MACHENSCHAFTEN
Die aufeinandergestapelten Akten übler Verwaltungsprozesse gelten
als staatsarchivarisch fruchtbare Sammlungen von Machenschaften.
Tatsache ist auch, dass die berühmten Muster des stucco
lustro an Wänden und Säulen barocker Kirchen
bezeichnenderweise dem Schnittmuster der einst symbolisch von
Henkersknechten auf Aktenböcken mit Äxten durchschlagenen
Sammlungen auf überraschende Weise gleichen.
Jede einzelne Machenschaft selbst war fast immer von Tinten gebläut und schwimmend gerötet, sodass die staatlich geforderte Transzendenz in Dingen der Verwaltung oft in omamentalen Linienspielen vollkommen unterging. Hier sammelte sich der Neid in gelblichen, dort der Hass in grünlichen Farben, denn dazumal bestimmten durchaus noch Leidenschaften die Wahl der Tinten. Hieraus folgerte Wölfflin, dass die Malerfarben bedeutender Hofkünstler, ja selbst der Konditoren und Hofschneider vom Studium gerichtlich gespaltener Machenschaften bestimmt sein könnten. Besonders Spanien mit seinen Verwaltungsschulen bis hin zur Inquisition besaß eine ungeregelte, wenn auch formal- ästhetisch höchst verfeinerte Farbgebung aus dem Geist der dämonischen Machenschaften. Von Velázquez bis Goya ist deren Einfluß durch Wölfflin bezeugt.
Goya schreibt an den Oberrichter von Salamanka, Stolpedaro de Marquavedi Espoda, dem Schwager seines Bruders: »Werter Herr, teurer Freund, noch einmal bitte ich Sie um ein oder zwei groseteros (das sind ortsübliche Aktenfässer von etwa sechzehn Mavedis) da mir das Farbamusement zu dem Altarbild der Jungfrau von Oviedo auszugehen beginnt, ehe der Abt und der Herr Gouverneur die Kirche besichtigen werden.« (Aus Homomaris: Gespaltene Briefe)
Das deutsche Grundgesetz verbietet die ästhetische Nutzung von Machenschaften außerhalb der Redezeiten im Parlament. - PM
Jede einzelne Machenschaft selbst war fast immer von Tinten gebläut und schwimmend gerötet, sodass die staatlich geforderte Transzendenz in Dingen der Verwaltung oft in omamentalen Linienspielen vollkommen unterging. Hier sammelte sich der Neid in gelblichen, dort der Hass in grünlichen Farben, denn dazumal bestimmten durchaus noch Leidenschaften die Wahl der Tinten. Hieraus folgerte Wölfflin, dass die Malerfarben bedeutender Hofkünstler, ja selbst der Konditoren und Hofschneider vom Studium gerichtlich gespaltener Machenschaften bestimmt sein könnten. Besonders Spanien mit seinen Verwaltungsschulen bis hin zur Inquisition besaß eine ungeregelte, wenn auch formal- ästhetisch höchst verfeinerte Farbgebung aus dem Geist der dämonischen Machenschaften. Von Velázquez bis Goya ist deren Einfluß durch Wölfflin bezeugt.
Goya schreibt an den Oberrichter von Salamanka, Stolpedaro de Marquavedi Espoda, dem Schwager seines Bruders: »Werter Herr, teurer Freund, noch einmal bitte ich Sie um ein oder zwei groseteros (das sind ortsübliche Aktenfässer von etwa sechzehn Mavedis) da mir das Farbamusement zu dem Altarbild der Jungfrau von Oviedo auszugehen beginnt, ehe der Abt und der Herr Gouverneur die Kirche besichtigen werden.« (Aus Homomaris: Gespaltene Briefe)
Das deutsche Grundgesetz verbietet die ästhetische Nutzung von Machenschaften außerhalb der Redezeiten im Parlament. - PM
MACHT
Man findet Menschen, die den finsteren Zauber der Macht so stark empfinden, dass sie ihn in allen Verhältnissen als das aufspüren, was letztlich zählt. Diese Tendenz hat eine theoretisch-praktische Disziplin der Weltseufzer hervorgebracht, deren Vertreter man abwechselnd beneiden und zur Raison rufen möchte. Aber es erweist sich als unmöglich, sie kennen die Uneinnehmbarkeit ihrer Position wie die Argumente, die man gegen sie auffährt. Der blinde Fleck in ihrer Kalkulation ist die nächste Generation, das heißt alle diejenigen, die von ihnen lernen, wie leicht man immer und in allen Belangen die Machtfrage stellen und folglich gewinnen kann. Wer die Macht zur Anzeige bringt, arbeitet dem Machttypus vor. Ein trauriger Befund, dem um Gesellschaft nicht bange ist.MACRONADE
Als ein paar Politiker beschlossen, die Kultur ihres Landes sei ›divers‹ und sonst gar nichts, also bloß eine Projektionsfläche für ihren Ehrgeiz, stellte sich heraus, wie einförmig alles geworden war: die amtlichen Medien, die stets dieselben Sprüche verbreiteten und dazu Bilder zeigten, von denen man nicht erfuhr, ob sie gestern oder vor vier Jahren aufgenommen worden waren, die Leitmedien, die alle wie auf Verabredung in dieselbe Richtung hetzten, am liebsten gegen die Hetze, das heißt, vornehmlich gegen den Widerspruch, den sie vereinzelt erfuhren, die Priester, die sich aufatmend der neuen Richtung an den Hals warfen, weil sie irrigerweise annahmen, dass nur sie die Kraft aufbringen würden, das Land in den vor ihm liegenden Krisen zu stabilisieren, die Schwätzer, die sich an allem aufgeilten, was Anlass zur Sorge geben konnte und daher Anlass zu großer Verschwiegenheit wurde, die bezahlten Denker, die unentwegt das Tor zur Zukunft aufstießen, das vor geraumer Zeit hinter ihnen ins Schloss gefallen war, ohne die Laufrichtung ändern zu wollen, die von ihnen allen an-, doch nicht ausbuchstabierten ›anderen‹, auf die das Wort von der Diversität gemünzt war und die von seiner Schwere überrascht wurden, als fühlten sie sich von einem Goldbarren halb erschlagen und halb beglückt, den ihnen eine boshafte Fee zugeworfen hatte, um ihre Reaktionsfähigkeit zu testen, und den sie doch nicht würden einwechseln können. Und plötzlich, wie auf Verabredung, begannen alle zu keifen, vereinzelte Kämpfernaturen gingen darüber hinaus und provozierten den Unfrieden wie eine im Anmarsch befindliche Bürgertugend.Es war ein altes Land mit einer großen Kultur, glitzernd im Tau seiner Untergänge, von finsteren Träumen seiner Vergangenheit heimgesucht, selbstverständlich in seinem Stolz, der nichts zu bedeuten hatte, weil er so eingekerbt war, dass er keines Wortes bedurfte, und nun herausgefordert wie nie zuvor in der Geschichte, wenn man von den legendären Anfängen absah, über die ein Erwachsener lächelte. Nun wurde es mit den Knien geritten. Der es ritt, hielt sich für einen neuen Wilden, einen Eroberer der Leere, an der alles Vision schien, ein Stück Bast in der Hand, mit dem er sie binden wollte, als ließe sich anschließend daraus trinken, denn er war, wie seine Landsleute, Weintrinker und vertraute dem guten Tropfen im voraus mehr als dem Tropf, der aus ihm sprach.
MAGMA
Da liegt die Gegend, wo, zwischen Eisriesen, flüssiges Magma das Meer zum Kochen brachte und die getöteten Fische tonnenweise bauchoben schwammen – soviel zur Orientierung. Man fühlt sich seltsam wohl an solchen Plätzen, die Luft geht frei und der kühle Kopf bemerkt so mancherlei, was ihm sonst weniger auffällt. Die Natur bewegt sich aufgeräumter als anderswo, mehr obenhin, sie rührt, könnte man meinen, weniger an, was schmerzlich sein könnte, und bekämpft energisch die Runzeln in ihrem Gesicht. Glatt sein, schön glatt sein, spiegeln, was es schon gibt, was es tausendmal gibt, hier wie an anderen Ufern. Das Leben der Fischottern ist nicht zu verachten, es sei denn, die Verächter kommen in langen Booten und das Gemetzel beginnt.MAGRITTE
»Hier, ein Magritte«, ruft die Frau des Direktors entzückt, sie leistet sich diese Passion, denn sie muss hart arbeiten und genießt das Schöne an seinen freien Tagen. »Es ist ein Magritte«, ertönt die Stimme des Gatten, der nachgesehen hat und sich insgeheim fragt, welche Diät der Meister vertreten mag, der so hoch in der Gunst der Frauen schwebt. »Wie ein Flöckchen, ein Wölkchen am lichten Azur, so ein liebes, leichtes Bild.« Der Gatte stutzt, solche Töne sind neu, streckt hier der Erwerbstrieb die Fühler aus? Doch die Frau ist schon weiter, sie bewundert, was kommt. Der Meister trägt einen strengen Scheitel, bemerkt der insgeheim zögernde Gatte, er spürt die Schwelle. Wieviel mag der Vogel gekostet haben? Einen Pappenstiel gegen das Bild, gegen Vogel und Ei, vom Meister betrachtet, gemalt, betrachtet, in natura und in effigie, und nun ich. Nur das Blau ist stumpf. Es ist wirklich stumpf. Den Azur hat sie geträumt, das Bild trägt sie hinweg. Schnell, fang sie ein. Oder halt, nein, es hat Zeit. Das Museum verliert nichts, es enthält sich doch selbst, was will man mehr.MALBUTTER
Das Verständnis für die Pittura grassi hat auf puritanische
Weise stark abgenommen. Die heute gemalten Ideen, trocken und ohne
Fülle, bedürfen schon lange nicht mehr der köstlichen Salben der
Malerei, um Bilder im höheren Sinne fett und gleichsam ›katholisch‹
zu machen. Dazu gehört, dass inzwischen auch eine der einstmals
bekanntesten Ölpflanzen der Venezianischen Malergärten am Canale
lardo verschwunden ist. Es war ein Kräutlein, das selbst noch in
den mageren Zeiten der Nazarener eine große Rolle gespielt hat, von
den Deutschen ›das triefende Pfaffenäuglein‹ genannt. Eine
unscheinbare Blattpflanze, aber Trägerin eines kostbaren öligen
Seims, der nach Texten der Malerbücher kaum in einer der älteren
Werkstätten gefehlt haben wird. Aus ihr gewannen die Künstler bis
weit ins neunzehnte Jahrhundert im Handumdrehen das wasserlösliche
Tränenfett, Laertina
grassi, das in den Farbgeschäften zu Rom noch lange sehr
rein, ohne Beimischungen von Stearin, in grüner Farbe zu haben war.
Es war wohl in allen Sorten der Malbutter zu finden, die, von
Tizian über Hans von Marées bis Giorgio de Chirico, den Meistern der letzten großen
Peinture à l’uile, benutzt
worden sind. Natürlich ist jede Malbutter anders. Das gotische
Eierfett der Deutschen zum Beispiel, das, mit Elfenbeinstaub und
›hilligem Schmeersaft‹ zu Brei geschlagen, als Mus gekocht worden
ist, wurde von den Meistern wohl eher bei der Arbeit verkostet als
unter die Farben gemischt. Ein wunderliches Beispiel des echten
leiblichen Malertums. Man fand das vertrocknete Mus in den Spalten
frommer Altarblätter zur Unterfütterung schwindenden Holzes auf
steinharten Brotfugen sowohl bei Jänsken van Soest wie bei Meister
Emeram Martyr.
»Was hilft aller Glanz auf bemaltem Holz! Wieder habe ich heute, unter einem begehrlichen Schluckauf, die gute Malbutter anrühren müssen, die dann nie auf das Bild gelangt ist, weil kein Ränftlein Speck mehr im Hause war. Magarethe, mein Weib, und ich, verschlangen sie noch in der Früh unter Tränen.« So lautet ein Geständnis des einarmigen Malers Jacob Ohnbrass aus Ulm.
Auch von Chirico wissen wir manche Besonderheit. Er vergötterte beispielsweise eine halb flüssige Salbe von saftgrüner Farbe in einer Karaffe und ließ sie durch einen Adepten der Mailänder Malerküche, einer geheimen Spontaneinrichtung fliegender Künstler und Alchimisten, zweimal im Jahr überprüfen. Als dieser Vorgang durch gezielte Indiskretion in Rom bekannt wurde, nannte man ihn wegen seiner bis heute noch nicht begriffenen, in übernatürlichen Glanzfetten leuchtenden Stilleben der späten Zeit hinter vorgehaltener Hand nicht mehr einen metaphysischen Maler, sondern einen malenden Ölhändler. - PM
»Was hilft aller Glanz auf bemaltem Holz! Wieder habe ich heute, unter einem begehrlichen Schluckauf, die gute Malbutter anrühren müssen, die dann nie auf das Bild gelangt ist, weil kein Ränftlein Speck mehr im Hause war. Magarethe, mein Weib, und ich, verschlangen sie noch in der Früh unter Tränen.« So lautet ein Geständnis des einarmigen Malers Jacob Ohnbrass aus Ulm.
