warum die Verdopplung verdoppeln, um des Einfachen willen, das nicht zur Hand ist, wenn man es braucht? Das Einfache um des Einfachen willen, brav getan, unter einem Augenaufschlag, den schon das Aufschlagen eines Eis ganz gefangennimmt, kennt die Verdopplung wohl. Aber es grüßt sie nicht, niemals. Schließlich zählt es sich nicht zu den morituri, die Caesar grüßen, bevor die Arena sie aufnimmt, und hält seinen Gegner nicht für den Abgott, von dem man sich verabschieden muss, bevor einem die Augen gewaltsam geschlossen werden.
M’eier hat love im Anschlag, er jettet gern und liebt, wo es ihm beliebt. Seine
Fangemeinde rund um die Welt vermisst seinen Schwanz und fragt sich
ein volles Jahr: Wo wird er stecken? Dann ist die Sache ausgestanden
und sie kümmert sich um die anderen. Wem das ordinär vorkommt, der
ist nicht gerichtet. Wie bitte? Wie kommt dieses Wort hierher? Es gab
kühlere Zeiten, da hieß es noch ›ausgerichtet‹ und weckte
Assoziationen, doch das ›aus‹ stört, solange sich alles
erwärmt, es wurde daher entfernt. M’eier also ist gerichtet, er kennt
seinen inneren Pol, und alle, die den inneren Pol kennen, kennen
M’eier. Manche kennen ihn in-, manche auswendig, doch darauf kommt
es nicht an. Als die Vertreter des inneren Pols die Welt betraten –
eine schreckliche Welt, bevölkert von Nutten und Zuhältern –,
schworen sie sich, sie zu erlösen: durch Liebe, wodurch denn sonst.
Das war die Botschaft, man zahlte in harter Währung und wurde
infolgedessen verstanden, nur zu gut, meinen Puristen, denen
der transkontinentale Heiratsmarkt dubios erscheint und die sich
daher nur zeugenlos trauen.
Hätte man sie handlich in einem Beutel, dann wäre man rasch mit ihnen durch. So aber sind sie zahllos wie die Wogen des Meeres, ein einziges Hin und Her, und Lügenbeutel heißt, wer immer noch eine hinterherzuschicken weiß, wenn seinen Opfern bereits schwindlig geworden ist und ihnen das Unten und Oben in einem einzigen Wirbel vergeht. Zu den Fischen! So lautet die Parole aller, die lügen, dass ihnen der Sand unter den Füßen den Dienst verweigert. Dabei war es nur Sand! Sand in den Schuhen, Sand in den Augen! Sand everywhere. Man könnte den Lügenbeutel auch, in Anlehnung an den Schlaumeier, ›Sandmeier‹ nennen, doch das ist ein Hausmeistername und insofern tabu. Der Beruf des Lügenbeutels ist es, Unruhe zu schüren, er selbst sieht sich als Muntermacher und wirbt für das Neue, das sich noch ziert. Der erste Schuss ist der Vorschuss – so denkt er und läutet Sturm.
»Natürlich ist Lügen ethisch gerechtfertigt, zum Beispiel wenn ich mir in die
Tasche lüge, was dort meiner Ansicht nach hingehört – damit
korrigiere ich eine defiziente Realität, eine Realität, die mich
zwingt, sie als irreal zu empfinden, während ich sonst an mir selbst
irre werden müsste. Was soll daran falsch sein? Das Fatale ist, dass
gerade hier die Unterstellung lauert: ›Der lügt sich doch bloß in
die Tasche!‹ Wenn ich ein solcher Lügensack wäre, ›bloß‹ mir
in die Tasche zu lügen, was wäre mein Zeugnis dann wert? Nicht die
Spitze des Gaumens, auf der die gemeine Lüge, mendacium commune,
balanciert, bevor sie herunterfällt und verschluckt wird. Zu was
sollte ein solches Lügentum nütze sein? Wenn ich mir in die Tasche
lüge, dann, um der verletzten Gerechtigkeit durch die Hintertüre
zum Sieg zu verhelfen, ebenso wie ich jedem in die Tasche zu lügen
bereit bin, der mir beweist, dass es ihm genauso erging. Ich lüge
nicht ›bloß‹, sondern ›ebenso wie‹, darin liegt der
Unterschied. Die Gerechtigkeit ist es, die mich zum Lügen zwingt.