Auch von Chirico wissen wir manche Besonderheit. Er vergötterte beispielsweise eine halb flüssige Salbe von saftgrüner Farbe in einer Karaffe und ließ sie durch einen Adepten der Mailänder Malerküche, einer geheimen Spontaneinrichtung fliegender Künstler und Alchimisten, zweimal im Jahr überprüfen. Als dieser Vorgang durch gezielte Indiskretion in Rom bekannt wurde, nannte man ihn wegen seiner bis heute noch nicht begriffenen, in übernatürlichen Glanzfetten leuchtenden Stilleben der späten Zeit hinter vorgehaltener Hand nicht mehr einen metaphysischen Maler, sondern einen malenden Ölhändler. - PM
MALERGLÜCK & -PEIN
Zwanzig Jahre vor der Tür des Zeichners herumgelungert, auf ein Wort hin, er sei dein Freund – welche Verschwendung an Lebenskraft und -anmut! Aber was für ein Maler: erst ist alles flüssige Kraft, Sog in die Ferne, die zugleich Innen ist, Innenferne, oft beschrieben, mit kristallenen Griffeln hervorgekratzt, alle Venen angestochen, alles vom Herzen her gesehen, gedacht, gepunktet, schraffiert, übereinander geschichtet, verdichtet und verdreht, damit es passt. Dann, im zweiten Durchgang, die matte Reprise, das Bunte, das sich breitmacht wie die falschen Blümchen auf einer Bergwiese, auf der plötzlich Ziegen weiden, herabgestiegen von den fernen Bergen, von den Zacken und Graten und Schrunden, auf denen sie schroffe Konturen gegen den Himmel zeichneten, Sternbilder für den einsamen Zeichner, der auch ein Wanderer war. Nun, da er denkt, es sei Mittag, bleibt die Tür zu, der Herr weilt wie weiland ein anderer im Seinigen. Aber, pardon, es ist nicht Mittag, es ist schon Abend, die Sternlein blinken, das Haus, das feste Haus, hat die Mütze gezogen und salutiert, eine archaische Geste, die man hier nicht vermutete. Bei diesem Anblick fröstelt den Wanderer, der Eintritt, denkt er, hat sich erübrigt und schließlich, wer tritt schon die Tür des Nächsten ein, nur um ihm näher zu sein.MALGRUND
Der Grund, auf den ich male, der Grund, aus dem ich male – seltsamer Doppelsinn, seltsames Doppelwesen, das vor die Wand tritt, als habe es soeben noch in ihr residiert, doch die Wand kann sich an nichts erinnern. Ohne Wand kein Grund, doch Wände, die keine Gründe hergeben, gibt es zuhauf. Es ist sogar, näher betrachtet, die Regel, denn unverwandt sind sie immer. Was sich erhebt, grundlos erhebt, bedarf des Grundes, um ohne Grund da zu sein, es bedarf der Grundlosigkeit, um sich zu erheben, andernfalls erhöbe es nur... Aber was rede ich! Das Abrakadabra der Kunst ist eine Gemengerede, der keine Gemeinde zu folgen vermag. Man übermalt den Grund, der einen bewog, man übermalt das Überwiegende, um seine Übermacht zu erfahren, man übermalt den Grund, den es ohne diesen Akt gar nicht gäbe, der im Übermalen aufscheint und verschwindet, ohne zu vergehen. Er geht in eine Art Untergrund über, von dem man, ginge es mit Recht zu, sagen müsste, dass er die Operationen der Oberfläche erklärt. Aber da erklärt sich nichts. Die Oberfläche erklärt sich selbst, sie trägt den Malgrund in sich wie... wie... das unartikulierte Bild. Und das ist wenig gesagt, blutwenig, sozusagen. Erhöbe sie sich, eine Aurora des Hierseins, nicht wirklich über ihren Gründen, so bliebe sie, immerhin, eine der Gänse des Kapitols. Aber sie weckte niemanden und die Gefahr ginge ganz unbemerkt an allen vorüber.MANGANELLI
Die wirklichen Stellvertreter Gottes auf Erden hält sich die Gesellschaft als Spaßvögel. Es ist ihnen nicht unlieb, denn so haben sie ein Auskommen, während ihnen andererseits der Ausgang verwehrt ist. Eingesperrt in die Zelle ihrer Vertretung, können sie Zeitung lesen, Wasser kochen oder Bücher schreiben, es ist alles gleich und es ist alles vergebens. Der, den sie vertreten, lässt sich nicht blicken, er schickt auch keine Boten vorbei, er vertraut absolut. Dieses absolute Vertrauen erregt den Stellvertreter in jungen Jahren, eine Zeitlang lässt es ihn kalt, dann wieder wird es ihm lästig, aber er begreift – oder weiß es unter der Oberfläche der Zweifel –, dass es immer da ist und immer da sein wird bis zum letzten Atemzug. Was danach sein wird? »Keine Ahnung«, sagt die junge Frau mit dem zwischen jugendlichem Hochmut und Entgeisterung changierenden Gesicht, »muss ich das wissen?« »In der Prüfung schon«, versucht es der Dozent, »aber vermeiden Sie unbedingt dieses ›keine Ahnung‹, man könnte Sie beim Wort nehmen.« »Wobei sonst?« fragt die junge Frau und zuckt mit den Achseln, »keine Ahnung.« Der Stellvertreter Gottes denkt viel, aber er denkt zum Zeitvertreib. ›Keine Ahnung‹ könnte er jedem Satz anfügen, den er niederschreibt, doch das wäre schlechter Stil und widerspräche dem Amt.MARABU
Ein Marabu, vor die Entscheidung gestellt, welcher Gemeinschaft er sich anschließen soll, geht ins Löwenabteil und erntet Gebrüll. Das erstaunt ihn. Schließlich geht es ihm um sachliche Auseinandersetzung und da gehört es sich, dass die Stimme unten bleibt. Also zieht es ihn fort zu den Schlangen. Dort geht es leise zu, alles fühlt sich sanft an, sanft und kühl, fast wäre er betört. Doch wie das Leben so spielt … das Glück des Unbedarften springt ihm bei und er entdeckt, gerade noch rechtzeitig, dass jedes dieser erstaunlichen Wesen nur darauf erpicht ist, ihn zu verspeisen. Er läuft hinüber zu den Kamelen und staunt, welche Lasten sie schleppen: Davon versteht er nichts. Es kommt ihm auch nicht sonderlich helle vor.Schließlich trifft er auf eine Gruppe Flamingos. Er findet ihr Rosa zauberhaft, ihre geschmeidigen Bewegungen sexy, und wenn sie auf einem Bein stehen, fühlt er sich gleich, als sei er einer der ihren.
Kurz, das ist sein Verein.
Die Flamingos haben aber, aus Gründen der politischen Schönheit, beschlossen, sich nicht fortzupflanzen, sondern stattdessen die Kinder von LaBaDu als Erben einzusetzen. Ein paar Jahre später sitzt der Marabu, inzwischen zur wichtigen Vereinsperson avanciert, zwischen lauter Pinguinen. Beinahe kommen sie ihm verwandter vor als das rosa Tüll vergangener Zeiten. Doch das währt nicht lange: Bald ertappt er sich dabei, dass er das sterile Schwarzweiß der anfangs dürren, dann zusehends fetter werdenden Gesellen öde findet und schon ein bisschen verächtlich.
So verrinnen die Jahre. Wieder eine Generation später reibt sich der Marabu, stramm und scharfäugig wie eh und je, verwundert die Augen. Fast wünschte er sich das Einheitsgrau der alt gewordenen Pinguine zurück. Klein ist der Haufen geworden, findet er – klein und schrill. Wenn er die Stimmchen sortiert, dann hört er immer eines heraus. Es dauert eine ganze Weile, bis er begreift, dass es ihm gilt: »Hau ab! Du gehörst nicht zu uns!« Das scheint ihm auch so. Doch als altgedienter Flamingo lehnt er es ab, sich damit zu befassen.
Lange Zeit weiß der Marabu nicht, wer ihm da an den Kragen will. Es sind doch Flamingos! Erst muss er sich im Handbuch der Zoologie kundig machen, Abteilung Gene, um zu begreifen, dass er unter Spatzen gefallen ist: dreistes Volk, das ihm die Krümel vom Teller pickt und mit seinem Gekreisch jede andere Stimme erstickt. Also erhebt er die seine und spricht: »Ihr müsst noch viel lernen, bis ihr echte Flamingos seid.« Da schrillt der Hof, dass der Emu nebenan den Kopf hebt und kurz mit den Flügeln zuckt.
Die Spatzen, die sich ob der Größe des Marabus nicht trauen, ihn direkt zu vertreiben, sitzen über ihn zu Gericht. »Er ist kein Flamingo«, schreien die einen, »soll er zu den Schwarzen gehen!« »Die Schwarzen wollen ihn nicht. Habt ihr nicht seine braunen Krallen gesehen?« Da zetern sie alle durcheinander: »Er hat braune Krallen! Er hat braune Krallen!«
Jetzt, da es langsam ernst wird, richtet der Marabu sich beleidigt zur vollen Größe auf: »Meine Krallen braun? Meine Krallen sind nicht braun. Sie sind rosenfarben wie nur je bei einem Flamingo. Seht her!« Und er zeigt seine Krallen. Da wichteln die Spatzen, schwirren um seinen Kopf, dass ihnen Hören und Sehen vergeht, und kreischen: »Er hat Krallen! Werft ihn über Bord! Er hat Krallen!«
Der Ozean aber, auf dem sie sich wähnen, ist ein Stück Brachland, übriggeblieben aus alten Kriegszeiten. Wie man hört, wird bald wieder darauf gebaut.
MARÉES
Wer das Meer im Namen trägt, braucht für den Ankerplatz nicht zu sorgen. Er bewegt sich zwischen den Schichten, zwischen Himmel und Erde, ein alter Dachdecker, der auf dem First davonreitet und den Hunden ein Schauspiel bietet, auf das ihr Geheul lange gewartet hat. Nun entlädt es sich in die Nacht hinaus, die Lampen geben einen ungenauen Eindruck von dem, was vorgeht, sie strahlen hell und sind sauber justiert, aber sie bleiben dahinter. Dieses Dahinterbleiben des Lichts ist etwas Geheimnisvolles, es gibt dem, der mit dem Licht arbeitet, einen Vorsprung, den er dringend benötigt, um ihn sofort zu missbrauchen, weil er mit ihm – in Wahrheit – nichts anfangen kann. Nein, er bewegt sich nicht in der Wahrheit, sondern außerhalb, das Meer der Lügen liegt ihm glatt an, schwer, kühl und ölig, wäre nicht die Positionslampe, die er fürs Fortkommen angesteckt hat und nun brennen lässt, weil sie bereits brennt, er würde vom Druck des nachdrängenden Lichts davongetrieben, so vermag er zu navigieren und kreuzt dort auf, wo ihn niemand erwartet, zur Unzeit, die niemals endet. Unter Ruderern gilt der Satz: besser einen Marées im Nacken als einen tätowierten Stier im Geviert.MASCHINENTEXTE
Angenommen, es passiert – es passiert immer, aber angenommen, es passiert wirklich –, so darf man sich nicht wundern, wenn die Reaktion darauf überraschend ausfällt – so, als habe etwas in uns nur auf diesen Moment gewartet, um sich zu entfalten oder, bleiben wir vorsichtig, eine Art Semi-Sichtbarkeit zu beanspruchen, an die vorher gar nicht zu denken war. Wie das geht? Ein Beispiel. Jeder, der sich im automatischen Schreiben versucht, macht die Erfahrung, dass es nicht geht. Die Instanz, die unsereins manchmal Geist, manchmal Bewusstsein und manchmal einfach Verstand nennt, weil das Wort Vernunft immer gleich mehr Fragen aufwirft, als zu beantworten sind, ist unhintergehbar. Man könnte das eine theoretische Erfahrung nennen, wohl wissend, welche Kröte man sich damit ins Haus holt. Was aber geht, was wirklich geht und gelegentlich, ohne dass man es will oder weiß, wie man hineingeraten konnte, ist eine Explosion an sprachlicher Kraft, die sich selbst steuert und ihre Wege geht, als seien sie ihr vorgezeichnet, mit jener seit alters ›divinatorisch‹ genannten Sicherheit, die besser eine Unsicherheit genannt werden sollte, weil ihr Begleiter, die ausdenkende und -malende Phantasie, dabei immer wieder ins Hintertreffen gerät und im Grunde von der Bewegung überrollt wird. Diese Kraft ist vielleicht die unruhig gewordene Vernunft, die sich aus den Beschränkungen losrüttelt, die ihr im Alltag auferlegt sind, weil Gefahr im Verzug ist. Und, seltsam auch das, diese Kraft ist eigentlich zeichnerisch – überflüssig, darüber nachzudenken, in welchem Medium sie sich bekundet.MASSENMENSCHEN
Anders als der von einzelnen Machthabern gelenkte Mitläufer in
einer Zeitherde ist der wirkliche Massenmensch aufs tiefste
befähigt, die Zeitherde in all ihren Zuständen zu begreifen. Er
versteht die Masse als seinesgleichen, verfällt ihr aber nicht. Er
trennt sich nicht wissend von ihr ab, sondern bleibt wissend in
ihr. Zweifellos ist dies die genaueste Definition des
Menschensohnes und damit der imitatio Jesu. So entgeht er zugleich
der Öffentlichkeit als versteckter Prophet und verlässt sich auf
die Tatsache, dass kein Gedanke vergebens ist, ob er aufgeschrieben
wird oder nicht, denn er denkt in der Zeitherde und seine Gedanken
wirken darin als ein Amalgam zur Legierung des Denkbaren. Sie
steigen auf wie das Wasser in Goethes Gleichnis, erfüllen das
Jenseits mit Dampf, und neue Generationen kehren davon erfüllt
zurück.
Wieviele solcher Massenmenschen es gibt, ist wegen ihrer fehlenden Werke schwer zu erkennen. Manche Seher meinen, es seien höchsten tausend in einer Generation, andere sprechen von fünfzehn Millionen in allen Erdteilen. Wieder andere, wie Polonius Silabus, nennen für das römische Weltreich um hundert nach Christus präzise Achthunderttausendneunhundertfünfundsechzig, einschließlich Germanien, Gallien, Britannien und die Nilprovinzen.
Die Kenntnis vom Taomenschen bei Lao- tse mag nach Jan van den Klockenbusch (Homo sensibilitatis Christi, Münster 1650) auf einer ganz ähnlichen Einsicht in das Wesen des wahren Massenmenschen beruhen. Er bereiste mit Moritz von Meersemann die Südprovinzen Chinas im Auftrag seines venezianischen Verlegers Manutius und hielt in seinem Gefolge zwei zierliche Taomenschen. Nach Münster zurückgekehrt starben sie aber angeblich an dem, was sie ›verlogenes Wasser‹ nannten. Man vermutet, sie hätten den unbekannten Branntwein für klares Wasser gehalten, anderseits war einer von ihnen nachweislich Bibliothekar des Bischofs Franz von Galen. Ihre Spuren verlieren sich eher im tiefsten Gebirge Westfalens, den Baumbergen. In Nottuln soll es nach einer alten Überlieferung »zwee gineske Dautensteene« (chinesische Totensteine) mitten in einem Waldstück gegeben haben. - PM
Wieviele solcher Massenmenschen es gibt, ist wegen ihrer fehlenden Werke schwer zu erkennen. Manche Seher meinen, es seien höchsten tausend in einer Generation, andere sprechen von fünfzehn Millionen in allen Erdteilen. Wieder andere, wie Polonius Silabus, nennen für das römische Weltreich um hundert nach Christus präzise Achthunderttausendneunhundertfünfundsechzig, einschließlich Germanien, Gallien, Britannien und die Nilprovinzen.
Die Kenntnis vom Taomenschen bei Lao- tse mag nach Jan van den Klockenbusch (Homo sensibilitatis Christi, Münster 1650) auf einer ganz ähnlichen Einsicht in das Wesen des wahren Massenmenschen beruhen. Er bereiste mit Moritz von Meersemann die Südprovinzen Chinas im Auftrag seines venezianischen Verlegers Manutius und hielt in seinem Gefolge zwei zierliche Taomenschen. Nach Münster zurückgekehrt starben sie aber angeblich an dem, was sie ›verlogenes Wasser‹ nannten. Man vermutet, sie hätten den unbekannten Branntwein für klares Wasser gehalten, anderseits war einer von ihnen nachweislich Bibliothekar des Bischofs Franz von Galen. Ihre Spuren verlieren sich eher im tiefsten Gebirge Westfalens, den Baumbergen. In Nottuln soll es nach einer alten Überlieferung »zwee gineske Dautensteene« (chinesische Totensteine) mitten in einem Waldstück gegeben haben. - PM
MATERIALIST
Wer sagt, er sei Materialist, riskiert viel, nicht zuletzt, von seinesgleichen für einen Idioten gehalten zu werden. Ein Materialist, der sich auf der Höhe seiner Anschauungen bewegt, gibt sich nicht zu erkennen. Wer vorgibt, Materialist zu sein, wird durch zwei, drei Gesprächszüge überführt, die jeder beherrscht. Man braucht dafür nicht ›gebildet‹ zu sein, man muss nur den Anforderungen des Geredes nachzukommen wissen. Der Materialismus führt eine Großväter-Existenz, er weiß sich unter den Seinen und hat sich damit abgefunden, dass ihn alle auf eine lustige Weise ›von gestern‹ finden. Gab es in seiner Jugend schon Autos? Es ist nicht wichtig, schließlich ist er noch immer rüstig und lehnt einen tüchtigen Fußmarsch keineswegs ab. Doch sieht man ihn von vielen Besorgten umringt, die es am liebsten haben, wenn er ruhig im Sessel sitzen bleibt und die alten Geschichten noch einmal zum Besten gibt. Zugleich stört sie jedes laute Wort, das in seiner Nähe gesprochen wird. Sie finden es unerhört und bitten um Diskretion. Da er schwerhörig ist, zumindest auf einem Ohr, versteht man nicht recht, was sie damit bezwecken, bis man sieht, dass sie das noch leidlich intakte besetzt halten und kräftig gegen äußere Einflüsse abschirmen. »Lass dich nicht beirren«, flüstern sie ihm ins Ohr, »du bist auf einem guten Weg. Wer den Schotter herankarrt, muss schließlich wissen, wie es weiter geht. Wir vertrauen dir.« Nun, sie haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht. »Schotter! Ich verlange Schotter! Sofort!« brüllt der Alte und schnellt nach vorn. Da rufen sie rasch nach dem Arzt und betten den Hinfälligen tiefer in seine Kissen.MATRIOT
Unter Patrioten ist der Matriot, was der Buchfink unter den Bucheckern: äußerst beliebt, auch wenn keiner weiß, was das soll. Was soll schon sollen? So ließe sich zurückfragen, aber es wäre das Porto nicht wert. Der Matriot stammt aus einer Sphäre, die der Physik noch nicht zugänglich ist: er steht zwischen Patriot und Antipatriot und will vermitteln, wo andere nur Feuer und Wasser oder Gott und Gottseibeiuns sehen. Sagte ich Physik? Ich sage nur: Märchenstunde. Dort vermitteln zu wollen, wo es nichts zu vermitteln gibt, grenzt an Unverstand, was sage ich, es überschreitet die Grenze ganz energisch, es ist Unverstand. Recht bedacht allerdings – immer schiebt etwas sich ein, was bedacht werden will –, recht bedacht ist jeder Patriot Matriot: nicht weil er Vater und Mutter ehrt, sondern weil er den Antipatrioten besänftigen muss, den er in sich trägt. Et vice versa. Warum das so ist? Patriotismus – was wäre das anderes als eine Anhänglichkeit, die, tausendmal zu Tode enttäuscht, aus Abscheu Zuversicht schlägt? Und wenn schon nicht Zuversicht, dann wenigstens den grimmigen Mut, sein Land zu behaupten? Nun, behaupten lässt sich allerlei, vor allem das Gegenteil, was immer am einfachsten geht. Antipatriot ist, wem der Patriotismus abgeht. »Das geht mir völlig ab«, sagt so einer und mein damit: Das geht mir gegen die Natur. Wenn die Natur widerstrebt, muss doch etwas da sein, das zieht? Vom Ziehvater ist in seinen Kreisen häufig die Rede, schärfer klingt schon der Stief- … wer dächte nicht gleich an den Stiefel samt allen Weiterungen? So zieht eins das andere nach sich, ein Bild löchert das andere, der Antipatriot bleibt Rebell. Gegen was? Gegen wen? Klopfet an und es wird euch aufgetan.MAULWURF
Der menschliche Maulwurf gräbt seine Gänge nicht unter der Erde, sondern in freier Luft. Man kann sagen, es ist die Luft der Freiheit, die ihn zu seinem Tun stimuliert, er schwängert sie gleichsam mit dem Geheimnis, das ihn umgibt. Deshalb sagt man, er untergräbt die Freiheit der Rede. Die Rede, solang sie frei fließt, kennt kein Geheimnis, ihr Geheimnis liegt im Fluss, im Fortgang, nicht von A nach B, sondern darüber hinaus. Maulwurfsrede, dort, wo sie beginnt, ist unfrei, sie verwandelt Freiheit in Unfreiheit, schon der Verdacht, sie könne vorliegen, genügt. Ideologen genügt der Verdacht, sie pfeifen auf den wirklichen Maulwurf und setzen seinesgleichen voraus, wann immer es passt, damit zwingen sie jeden ins Joch der Unfreiheit. »Dient dem Feind!« So qualmen sie, selten nimmt einer die Pfeife aus dem Maul, wenn er redet. Was dem Feind dient, ist nicht erlaubt. Wenn alles dem Feind dient, ist nichts erlaubt. Ein schöner Feind wäre das, dem etwas nicht diente: ein Wort, eine Geste, ein Zug. Diese Züge! Immer fahren sie, wohin keiner will, man steigt zu, weil die Richtung ungefähr stimmt, und man steigt aus, weil einem dämmert, man hat sich verirrt. Ein Maulwurf kommt immer an, jeder Zug ist der seine, jede Geste durchfährt ihn blind, jedes Wort schnappt er auf und sackt es ein. Kommt seine Zeit, denkt er, so hat er die seine genützt, also hat er doppelt gelebt, was will der Mensch mehr. Fragt ihn einer, unschuldig wie der Mond, wie es geht, so hört er, fast im Vorbeigehen, ein Geflüster: »Es geht voran.« Maulwurf ist, wer Ereignissen vorangeht, von denen er annimmt, sie würden sein Dasein, eine verquere Hypothese, stützen. Was niemals eintritt, füttert die meisten.MAUSKNACKER
Jene Handvoll Theoretiker aus den siebziger Jahren, die heute noch en vogue sind, weil aus ihren Phrasen eine Art populärer Musik gewonnen wurde, die einem überall da entgegenschallt, wo Menschen, die angenehm leben wollen, sich in professioneller Denktätigkeit üben, könnte man vielleicht Mausknacker nennen: dazu bestimmt, Mäusen Angst einzujagen. Sie zeigen ihnen ein großes Maul und drohen damit, sie bei passender Gelegenheit auszuquetschen, bis Innen und Außen eins sind und nichts weiter da, was zu schützen sich lohnte. Wo die vertrauten Konterfeis herumstehen, hocken die Verhuschten in ihren Löchern – grau, bibbernd, verschämt die einen, stolz und geschwätzig wispernd die anderen, die gern mitknacken würden, aber stellvertretend und im kleinen Kreise.MEINUNGSFREIHEIT
Gäbe es Meinungsfreiheit in unserem Dorf, so stellte sich rasch heraus: wir haben keine. Bekanntlich setzt die Freiheit zu meinen eine gewisse Vielfalt voraus, Meinungen müssen vorhanden sein, um sich entfalten zu können, wo alle einer Meinung sind, herrscht Gewissheit. Nun enthält der Begriff ›Meinung‹ bereits eine gewisse Zurücknahme: ich bin mir meiner Sache zwar sicher, konzediere aber, dass andere anderer Meinung sein und ihrer Sache ebenfalls sicher sein könnten. Ich bin mir also relativ sicher, das macht mich zwar sicher, auf der richtigen Seite zu stehen, aber nicht, die ›Wahrheit gepachtet‹ zu haben, wie es so sinnig heißt. Im Gegenteil: der Wahrheitspächter, dessen bin ich mir ziemlich sicher, hat die Gesellschaft der Meinenden verlassen und bewegt sich außerhalb der Grenzen, die durch den Begriff ›Meinung‹ gezogen sind, also außerhalb der guten Gesellschaft, in der konzediert wird, dass jeder seine eigene Meinung besitzt und dies sein gutes Recht ist. Gerade daran nagt jedoch der nimmer ruhende Zweifel: Wenn jeder seine Meinung besitzt und im Munde spazieren führt, warum erkenne ich sie in der Regel bereits nach zwei Sätzen? Doch nur deshalb, weil seine Meinung die kurrente ist oder, genauer gesagt, eine kurrente, da in der Regel mehrere sich im Umlauf befinden, so wie in Grenzregionen jeder Einheimische auch die Währung des Nachbarlandes in der Tasche trägt. Wie gesagt, in unserem Dorf gibt es das nicht, hier herrscht eine Meinung und sie herrscht ungebrochen. Worüber herrscht sie? Über die Köpfe, gewiss, auch in ihnen, gewiss, aber auch über die anderen, immerhin denkbaren Meinungen? Wohin sind sie verschwunden, die immerhin denkbaren Meinungen? Das muss sich der Justizminister gedacht haben, der den Hassparagraphen erfand: natürlich in den Hass! Wo eine Meinung herrscht, herrscht Hass, und zwar nicht der Hass auf andere Meinungen, behüte, sondern der Hass auf die herrschende Meinung, die kurrente Wahrheit, die keine Abweichung zulässt. Gelänge es also, diesen Hass zu bekämpfen, ihn sogar auszurotten, dann ließe sich reiner Tisch machen und die Wahrheit triumphierte wie Gott im Mittelalter. Leider haben der Minister und seinesgleichen, wie die Ketzerverbrenner des Mittelalters, versäumt, die Frage zu untersuchen, ob der Gedanke einer triumphierenden Wahrheit, wie der des triumphierenden Gottes, auch stimmig sei: Triumph ist eine zu menschliche Geste, als dass es sich schickte, ihn Gott oder der Wahrheit zu unterschieben. Es schickt sich nicht, in dieser Weise zu denken, es ist geschmacklos und widert die Menschen an, vor allem die nachdenklichen unter ihnen, die sich zwar in der Minderzahl befinden, aber in der Regel wissen, wie es mit der geschändeten Wahrheit weitergeht. Und? Wie geht es weiter? In Wahrheit kann niemand die Wahrheit schänden. Was in ihrem Namen triumphiert, ist nichts anderes als das berühmte Bündel Stroh, mit dem im Märchen der allzu Beglückte aufzuwachen pflegt: war da nicht etwas? Aber vielleicht wissen die Hassverbrenner das längst und halten den Fetisch hoch, damit die Gutmeinenden sich empören. So hat man sie sicher im Sack. Schon haben sie sich in zwei Fraktionen gespalten, die einander bitter bekämpfen, beide hassgetränkt bis zur Stehkrause und sichere Beute des herrschend gesetzten Zynismus.MENASSIEREN
Ein Wort, hereingeschneit aus den unendlichen Weiten des bewohnten Universums, die bekanntlich nur einen Bruchteil der unbewohnten ausmachen, die wiederum … wo kommen wir eigentlich hin, wenn wir jedem Löffelchen hinterherlaufen, das ein Taugenichts vor uns schwingt? Vor allem, wenn nicht leicht zu unterscheiden ist, wo das Löffelchen aufhört und der Taktstock beginnt, oder wo der Taktstock unauffällig zum Löffelchen mutiert, mit dem einer den Honig aus den Verhältnissen herausholt, auch wenn es der letzte ist und das Kratzen am Grund bezeugt, dass es sich bald ausgelöffelt haben wird. Ein solcher Auslöffler braucht, wie seine Bewunderer wissen, das große Publikum, unter dem sich bekanntlich immer ein Kindskopf findet, der mit der Feststellung Der Kaiser ist nackt seine nahe Umgebung schockt. ›Menassieren‹ klingt so ähnlich wie ›grimassieren‹ – nur eben vor großem Publikum, nicht vor dem häuslichen Spiegel, wo es die Pickel und Mitesser austreiben hilft. Wer menassiert, der hat viel zu verlieren, gesetzt, einer gebietet ihm für einen Augenblick Schweigen und in die M-Pause hinein erklingt die Stimme des Kindskopfs aus der dritten Reihe links. Daher muss, wer zum Menassieren geboren ist, immerfort plappern oder immer fortplappern, was ihm an Widrigem widerfährt. Weist ihm einer zum Beispiel nach, er habe etwas erfunden, eine Rede zum Beispiel an einem historisch bedeutsamen Ort zu einem historisch bedeutsamen Zweck, dann bricht der Stolz auf seine Erfindungsgabe aus ihm heraus, als habe er nur auf diesen Brech-Reiz gewartet. Resonances of the mind nennt das die traditionelle Anglistik, Gleiche Brüder gleiche Kappen das Derbdeutsche, das ohne einen Schuss Geschlechter-Ungleichheit nicht zu haben ist, weshalb es auf den Abschusslisten aller Abschussberechtigten mit einem Dreifach-Sternchen *** versehen ist: »Ja!!! Halt drauf!« Aber das führt vom Thema ab. Das Thema ›menassieren‹ ist grenzenlos wie das Universum – grenzenlos, aber nicht unendlich, verstehe das, wer will. Als Grundregel gilt: Wer sich menassieren lassen will, sollte es gründlich tun, zum Beispiel jede Woche donnerstags, zwei Stunden sollte einer schon mitbringen, allein um den Applaus von der falschen Seite nicht zu verpassen, auf den alles hinausläuft, was Beine hat und einen kurzen Verstand.MENSCH FISCHER