Eventuell zwingt sie mich nicht, aber soll ich sie deshalb im Stich
lassen? Urteilen Sie selbst! Soll ich sie deshalb im Stich lassen?
Natürlich nicht. Die Menschen würden von mir abrücken, die Kinder
würden zu nörgeln beginnen, weil in der Schule niemand mit ihnen
spielt, bald hinge der Haussegen schief und irgendwann dürfte ich
meinen Hausrat beim Nachbarn abholen. ›Das ist nicht gerecht‹,
würde ich von ihm hören, ›du weißt, wie erbärmlich du bist.‹
›Warum nicht gerecht‹, könnte ich dagegenhalten, ›seit wann weißt
du über meine häuslichen Verhältnisse Bescheid?‹ ›Länger als
dir lieb ist.‹ Was kann, was soll ich mit einer solchen Antwort? Mutmaßungen anstellen? Das wäre sehr ungerecht oder könnte es werden. Was dann? Gut, ich könnte mich verteidigen, ich
könnte ausrasten, ich könnte mit den Achseln zucken, ich könnte alle mir verbleibenden Möglichkeiten durchspielen, doch der Gerechtigkeit käme ich dadurch um
keinen Deut näher. Die Gerechtigkeit verlangt nun einmal, dass ich mir in die
Tasche lüge. Und nicht nur einmal! Wie spricht der Gesellschaftsmund? ›Dieser Mann weiß nicht, wovon er spricht. Warum weiß er es nicht? Weil er sich für gerecht hält? Ist das so
schlimm? Es ist schlimm genug. Aber davon wird der Klee auch nicht
fett.‹ Wenn alle gerecht bleiben, ist Platz für alle da und ein
bisschen bleibt übrig. Wenn keiner gerecht sein will, um der
Wahrheit nicht zu nahe zu treten, bleibt viel Platz um die Wahrheit
und überall sonst herrscht Gedränge. Die Wahrheit braucht Platz.
Das ist die Wahrheit. Wieviel Platz sie braucht, kann man zum
Beispiel daran erkennen, dass sie keinen findet, der mit ihr spielt.
Natürlich kommen immer wieder Leute, die mit ihr spielen wollen, aber sie
verlieren haushoch und geben rasch auf. Es ist Irrsinn, wahr sein zu
wollen, wo alles gezinkt ist. ›Dem Irrsinn entgegentreten‹ war
immer mein Wahlspruch, das Schlimme daran ist, dass er meist Recht
hat. Wie kann Recht haben, was nicht recht ist?«
Im Lügenuniversum drehen sich die Zeiger der Uhren entgegen dem Uhrzeigersinn. Wer behauptet denn sowas? Das wäre ja Dünnpfiff. Nein, im Lügenuniversum kehrt sich natürlich der Uhrzeigersinn um, so dass die Zeiger, rückwärts laufend, voranstürmen. Vielmehr: dem wäre so, wenn es im Lügenuniversum noch so analog zuginge wie in der analogen Welt. Nein, das Lügenuniversum, da neueren Datums, ist von Grund auf digital eingerichtet und was als analoge Uhr scheint, das scheint nur so, und alles ist Simulation. Alles? Alles. Im Lügenuniversum ist jede Information per Definition Desinformation. Sie heißt nur nicht so, sondern versteckt sich hinter Neusprech à la Fake News oder Faktencheck oder Qualitätsjournalismus. Das Beste am Lügenuniversum ist natürlich die einfache Begriffsumkehr, auch Bauchwelle genannt. Nehmen wir die Gleichung Gesundheit = Krankheit, die so niemand verwendet. Das wäre ja unklug. Also: Was in der analogen Welt ›Gesundheit‹ heißt, heißt in der analogen ›Krankheit‹. Damit muss einer umgehen können! Aber – man kann es lernen. Man könnte nun meinen, was ehedem als Krankheit angesehen wurde, sei in der digitalen Lügenwelt Gesundheit. Doch so einfach liegen die Dinge nicht. »Gesundheit? Was soll das sein?