Als Opa das Kreischen erfand, dachte er mehr an Oma und ihre Bedürfnisse als an Ex-Minister und ihre Ausbrüche von Nachfolgerhass. Ganz frei davon war er nicht, wenn man die Musik-Alben der letzten 60 Jahre Revue passieren lässt. Doch wer spricht vom Kreischen. Mensch Fischer! – so redet man in der Regel nicht einen Menschen an, der einst die Geschicke eines Landes mitregierte, in dem so viele Menschen täglich ihr Glück und ihr Auskommen finden. Ehrlich gesagt, man zögert bereits bei dem Wort ›Mensch‹, weil es sich doch von selbst versteht und eigentlich nichts zur Sache tut, es sei denn, die Menschenfischerei wäre die Sache, was sie doch außerhalb der alleinseligmachenden Kirche niemals sein sollte. Alleinseligmachend: das wäre so ein Konzept. Man braucht dazu grobe Knechte und einen robusten, über ein, zwei Jahrhunderte stabilen Entschluss, es müssen ja nicht gleich Jahrtausende sein. Oder doch? Wer begriffen hat, wo Bartel den Most holt, möchte auch gern dabei sein, solang es geschieht. Er möchte auch sonst gern dabei sein. Das Wissen, wohin man gehört, gehört sich für ihn ganz von selbst. In einer Welt, in der keiner gerettet werden will und die Schlaueren bereits den Rettungswagen für ihren Nachbarn bestellt haben, versteht es sich praktisch von selbst, wenn einer einsam, doch weithin sichtbar auf seinem Balkon mit dem Blaulicht hantiert. Es muss gestritten werden – aber worüber? Wer die Stärkeren sind? Unstrittig ist das nie. Stärke kann schnell zum Impediment werden. Das Stärkste an der Politik des Heils ist die prinzipienlose Prinzipienreiterei, die sich anderen Interessen als Biomasse zur Verfügung stellt, in der irgendein Menschenrecht brodelt.MENSCHENMACHER
Das Ungleichartige gleich gestalten: ein biologischer Schematismus und zugleich das ›Wesen‹ (besser: ›Gewese‹) von Gesellschaft, in dem das Etwas-Hermachen und das Sich-etwas-Vormachen mit einer diffusen Beweglichkeit kopulieren, deren Richtungssinn schwer zu ergründen bleibt. »In Gesellschaft anderer ist der Mensch bei sich selbst«: ein solcher Satz, an dem die meisten Philosophen höchstens in terminologischer Hinsicht etwas auszusetzen hätten, markiert den Abgrund der menschlichen Dinge und ist von unaufhebbarer Komik. Man könnte bemerken, dass im Sich-Gleichmachen das ganze Potenzial der Differenz und der Differenzierungen zutage tritt, von deren Wirklichkeit jedermann ausgeht – auch das ein Witz, aber ein trauriger. Und können zusammen nicht kommen: das Tor der Gleichartigkeit erlaubt, wie die Passagierkontrolle der Flughäfen, nur ein Nach-, kein Miteinander. Wer glaubt, gleich danach käme man wieder zusammen, könnte sich böse täuschen. Denn streng genommen kommt kein Danach, niemals und nirgends. Der Zwang zur Gleichartigkeit bringt Wesen hervor, die einander ›begegnen‹, das heißt jene grandiose Folgenlosigkeit produzieren, die ebenfalls Gesellschaft heißt. Wie das? Man beachte die Trennungen mit ihren immer gleichen Ritualen, ihrem immer gleichen Vokabular. Aus einer Perspektive erscheinen sie schief, wie flüchtig über die wahren Verhältnisse gelegte Schamtücher, aus einer anderen erscheinen sie von einer gnadenlosen Härte, die offenlegt, was besser auf ewig verborgen geblieben wäre: der Mensch schneidet tief ins Fleisch des Tieres, das menschlich sein möchte und dessen Wille immerfort abgleitet in die konfektionierende Menschenmacherei.MENSCHENOPFER
Der international bekannte Gelehrte Christian von Grüsen-Schmerbach eröffnete die diesjährige Tagung der Grabbegesellschaft in Lichtel mit einem Vortrag, der nicht nur bei Fachleuten Aufsehen erregte. Er wies auf zunehmende Gefahren in den modernen Gesellschaften hin, unter denen die demographische Entwicklung eine der größten bisher zu wenig erforschten sei. Er argwöhnte, dass der Gegenstand zu einem Fall für die prospektive Archäologie werde, nehme man sich des Problems nicht augenblicklich und unter Einsatz aller gesellschaftlicher Mittel an. Noch niemals in der Entwicklung der Menschheit habe ein Forschungsgegenstand sich aufgrund schwindender Substanz vor den Augen der versammelten Wissenschaft mit so ungeheurer Geschwindigkeit verflüchtigt.In diesem Zusammenhang sei es eine der Herausforderungen für unsere Gesellschaft, die Theorie des Menschenopfers, wie sie in Folge des großen Mordens im vergangenen Jahrhundert erweitert worden sei, nicht nur zu überdenken, sondern für hochdynamische, in permanentem Wandel begriffene Gesellschaften neu zu formulieren, sozusagen als unblutige, aber höchst effektive Variante.
Im Kontext der verschiedenen Abtreibungsdebatten sei zwar die Frage gestellt worden, ob es sich um Mord handle oder nicht, das Problem des Menschenopfers jedoch sei gar nicht erst ins Blickfeld der Diskussionsparteien gekommen. Unter welches Rubrum aber sonst sei es zu fassen, wenn ganze Gesellschaften aufgrund ideologischer Verfasstheit, ökonomischer Mobilmachung und unter ostentativer Ausrufung der Befreiung der Frau den zukünftigen Menschen opferten, indem sie ihn gar nicht erst zeugten. Es handele sich, wie bereits erwähnt, um hochdynamische Gesellschaften, die den neuen Menschen an hervorragender Stelle für ihre Zwecke propagierten. Ziel der Untersuchungen sei es, so von Grüsen-Schmerbach, herauszufinden, ob es sich um immanente, nicht benannte Ziele der ideologischen Front oder um eine gesellschaftliche Widerstandsbewegung handle, die den kollektiven Selbstmord der mentalen Versklavung vorziehe. Jan Ritterling, Korrespondent vor Ort, berichtet von tumultartigen Reaktionen. Er vermutet, die ganze Tagung werde unter dieses Thema zu stehen kommen, da die Frauen es bereits aufgenommen und ihrem Sinne gemäß erweitert hätten. Dabei rückte die Frage in den Vordergrund, inwieweit die verschiedenen für die Frauen als neuerliche Unterdrückung durch das nach wie vor aktive paternalistische Schema zu wertenden Folgen der Emanzipation nicht auch als Menschenopfer zu betrachten seien. Die Frauen, soweit anwesend, beschlossen einhellig, sich mit der Randgruppe der ungeborenen Kinder zusammenzuschließen und kündigten für den Nachmittag ein neues Grundsatzprogramm an. Im Gegenzug appellierte ein harter Kern von Feministinnen an die Frauen, sich nicht durch theoretische Konzepte von ihrem gesellschaftlichen Kampf entfremden zu lassen und rief einen Gebärstreik aus, um auf die Probleme aufmerksam zu machen. - AC
MENSCHENPÜPPCHEN
Man stellt, wenn es um die neue Intensität des Glaubens geht, die Erweckungsreligiosität und den politisch motivierten Fundamentalismus zu sehr in den Vordergrund. Man vernachlässigt darüber die Religion, die unauffällig von Frauen an die nächste Generation weiter gegeben wird. Sie haben diese Aufgabe selbst in den Jahren des progressivistischen Wahns niemals versäumt, gleichsam als Rückversicherung für andere Zeiten. Die Wurzeln der Frömmigkeit liegen in der Kindheit und es ist nie ganz müßig zu rätseln, ob sie dort eingepflanzt oder nur gegossen werden. Angenommen, sie gehörten, wie die Disposition zur Sprache, zur genetischen Ausstattung und ließen sich durch geduldige Anleitung aktivieren, so wären Individuen, an denen dies versäumt wurde, einfach nur religiöse Idioten. Die Unruhe der Mütter wäre also gerechtfertigt, weil sie die kommende Generation vor einer Verstümmelung bewahrt. Dennoch kann man sich fragen, warum sie so unbeirrbar in dieser Angelegenheit Kurs halten. Irgendein Vorteil ist dabei, über den man reden kann, über den man reden können muss, ein Vorteil, der durch die sogenannte Frauenbefreiung nicht ausgehebelt wurde. Er muss schlagend sein, wenn keine Umgestaltung der Verhältnisse ihn zum Verschwinden bringt. Die Fähigkeit, religiöse Dispositionen zu hegen und weiter zu geben, ohne selbst religiös sein zu müssen, jedenfalls im Sinn intensiver Bekenntnisse und Gemütserregungen, setzt eine Art von Intimverhältnis voraus, das nicht viele Worte braucht, um sich zu entfalten. Man denkt an die Schutz‑ und Machtfunktion, die der Religion im sozialen Alltag zukommt, an die traditionelle Erhöhung der Frau durch allerlei pseudo-religiöse Praktiken, die sakrale Ummäntelung des Geschlechterverhältnisses und denkt sich: nein, das ist es nicht. All das wäre durch profane Mechanismen ersetzbar, die seit langem benützt werden, um diese alten Modelle zu entkräften und, wo möglich, unter dem Vorwand der Frauenfeindlichkeit zum Verschwinden zu bringen. Im Grunde bleibt, wenn alle möglichen Vorteile ausgehebelt sind, nur die Figur des Vorteils selbst, das Auslösen einer Funktion, weil man die Macht dazu besitzt – eine Macht, die sonst ungenutzt bliebe, während die gesellschaftlichen Instanzen jede Macht ausspielen, deren sie habhaft werden. Macht also, das alte Motiv, und gleichzeitig eine Art Kennerwissen, das alle verborgenen Hebel ertastet, die sich an einem Menschenpüppchen finden und darauf warten, umgelegt zu werden, damit es sich in Bewegung setzt. Die Lust, in Gang zu setzen, was zu gehen bestimmt ist, auch wenn man um seine ambivalenten Züge weiß, und dabei jede Art Abwehrzauber herunterzubeten, kommt vor der Erziehung und durchkreuzt sie, wann immer sie die Erziehenden anwandelt. Manchen zeigt sich hier die dämonische Seite der Alleinerziehenden, die niemandem Rechenschaft ablegen als sich selbst, und auch das nur lückenhaft. Zäune, um durchzuschlüpfen, finden sich überall.MENSCHENRECHT
Es ist ein Menschenrecht, unbehelligt von notorisch überinterpretierten Erkenntnissen, deren Lebensbelang sich darin erschöpft, es, das Leben, vielleicht zu verlängern, vielleicht auch nicht, Grundsätzen zu folgen, die einer langen Evolution der Person geschuldet sind, ohne dafür aufs Streckbett einer gedankenlosen Moral gelegt zu werden und zum Hohn den Verlust seiner vertrauten Umwelt zu tragen. Ein schwieriges, schwer durchzusetzendes Recht. Auch Menschenrechte bedürfen des Menschen. Wer hätte das gedacht?MENSCHENRECHTE
Die Menschenrechte sind eine heiße Sache, die leicht zerfällt, wenn sie kalt genossen wird.MENSCHHEITSAUFGABE
Die Menschheit hat nur eine Aufgabe und die ist sie selbst. Wie das gemeint sei? Dumme Frage. Bitte stellen Sie sich nicht einfältiger als Sie sind! Die Menschheit ist sich aufgegeben, sie muss sich vollenden, zumindest bewahren, zumindest durchbringen – was nicht so einfach ist, da sie fortwährend wächst und wächst und... Also nochmals! Die Menschheit, das sind Leute, die einander kaum kennen, die einander größtenteils nicht kennen, Wildfremde, wenn Sie so wollen – aber: diese Leute (oder einige unter ihnen) haben entschieden, einander gegenseitig eine Einheit vorzutäuschen, über die sie selbst keineswegs im Bilde sind. Das wäre also ... die Spitze des Eisbergs! Nur ein Bruchteil der heute lebenden Menschen ist an dem Spiel beteiligt, das Menschheit heißt. Der Rest hat keine Ahnung davon oder es ist ihm egal. Vernachlässigen darf man ihn deswegen nicht, denn er bestimmt das Spiel. Die Menschheit: ein Durcheinander von Aussagen über Personen, die nicht wissen, dass sie die Menschheit sind, – nicht gemeinsam, denn es gibt keine Gemeinsamkeit zwischen ihnen, nicht zusammen, denn sie kommen niemals zusammen (furchtbarer Gedanke, sie könnten eines Tages zusammenströmen ––), nicht miteinander, denn sie kennen einander nicht, nein, in ihrem eigensten Tun und Handeln, um vom Denken zu schweigen, bilden sie täglich-kläglich die eine Menschheit, über die andere – wenige – zu Gericht sitzen: Was hat sie verbrochen? Wohin bewegt sie sich? Reicht der Planet noch, an dem sie sich täglich versündigt? Wohin reicht der Planet? Wofür reicht der Planet? Sollten wir nicht andere auftun? O dieses ›Wir‹: in ihm liegt die ganze Menschheit in ihrem Wahn wie ein Säugling in seinen Windeln.Aber es kommen doch die gewählten Vertreter der Staaten zusammen, um über das Schicksal der Menschheit zu befinden? Aber es gibt sie doch, die weltumspannenden Organisationen, in denen das Wort ›Zusammenarbeit‹ obenan steht? Werden nicht alle bewegt von Öl, Wasser, Luft und den Schätzen der Erde, um vom Klima zu schweigen? Ja, es kommen zusammen die Mächtigen und die Ohnmächtigen unter den Mächtigen, zu pflegen die Macht der Ohnmacht und sie zu leiten auf die Wasser der Mächtigen und ihrer Klienten, sie lesen dieselben im Auftrag gefertigten Statistiken und fassen Beschlüsse, in denen der Menschheit etwa die Bedeutung der Wand zukommt für einen, der verzweifelt nach einem Ausgang sucht: man kann sich schon denken, von welchen Furien er gejagt wird und wie das Personal sich im Raum verteilt. Die Menschheit, wie immer man es wendet und dreht, ist eine transzendentale Größe, eine verschiebbare und immerfort verschobene Grenzlinie, von einer Interpreten-Elite in den Sand, die Meere, die Luft und schließlich in den Weltraum gezeichnet und anschließend als Erpressungsmittel von Menschen verwendet, denen der Gedanke an Abstraktes am A... vorbeigeht. Man sollte sie den großen Einfältigmacher nennen – in des Wortes vielfältigster Bedeutung.
MENSCHHEITSZOO
Man muss sich aus der sogenannten Moderne herausdrehen, langsam, vorsichtig, behutsam, immer darauf bedacht, die Fassung nicht zu verletzen oder zu verlieren: das ergibt einen guten, einen menschlichen Sinn, der sich schwer aussprechen lässt. Viel eher setzt er auf das Empfinden, das ein Einzelner mitbringt. Wer will das kalte Kunstlicht in sich selbst zum Erlöschen bringen, das sich dem Kontakt verdankt? Wird es nicht finster, sobald der Kontakt unterbrochen wurde? Wer sagt mir, dass jenes immerfort überstrahlte Licht wirklich leuchtet, ausreichend leuchtet, um all die Funktionen zu erlauben, aus denen das Leben besteht? Dass es mir zu sehen erlaubt? Warum aber, wenn das so ist, der Eindruck des Überstrahltseins, der Überblendung, der Bewegung in einem künstlichen Raum, während der andere immer mitgeht, schattenhaft, substanzlos vielleicht, aber als Substanzverlockung? Natürlich, sagt der Analytiker, der Traum vom einfachen Leben deckt zu, wie schwierig, seltsam und wenig verlockend es dort zugeht. Aber, unter uns, wer hat diesen Traum je geträumt? Er ist ein Trick – ein Analytikertrick, der bei der Stange hält und halten soll, darin liegt eine Aufgabe, die erfüllt er gut. Niemand hat es gesehen, jenes einfache Leben, niemand hat es geführt, allenfalls gefühlt hat man es, mit dem Zauberspiegel des Fremden aus Verhältnissen herausgelesen, die zu ergründen vielleicht Spaß macht, vielleicht nicht, sich jedenfalls in Abbreviaturen ergeht, die man Hypothesen nennt – eine nach der anderen, darauf kommt es an. Alle Verhältnisse, in denen ein Mensch lebt, in den Menschheitszoo gestellt und zur Begaffung freigegeben, wirken auf wundersame Weise einfach und merkwürdig, merkwürdig muffig vor allem, als zerbröckelten sie unter der Hand, nicht lebbar, das ist das Wort.MENSCHSEIN
Das nur im Plural existierende Menschenrecht ist das verbriefte Recht des Menschen, Mensch zu sein. Da jeder bereits Mensch ist, bevor er dieses Recht einklagen kann, braucht es juristisch gebildete Mitmenschen, die ihm, wenn es soweit ist, vorsprechen, worin sein Recht, Mensch zu sein, im Detail besteht. In diesem Vorsprechen lauert eine Drohung, die nur der vernimmt, den sie angeht. Er vernimmt sie vielleicht besser als alles andere, so wie ein Festgenommener, dem man seine Rechte vorspricht, halb von Sinnen vor Angst, kaum versteht, was man ihm da sagt. Dabei sollte er gerade an dieser Stelle genau hinhören, denn das interpretierte Menschsein wird exakt nie und nimmer das seine sein, es wird sich seiner annehmen und ihn umformen, bis er selbst sich kaum wiedererkennt, auch wenn er das niemals zugeben wird. Ein Mensch, der sein Recht darauf reklamiert, ein Mensch zu sein, ist schon ein anderer. Das mag für ihn gut oder schlecht sein, aber sein Ruf ist ruiniert. Er besitzt jetzt den Ruf eines Menschen, dessen Menschsein in Frage gestellt ist. Er wirft Fragen auf, deren Brisanz er nicht kennt, er fängt sich Antworten ein, die er nie überblicken wird, von Leuten, mit denen er im Leben nichts zu tun haben wollte, um eines Lebens willen, das er sich so nicht vorstellen konnte. Dabei wäre es einfach das Recht, da zu sein wie andere auch.MERKELISMUS
Gesteigerte Form des Merkertums sc. Blitzmerkertum: Das Auge der Chefin blitzt und Donnergrollen erfüllt die Gemüter der Merkelistas, auch Emsters oder Hamsters genannt, mit Ehrfuchtschauern, die instantan entweder in Form von singulären Einsichten oder zu hektischen Rücktritten verarbeitet werden. ›Verarbeitet‹…? Aber gewiss. Merkelismus sive Merkelianismus ist Innenschau, doch nicht mit dem inneren Auge, sondern mit einem Organ, das gemeinhin dem Verdauungsprozess zugerechnet wird. Man kann das an gewissen Redensarten erkennen wie der, dass »am Ende zählt, was hinten herauskommt«, oder an dem berühmten Brocken, den ein unkündbarer Merkelianer der ersten Stunde dem inneren Feind der Partei hinwarf, auf dass er daran krepiere: so ein Krebsgeschwür dürfe nicht »in die Partei hineinkriechen«. Was herauskommt, nennt der gemeine Straßenverstand Macht, was hinein will, nennt er … Ohnmacht, die an die Macht drängt? Das wäre, denkt mancher Zeitgenosse, zu einfach, und macht sich darauf seinen eigenen Reim: M. ist ein organischer Prozess, in dessen Verlauf dem jeweiligen ›Partner‹ sämtliche Lebensstoffe entzogen werden. Das ausgeschiedene Material … – wer spricht vom Rest? – darf ›braun‹ genannt werden. Wohin mit dem Stoff? In die Bekämpfung! Merke: Der Merkelismus bekämpft seine Hinterlassenschaft, als sei sie der Grund, der ihn am Dasein erhält. Zu Recht, zu Unrecht? Der M. lebt von der Gesellschaft, für die zu fein zu sein er behauptet. Das einzige Verhältnis, das er kennt, ist das Selbstverhältnis: Erkannt, verbannt! Dabei geht das Phänomen des M. weit über parteistrategische Selbstaufhebungs- und Marginalisierungsspiele hinaus. Recht betrachtet, umfasst er die Gesellschaft als Ganze: Ihr Wüten gegen sich selbst, als sei sie eine andere, die nur im Kampf gegen sich Rettung findet, hat etwas abstoßend Anziehendes oder anziehend Abstoßendes, das sich als stärker erweist als jede Gemeinschaft, und sei es die der Gutgläubigen. Allein die Frage »Wie soll das enden?«, die Grund- und Ausgangsfrage des Merkelismus, treibt einem offenen Ende entgegen: Sie treibt es bunt.MERKER
Ehrlich gesagt, wir misstrauen der Wissenschaft vom Menschen, soll heißen seiner theoretischen und praktischen Aufbereitung unter gentheoretischen, gehirnphysiologischen, erinnerungspsychologischen, religionstherapeutischen etc. Gesichtspunkten. All diese Forschungen sind nur in ihrer Anfangsphase ›heiß‹, danach werden sie rasch kalt und beschäftigen noch eine Zeitlang die Fachleute und Geschäftemacher, während die Neugier der Menschen über sie hinwegschweift. Die Medizin, ja, die Medizin. Auch werden sicher neue Forschungen kommen und neue Anfangsphasen, daran kann es nicht liegen. Vielleicht daran, dass keine Wissenschaft ›vom Menschen‹ handelt und sich das in Wellen herumspricht. Aber es spricht sich ja nicht herum. Ehrlich gesagt, es spricht sich niemals herum. Es kann sich auch gar nicht herumsprechen, weil die Kriterien fehlen und keine Wissenschaft weit und breit sich imstande sieht, sie zu liefern. Es lungert auch niemand in den Eingangshallen der Wissenschaft und verlangt Aufschluss. Die ungeheuren Heerscharen adrett gekleideter Studienanfänger, die stracks hineingehen, verlangen nichts dergleichen, sie wären zu Recht verwundert und schon ein wenig misstrauisch, wenn man sie fragte, ob sie nun, nach der ersten oder zweiten Vorlesung, mehr über den Menschen wüssten, nach dem Examen empfinden sie die Frage als Zumutung. ›Geht doch!‹ steht über der großen Eingangshalle des Volkes und kein Hexenmeister hat seine Freude daran. Dieses ›Geht doch!‹ ist dem delphischen ›Erkenne dich selbst!‹ funktional äquivalent, aber nur funktional und nur äquivalent. Fragt man aber nach der Valenz dessen, was da valiert, tappt man im Dunkeln. Geht doch! »Wenn ich einen Krebs operieren kann und der Mann lebt noch fünf Jahre, dann sind das womöglich entscheidende Jahre – sagen wir, die Tochter macht Abitur, der Sohn kann promovieren, die Frau darf sich ohne Gewissensbisse scheiden lassen und muss nicht anschließend als Witwe herumlaufen.« So spricht der Medizinprofessor zu seinen Studenten, denen das einleuchtet. Schließlich wollen sie operieren. Warum? Suchen sie ihr Wissen vom Menschen beim Medizinmann? Oder der Medizinfrau? Keineswegs. Sie schlendern schließlich auch nicht durch die Kirchen, um das Knie zu beugen, sondern um die Kunstwerke zu betrachten, die darin hängen, oder weil es so angenehm kühl ist oder man ihnen gesagt hat, es lohne sich. Nun, es lohnt sich. Wenn die religiöse Konkurrenz die Inbrunst ein wenig aufdreht, steigt das Interesse ›an Glaubensdingen‹ marginal, aber merklich, und die Funktionäre bekommen glänzende Gesichter. Nichts ändert sich, nur der Wahn zieht seine Bahnen. Ist das Nihilismus? Gefehlt. Der Nihilismus ist eine der Überzeugungen, die keiner teilt – schon gar nicht mit sich selbst. Geht doch! Hundert Jahre Nihilismus und allen reicht es zu überleben. Hundert Jahre Überleben und allen reicht es. Allen? Wie steht es um die Nimmersatten, die Sauger, die Nuckler, die Perversen, die keine Ruhe geben, die Scheinperversen, die keine Ruhe finden, die pervers Scheinheiligen, die innerlich weiter sind und weiter drängen, hinaus über die Säulein des Herkules, der ein kräftiger Mann gewesen sein muss? Schade um ihn, aber sowas wächst nach und ist immer zur Hand. Wer alt wird, muss sich viel merken. Diese Gesellschaft wird alt: so sagt man. Nun, an der Merkerei stirbt das Wissen vom Menschen zum zweiten, dritten und vielleicht vierten Mal. Auch deshalb wirken die Ältesten leer. Vielleicht merken sie nicht mehr so viel, aber innerlich stecken sie voll Merkerei. Voilà, die Epoche der Merker ist gekommen. Wohl dem, der’s merkt.MESSERWITZ
Der Mord ist der Missbrauch des Messers. Das stand in ehernen Lettern über der Tür zum Gerichtssaal, die einer durchschritt, dem es ans Leben ging. Und es ging weiter, viel weiter noch, nur die Geschichte endet hier.METAMUSEUM
Wie einer der raumfüllenden Kunstmoderne überdrüssig werden kann, sieht man gut und gern an den Tapezierern, deren Museumsaufträge noch aus dem letzten Jahrhundert herüberreichen. Ein solcher Überhang sollte eigentlich gepflegt werden. Doch Stillstand ist nirgends und Pfleger gehören ins Seniorenheim oder auf die Krankenstation. So drängen die Tapezierer selbst ins Museum. Am besten befänden sie sich als Mumien im Metamuseum, in dem die Museen mitsamt ihren Helfern im metamusealen Alltag verdämmern. Am Metamuseum wird allerorten gebaut, den einen oder anderen Trakt kann sich ein heller Kopf bereits vorstellen, doch das Ganze bleibt auf unabsehbare Weise vertrackt. Nun, die Tapezierer sind da den entscheidenden Schritt voraus. Ein kühler Rechner könnte, falls er Lust hätte, ihnen attestieren, dass sie bereits eingezogen sind und voller Vertrauen den Erbauern ihrer Heimstätte entgegenlächeln.METROPOLENBEWUSSTSEIN
Gewisse Leute entwickeln, auch wenn sie auf dem Land oder in der Kleinstadt aufgewachsen sind, ein rückwärtsgewandtes Metropolenbewusstsein, d.h. sie fügen ihrem Gedächtnis all die Ereignisse ein, die ihnen, aktiven Gliedern der Gesellschaft, die sie geworden sind, am Herzen liegen oder deren Kenntnis ihnen ihr Beruf zwingend vorschreibt. Jetzt haben sie all das auch mitbekommen, jedenfalls können sie darüber reden und gegebenenfalls schreiben, als seien sie dabeigewesen: Das haben wir erlebt. Sie könnten auch sagen: So haben wir gelebt. Der Grund dafür liegt, außer in der notorischen Unfähigkeit, die Dinge auseinanderzuhalten, mit der so viele geschlagen sind, in der Scham darüber, damals nicht wahrgenommen zu haben, was heute zählt. Das Mitzählenwollen verlangt gebieterisch nach Gedächtnisinhalten und das folgsame Ich spuckt sie, mühsam wie alles, was einmal in den falschen Hals geriet, bei Bedarf aus. Man könnte darüber zur Tagesordnung übergehen, entstünde aus dem Durcheinander nicht nach und nach ein Gemenge aus angeblichen Erfahrungen, die in keines Menschen Gehirn passen, aber als Grundlage für Urteile über vergangene Zeiten sowie über Menschen herhalten müssen, die in ihnen lebten und handelten – im Guten wie im Schlechten.MIENENSPIEL