« Ganz recht, was soll das sein? Gesundheit, der allzu zerbrechliche Kahn, der die Menschheit von Anbeginn über die Wogen des Unheils hinweggleiten ließ, hat den Wechsel der Zeiten nicht überlebt. Da liegt er in der Tiefe des Weltmeers und niemand weint ihm eine Träne nach. Krankheit ist die neue Normalität. Man richtet sich in ihr ein wie im Kino, wenn der Hauptfilm beginnt und das Knistern der Chips erstirbt. Jeder ist hier ein Tor, der nach beendeter Vorstellung nach Hause zu gehen gedenkt. So beschränkt ist die menschliche Phantasie. Wie wenig reicht sie über ein Hollywood-Spektakel hinaus! Man möchte sie in den Arm nehmen und über ihre Unzulänglichkeit trösten, aber das ist gar nicht nötig, denn: Sie fühlt sich bei alledem pudelwohl.
»In einer solchen Lügenwelt möchte ich nicht leben.« Willkommen in der Wirklichkeit! Was bleibt jetzt vom Wunsch, Abstand zu halten? Will ich leben? Will ich wirklich leben? Wieviel Wirklichkeit will ich mir zumuten? Wie wirklich ist mir zumute in der Wirklichkeit? All diese Lügen – bewirken sie Wirklichkeit? Oder moderieren, dämpfen sie Wirklichkeit mit dem Ziel, sie erträglich zu gestalten? Was ist die Wahrheit der Lüge? Wahrheit? Lüge? Was ist die Lüge in Wahrheit? Ein Medium? Ein Kanal? Eine Kanaille? Wer will in der Wahrheit leben? Alle? Sicher? Ganz sicher? Stelle die Welt richtig und es dauert keine Stunde, bis der vertraute Zustand sich wieder hergestellt hat. In der Wahrheit leben ist unerträglich. In der Lüge leben ist unerträglich. Erträglich wird Leben dort, wo es den kleinen Grenzverkehr pflegt: in der Lüge der Wahrheit, in der Wahrheit der Lüge nachgehen, ihr gelegentlich nachgeben, aber nicht zu sehr, die Wahrheit sonntags verehren, montags gestalten, dienstags verraten und mittwochs sammeln, als ginge es ums Leben, ums ganze Leben, sie donnerstags hinausposaunen, freitags bis zum Zerreißen spannen und samstags aussparen – das ist der Zyklus, in dem sich über kurz oder lang jeder wiederfindet, der nicht die Freiheit des humanen Verkehrs verriet und mit dem Schießprügel in der Hand an der Grenze seiner Welt (Lüge schon das!) Patrouille schiebt: »Wer da? Freund oder Feind?«
Jeder lügt, wie er kann: das ist der Hauptzweck. Nebenzwecke sind zum Beispiel der Wunsch, nicht anzuecken oder, falls es bereits passiert ist, es vergessen zu machen. Tatsächlich: man lügt, um vergessen zu machen, was doch geschehen ist. Wem fällt so etwas ein? Alle Welt weiß, was passiert ist, und plötzlich wird alles unklar, nur weil ein Lügenbold keine Ruhe gibt. Wie verrückt ist das? Der Grund liegt darin, dass allem, was irgendwann herauskommt, die Tendenz eignet, von Zeit zu Zeit zu verschwinden, selbst den Archiven, in denen es verzeichnet steht, oder sie werden nicht mehr konsultiert. Ein guter Lügner kennt diese Zyklen, er beutet sie aus, er weiß, wann er das Maul vollnehmen darf und wann er es besser halten sollte. Was man gemeinhin Lügner nennt, sind eigentlich die schlechten, die zur Unzeit herausplärren, was ihnen gerade zu diesem Zeitpunkt niemand abnimmt. So einem bedeutet man erst, er soll Ruhe geben, bevor man ihn vor Gericht zerrt. Die glücklichen Lügner überziehen ihre Generation mit Lügen, denen kaum einer entrinnt, viele erkennen darin ihre Zeit, in Begriffe gefasst, und spenden Beifall, bis das hübsche Gebäude ganz von allein auseinanderbricht. Auch darin hat sich ihr Zweck erfüllt.