Da den Tieren gewissermaßen die Bärte bis über die Augen wachsen,
so dass, außer in aggressiver Weise, kaum ein anderes Mienenspiel
als der Wutausbruch möglich ist, kann man die hochentwickelte
Urkunst menschlichen Ausdrucksvermögens auf diesem Gebiet ebenso
für den Anfang der Schauspielerei wie der entsprechenden Bühne
betrachten. Gedanken und Gefühle treten hier auf, teils vom
Direktorium unzähliger Absichten nach außen gesandt, teils von
unendlichen Begegnungen herausgefordert. Überhaupt sind die
Mischungen erzwungener Mienenspiele und berechneter Entsendungen
nicht auseinander zu halten. Jedoch haben weder Casanova noch Freud
sich an Deutung und Ursache des wechselnden Mienenspiels ernsthaft
herangewagt, obwohl beide, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen,
Interesse daran gehabt haben müssen. Auch Lavater weist irrtümlich
mehr auf Schädelerhebungen unter der Haardecke als auf die viel
subtileren Bewegungen der Gesichtsfalten hin. Überhaupt wird nie
auf das Spiegelhafte eines kaum noch benutzten Begriffs wie Antlitz
verwiesen, bei welchem man rasch auf die große Bedeutung der
leuchtenden Hautfarbe weißer Menschen für ihr Mienenspiel hätte
kommen können. Die sogenannte ›weiße Farbe‹ hätte hier vieles im
Sinne eines Spiegels zu sagen, besonders im Hinblick auf
Porträtmalerei und Maskenkunst. Wann trennte man sich von den
Masken und ihrem Dämonenbezug? Wann sah man sich leuchtend und
schutzlos ins Gesicht? In der bekannten Operette heißt es japanisch
gepudert: »Wie es drinnen aussieht, geht niemand was an.«
Zweifellos hat die römische Porträtkunst sich als erste endgültig von Götterbezügen getrennt und so viel als möglich vom gleichsam stille gelegten Ausdruck eines Gesichtes darzustellen versucht. Aber die plastische Kunst als belehrendes Beispiel und Vorbild steht heute verlassen hinter dem schonungslosen Schnappschuss mit seinen unbewacht fixierten Überraschungen und dem Lauf des immerwährenden freien Mienenspiels, das von der Geburt bis zum Tode kein Ende nimmt und als Teil des unmessbaren Menschentums hier keine Rolle spielt. Vielleicht spielen die neuen Maskeraden von Lüge und Täuschung auch keine Rolle mehr, weil kein Vorbild von alten Mauern und Bildern herab uns warnt oder ermuntert. Kein Idealbild der Kunst reizt zur Nachahmung. Wer möchte die zerteilten Gesichter Picassos, selbst als boshafter Scharlatan, nur in Andeutungen übernehmen, oder wagte es, Schlüsse daraus zu ziehen?
Je größer die Kopflosigkeit der Kunst, um so näher die unabhängige, die kollektive, die unablesbare Grimasse, bis zur schönen Grimasse in Illustrierten. Der nackte Mensch ohne Züge ist heimliches Ziel einer neuen Gesundheit ganz ohne Falten.
Einst war die zunehmende Herablassung in den Mienen des Adels eine würdige Alterserscheinung, die dem Leben wichtiger Blicke über der gepanzerten Brust mit himmelblauer Schärpe zu folgen hatte. Das verändert sich nun zur bloßen Herablassung alt gewordener Falten bei Schönheitsoperationen: sie werden abgelegt. Es kann gelogen werden, was das Zeug hält, man sieht es keinem mehr an, man ist gar nicht mehr richtig da. - PM
Zweifellos hat die römische Porträtkunst sich als erste endgültig von Götterbezügen getrennt und so viel als möglich vom gleichsam stille gelegten Ausdruck eines Gesichtes darzustellen versucht. Aber die plastische Kunst als belehrendes Beispiel und Vorbild steht heute verlassen hinter dem schonungslosen Schnappschuss mit seinen unbewacht fixierten Überraschungen und dem Lauf des immerwährenden freien Mienenspiels, das von der Geburt bis zum Tode kein Ende nimmt und als Teil des unmessbaren Menschentums hier keine Rolle spielt. Vielleicht spielen die neuen Maskeraden von Lüge und Täuschung auch keine Rolle mehr, weil kein Vorbild von alten Mauern und Bildern herab uns warnt oder ermuntert. Kein Idealbild der Kunst reizt zur Nachahmung. Wer möchte die zerteilten Gesichter Picassos, selbst als boshafter Scharlatan, nur in Andeutungen übernehmen, oder wagte es, Schlüsse daraus zu ziehen?
Je größer die Kopflosigkeit der Kunst, um so näher die unabhängige, die kollektive, die unablesbare Grimasse, bis zur schönen Grimasse in Illustrierten. Der nackte Mensch ohne Züge ist heimliches Ziel einer neuen Gesundheit ganz ohne Falten.
Einst war die zunehmende Herablassung in den Mienen des Adels eine würdige Alterserscheinung, die dem Leben wichtiger Blicke über der gepanzerten Brust mit himmelblauer Schärpe zu folgen hatte. Das verändert sich nun zur bloßen Herablassung alt gewordener Falten bei Schönheitsoperationen: sie werden abgelegt. Es kann gelogen werden, was das Zeug hält, man sieht es keinem mehr an, man ist gar nicht mehr richtig da. - PM
MINISTERSCHWINDEL
Der Minister wacht eines Morgens auf und begreift: alles Schwindel. Die Papiere gefälscht, die Ernennungsurkunde getürkt, die Sekretärin, eine alte Spionin, im Bilde, die Journalisten schon vor der Tür. Er muss nur die Gardine verrücken, um den ganzen Umfang des Unheils zu überblicken: er ist verloren. Was tun? Die Kanzlerin anrufen? Wie kommt das an? Was löst das aus? Eine Lawine vermutlich, die ihn verschüttet. Nein, mit dieser Sache muss er allein fertig werden, Hilfe steht nicht zu erwarten. Selbstmord? Schön für die, die darüber berichten, aber keine Option für einen, den der Trieb, die Welt zu verändern, geradewegs so beherrscht wie ihn. Warum muss es ihn treffen? Trifft es ihn denn? Die Krawatte (der Spiegel sorgt für Erkenntnis) zeigt sich nicht weiter beeindruckt. Diesseits der Panik wartet das Leben auf den, der es neu beginnt. Oder es ihn – wer möchte da fehlen? »Du bist mein Leben, ich beginne dich neu«: so könnte er säuseln, die Stirn in pastorale Falten gelegt. Nein, es ist nicht sein Leben, jeder Versuch, es zurechtzurücken, lässt es in eine andere Richtung entrollen. Was ist das für ein Leben? Bald schon wird er ausziehen müssen, dieses Haus wird ihm zu eng. Derweil johlt das Volk auf den Gassen und die Twittergemeinde empfängt ihren Helden über Gebühr. So empfänglich müsste man sein.MINUTENRUHM
Der Minutenruhm hat, wie jeder andere, das Beruhigende, dass er vorbeigeht. Was langsamer vorbeigeht, das Ritual, trägt zu dieser Beruhigung nicht unwesentlich bei. Es ist ein Ruhestifter, der dem Unruhestifter entgegentritt, ihn aufnimmt und seitwärts geleitet, dorthin, wo schon seine Vorgänger entsorgt wurden. Der Unruhestifter blinzelt, er kann wenig sehen, er will Vertrauen fassen und darf es nicht. Sähe er genauer hin, so käme ihm die Betriebsamkeit verdächtig vor, gerade in dieser dichten Folge von Augenblicken könnte man ihn sehgeschädigt nennen. Jedenfalls nimmt er wenig wahr. Und es stimmt ja, wenig ist wahr an dem, was über ihn gesprochen wird, es sind Formeln, aus denen das Weihwasser tropft, er kann, wenn ihm der Sinn danach steht, es mit eigenen Tränen vermischen, damit es rascher abläuft und nach mehr aussieht. Aus Tränen werden schnell Hieroglyphen, aber die echten, vor ihrer Entzifferung: da steht ICH und da steht ALLE und da, ein wenig abseits, LIEBE, folgt man dem Bogen abwärts, so entdeckt man ein kleineres EUCH und ein noch kleineres DOCH. Doch, sagt er sich, so könnte es sein, aber muss man es auch so ausdrücken? Diese Schriftzeichen bedeuten vielleicht etwas ganz anderes. Ganz sicher bedeuten sie etwas anderes, jemand wird drauf kommen, aber hier und heute bedeuten sie nichts. Bedeuteten sie etwas, so wäre das ganze Verfahren nur abgefeimt, es ist aber etwas dabei, das sich dem Zugriff der Protagonisten entzieht. Bei dem Wort ›Protagonisten‹ muss er automatisch lächeln, er blinzelt schon wieder, der Anfall ist praktisch vorbei und das Leben geht weiter.MISSBRAUCH
Da stehen die großen Griffel und keiner rührt sie an. Keiner? Wenn einer käme, um die Probe darauf zu machen, sähe man ihn? Und wenn man ihn sähe, jagte man ihn nicht davon? Und wenn man ihn nicht davonjagte, würde man nicht über ihn lachen? Und wenn man nicht über ihn lachte, würde man ihn denn ernst nehmen? Und wenn man ihn schon ernst nähme, würde man denn ernst nehmen, was er schriebe? Und nähme man es ernst, würde man etwas anderes darin erkennen wollen als einen Missbrauch der Schrift? Allein die Schrift ist rein wie am ersten Tag, wem seine Gedanken von ihr befleckt erscheinen, der möge schweigen, als sei es sein letzter.MISSBRAUCHSDILEMMA
Man kann eine Religion missbrauchen wie eine Nation, ein Volk, eine Ethnie oder das Personal einer Firma, das zu denken bereitet gar keine Schwierigkeit. Die Schwierigkeiten beginnen, wenn man versucht, Brauch und Missbrauch zu sondern, weil niemand den Missbrauch zugibt, so dass die Ansichten aufeinanderprallen, als gäbe es zwischen ihnen keine vernünftige Mitte. Was richtig ist, am Ende hilft nur das Strafgesetz, und das bloß in kleineren Fällen. Die maßgeblichen Fälle treiben auf Katastrophen zu und nur Zufälle halten sie auf diesem Wege auf. Das große Verdienst der Religionen, dass sie den Menschen verkünden, was gut und böse sei, kehrt sich dann gegen sie, da sie keine Instanz über sich dulden dürfen, jedenfalls nicht in dieser Hinsicht. Gegen einen Verkünder, der die ethischen Kataloge der verschiedenen Religionen gegeneinander und gegen das Recht des Staates, Gesetze nach eigenem Gutdünken zu erlassen, abgleicht, stehen hundert andere, die sich in der Regel zurückhalten, aber eben nur zurückhalten, weil sie nicht anders denken können, als dass ihr Gotteswort den anderen vorgeht. Sie schließen Kompromisse, so wie ihr bürgerliches Heldenleben ein Kompromiss ist, sie schließen mit sich selbst Kompromisse, darin liegt ihre Schwäche, die von kühneren Charakteren bloßgestellt wird. Der Missbrauch der Religion beginnt als Kritik an den Kompromissen, die nötig sind, um sie im rechtlich-bürgerlichen Rahmen zu halten. Zwischen Kritik und Terror liegt im Zweifelsfall nur ein Entschluss. Es überfordert die Spitzen einer Konfession in der Regel, eine Gleichwertigkeit religiöser Angebote zu denken, es sei denn, es ist ihnen mit der Konfession nicht mehr sonderlich ernst, nicht heilig-ernst, wie es sich in den Augen der Gemeinde gehört, und sie zählen in Wahrheit bereits zur Ketzer-Gemeinschaft der Zivilreligiösen. Sagen wir, wie es ist: des einen Brauch ist des anderen Missbrauch et vice versa. Der religiöse Humanismus, dessen es bedürfte, dieses Dilemma aufzulösen, liegt seit zweihundert Jahren auf dem Tisch, aber er ist eine Botschaft für wenige geblieben. Die christlichen Kirchen, die ihn sich ächzend angeeignet haben, verdanken ihm leere Gotteshäuser und gehen daher lieber mit den Welt-Ideologen auf Dummenfang – kein guter Anreiz für andere Glaubensgemeinschaften, ihnen auf diesem Wege zu folgen. Wer den säkularen Staat bewahren will, muss ihn verteidigen und darf nicht auf den Sinneswandel von Kräften hoffen, die gar nicht anders können als ihn, wo immer es geht, auszuhöhlen, bis er in sich zusammenfällt.MISSSTAND
»Wollt ihr die totale Gesellschaft?« Diesen Lockruf hörten, die uns – nicht erst seit heute – regieren, in ihrer Jugend, und fast alle riefen Ja! Das waren eine andere Zeit und ein anderes Bewusstsein, aber das Bekenntnis hallt nach in der Gouvernantengesellschaft, der Gesellschaft, die nicht loslässt, die den letzten Trinker mit Programmen umgarnt und nicht zulässt, dass etwas anderes sei als sie selbst, die es in Worten und Begriffen ebenso ausgrenzt wie in Taten, so dass es sich endlich in die Arme von Weltverschlechterern wirft, nur damit etwas sei. Denn die totale Gesellschaft, mit Verlaub sei es gesagt, ist nicht, sie existiert nur, solange sie aus Ressourcen leben kann, die außerhalb ihrer selbst liegen, und sei es im Wüstensand. Deshalb ist es gefährlich und bitter, mit ihr zu rechten. Nach rechter Kolonialherrenart lässt sie nur eine Antwort zu: das nächste Programm. Auch wäre es falsch zu sagen, hinter jedem abgestellten Missstand lauere ein neuer. Es sind die alten Missstände, die in den Programmen fröhliche Urständ feiern, die sich ihrer inwendig längst bemächtigt haben und auf Kapertour gehen. Ausgerüstet mit Mitteln, die stets etwas Märchenhaftes behalten, sehen sie ganz neue Möglichkeiten. Wer glaubt, dies seien Probleme höherer Ordnung, mag recht haben, sofern er für sich spricht, jedenfalls sollte man ihn, solange er auf dem Dachfirst wandelt, nicht wecken.MISSTRAUEN
Wer den religiösen Formeln misstraut, wer sie verachtet, wer den Missbrauch fürchtet und den Wahn, der in ihnen lauert, wer nicht vergessen kann, was in ihrem Namen und unter ihrem Bann verübt wurde, der muss auch bedenken, dass ihm all dies einmal gesagt wurde, dass auch er eine Art Frömmigkeit exerziert, wenn er so denkt, wie er denkt und vielleicht denken muss, weil es ihm sonst an Selbstachtung mangelte, vielleicht auch nur, weil er einem Korpsgeist verpflichtet ist oder gewohnheitsmäßig zu einer bestimmten Stunde den Fernseher einschaltet. All dies bedacht, sollte er sich fragen, ob seine Frömmigkeit nicht jener anderen, vor der er sich fürchtet, bereits auf den Leim ging. Warum, so könnte er sich fragen, geht es mir überhaupt um jene Formeln? Warum verkleinere ich willkürlich, was dort gedacht worden ist, auf seine einfachste Form, auf den kleinsten gemeinsamen Nenner für eine Masse, an der mir nichts liegt, wenn es mir nicht um Formeln ginge? Ist eine Durchstreichung nicht so gut wie die andere? Sind die Spiele der Negation nicht Gemeingut aller Religionen, die diesen Namen verdienen? Ist nicht diese Religion, die zu verachten ich vorgebe, gerade darin Meister aller Klassen? Ist meine Frömmigkeit also sehr unterschieden von der, die ich ablehne? Ist sie nicht auf gleichem Kurs wie all die differenten Auslegungen, die sie hervorgebracht hat? Woher also mein Misstrauen? Oder vielmehr: Wohin drängt es mich? Über welchen Rand stößt es mich, wenn ich ihm nachgebe? Ich blicke ihm ins Gesicht und es schiebt mich weiter, rückwärts, dorthin, wo ich nichts sehe.MISSWAHL
Nach den Töchtern kommen die Söhne. Vielleicht, ja vielleicht, kommen sie einmal gemeinsam, Söhne und Töchter: erhobenen Hauptes, gemeinsam ihr Leben einfordernd von den Ungeheuern. Welchen Ungeheuern? Das ist eine lange Geschichte, die einmal erzählt werden muss, nur nicht vor der Zeit. Wenn aber die Zeit gekommen ist und die Archive sich öffnen, dann zählt jedes Opfer. Jedes einzelne ist dann das Opfer zuviel, das erbracht werden musste, um jene zu Fall zu bringen. Jedes einzelne ist dann das Opfer zuviel, das nie hätte erbracht werden dürfen: hier beginnt das Verbrechen, das keines sein durfte, als es geschah.MITSPIELER
»Die Figuren der Mitspieler allen erkennbar hinstellen: da ist Aufgabe und Amt.« (Heinrich Mann) ›Allen erkennbar‹: da liegt das Problem. Zu dieser Aufgabe und in dieses Amt drängeln sich viele, die selbst unerkannt bleiben und nur ihre Namen in den Wind schreiben möchten, der bekanntlich noch dann weht, wenn auch die letzte Behausung pulverisiert und der Mond über wuchernden Sumpfländern seine einsame Bahn zieht. Die Banken, die Konzerne und die Politiker: zu oft wurde das Stück von sogenannten kritischen Köpfen aufgeführt, um den Beifall zu finden, den man sich davon erhofft. Am Ende der Kenntlichkeit steht die Unkenntlichkeit: Das wissen wir ja, sagen die Leute, aber wie geht es weiter? Da reiben sich die Banker, die Konzernstrategen und die Politiker die Hände, denn sie wissen, wie’s weitergeht, sie werden für dieses Wissen sogar bezahlt. Die Behauptung, dass es so nicht weitergeht, verdunkelt die Zukunft, statt sie zu erhellen, die verdunkelte Zukunft verdunkelt die Gegenwart, ganz wie der Zorn sie verdunkelt, den viele predigen, wo er doch als Grundstoff bereitliegen müsste, um geschmiedet zu werden, wenn die Zeit dafür reif ist. Was sich zusammenrottet, muss auch wieder auseinandergehen: das gilt in den Köpfen ebenso wie auf den Straßen und Plätzen. Das meiste der sogenannten Kritik der Verhältnisse besteht aus Aufzählungen der Weltübel mit Hilfe immer derselben Phrasen und Denunziationen, verbunden mit so detaillierten Handlungskonzepten wie rauf mit, runter mit, weg mit, her mit: ein Blick in die Schriften der Klassiker zeigt, dass diese Art von ›Aufklärung‹ getrost selbst unter die Weltübel gerechnet werden darf. Nebenbei ist sie gezinkt – was immer ›allen erkennbar‹ sein soll, ist für den Markt produziert und will die Art von Erfolg, die es verdammt.MITTE
Anders als in der Politik und im Leben besitzt die Mitte in der Kunst keinen Wert. Nichts bezeugt das besser als der Goldene Schnitt, der eine Reihe von Möglichkeiten eröffnet, sie elegant zu umgehen. Mit seinem Wegfall wird alles recht, aber sonderbarerweise wird die Mitte dadurch sichtbarer, wieder sichtbarer, könnte man sagen, sie kehrt als leere Mitte ins Bild zurück und lässt sich anstarren. Man erfährt daraus, dass auch die Kunst vom Tabu gelenkt wird. Das Anstarren, diese unzüchtige Tätigkeit, ruiniert den Bildraum und erzeugt die Textflut, in der das Gesehene untergeht, weil es sich nicht anstarren lässt. Es bedeckt sich, sozusagen mit Wörtern. Das erinnert an Frauen, die das Kopftuch ablegen, um frei zu sein, und sich vom Friseur eine künstliche Haarpracht arrangieren lassen, bevor sie sich unter die Leute trauen. Mit einem zugetexteten Bild muss man keine engere Beziehung eingehen, es lohnt nicht, denn es kommt auf dasselbe heraus, es ist rundherum dasselbe. Aber auch das ist vielleicht nur Schein.MITTAGSFRAU
Wer eine Frau angreift, dem verdorre die Hand. Dennoch fühlen sie sich allzu oft angegriffen und greifen an, aus einem Impuls heraus, den Männer gern eine Laune oder eine Grille nennen, falls sie nicht zu der Sorte gehören, die manche Frauen abfällig die ›verstehende‹ nennen, und den Topos vom unterdrückten Geschlecht gleich hier in Anschlag bringen, statt bessere Gelegenheiten abzuwarten. Vom Denken ist beide Male nicht die Rede, eher von Reflexhandlungen, die leicht in erotische Tätlichkeiten übergehen können, wie die Romanwelt lehrt. Vielleicht auch das wirkliche Leben, doch man kann sich täuschen. Männer, die sich für richtige halten, täuschen sich umso häufiger, je öfter sie im beruflichen Umgang auf diese Karte setzen und ihre Niederlage als weibliche Niedertracht buchstabieren. Warum? Sie sehen das Spiel, aber sie überblicken es nicht und versuchen es willkürlich zu verkleinern. Frauen, die wissen wollen, woran sie sind, sind die Regel, Männer die Ausnahme. Ein Mann, der weiß, woran er ist, ist schnell am Ende, für die Frau ist es ein Anfang: Sprüche, zweifellos, aber in ihnen spiegelt sich die reale Dimension des Geschlechts. Übrigens verhext die Geschlechterrede auch den, der sich ihrer mit wissenschaftlichen Ansprüchen annimmt. Beispiele gibt es wie Sand am Meer, doch wehe dem, der eins aufhebt. »Die Mittagsfrau geht von Bord« – so steht es in Organum Mortis und es ist die volle Wahrheit, ein Aspekt der Balance.MITTERNACHTSGROLL
Die beste Zeit, sich den Groll von der Seele zu schreiben, ist die Zeit nach Mitternacht. Die Entrüstung darüber, nicht schlafen zu können, gibt die Stimmung, die latente Müdigkeit drängt zum Abschluss und die kalte Nachtluft verleiht die benötigte Schärfe: so können die Barrieren fallen, zwischen denen das Tagesgemüt dahin trabt, das sich nichts anmerken lassen will, weil es sonst Wirkung zeigte, und das ist nicht erlaubt. Nachts ist erlaubt, was sich bei Tage verbietet, das liegt nicht an der Dunkelheit, wie die Diebe glauben, sondern an der falschen Wachheit, die auf der Einlösung eines Versprechens besteht, das niemand gegeben hat, es steht aber im Raum und blinzelt den Übernächtigten an. Alles unzeitige Aufstehen muss sich gelohnt haben, vorher geht keiner zu Bett. Nun gut, der Groll ist eine Art Einlösung, sogar die einzige, wenn sich nichts anderes herstellt, er ist die Nacht in ihrer Reinform, als versagte Erfüllung, die sich holt, was sie braucht. Mancher greift darüber zur Flasche. Das zeigt, was er von sich hält: nichts. Wer seinen Groll für eine Flasche dahingibt, will noch im Weglosen spuren. Er wünscht, dass der Alkohol sich seiner erbarmt und nimmt die Erbärmlichkeit gern in Kauf. Dabei ist der Groll der bessere Rausch, jedenfalls für den, der ihn zu bespielen vermag. Das Beste am Groll ist, dass er die Volumina steigert. Alles Unpassende passt peu à peu in ihn hinein und lässt ihn anwachsen, bis der Blick sich verklärt und die Müdigkeit endlich den Eintritt findet, nach dem sie lange gesucht hat. Nun ist sie da und räumt das Trümmerfeld weg, denn sie will es weich haben und liebt die Horizontale.MKH
Müller kommt herum, sagte sich der Kulturschaffende M., das ist ein Vorteil dieses Berufs. Und er kam herum. Man kommt herum, sagen sich viele und tragen das Zeichen, MKH, dort, wo andere ihre Sehnsüchte aufbewahren.MODERN
Träume machen eine reine Haut, vor allem die tiefen, aus denen niemand ohne Zeitsprung aufwacht, leicht erschöpft, voller Unruhe, ob er auch wirklich entronnen sei. Die Tendenz des Bewusstseins, sich zu verflüssigen, seine Fähigkeit, zu zerlaufen und an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit sich im Nu zu konsolidieren, ist keine vernachlässigbare Größe. Das Bewusstsein kennt viele Raumzeiten, zwischen denen es beständig wechselt. Ein Strich, eine Wolke, ein Taschentuch, eine Fliege, eine Tasse Tee, ein Duft, eine Kinoszene, ein Wort reichen völlig aus, um die Verflüssigung zu bewirken. Viele dieser Wörter sind kaum mehr als dürftige Sehnsuchtsmaschinen für Durchschnittsverschwinder. Wider Erwarten erweisen sich andere als bewohnbar und rufen nach Kultur. ›Moderne‹ ist so ein Wort, hoch expansiv, ein Fraßwort, eigentlich ein Witz, der sich nicht abschütteln lässt, es sei denn im Tiefschlaf. Was modern ist, bestimme ich, aber nicht ganz, nicht ganz wirklich, nicht ganz souverän, ich muss mich strecken, Moderne ist einer fordernde Instanz, warum?Was modern ist, bestimmen die anderen, aber nicht ganz, denn ich kann sie nicht verstehen, es sei denn, ich lege mich dazu: bin ich modern? Aber sicher. Jede Beschreibung passt auf mich, ja genau, aber sicher, aber nicht ganz: etwas fehlt an den Beschreibungen, etwas fehlt an mir, ich passe nicht ganz hinein und fülle sie nicht ganz aus. Ich denke an sie, also lebe ich in ihr, ich lebe in ihr und falle aus ihr heraus. Modern sind immer die anderen. Nicht ganz, ihre Gesten wirken auf mich ganz und gar archaisch, und ihre Gedanken... An ihnen erkenne ich, was ich abschütteln möchte. Ich bin der erste moderne Mensch. Wenn alle modern sind, bin ich der erste, der nach ihnen kommt. Wenn alle postmodern sind, bin ich die Differenz. Gehen Sie ruhig voran, ich komme nach. Ja, ich kenne den Weg, machen Sie sich da keine Sorgen. Ich falle tief.