Dieses Organum Apollos von der Länge Groß-Griechenlands wurde im
Liebesdienst des gefallenen Knaben Serostibos wohl ein letztes Mal
vom Gott der Musik bezwungen. Stilos war es, des Zeno Hausgenosse,
der später vierhändig geigend noch einmal das Werk bezwang und
kostbare Töne zum Ärger der »ohrenbefreiten« Lyker über »Busch und
Hain hintanzen ließ, als schwämmen sie hin auf gläubiger Luft«, wie
es in der sechzehnten Vorrede zur Musikgewalt der Antike Winckelmann so
empfindsam geschildert hat. Der Musikwissenschaftler Jablos Nahomi
hingegen schildert es, allerdings in bereits anämischer Zeit, viel
weniger treffend an Stefan George, der einst den Rhein bei
Bingen in Flammen geraten sah, wenn »Zypris der eherne knabe des
windes mir sang • vom eisen zum feuer und wieder zurück als käme er
an..« Er sah ja auch zwei Rosen bei Speyer »die geige führen im
wohlklang des pfaffengartens • reineren trostes bevölkernd ein
schmaleres griechenland mir.« Irgend jemand hat später aus Rosen
›Rosse‹ gemacht, was bei einer Vorlesung im vierten Kreis seiner
Freunde zum Aussschluß des Grafen X. geführt haben soll, dem man
die Schönheit des Geistes
absprach. Allerdings hat George selbst, der über zwei seiner Kreise
niemals hinaussah, von dem Vorgang auch niemals erfahren. -
PM
Er war ein Deutscher und dachte genetisch. Das war es, was man
eigentlich von ihm erwartete und er beeilte sich, den Kundenwunsch
zu erfüllen. Was Hegel die Krämer und Händler des Geistes nannte,
das waren ihm die verständigen Leute, für die er schrieb. Man muss
ihnen die Wünsche an den Augen ablesen, den offenen und den
geschlossenen – soweit die Maxime seiner Weisheit, die einzige, an
die er sich hielt, für die anderen hatte er keine Zeit. Und es gab
immer zu tun. Man darf den Leuten nur wenig zu sagen haben, das
aber immer wieder, in jeder erdenklichen ›Anwendung‹, damit sie
sich langsam hineinfinden und jedes Mal ein Stück für sie abfällt.
Den halten sie für reich, der sorgsam die Brosamen über die Kante
schiebt, gleichgültig, was davon auf dem Tisch bleibt. Die
Brosameninhaber erkennen sich leicht, sie halten Kongresse ab, auf
denen sie ihre Begriffsschildchen hochhalten und nachsehen, ob die
Färbung auch einerlei ist, darüber vergehen Jahre. Das Denken darf
die Karriere nicht aufhalten, es muss sie beflügeln, daran halten
sie sich und es ist ihnen ernst. Dem Denken bleibt es gleich, es
findet für jeden die passende Murmel, sie rollt ihm gleichsam aus
dem Säckel, das es für solche Gelegenheiten dabei hat, so muss es
sich nicht weiter damit befassen. Wer einer Generation von
Habenichtsen auf die begehrten Stühlchen verholfen hat, darf mit
Dankbarkeit rechnen – im Leben und
darüber hinaus. Am Ende feiern sich alle gegenseitig, schöne
Festschriften gibt das.
Neben dem Klimaleugner verdient es vor allem der Luftleugner, in die Annalen der Menschheit aufgenommen zu werden – dort, wo die schwärzesten Bösewichter verzeichnet werden, gleich neben der Schranke, die Schreibtischtäter und Täter der bösen Hand voneinander trennt, ist noch ein Plätzchen frei, dort gehört er hin. Warum? Er leugnet, was jeder atmet, solange er atmen kann, danach ist ohnehin alles vorbei. Die Luft leugnen bedeutet die Welt leugnen, das Jubilieren der Lerche, das Wachstum des Rotdorns aus dem Grund, die Lebensfreude des Parlaments und damit zugleich, um auch das nicht auszulassen, die Staatsverfassung. Wie das Klima gehört die Verfassung zu den bedeutendsten Menschheitsschöpfungen, sie steht unter dem besonderen Schutz der UNESCO und darf nur freitags angerührt werden, sonst erst in den Abendstunden, wenn der Rechtsstaat sich weicher anfühlt, weil Alkohol die Poren der Herausforderer tränkt. Wer allerdings die Luft leugnet, der leugnet die Biologie des Menschen, denn er behauptet, sie sei schon immer nicht da, also könne man, jedenfalls was ihren Erhalt angeht, auch nichts machen. Vom Lufterhalt träumen viele, andere leben gut von ihm, weil sie gelernt haben, wie man Träumer abzockt, die mit ihren Albträumen nicht alleingelassen sein wollen. Offensichtlich liegt den Staaten daran, möglichst viel Luft auf ihren Territorien anzusammeln, ihnen geht, wie auch in anderen Belangen, Quantität vor Qualität, und so kaufen sie zu, blättern viel Geld für schlechte Luft hin und verkünden den Steuerzahlern auf übergroßen Plakaten, wie gut es angelegt sei. Währenddessen verkümmern die Schulen und die Zahl derer, die kein Plakat lesen können, wächst. Wozu Plakate? Wer hören kann, der weiß alles oder er weiß nichts und vertraut seinem Gefühl.
Garganelli erinnert sich,
wie er vor ein paar Jahren die Spirale des New Yorker
Guggenheim-Museums erklomm und ihm aus jedem ausgestellten Bild ein
weibliches Geschlechtsteil in Öl entgegenblickte. Mein Gott, so
sein erster Gedanke, das habe ich nicht verdient. Aber was hat
einer schon verdient? Es war eine Retrospektive und Garganelli, der
sich unter Kollegen wusste, noch dazu aus dem Land seiner Herkunft,
geriet ins Grübeln. »Da ist dieser Maler, merkwürdigerweise
gleichen Alters wie du, der sein Leben
damit zugebracht hat, diesen Anblick zu studieren und als eine Art
Manna auszuteilen, damit keiner nachlasse auf dem weiten, sandigen
Weg ins Gelobte Land. Wo wird es sein? Wie wird es sein? Wird dort
alles wirklich sein, was wir hier im Bilde sehen? Ist das, was ich
hier sehe, vielleicht eine klitzekleine Blasphemie? Aber der
Kollege hat in Indien gelebt, er hat sich die Weisheit der
östlichen Kulturen angeeignet, er wird sich nicht auf so einen
schlichten Provinzialismus einlassen, das kann nicht sein. Was also
will er uns sagen? Dass er der bedeutendste Maler der wirklich wichtigen Dinge ist seit
jenem teutonischen Neorealisten, den seine Spießgesellen
probehalber den Schamhaar-Leibl nannten, teils, um zu provozieren,
teils, um die Ehre, ihn unter sich zu wissen, wie Brot zu brechen,
das sich an alle austeilen lässt? Die dort sind in Schande
vergangen, vergehen wir in Wonne? Aber ich will nicht vergehen, so
nicht und hier nicht, es fröstelt mich angesichts all dieser
Lust-Örter, durch die hindurch einer kalt auf mich sieht, nein
starrt, einer der vielen Helden des Geistes, die Tag für Tag ihr
Strahlenschwert schwingen, um eine Wurstpelle zu zerschneiden.«