Im Haus der Moderne sind viele Wohnungen: einst werde ich eine davon bewohnen. Wann wird das sein? Zu einer anderen Zeit, in einer anderen Welt, mit anderen Mitteln, mit meinen Mitteln, denn Herr der Moderne bin ich. Warum Herr? Dies ist das Haus vieler Herren: Haben Sie das nicht gewusst? Nein, das Haus ist herrenlos, es gehört niemandem außer denen, die es bewohnen wollen, und diese wissen davon nur vom Hörensagen.
MOMENT
Die toten Diskussionen sind nicht im Keller zu besichtigen, wie immer behauptet wird, zwischen allerlei Lifestyle-Gerümpel und löchrigen Stiefeln, verfaulten Kartoffeln und verrotteten Spiegel-Nummern. Sie treiben auch nicht an der fauligen Oberfläche entlegener Buchten und Meeresableger und niemand hat sie vergraben, niemand hat sie verbrannt. Schon gar nicht ruhen sie auf dem Grunde des Ozeans, zwischen den Wracks der großen Schifffahrtsrouten, stillen Überbleibseln des menschlichen Bewegungsdrangs. Sie ruhen auch nicht in der Tiefe des Gemüts, das wäre zwar schöner, es wäre aber auch zu einfach und wir lehnen es einfach ab. Manchmal, wenn die Suche schon allzu sehr ins Leere geht, könnte man meinen, es habe sie nie gegeben. Dann allerdings, sobald dieser Punkt fast erreicht ist, brechen sie los mit einer verzweifelten Virulenz, als steckten sie allen, die es angeht, seit altersher in den Knochen und warteten nur darauf... – ja worauf denn? Auf den Moment. Der Moment verhält sich zur Diskussion wie die Pflaume zum Kuchen, er wartet darauf, geschlitzt, entkernt, verzuckert und in den großen Teig gesteckt zu werden, wo ihn niemand sieht, es sei denn, einer kommt auf den Geschmack und liebkost ihn gedankenverloren zwischen den Zähnen, den weißen Vorboten der Verdauung, die keine Farbe hat und mit einem Geschmack nichts weiter anfangen kann. Einerseits, könnte man sagen, besteht eine Diskussion aus vielen solcher Momente im Moment ihres Verschwindens, der sie nichts kostet, weil sie ohnehin dazu bereit und schon auf dem Weg sind, andererseits zückt sie sie wie eine Tüte Süßigkeiten vor jemandem, der schon halb süchtig nach ihnen ist und es kaum abwarten kann, dass sie sich öffnet. Die toten Diskussionen sind nicht tot, auch nicht scheintot, sie sind Straßenhändler, deren Existenz man verschweigt, während man sich bei ihnen eindeckt. Die Fesselung der Diskussion an den Moment, an all die Momente, in denen sie sich entfaltet, ist tragisch wie alle Lust an der Lust: »Das wollen wir festhalten«, sagt der Stenograph und setzt seine Schnörkel, die keiner liest, während alle auf die Reinschrift warten, damit sie das nächste Mal präpariert sind.MON BATAILLE
Die Ökonomie der Verschwendung liebt ihre Landsknechtssprache. Sie ist ihr nicht ganz gewachsen, aber sie wächst an ihr wie das Glied, an dem sie sich aufrichtet. Sie hat ein Glied zuviel vielleicht, diese Ökonomie jenseits der Ökonomie, der zuliebe die Vornehmen bluten, nachdem die erste Ökonomie sie lange gesäugt und auf ihre lichten Höhen gestellt hat. – Und eine Gelegenheit zuwenig, zirpt die Waise, sie muss es wissen, denn sie gehört zu dem gefährdeten Personenkreis, der vor den Bataillisten geschützt werden muss, solange die Regel ›rechts vor links‹ gilt. Was nicht überall der Fall ist! Radfahrer zum Beispiel wissen nichts von ihr, manche behaupten auch, sie ignorierten die Gefahr bewusst, um vorwärts zu kommen, und böten sich darum als Opfer an. Das ist vielleicht ein Wink. So ein Opfer kann niemand brauchen und darum unterbleibt es, solange die Regel gilt. Ja, es bleibt, solange es unterbleibt. So könnte man es sagen. Erst wenn die Regel den Dienst quittiert, explodiert die Gefahr und ihre ersten Opfer sind die, die sie brachen. Der Bataille eine Bleibe! Nichts wünschen sich ihre Liebhaber sehnlicher, solange sie innen tobt, wie das Gesetz es befiehlt. Aber sie tobt nicht. Sie wird ganz still angesichts der Gefahr, am liebsten hört sie die Grillen zirpen.MONROE-DOKTRIN
Von Zeit zu Zeit gefällt es den Menschen, sich nicht mit Zwischenergebnissen zufrieden zu geben, es ›überkommt sie‹, wie man so sagt, wobei gern im Unklaren gelassen wird, was sie da überkommt. Da dieser Impuls im gewöhnlichen Leben so rasch wie möglich eingefangen, eingekapselt und beiseitegeschafft werden muss, um keinen dauerhaften Schaden zu stiften, verschiebt man ihn in den Bereich der Kultur, also in Gefilde, in denen nicht etwa die Differenzierten, Ausgewogenen, Ausbalancierten und Gründlichen das Sagen haben, sondern die Einseitigen, die Extremen, die Undifferenzierten – Zeitgenossen also, die in den Augen der Mitwelt die allgegenwärtige Tendenz verkörpern. Für die Gebremsten, Kontrollierten, Beherrschten verschafft sich in diesem Personal etwas Ausdruck, was sie selbst gewöhnlich sorgfältig in den Falten ihrer Existenz verbergen, um es nur bei passender Gelegenheit, sozusagen bei Kerzenlicht und Musik, hervorzuholen. Die Ikonen der Kultur sind, geben wir’s zu, ordinär. Ähnliches gilt auch für die Klasse der Frühvollendeten, die ein Übermaß an Differenzierungs-Anstrengungen von Seiten der Überlebenden und Nachfolgenden auf sich ziehen, weil offen blieb, wohin ihr Impetus sich, auf längere Sicht gesehen, gewendet hätte. Sie sind daher, was sie nicht sind und vielleicht nie geworden wären, nur eben für andere und daher im Wortsinn selbst-los.Am entgegengesetzten Ende der Skala tritt die beherrschende Richtung erst im Alter hervor, nachdem sie lange unter einem Wust von Geschäften begraben lag oder nur einem kleinen Kreis von Eingeweihten bekannt war. Ein schlichtes Wort in einer bestimmten Sache gewinnt nun eine Kraft, die es aus sich heraus nie besessen hätte. Es wird notorisch in jenem anrührenden Sinn, der durch die Kombination von Alter und Radikalität der Anschauung ins Leben tritt. Ein Gleiches gilt, unter verständlichem Vorbehalt, für die Ikonen des Sexus: besser, sie sterben jung, aber zwingend ist das nicht. Auch Dummheit will leben, nicht nur unsterblich sein. Im Alter kommen die besten Exemplare wieder hervor und spielen die Komödie des Ergreifenden, die immer ihr Publikum findet, gleichgültig, was die Ideologiewächter der Gegenwart dazu anmerken. Klassiker schließlich sterben beizeiten und tauchen zu den Jubiläums-Terminen als virtuelle Greise auf, untergehakt in den Reihen ihrer altgedienten Verehrer, die sich im TV-Seniorenheim einen schönen Tag machen, manchmal zur besten Sendezeit, meistens jedoch, wenn der Tag sich dem Ende zuneigt, was auch als Aussage zu nehmen ist. Aber nicht nur. Die greise Monroe in alter Plastik-Schönheit, Seit’ an Seit’ mit dem verblichenen Heer ihrer Prakti- und Plasti- und Sykophanten, das macht schon was, das macht schon was her, auch wenn niemand so recht weiß, was es hermacht. Irgendeine Art von Kraftschluss muss es wohl sein, in den die Bedürftigen aller Geschlechter den Finger tauchen, nicht um Lethe zu lecken, sondern um ihren electric body zu fühlen, ganz ohne elektrischen Stuhl, der sein Geschäft, wie es gelegentlich heißt, mit einem gewissen Gleichmut verrichtet.
MORAL
Metzger, Brauereibesitzer, Würstchenverkäufer, Elektroinstallateure, Handelsvertreter, Ballonfahrer, Bordelleigner, Boxchampions, Leisetreter, Kommunionkinder, Heckenschützen, Freidemokraten, Mengenrabatteure, Kleingärtner, Großaktionäre, Grüne, Stammtischler jeder Sorte und jeder Trinkfestigkeit: alle sind schon immer beim Thema. Intellektuelle, soweit als Spezies noch vorhanden, fürchten, dass ihnen der Stoff entglitten ist, sie raffen die kritische Toga und behandeln ihn von der Warte dessen, der diese Dinge hinter sich hat. Seit jeher tun die beredtesten unter ihnen so, als empfänden sie das Thema als Zumutung, als unterböte es bei weitem die Differenziertheit ihrer Gedankenführung. Manche nähern sich ihm nur knurrend. Wie man’s nimmt. Sich zu benehmen wissen, keine Klagen laut werden lassen, auf die Stimmen der anderen hören und seinen Weg gehen, keine Verstörungen wollen, keinen klitzekleinen Mord begehen, den Planeten retten: Moral ist einfach. Schwierig wird es, rechnet man die üblichen Unterstellungen, die perfiden Argumente ohne Prämissen, die Handgreiflichkeiten und Verantwortungseuphorien, die Entrüstungen, die Verleumdungen sowie, nicht zu vergessen, die salbungsvoll einherwandelnde und zu jeder Desinformation bereite ›Sorge um sich‹ hinzu: Ja, wir Lieben: woher die Moral? Und wohin?MORALENTZUG
»Die Zivilgesellschaft muss dort ächten, wo der Staat nicht hinlangt.« Das ist leicht gesagt, aber schwer getan, vor allem, wenn der Staat hinlangt, wo immer die Zivilgesellschaft aufkreuzt – ganz nach dem Motto: »Ick bün schon da.« Nein, es ist nicht so, dass die Zivilgesellschaft nach dem Staat riefe, wann immer sie ein Krümelchen Unrecht aus ihrem Weg entdeckt. Eher wird sie vom Staat als Wünschelrutengänger benützt und auf Schritt und Tritt überwacht. Die Zivilgesellschaft akzeptiert den Staat nur als großen Reformer und der Große Reformer weiß sich den Reformstoff auf keine andere Weise zuzuführen als dadurch, dass er sich ihre Funde umstandslos aneignet. Das ist die Wahrheit, nichts als die Wahrheit und die Wahrheit ganz. Ein Krümelchen davon ist die Erkenntnis, dass die Moral schwindet, sobald das Recht überhandnimmt. Es nimmt aber nicht überhand, sondern bedient sich der Hände, in denen sie ruht. So haben sie immer zu tun und die Moral kommt jedes Mal aufs Neue zu kurz. Sie kommt danach. Wer glaubt, sie ginge im Recht auf, der kennt keinen Schmerz oder leugnet ihn, weil er als Wunderheiler auf ein besseres Auskommen hofft.MORALISCHE WELT
Die moralische Welt – schade, dass wir einen solchen Ausdruck nicht mehr besitzen. Bekanntlich ist die moralische Welt die unmoralische, soll heißen, die Ansammlung aller moralischen Gebrechen, an denen eine Gesellschaft weniger leidet als sich erkennt. Man kann diese Gebrechen so beschreiben, dass sie als Signatur eines Zeitalters durchgehen: als ihr So wird’s gemacht. Wer sich nicht dran hält, ist selbst schuld. Warum gelten sie dann als Gebrechen? Weil die Geschichte der Moral von den Opfern geschrieben wird? Von diesem nietzscheanischen Schwachsinn sollte man sich schleunigst verabschieden. Das Ressentiment fällt in den Bereich der Moral, sie lässt sich nicht aushebeln, indem man die Vorurteile der anderen studiert. Übrigens auch nicht die eigenen. Die ständigen Begleiter haben es nicht gern, wenn man sie dauernd an eine nebelhafte Herkunft erinnert. Sie ziehen sich nicht zurück, sie werden aggressiv. Zu Recht übrigens, denn ihre eigenen Erinnerungen sind stabil und unschlagbar. Die Moral ist die Moral und man verlangt zuviel von ihr, wenn man will, dass sie dem guten Gewissen weicht, das nicht so gut sein kann, wenn die Moral dabei stört.MORGENGRAUEN
Das morgendliche Entsetzen der Soldaten vor Anbruch einer Schlacht,
aber auch das Trianon-Grau auf den Möbeln des achtzehnten
Jahrhunderts, soweit das Mobiliar und die Wände der Salons nach
Osten ausgerichtet waren. Das Morgengrauen erlitt auch Phasen der
Rötung, weniger durch himmlisches Blutvergießen als von Amts wegen,
da Wetterberichte auf weiten Ebenen mit roter Wetterfarbe gleichsam
gestempelt wurden. Die amerikanische Flugzeugindustrie schuf im
letzten Krieg für weitfliegende Bomber die painting aeroplanes, die
amtlich-militärisch bestätigte Wetterzeichen versprühen konnten.
Sie wurden spöttisch ›morning devotion‹ genannt. Überhaupt hängt
das Morgengrauen keineswegs immer mit dem Aufstieg der Sonne
zusammen. Man kennt weit über zweihunderttausend unterschiedliche
Farben und manches Abendlicht, das des Vollmondes wegen nicht
gänzlich und rasch genug zergehen kann, steigt am Morgen noch
einmal auf und täuscht das ungeschützte Auge, was sich zugleich als
Sonnentäuschung bezeichnen ließe, und zwar im Sinne von Plotin und
Goethes berühmter Bemerkung: »Wär’ nicht das Auge sonnenhaft...«
Also kann niemand, der am frühen Morgen erwacht, auch sicher sein,
einem optisch wahren Morgen entgegen zu sehen. Bei gerichtlichen
Zeugenaussagen hat dies früher zu Fehlurteilen geführt, ehe Sir
Middelton-Fog die unumstößliche Wahrheit des Morgengrauens in
Greenwich erfolgreich in Zweifel zog. - PM